Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle zu unserer 149. Sitzung.
Ich möchte vor Eintritt in die Tagesordnung einige
Gratulationen und eine Gremienbesetzung vornehmen.
In der parlamentarischen Weihnachtspause hat neben
anderen auch der Bundesminister des Auswärtigen,
Dr. Frank-Walter Steinmeier, seinen 60. Geburtstag
gefeiert. Ihm haben wir alle sicher auf die eine oder andere Weise ausdrücklich gratuliert. Aber ich möchte das
hier im Namen des Hauses noch einmal ausdrücklich bekräftigen.
({0})
Ebenfalls ihren 60. Geburtstag haben die Kolleginnen Jutta Krellmann und Bettina Hagedorn sowie die
Kollegen Erwin Rüddel, Klaus Barthel und gestern der
Kollege Johannes Selle gefeiert. Ihnen alle guten Wünsche für das neue Lebensjahr.
({1})
Wir müssen eine Schriftführerwahl durchführen. Die
SPD-Fraktion schlägt vor, die Kollegin Petra Rode-
Bosse für den Kollegen Dennis Rohde als Schriftfüh-
rerin zu wählen. Sind Sie damit einverstanden? - Gut.
Nach erkennbarem Zögern und genauso erkennbarer Zu-
stimmung - dafür bedanke ich mich - ist die Kollegin
Rode-Bosse als Schriftführerin gewählt.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, den Ent-
wurf eines Gesetzes zum Schutz von Kindern und Ju-
gendlichen vor den Gefahren des Konsums von elek-
tronischen Zigaretten und elektronischen Shishas auf
der Drucksache 18/6858 dem Ausschuss für Arbeit und
Soziales zur Mitberatung zu überweisen. Ebenso soll der
Entwurf eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des
Luftverkehrsgesetzes auf der Drucksache 18/6988 dem
Verteidigungsausschuss zur Mitberatung überwiesen
werden. Dem stimmen Sie zu? - Das ist so. Dann ist das
so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes
zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes
Drucksache 18/7055
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Kai Gehring, Özcan Mutlu,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Bildungszeit PLUS - Weiterbildung für alle
ermöglichen, lebenslanges Lernen fördern
Drucksache 18/7239
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({3})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Durchlässigkeit in der Bildung sichern, Förderlücken zwischen beruflicher Bildung und
Studium schließen
Drucksache 18/7234
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Michael Kretschmer für die CDU/CSU-Fraktion.
({4})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine
der wichtigsten Zahlen im vergangenen Jahr war, dass
Deutschland mit 7,7 Prozent die niedrigste Jugendarbeitslosenquote in der Europäischen Union hatte. In der
Europäischen Union beträgt die Erwerbslosenquote bei
den 15- bis 24-Jährigen im Durchschnitt 22,2 Prozent. In
Ländern wie Griechenland und Spanien liegt die Arbeitslosenquote von Jugendlichen im Durchschnitt bei über
50 Prozent.
Ein wichtiger Grund, warum Jugendliche in der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren und
Jahrzehnten und auch in der schwierigen Wirtschafts- und
Finanzkrise bessere Lebens- und Arbeitschancen hatten
als anderswo, ist das duale Berufsausbildungssystem,
in dem es eine enge Verbindung von Theorie und Praxis
gibt, was den Übergang ins Arbeitsleben erleichtert.
({0})
Deswegen müssen wir alles dafür tun, um diesen deutschen Vorteil und dieses deutsche Alleinstellungsmerkmal zu stärken. Das heißt, wir müssen alles dafür tun, das
duale Ausbildungssystem zu stärken.
({1})
Ein wesentlicher Beitrag zur Stärkung der beruflichen
Bildung ist das sogenannte Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz, kurz das Meister-BAföG. Seit 1996 haben
insgesamt 1,7 Millionen Menschen in diesem System
eine Förderung erhalten. Es ist das größte und wichtigste
Förderangebot für Qualifizierungen im dualen System.
Diejenigen, die in die Förderung kommen, sind im
Durchschnitt 30 Jahre alt, haben ihre erste Berufstätigkeit hinter sich, haben in aller Regel eine kleine Familie
und sind darauf angewiesen, dass wir sie beim Durchstarten auf dem Weg hin zu einer höheren beruflichen
Verantwortung unterstützen. Die Arbeitslosenquote derjenigen, die in einer solchen Förderung waren und sich
als Meister, Techniker, Erzieher oder Fachwirt weiterqualifiziert haben, liegt im Durchschnitt bei 2,1 Prozent
und damit deutlich unter der Arbeitslosenquote in der
Gesamtbevölkerung und auch deutlich unter der Arbeitslosenquote derer, die ein Studium haben. Das zeigt, wie
attraktiv die duale Ausbildung ist und wie wichtig es ist,
diese Leistungselite im beruflichen Bereich zu unterstützen.
({2})
Deswegen sind das Meister-BAföG und die Reform,
die wir heute miteinander beraten und auf den Weg bringen, ein ganz wichtiger weiterer Beitrag dazu, das duale
System zu stärken. Denn genau hier liegt die Zukunft für
die jungen Leute, für bessere Beschäftigungsmöglichkeiten, gute Arbeit, interessante Qualifizierungsmöglichkeiten, neue Optionen und gute Löhne im beruflichen Bereich.
({3})
Was wir tun, ist, den Unterhaltsbeitrag zu stärken. Wir
setzen uns für eine Erhöhung des Maßnahmebeitrags ein.
Wir erhöhen die Zuschussanteile und die Freibeträge.
Damit bringen wir ein Gesamtpaket auf den Weg, das am
Ende das duale System beruflicher Bildung deutlich attraktiver machen wird.
Der Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag wird von
44 Prozent auf 50 Prozent steigen. Das entspricht dem
Beitrag, der auch im Bereich des Studiums möglich ist.
Gerade die Familienaufschläge zum Basisunterhalt müssen oft das Familieneinkommen während einer Maßnahme sichern und sind deshalb maßgebend für die Entscheidung, ob ein Meisterlehrgang aufgenommen wird
oder nicht.
Wer seinen Meisterkurs erfolgreich abschließt, verwirklicht seinen individuellen Aufstieg und schafft einen
volkswirtschaftlichen Mehrwert. Dies wird schon heute
durch den Erfolgsbonus in Form eines Erlasses von derzeit 25 Prozent auf das Restdarlehen belohnt. Wir werden
diesen Betrag auf 40 Prozent anheben. Das ist ein klares
Signal zum einen dazu, einen Meisterkurs anzugehen,
zum anderen aber auch dazu, ihn zu bestehen und diejenigen zu belohnen, die sich durchkämpfen und am Ende
erfolgreich sind.
({4})
Die Novelle ist ein ganz klarer Beitrag dazu, die
Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und akademischer Bildung darzustellen.
({5})
Wir sind davon überzeugt. Wir wollen, dass akademische
Bildung und berufliche Bildung als gleichwertig anerkannt werden, weil beide Teile die Stärke der Bundesrepublik Deutschland ausmachen. Noch einmal: Die geringe Jugendarbeitslosigkeit hat etwas damit zu tun, dass
wir die duale Ausbildung haben. Deswegen gilt es, die
duale Ausbildung zu stärken.
({6})
Wir leisten einen Beitrag zu einer stärkeren Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung
in beide Richtungen, und wir wollen die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf gerade bei dieser Aufstiegsqualifizierung verbessern. Für uns gilt: kein Abschluss ohne
Anschluss. Wir brauchen ein System, das wir in großen
Teilen schon heute in der Bundesrepublik Deutschland
organisiert haben, in dem es mit jedem Abschluss und
jeder Qualifizierung eine weitere Möglichkeit zum Aufstieg gibt.
Es gilt der Satz des Handwerks: Entscheidend ist
nicht, wo du herkommst, sondern wo du hinwillst. Den
Präsident Dr. Norbert Lammert
jungen Leuten zu vermitteln, dass es in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Bereich alle Chancen gibt,
das ist Ziel dieser Novelle. Es ist wichtig für uns und die
Wirtschaft, dass wir in Zukunft Leute haben, die sich aus
ihrer fachlichen Arbeit heraus qualifizieren, Verantwortung übernehmen und Dinge voranbringen, bis hin zur
Selbstständigkeit. Heute ist ein guter Tag; denn mit dieser Novelle leisten wir dazu einen ganz entscheidenden
Beitrag.
Vielen Dank.
({7})
Die Kollegin Hein ist die nächste Rednerin für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Herr Kretschmer, Sie verzeihen und
verstehen wahrscheinlich auch, dass ich anders anfange.
Eine der größten Kritiken am bundesdeutschen Bildungssystem ist die hohe Abhängigkeit des Bildungserfolgs
von der sozialen Situation der Lernenden. Dieser Befund
zieht sich durch alle Bildungsstufen, von der Schule bis
zur Weiterbildung. Wenn man dies beheben will, muss
man sehr früh anfangen, also schon in der frühkindlichen
Bildung. Man muss zudem Möglichkeiten des Bildungsaufstiegs nach der Schule verbessern.
({0})
Die Aufstiegsfortbildung, also das sogenannte Meister-BAföG, ist ein solcher Weg; darin sind wir uns einig. Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegten
Gesetzesnovelle die Bedingungen dafür verbessern. Das
ist auch dringend nötig. Seit Jahren stagniert nämlich
der Zulauf zu den Maßnahmen und Bildungsgängen an
den Fachschulen, die damit meistens befasst sind. Etwa
172 000 Geförderte gab es im Jahr 2014. Das sind nur
0,2 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Das kann uns nicht
zufriedenstellen, insbesondere nicht angesichts des hohen Bedarfs an qualifizierten Fachleuten, also an Meistern, Technikern und Betriebswirten zum Beispiel. Nun
soll es also besser werden.
Ich möchte Ihnen anhand einiger Beispiele belegen,
dass das Gesetz deutlich zu kurz greift, und - deshalb unser Antrag - auf ein Grundproblem aufmerksam machen.
Zu den Berufsgruppen, die durch das Meister-BAföG
ihre Ausbildung finanzieren können, gehören angehende
Erzieherinnen und Erzieher. Das Meister-BAföG ist für
diese Gruppe vor einigen Jahren geöffnet worden.
({1})
Vor etwa zwei Jahren schrieb ein junger Mann an den Petitionsausschuss, dass der Abschluss seiner Ausbildung
gefährdet sei - er wollte Erzieher werden -, weil über das
Meister-BAföG nur schulische Ausbildungen finanziert
würden und vorgeschriebene Praktika außen vor blieben.
Das Bundesministerium hat diese Aussage bestätigt, und
im Ergebnis konnte dem Petenten nicht geholfen werden.
Der Petitionsausschuss hielt das Anliegen aber für so
wichtig, dass er zum Zwecke der Beachtung diese Petition an das BMBF, also an das Bildungsministerium,
weitergeleitet hat, mit der Bitte, das bei der Novellierung
des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes zu beachten. Ich weiß nicht, auf welchem Schreibtisch das gelandet ist. Aber nach den neuen Gesetzesregeln wäre dem
Petenten noch immer nicht geholfen, und das, obgleich
der Gesetzentwurf den Eindruck erweckt, es wäre geschehen.
Im Regelfall sollen wie bisher Fortbildungsmaßnahmen gefördert werden, die 25 Unterrichtsstunden an
mindestens vier Tagen der Woche umfassen. Künftig
soll es aber auch genügen, wenn diese Bedingung - 25
Unterrichtsstunden an vier Tagen - in 70 Prozent der
Wochen eines Maßnahmenabschnitts eingehalten wird.
Damit sind die Erzieherinnen und Erzieher wieder außen
vor; denn die KMK hat im Sommer 2015 in der Rahmenvereinbarung zu den Fachschulen festgelegt, dass
in den Fachschulrichtungen Sozialpädagogik und Heilerziehungspflege mindestens ein Drittel der Stunden als
„Praxis in sozialpädagogischen bzw. heilerziehungspflegerischen Tätigkeitsfeldern“ zu leisten ist. Wenn man
zu 70 Prozent ein Drittel addiert, dann stellt man fest,
dass mehr als 100 Prozent herauskommen. Das kann
also irgendwie nicht stimmen. Also ist auch künftig nicht
vorgesehen, ausbildungsimmanente Praktika zu fördern.
Da frage ich mich schon, was eigentlich eine Petition an
den Bundestag bewirkt, die noch dazu vom Petitionsausschuss als berechtigt weitergeleitet wurde. Offensichtlich
nichts!
({2})
Ein zweites Problem. Eine der wichtigsten Veränderungen im Gesetz ist - Herr Kretschmer hat eben darüber
gesprochen - die Möglichkeit, auch mit einem Bachelorabschluss eine geförderte Ausbildung nach dem Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz zu erhalten. Diese
Regelung reagiert auf Sorgen in der Arbeitswelt, dass
man nicht mehr genügend qualifizierte Fachkräfte hat, die
zum Beispiel ein kleines Unternehmen gründen können.
Da ist etwas dran. Die gegenläufige Förderung jedoch,
also dass einem Meister, Techniker oder Betriebswirt ein
Bachelorstudium gefördert wird, ist ausgeschlossen. Das
ist auch nicht vorgesehen. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz schließt genau eine solche Förderung aus.
Ein vollverzinsliches Bankdarlehen ist unter ganz bestimmten Bedingungen noch möglich, mehr aber nicht.
Das wurde mir in einer Antwort auf eine schriftliche Einzelfrage Ende des vergangenen Jahres bestätigt. In der
Begründung wurde angeführt, dass der Abschluss einer
Fachschule im deutschen Qualifikationsrahmen dem Bachelorabschluss gleichgesetzt sei und zwei gleichwertige
Ausbildungen nicht gefördert würden.
Das gilt aber auch umgekehrt. Was will man denn
nun? Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Das bedeutet nämlich zum Beispiel - ich bleibe wieder bei den
Sozialberufen -, dass ein Studium mit dem Schwerpunkt
„frühe Kindheit“ für staatlich anerkannte Erzieherinnen
und Erzieher nicht gefördert werden kann; denn solch
ein Studium wird fast ausschließlich als BachelorstudiMichael Kretschmer
um angeboten. Man kann also künftig problemlos von
der Hochschule in die Fachschule wechseln, aber nicht
umgekehrt. Durchlässigkeit in den Bildungswegen, auf
die Sie immer so gerne verweisen, sieht anders aus.
({3})
Ich kann hier nicht auf die vielen Facetten und Konditionen der Förderungen eingehen. Wenn man sich einmal durch die ganzen Gesetze gewühlt hat, ist man wirr
im Kopf. Das wird wahrscheinlich auch den Antragstellenden so gehen. Das brachte uns auf die Idee, dass die
unterschiedlichen Fördersysteme doch einmal nebeneinander gelegt werden müssten, um Ausschlussgründe und
Lücken zu finden.
Das haben wir Ende des Jahres getan, und wir haben umfangreiche Recherchen von verschiedenen zuständigen Stellen des Bundes erbeten. Vom BMBF und
von der Bundesagentur für Arbeit haben wir sie auch
erhalten, vom BMAS leider nicht; die haben uns sitzen
lassen. Wir fordern nun in unserem Antrag, dass die unterschiedlichen Wege der Ausbildungsförderung von der
Berufsausbildungsbeihilfe nach SGB III bis hin zu den
beiden BAföG-Gesetzen harmonisiert und Förderlücken
geschlossen werden.
({4})
Denn wir müssen doch auch zur Kenntnis nehmen,
dass sich die Verläufe beruflicher Bildung und Weiterbildung in den vergangenen Jahrzehnten deutlich verändert haben. Berufsbiografien verlaufen heute anders
und manchmal nicht einfach so geradeaus. Das betrifft
sowohl die Reihenfolge der beruflichen Bildungswege
als auch das Einstiegsalter. Darum ist es auch nicht mehr
zeitgemäß, Förderkonditionen so unterschiedlich zu gestalten.
Ich möchte noch ein Beispiel nennen: Wieso sind
zum Beispiel Kinder unterschiedlich viel wert? Eine
Studierende mit Kind, die nach BAföG gefördert wird,
erhält künftig einen Kinderzuschlag von gerade einmal
130 Euro. Eine Meisterschülerin mit Kind soll immerhin
235 Euro erhalten. Ich kann mir den Unterschied nicht
erklären. Die können zum Beispiel auch beide gleich alt
sein. Unterschiedlich sind übrigens auch die Darlehenshöhe, die Rückzahlungskonditionen und anderes mehr.
Ich verstehe nicht, warum.
Insgesamt - diese Grundkritik bringen wir auch hier
wieder an - orientieren sich alle diese Gesetze nicht hinreichend an den konkreten Lebensbedingungen und Lebenshaltungskosten. So sind 250 Euro Wohnzuschuss in
beiden Gesetzen keineswegs angemessen. Das ist schon
heute so. Das wird - überlegen wir einmal, wie oft wir
solche Gesetze ändern - in der Zukunft eine weitere Verschärfung bringen.
Der Zentralverband des Deutschen Handwerks hat in
seiner Stellungnahme wohlwollend signalisiert, dass das
ein Schritt in die richtige Richtung sei, aber angemahnt,
dass das eben nicht alles sein könne. Dieser letzten Feststellung, dass das nicht alles sein kann, möchten wir uns
gerne anschließen.
({5})
Es geht uns um mehr Bildungsgerechtigkeit, um gut
ausgebildete Fachkräfte, die wir in dieser Gesellschaft an
allen Ecken und Enden dringend brauchen. Hier, an dieser Stelle - Kooperationsverbot hin oder her -, können
wir Änderungen herbeiführen. Dafür brauchen wir die
Länder nicht. Hier können wir gesetzliche Pflöcke einschlagen. Ich habe der Rede meines Vorgängers schon
entnommen, dass es offensichtlich doch eine Änderung
gibt, was die Darlehenshöhen bzw. die Zuschusshöhen
betrifft, die noch nicht im Gesetz steht.
({6})
Ich freue mich, dass Sie das schon einmal der Regierung unterstellen, aber wir beschließen es. Da bin ich guter Hoffnung. Vielleicht können wir die eine oder andere
Lücke, die sich in diesem Gesetz findet, auch noch mit
schließen.
({7})
Dann hätten wir ein Stück des Weges geschafft, aber - es
bleibt dabei - nicht den ganzen Weg.
Ich will noch eine Anmerkung zum Antrag der Grünen machen. Die Aufstiegsfortbildung ist ganz sicher ein
Bereich der Weiterbildung. Dem Ansatz in Ihrem Antrag,
dass man auch andere Bereiche der Weiterbildung in die
Förderung einbeziehen und dies zusammenführen sollte, kann ich etwas abgewinnen. Ich würde das jetzt nicht
mit „Bildungszeit PLUS“ bezeichnen; denn ich finde,
das „PLUS“ besagt noch gar nichts. Aber über manche
Forderungen in Ihrem Antrag können wir uns gerne unterhalten. Manche der dort dargestellten Probleme sehen
wir auch.
Ich gebe zu bedenken: Das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ist mit der dualen Berufsausbildung und
dem, was daraus folgt, verknüpft. Die duale Ausbildung
ist jetzt für unterschiedliche Berufsausbildungen geöffnet worden. Das bringt wahrscheinlich das Problem mit
sich, dass dieses Gesetz nicht immer passt. Aber wenn
wir nun sozusagen die gesamte Weiterbildung entsprechend gesetzlich regeln wollen, dann haben wir wirklich
ein Problem; denn Bildungsförderung ist zu einem großen Teil Ländersache.
({8})
Deswegen reden wir heute Abend noch einmal über das
Kooperationsverbot.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Aufstieg durch Bildung, das ist etwas,
was sich leichter sagt, als man es realisiert; aber für uns
ist es ein Herzensanliegen. Denn die Frage, ob Menschen
frei und selbstbestimmt leben können, hängt im Wesentlichen von der Erfüllung der Voraussetzung ab, durch
Bildung die Chance zu haben, einen Beruf zu ergreifen
und dann selbstbestimmt, ohne Abhängigkeit seinen eigenen Lebensweg gehen zu können, und zwar unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht.
Deshalb hat diese Koalition im Bereich des BAföG
gehandelt und dafür gesorgt, dass Aufstieg durch Bildung - durch Unterstützung des Staates und unabhängig
von der Herkunft - leichter möglich ist in diesem Land.
Seit 1972, als Willy Brandt Bundeskanzler war, gibt es
das BAföG. Diese Koalition hat mit der BAföG-Novelle
dafür gesorgt, dass wir auch in diesem Bereich auf der
Höhe der Zeit sind.
({0})
Aber ganz klar ist für uns auch: Was für den Bereich
der akademischen Ausbildung gilt, muss richtigerweise
auch für den Bereich der beruflichen Ausbildung gelten.
({1})
Denn die berufliche Ausbildung in Deutschland, die Art
und Weise, wie wir die berufliche Ausbildung organisieren - vor allen Dingen, aber nicht nur in einem dualen
System -, ist nicht nur gut für die Wirtschaft in diesem
Land - weil die Wirtschaft im Bereich der beruflichen
Ausbildung in ihren eigenen Fachkräftenachwuchs investiert -, sondern auch gut für die Menschen, die, wie
gesagt, durch einen qualifizierten Berufsabschluss die
Chance haben, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen,
einen gesicherten Lebensunterhalt zu haben und so eben
auch ein gutes Leben führen zu können. Das ist gut für
unser Land insgesamt, weil wir dafür sorgen, dass wir
wirtschaftlich und sozial vorankommen. Insofern ist die
berufliche Bildung nach wie vor das qualifikatorische
Rückgrat der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft,
auch des Arbeitsmarktes in diesem Land.
Es ist kein Wunder, dass die internationale Nachfrage nach der Art und Weise, wie wir berufliche Bildung
in Deutschland organisieren - dies führt dazu, Herr
Kretschmer hat es angesprochen, dass wir im internationalen und auch im europäischen Vergleich eine wesentlich niedrigere Jugendarbeitslosigkeit haben -, nach wie
vor hoch ist. Das weiß das Bundeswirtschaftsministerium. Das weiß das Bundesministerium für Bildung und
Forschung. Die Anzahl der Anfragen, wie wir berufliche Bildung organisieren, ist nach wie vor sehr groß.
Ich würde sogar sagen: Es gibt einige, die uns um dieses
System beneiden.
({2})
Der wesentliche Vorteil, wie Deutschland die berufliche
Bildung organisiert, ist eben die einzigartige Verknüpfung von theoretischen Kenntnissen und praktischer
Ausbildung.
Dieses System, die Verknüpfung von Theorie und Praxis, führt übrigens auch dazu, dass man flexibel ist, dass
man sich auf neue Trends besser einstellen kann, beispielsweise auf die Frage der Digitalisierung. Wir müssen allerdings dafür sorgen, dass wir dieses gute System
immer wieder durch die richtigen Maßnahmen auf die
Höhe der Zeit bringen.
Bei allem, was wir in diesem Bereich sagen - es ist
gut, dass inzwischen mehr über berufliche Bildung gesprochen wird -, gilt: Reden allein reicht natürlich nicht,
sondern wir müssen auch handeln. Denn die berufliche
Ausbildung in diesem Land ist nicht auf der Höhe der
Zeit. Das dürfen wir nicht nur in Sonntagsreden deutlich
machen, sondern wir müssen auch das Richtige tun. Ich
will deshalb etwas zu den Herausforderungen sagen, vor
denen die berufliche Bildung steht.
Wir haben in den letzten Jahren bei aller Freude über
die positive Entwicklung auch eine Reihe von negativen
Trends zu verzeichnen gehabt. Zum Beispiel ist es dringend notwendig, darüber zu diskutieren, wie auch Ausbildungsinhalte zukünftig auf die Höhe der Zeit gebracht
werden. Ich habe das Thema Digitalisierung angesprochen. Es geht vor allen Dingen um die digitale Qualifikation, auch im Bereich der beruflichen Bildung, als eine
Schlüsselkompetenz.
Wir haben vor allen Dingen aber auch erlebt, dass in
den vergangenen Jahren die Zahl von Ausbildungsverträgen eher zurückgegangen ist. Deshalb war es richtig,
dass diese Regierung im Bereich der beruflichen Ausbildung gehandelt hat. Wir haben zweierlei getan:
Wir haben zum einen durch Maßnahmen, die Frau
Wanka als Ministerin ergriffen hat, dafür gesorgt, dass
die Berufsorientierung, übrigens auch an Gymnasien, gestärkt wird, damit bewusst gemacht wird, was berufliche
Ausbildung für ein Weg ist, den man im Leben gehen
kann, und damit sich junge Menschen frühzeitig überlegen, ob dies ein Weg für sie ist.
Das Zweite. Wenn wir über drohenden Fachkräftemangel in diesem Land reden, dann reden wir vor allen
Dingen von der Gefahr, dass im Bereich der beruflichen
Ausbildung zu wenig qualifizierte Kräfte vorhanden
sind. Deshalb war es richtig, dass Sigmar Gabriel mit der
Allianz für Aus- und Weiterbildung mit der Wirtschaft,
mit den Gewerkschaften, mit den Ländern dafür gesorgt
hat, dass wir bei der Zahl der Ausbildungsverträge nach
vielen Jahren des Schrumpfens eine Trendumkehr geschafft haben.
({3})
In Deutschland gibt es mehr Ausbildungsverträge als in
den vergangenen Jahren. Das ist ein richtig guter Weg,
und das zeigt, dass wir jungen Menschen in diesem Land
wirklich eine Chance geben.
Es gibt diesen schillernden Begriff des Akademisierungswahns. Es wird immer wieder die Diskussion über
Gleichwertigkeit geführt, aber manchmal habe ich auch
den Eindruck, dass berufliche Ausbildung gegen akademische Ausbildung ausgespielt wird. Das ist nicht das,
was wir wollen.
Richtig: Es ist in diesem Land zu wenig über den Wert
der beruflichen Ausbildung gesprochen worden. Aber
das ist kein Nullsummenspiel. Wir wollen die beiden
Ausbildungsgänge nicht gegeneinander ausspielen, sondern wir wollen über Gleichwertigkeit nicht nur reden,
sondern für Gleichwertigkeit und für Durchlässigkeit im
System sorgen. Das sind die zentralen Begriffe.
({4})
Ich bringe es auf einen Satz: Für unsere Volkswirtschaft, für unser Land ist ein Meister mindestens genauso wichtig wie ein Master. Das muss ganz klar sein in
diesem Land.
({5})
Aber wir wollen keine Form von künstlicher Verknappung bei diesen beiden Möglichkeiten einer beruflichen
Ausbildung. Es geht nicht um künstliche Verknappung.
Diejenigen, die die Möglichkeit, die Fähigkeit haben, den
einen oder den anderen Weg zu gehen, müssen in diesem
Land auch die Chance haben, diesen Weg zu gehen.
Deshalb handelt diese Koalition und legt nach dem
Berufsorientierungsprogramm und nach der Allianz
für Aus- und Weiterbildung diese Novelle zum Meister-BAföG vor, meine Damen und Herren. Wir haben
einen guten Gesetzentwurf, den Frau Wanka vorgelegt
hat. Die Fallzahlen werden zunehmen. Entbürokratisierung ist wichtig, ebenso die Chance, die Förderhöhen
nach vorn zu bringen. Das sind die drei wesentlichen
Punkte dieser Novelle. Aber wir werden aus einem guten Gesetzentwurf, Frau Dr. Hein, im Verlaufe des Gesetzgebungsverfahrens ein noch besseres Gesetz machen
können; denn wir haben mit den Haushältern der Regierungsfraktionen die Voraussetzungen dafür geschaffen,
dass wir in diesem Bereich mehr machen können.
Ich belege das am Beispiel der Frage, wie wir mit der
Gleichwertigkeit umgehen. Der Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag beim BAföG beträgt 50 Prozent. Bisher
betrug er im Bereich des Meister-BAföGs 44 Prozent.
Der Gesetzentwurf sieht noch 47 Prozent vor. Wir werden jedoch im Gesetzgebungsverfahren für vollständige
Gleichwertigkeit zwischen BAföG und Meister-BAföG
sorgen und hier ebenfalls 50 Prozent erreichen, meine
Damen und Herren. Das finde ich auch richtig.
({6})
Wenn wir über Gleichwertigkeit zwischen akademischer und beruflicher Ausbildung sprechen, dann müssen
wir Schritte zur Gebührenfreiheit auch im Bereich der
beruflichen Ausbildung unternehmen. Es ist richtig und
gut, dass es in Deutschland inzwischen keine Studiengebühren mehr gibt. Aber ich sage Ihnen: Wir wollen,
dass es irgendwann auch keine Meistergebühren mehr
gibt, die die Menschen so belasten, dass dieser Weg zum
Problem wird.
({7})
Deshalb wird der Zuschuss zu den Kurs- und Prüfungsgebühren von uns maßgeblich angehoben.
Wir sagen auch: Anstrengung, Leistung und Erfolg
müssen sich lohnen. Deshalb wird im Rahmen der gesetzgeberischen Beratung die Erfolgskomponente beim
Meister-BAföG noch einmal gestärkt.
({8})
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Diese Novelle des Meister-BAföGs ist die größte Novelle seit dem
Jahr 2002. Mit dem, was die Haushälter uns zur Verfügung gestellt haben, erreichen wir mit 80 Millionen Euro
im Jahr die größte Ausweitung des Meister-BAföGs seit
2002.
Ich habe es vorhin gesagt: Wir stehen vor großen Herausforderungen in diesem Land; an anderer Stelle ist darüber schon gesprochen worden. Wenn es um Integration
geht, werden wir vor allen Dingen im Bereich der beruflichen Ausbildung eine ganze Menge Anstrengungen
unternehmen müssen, damit nicht nur die Menschen, die
schon bei uns leben, sondern auch diejenigen, die jetzt zu
uns kommen und eine Chance verdienen, über berufliche
Ausbildung eine Chance auf gemeinschaftliches Leben
und auf Selbstbestimmung haben. Dafür müssen wir
noch eine ganze Menge mehr tun; ich habe jetzt nicht die
Zeit, das deutlich zu machen.
Das ist richtig, Herr Kollege.
({0})
Aber Sie sind mit mir einer Meinung, Herr Präsident,
dass dieser wichtige Schritt beim Meister-BAföG in die
richtige Richtung geht. Darüber hinaus werden wir zukünftig die Berufsschulen stärken müssen.
Meine Damen und Herren, es bleibt dabei: Freiheit
und selbstbestimmtes Leben, das geht nur mit gleichen
Bildungschancen, das geht nur mit Chancen auf eine gute
berufliche Ausbildung.
({0})
Deshalb ist dies ein guter Tag in diesem Land.
Herzlichen Dank.
({1})
Nun erhält die Kollegin Walter-Rosenheimer für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Hubertus Heil ({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin! Liebe Zuhörer
und Zuhörerinnen! Im Koalitionsvertrag heißt es - ich
zitiere -:
Angesichts des demographischen Wandels ist das
lebenslange Lernen so wichtig wie nie. Diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe wollen wir im Rahmen der „Allianz für Aus- und Weiterbildung“ bewältigen.
Heute wissen wir, dass diese Aufgabe nicht so ganz gelungen ist.
Richtig ist, dass das lebenslange Lernen in einer Gesellschaft, die sich derart rasant verändert, so wichtig ist
wie nie zuvor. Richtig ist auch, dass Sie mit der Öffnung
des Meister-BAföGs überfällige Anpassungen vollzogen
haben. Es ist tatsächlich höchste Zeit, dass auch Bachelorabsolventinnen und Studienabbrecher beim Weiterlernen ordentlich gefördert werden. Auch die Erhöhung von
Leistungen und Freibeträgen ist ein Schritt, der wirklich
kommen musste.
Beides - das sage ich in aller Deutlichkeit - begrüßen
wir ausdrücklich.
({0})
- Ja, wir sehen das schon realistisch. Ein Aber kommt
aber natürlich noch: In unseren Augen muss ein wegweisender Schritt für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe
nämlich noch ein bisschen anders aussehen.
Aufstieg durch Bildung ist in unserem Land immer
noch viel zu wenigen vorbehalten. Es ist - Sie haben
es gesagt, Frau Hein - immer noch auch eine soziale
Frage. Daran ändert leider auch die Öffnung des Meister-BAföGs nicht so viel, wie wir uns das wünschen würden.
({1})
Nutzen Sie doch bitte Ihre große 80-Prozent-Mehrheit
für wegweisende Reformen, von denen dann alle Menschen profitieren.
({2})
Uns geht es hier gar nicht um Pauschalkritik. Die Öffnung des Meister-BAföGs ist wichtig. Darüber freuen
wir uns auch. Das habe ich gesagt. Aber die Maßnahme
greift zu kurz, und sie vergisst, dass nicht alle, die sich
weiterbilden möchten, Meister, Hochschulabsolventinnen oder Studienabbrecher sind.
Frau Ministerin, auf Ihrer Webseite steht der schöne
Werbesatz: „Das Meister-BAföG: Für alle, die hoch hinauswollen.“ Dieses Meister-BAföG hat viel Gutes, aber
es steht definitiv nicht allen offen, die hoch hinauswollen.
({3})
- Ja, man braucht Voraussetzungen dafür. Man kann es
aber auch so anpassen, dass mehr Menschen davon profitieren können.
Was sagen Sie zum Beispiel der russischen Erzieherin,
die in einer Hamburger Kita arbeiten möchte und im Rahmen des Anerkennungsgesetzes eine Nachqualifizierung
braucht? Oder nehmen Sie den anerkannten Asylbewerber, der aus Syrien kommt und in München als Bäcker arbeiten möchte. Diesen bildungsinteressierten Menschen
müssen Sie ehrlicherweise sagen, dass sie auf ihrem Weg
zur Fachkraft in Deutschland keine Unterstützung durch
das Meister-BAföG bekommen.
Das liegt nun ganz sicher nicht daran, dass diese Menschen nicht hoch hinauswollen.
({4})
Nein, es liegt allein daran, dass Sie es bisher versäumt
haben, die notwendigen Reformen vorzunehmen, damit
auch Teilnehmende an Anpassungs- und Nachqualifizierungen durch das Meister-BAföG unterstützt werden
können.
Ruhen Sie sich also bitte nicht auf der Erhöhung von
Freibeträgen und Leistungen aus, sondern sorgen Sie dafür, dass in Zukunft wirklich alle Menschen, die lernen
und sich weiterentwickeln wollen, ja alle, die hoch hinauswollen, vernünftig gefördert werden.
({5})
Das größte Problem der Weiterbildung ist doch, dass
viele erst gar keine Chance haben, an guten Bildungsangeboten teilzunehmen. Zum Beispiel Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss, Migrationshintergrund oder
geringem Einkommen, aber auch sehr viele Alleinerziehende, die in typischen Frauenberufen arbeiten, nehmen
immer noch viel zu wenig am lebenslangen Lernen teil.
Das wissen wir aus vielen Statistiken.
({6})
- Es ist aber auch kein Zufall, liebe Kollegen. Sie haben aufgrund ihrer Umstände einfach keine Chance auf
berufliches Fortkommen. Das hat strukturelle Gründe.
Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, da eine Lösung zu
finden.
({7})
Mit unserem Antrag „Bildungszeit PLUS“ - der Titel
ist ein Titel, Frau Hein; aber der Inhalt ist ja das Wesentliche - gibt meine Fraktion genau darauf Antworten. Wir
sind davon überzeugt, dass aus einem Meister-BAföG für
wenige eine gerechte Weiterbildung für alle werden soll.
({8})
Dafür müssen die Maßnahmekosten und der Lebensunterhalt auch für finanziell schlechter Gestellte bezahlbar
werden.
Deshalb fordern wir Sie auf, Frau Ministerin: Bauen
Sie das Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz so um,
dass es diesen Namen auch verdient.
Wir alle wissen, dass gute Bildung Zeit und Geld kostet und dass genau das oft Mangelware ist. Unser Modell
der Bildungszeit PLUS basiert deshalb auf zwei Säulen:
Erstens wollen wir einen individuellen Mix aus Zuschuss und Darlehen verankern, der die Lebens- und Einkommenssituation berücksichtigt und gerade die Schwächeren fördert. Deshalb gilt bei uns der Grundsatz: Wer
weniger hat, bekommt mehr und umgekehrt.
({9})
Zweitens muss es in Zukunft wesentlich leichter werden, dass Berufstätige ihre Arbeitszeit für Fort- und Weiterbildungen vorübergehend reduzieren können, ohne
Angst, dass sie später nicht mehr im alten Stundenumfang zurückkehren können.
({10})
Ihre Änderungen am Meister-BAföG werden leider
nicht ausreichen, um die Weiterbildung so richtig vom
Kopf auf die Füße zu stellen. Seien Sie mutig! Wagen Sie
mit uns eine große Reform, damit in Zukunft wirklich
alle, die hoch hinauswollen, auch hoch hinauskönnen.
({11})
Nun hat die Bundesministerin für Bildung und Forschung, Frau Professor Wanka, das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben
vor kurzem hier im Bundestag über das EFI-Gutachten
und über die Bedeutung von Wissenschaft, Forschung
und Innovation für Deutschland diskutiert. Die zweite
wichtige und entscheidende Komponente für die Wirtschaftsstärke Deutschlands ist die akademische und berufliche Fachkräftesituation. Wir reden verstärkt - Herr
Heil hat es angesprochen - über Probleme in diesem Bereich. Es gibt zu wenige, die sich dafür interessieren, und
zu viele, die in andere Berufe gehen. Es gibt Schreckensszenarien, auf welcher statistischen Basis auch immer. Es
ist richtig, das zu analysieren; aber entscheidend ist in der
Politik, dass man handelt, dass man etwas macht.
Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute hier vorlegen,
wird volkswirtschaftlich etwas sehr, sehr Wichtiges realisiert. Das ist ein entscheidender Beitrag. Es ist kein
Beitrag, mit dem die gesamte Weiterbildungsthematik
von A bis Z geregelt wird. Vielmehr ist es ein Beitrag,
mit dem wir dafür Sorge tragen, dass wir fachlich qualifizierte, praxiserfahrene Menschen in diesem Land haben;
und die brauchen wir dringend. Sie sind die Basis unseres
Wohlstandes.
({0})
Vielleicht ist das nicht jedem so klar: Wenn Sie zum
Beispiel Firmen - auch kleine Firmen - in den USA
nehmen und fragen: „Wer leitet so eine Firma?“, dann
werden Sie feststellen, dass das immer Leute mit einer
akademischen Ausbildung sind. Die steigen oben ein.
Das geht natürlich bei uns in Deutschland auch, aber
dass man einen Beruf lernt, dass man Geselle, Meister
etc. wird und dann die Führung übernimmt, das ist unsere
besondere Stärke. Deswegen müssen wir diesen Weg, der
uns so erfolgreich macht, weiter unterstützen.
Nun nützt das dem Einzelnen, der eine Weiterqualifikation zum Meister machen will, nichts, wenn er weiß,
dass das volkswirtschaftlich bedeutsam ist. Kann sein,
dass er das weiß, aber entscheidend ist für ihn die Frage: Was habe ich davon? Was habe ich davon, wenn ich
zum Beispiel Frisör bin und Handwerksmeister werden
will, wenn ich Kfz-Mechatroniker bin und Meister werden will, wenn ich Kauffrau bin und Fachwirtin werden
will oder wenn ich Sozialassistent bin und Erzieher werden will? Da muss man sagen, dass die Perspektiven
heute ausgezeichnet sind. Es wurde angesprochen: Das
niedrigste Risiko, arbeitslos zu werden, hatten über viele Jahrzehnte immer die mit einem akademischen Abschluss. Das ist mittlerweile auch bei den Meistern so. Sie
haben ein ganz niedriges Risiko, jemals in ihrem Leben
arbeitslos zu werden. Und wenn man sich die Entwicklung der Einkommen anschaut, dann muss man sagen:
Der Trend bei den Meistern geht steiler nach oben als
bei den Hochschulabsolventen. Was natürlich sehr schön
ist, das ist diese Chance, unter Umständen eine hohe Arbeitszufriedenheit zu erreichen, indem man einen Betrieb
selber leitet bzw. führt.
({1})
Aber um diese anspruchsvolle Aufstiegsprüfung wirklich zu bestehen, sind eine Reihe von Hürden zu bewältigen - nicht nur tausend und mehr Unterrichtsstunden,
die man bezahlen muss, sondern auch noch vieles andere mehr. Deswegen war es richtig und in der Geschichte der Bundesrepublik ein entscheidender Schritt, 1996
überhaupt dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz
eingeführt zu haben, das festlegt, dass eine Ausbildung
zum Meister gefördert wird. Herr Heil, 2002 hatten wir
eine Novelle. 2009 gab es eine weitere Novelle. Seitdem
gibt es zum Beispiel den pauschalen Kinderbetreuungszuschlag und die Regelung, dass einem im Falle eines
guten Prüfungsergebnisses Teile des Darlehens erlassen
werden. Wir wollen auf dieser Basis gemeinsam ansetzen und das erfolgreichste, wichtigste und bedeutendste
Förderinstrument für die Qualifizierung im beruflichen
Bereich, dieses Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ich sage nicht so gerne Meister-BAföG, weil auch Erzieherinnen und viele andere davon profitieren -, novellieren.
Ich glaube, dass es ganz wichtig ist - da bin ich ganz
anderer Meinung als manch andere, die hier schon vorgetragen haben; mir geht es nicht darum, dass man ein
Instrument für alle hat -, dass man ein Angebot hat, das
passgenau auf die jeweilige Lebenssituation zugeschnitten ist.
({2})
Es ist nun einmal so, dass jemand, der Meister werden
will, oft schon eine Familie und einen gut bezahlten Job
hat. Seine Situation ist eine ganz andere als die der großen Zahl der Studierenden, die mit 18 oder 19 Jahren in
das soziale System, beispielsweise an der Hochschule,
hineingehen. Deswegen bin ich dafür, dass wir passgenaue Angebote machen.
Frau Hein, Sie haben nach dem Kinderbetreuungszuschlag gefragt. Es ist natürlich klar, dass jemand, der
studiert und ein Kind bekommt - das trifft auf viel zu
wenige in dieser Lebensphase zu -, sehr stark unterstützt
wird, beispielsweise über das Studierendenwerk. Diese
Unterstützung erhält jemand, der eine Frau und zwei
Kinder hat und zum Meisterlehrgang geht, nicht. Deswegen ist die Frage des Unterhaltes für die Familie sehr zentral, deshalb ist der Kinderbetreuungszuschlag im AFBG
auch einkommensunabhängig zu gewähren.
Im Antrag der Grünen steht, dass sie einen sozial gestaffelten Unterhalt wollen. Sozial gestaffelt ist vieles.
Aber ich warne sehr davor: Wenn man einkommensunabhängige Komponenten, die in diesem Gesetzentwurf
enthalten sind, zum Beispiel den Kinderbetreuungszuschlag und den Maßnahmebeitrag, einkommensabhängig
gestaltet, fallen fast alle heraus, die arbeiten und sich in
Teilzeit qualifizieren. Das ist nicht die Absicht. Das wäre
ein großer Nachteil.
({3})
Meine Damen und Herren, es geht nicht nur um mehr
Geld, sondern es geht auch um Modernisierung. Es geht
darum, sich auf die Situation einzurichten, die wir jetzt
im beruflichen System vorfinden. Frau Hein, Sie haben
gesagt, es sei sehr schwierig, sich durch alle Gesetze zu
wühlen. Sie haben sicherlich recht. Aber für die Erzieherinnen - sie waren Ihr Beispiel - wird dieses Gesetz,
dessen Entwurf uns jetzt vorliegt und den Sie hoffentlich
gut finden, sichern, dass wir bei der Ausbildung zur Erzieherin, wenn sie entsprechend geordnet ist, durchgängig fördern können. Wenn allerdings ein Land den Weg
so wählt, dass erst die schulische Ausbildung stattfindet
und dann ein Jahr Praxiszeit absolviert wird, dann muss
diejenige tariflich beschäftigt werden. Das halte ich auch
für richtig. Aber es ist in der Qualifizierung zur Erzieherin möglich, durchgängig zu finanzieren. Das ist neu.
Das gab es vorher nicht. Das ist eine Veränderung, die
sich auf eine real notwendige Situation eingerichtet hat,
meine Damen und Herren.
({4})
Beim Thema Praktikum verstehe ich überhaupt nicht,
wie man generell fordern kann - das findet man so in
dem Antrag -, dass man eine Finanzierung des Praktikums durch dieses Gesetz realisieren soll. Warum soll
ein Meisterschüler, der voll qualifiziert ist und in einem
Betrieb arbeitet, nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden, statt mit einem Stipendium oder einem entsprechenden Betrag über das AFBG abgespeist
zu werden? Ich glaube, es ist an dieser Stelle notwendig,
sich dies genau anzusehen. Man darf nicht glauben, ein
Maßstab für alle sei das Gerechte. Im Gegenteil, das ist
total ungerecht.
({5})
Die höheren und zeitgemäßen Förderleistungen, die
Erhöhungsbeiträge im Familienbereich, die wir vorgesehen haben, sind sehr gut. Ich bin sehr dankbar, dass die
Koalitionsfraktionen im Haushaltsausschuss verankert
haben, dass die Zuschussanteile im parlamentarischen
Verfahren noch gestärkt werden.
({6})
Das ist nicht nur für den Einzelnen wichtig, sondern auch
für die Wahrnehmung. Draußen wird genau geschaut,
was man macht, wie viele Millionen oder Milliarden man
ausgibt. Schon im Jahr 2014 haben wir eine halbe Milliarde Euro an Förderleistung über das AFBG ausgegeben.
Dieser Betrag wird noch einmal angehoben. Ich bin sehr
erfreut über das, was dazugekommen ist.
({7})
Das heißt zum Beispiel, dass das Budget, das ein Geförderter bekommt, wächst. Das, was er zurückzahlen
muss, wird weniger als vorher. Das ist also eine echte
Verbesserung. Dass das Restdarlehen bei erfolgreichem
Abschluss reduziert oder erlassen wird, ist eine Leistungskomponente. Ich habe auf vielen Meisterfeiern erlebt, wie engagiert die jungen Meister sind und welchen
hohen persönlichen Aufwand sie betreiben. Wenn das so
belohnt wird, ist das ein richtiges Signal.
({8})
Aber es geht auch um die strukturellen Verbesserungen, um die Veränderungen. Angesprochen wurde der
Abschluss als Bachelor. Ja, wir haben jetzt die Möglichkeit, dass Studienabbrecher, wenn sie keinen Erstabschluss in dem Beruf haben, in diese Richtung gehen
können und den Meister machen können. Wenn ich sehe,
wie viele Firmenchefs in den nächsten zehn Jahren im
Bereich des Handwerks wegfallen, dann wird das nicht
nur durch die klassische Meisterausbildung kompensiert,
und deshalb brauchen wir auch gute Leute mit einem
Bachelorabschluss. Das ermöglichen wir jetzt an dieser
Stelle.
({9})
Wir sind auch weitergekommen, was die Durchlässigkeit betrifft. Wenn heute jemand eine berufliche Ausbildung gemacht - etwa zum Kfz-Mechatroniker - und
in dem Beruf drei Jahre gearbeitet hat, kann er an die
Hochschule gehen. Da braucht er keinen Meister zu
machen. Er kann, wenn er das will, direkt an die Hochschule gehen, dort einen Bachelor machen und wird gegebenenfalls mit BAföG unterstützt. Wenn ein Meister
meint: „Ich muss mich weiterqualifizieren“, und er einen
Masterabschluss machen will, dann bekommt er gegebenenfalls auch BAföG. Das ist an dieser Stelle die Logik.
Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieser Gesetzentwurf ein starkes Signal ist; denn wir beseitigen die
Hürden, die unter Umständen bestehen, wenn es darum
geht, eine Meisterausbildung anzufangen, wir agieren
hier richtig, machen es familienfreundlicher, machen
es - ein Punkt, der noch gar nicht erwähnt wurde - auch
unbürokratischer. Das heißt, die Zahl der Unterlagen, die
man vorlegen muss, und der ganze bürokratische Aufwand werden erheblich reduziert. Bürokratie abzubauen,
wird immer gefordert, und ich fände es gut, wenn Sie
sich bei diesem Gesetz, bei dem wir es wirklich machen,
darüber freuten und es auch vielleicht mal irgendwo erwähnten.
({10})
- Das wäre auch mal eine Idee.
Dazu eine Bemerkung. Ich war auch mal in der Opposition; man macht es so: Im besten Fall sagt man, dass
es okay ist. Ansonsten sagt man entweder, dass das, was
vorgelegt wurde, ganz schlecht ist, oder man sagt: Es ist
eigentlich gut, aber … - Und dann listet man alles auf,
was man sich noch vorstellen könnte, egal ob es dazu
passt oder nicht. Das ist geübte Praxis. Hier muss ich
aber sagen, dass man im Ausschuss über das diskutieren
sollte, was Sie vorhin angesprochen haben, zum Beispiel
das Anerkennungsgesetz, das einer polnischen Näherin
oder anderen zugutekommen soll. Denn das ist geregelt;
dafür haben wir viele Mechanismen. Das ist bei der BA
und im SGB verankert. In einer speziellen Situation geht
es um Integration durch Qualifikation, und wir denken da
auch noch weiter.
({11})
Wir denken auch an jemanden, der gerade erst anfängt, also nicht in den Bereich des Meister-BAföG fällt.
Für ihn gibt es die Bildungsprämie. Wir haben sie evaluiert und analysiert, wer sie besonders stark in Anspruch
nimmt. Es sind insbesondere Frauen und Menschen mit
Migrationshintergrund.
Wir haben also viele Instrumente. Das Gesetz, das
heute vorliegt, ist mit Blick auf das Thema „Aufstieg in
der beruflichen Bildung“ passgenau und richtig gut. Ich
freue mich, wenn wir es verabschieden können.
({12})
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Vielen Dank, Frau Ministerin. - Nächster Redner in der Debatte: Martin Rabanus für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch von meiner Seite einen guten Morgen! Ich darf das sagen; denn
ich finde in der Tat: Es ist ein guter Morgen. Nachdem
wir gestern in der Debatte über die abscheulichen Vorkommnisse in der Silvesternacht diskutieren mussten,
nachdem wir gestern über besorgniserregende Lagen im
Mittleren und Nahen Osten reden mussten, können wir
heute Morgen über Chancen und Möglichkeiten sprechen, über Perspektiven, über Bildung, über Qualifizierung, darüber, dass Menschen ihr Schicksal in die Hand
nehmen wollen. Wir als Koalition sprechen nicht nur darüber, sondern handeln auch tatsächlich: Wir diskutieren
jetzt in erster Lesung den Entwurf eines dritten Gesetzes
zur Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes, wir nehmen eine Novellierung vor. Das, meine sehr
verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, ist gut; das macht diesen Morgen zu einem guten Morgen.
({0})
Ohne Zweifel ist das AFBG das zentrale Instrument der
beruflichen Fortbildung, der Aufstiegsqualifizierung. Mit
dieser Novelle machen wir einen wichtigen Schritt - das
ist schon angeklungen - zu einer echten Gleichwertigkeit
der beruflichen und der akademischen Bildung.
Als wir in der Koalition vor ziemlich genau einem
Jahr begonnen haben, diese Novelle miteinander vorzubereiten, waren wir uns auf der Fachebene schnell sehr
einig, was wir machen wollen. An dieser Stelle darf ich
meinem Kollegen Thomas Feist ganz herzlich danken
({1})
für die konstruktive und menschlich sehr angenehme Zusammenarbeit.
({2})
- Danke schön.
({3})
- Ja, das kann man ruhig mal anerkennen. - Ich darf
auch das Ministerium in den Dank miteinbeziehen. Die
Gespräche, die wir mit Herrn Staatssekretär Müller und
den Kolleginnen und Kollegen geführt haben, waren sehr
gut, und wir haben schon eine ganze Menge konsentieren
können, was dann in den Gesetzentwurf der Bundesregierung eingeflossen ist.
Ich will es benennen: Wir haben die Erhöhung der
förderfähigen Lehrgangs- und Prüfungsgebühren um fast
50 Prozent verabredet, nämlich von gut 10 000 Euro auf
jetzt 15 000 Euro.
({4})
Wir haben verabredet, die Förderung des Meisterstücks um etwa 30 Prozent zu erhöhen, nämlich von gut
1 500 Euro auf jetzt 2 000 Euro.
({5})
Wir haben verabredet, die Vermögensfreibeträge von gut
35 000 Euro auf 45 000 Euro auszuweiten.
({6})
Wir haben viele andere Komponenten miteinbezogen:
die Modernisierung, die Entbürokratisierung, die Frau
Ministerin Wanka eben angesprochen hat, und natürlich
auch die Durchlässigkeit für Bachelorabsolventen. Das
alleine, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht den Gesetzentwurf, den wir vorgelegt haben, zu einem Meilenstein.
({7})
Der Gesetzentwurf beinhaltet aber noch mehr; auch das
ist bereits angeklungen. Er beinhaltet bereits Verbesserungen bei den Zuschusshöhen und beim Belohnungserlass.
Es ist natürlich kein Geheimnis, dass die bisher diskutierten Maßnahmen den Koalitionsfraktionen insgesamt
nicht ambitioniert genug waren. Deswegen bin ich sehr
froh, dass es in den Haushaltsberatungen gelungen ist,
weitere Schritte - auch sie sind benannt worden - zu verabreden und haushalterisch abzusichern. Es ist ja nicht
gerade üblich, dass wir die haushalterische Absicherung
geklärt haben, bevor wir den Gesetzentwurf durchexerzieren. Das bedeutet, dass der Zuschussanteil zum Unterhaltsbeitrag auf 50 Prozent erhöht wird; das bedeutet echte Gleichwertigkeit mit dem BAföG. Der Zuschussanteil
zum Maßnahmebeitrag wird von 30,5 auf 40 Prozent
({8})
und die Erlassquote beim Belohnungserlass von 25 auf
40 Prozent erhöht. Das alles zeigt: Das ist in der Tat eine
große Reform, die hier bevorsteht.
({9})
Neben der großen Reform gibt es noch zwei kleine
Anträge der Opposition, auf die ich in der gebotenen
Kürze eingehen möchte. Ich habe mich in der Tat sehr
gefreut, als ich den Antrag der Grünen gelesen habe. Ich
freue mich, dass sie weitgehend zustimmen. Sie schreiben, dass sinnvolle Verbesserungen auf den Weg gebracht wurden und geplante Erhöhungen der Leistungen
zu begrüßen sind. In der Tat - mein Kollege Rossmann
hat es vorhin eingeworfen -: Mehr Lob kann man von der
Opposition eigentlich kaum erwarten. Insofern freue ich
mich auf die konstruktiven Beratungen.
Lassen Sie mich noch einen Satz zur Idee eines Gesetzes zum lebensbegleitenden Lernen sagen. Aus meiner
Sicht steht es im Rahmen der Beratung der Gesetzesnovelle nicht an, darüber zu diskutieren. Aber die Frage,
die dahintersteckt, nämlich: „Macht es nicht Sinn, sich
rechtssystematisch genauer anzugucken, welche Bereiche wir auf Bundesebene in Sachen Bildung wie geregelt
haben und diese möglicherweise in eine neue Rechtslogik zu bringen?“, ist ein Frage, mit der wir als SPD uns
gelegentlich schon beschäftigt haben. Als Stichwort nenne ich ein „Bundesbildungsgesetzbuch“, in dem man in
verschiedenen Bänden zusammenführen könnte, was wir
zu besorgen haben. Darüber würde ich sehr gerne weiter
nachdenken und diskutieren, in der Perspektive selbstverständlich.
({10})
Was den Antrag der Linken angeht, so will ich es relativ kurz machen. Im ersten Teil wird das AFBG sehr
schön beschrieben, dann wird sich insgesamt noch mit
ein, zwei Punkten des AFBG befasst. Unter anderem
wird die Forderung des Bundesrates nach vollständiger
Übernahme der Kosten durch den Bund aufgenommen.
Damit kann ich zum Schluss kommen, Frau Präsidentin. Es gibt unterschiedliche Forderungen, auch des Bundesrates. Ich freue mich, dass wir über all diese Forderungen in den kommenden Wochen konstruktiv diskutieren
werden. In einigen Wochen können wir dann sicherlich
stolz sagen: Wir haben eine substanzielle BAföG-Reform auf den Weg gebracht, wir haben eine substanzielle
Reform des Meister-BAföGs auf den Weg gebracht, und
wir haben einen wichtigen Schritt zur Gleichwertigkeit
von akademischer und beruflicher Bildung getan.
Herzlichen Dank.
({11})
Vielen Dank, lieber Kollege Rabanus. Der nächste
Redner ist Albert Rupprecht für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Frau Walter-Rosenheimer, zunächst
einmal sage ich Danke schön für das Lob und die Anerkennung. In der Tat ist es relevant - und es wird immer
relevanter -, darüber nachzudenken, wie man lebenslanges Lernen und Fortbildung unterstützt und entsprechend
in die Gesetzgebung einordnet. Aber Ihr Vorschlag, das
Meister-BAföG aufzublähen und zu einem allgemeinen
lebenslangen Fortbildungsinstrument zu machen, wäre
nach meiner festen Überzeugung der völlig falsche Weg.
Das wäre verheerend. Am Schluss würde das Meister-BAföG vollkommen unter die Räder kommen und
untergehen.
({0})
- Weil es genau so ist, wie die Ministerin gesagt hat:
Es bedarf einer passgenauen Lösung. Aus dem gleichen
Grund können wir das Studierenden-BAföG und das
Meister-BAföG nicht zusammenlegen. Das BAföG muss
an die unterschiedlichen Gegebenheiten präzise angepasst werden. Das gilt übrigens auch für Ihren Vorschlag,
die Flüchtlingsfrage einzubeziehen. Auch für die Flüchtlinge benötigen wir spezifische, passgenaue Programme.
({1})
Das Meister-BAföG derart massiv zu verhunzen und aufzublähen, wäre ein absolut falscher Weg. Ihr Vorschlag
zeigt im Übrigen, dass die Grünen eine Partei von Akademikern ist, die von beruflicher Bildung herzlich wenig
Ahnung haben.
({2})
Herr Heil, Sie haben gesagt, dass das Parlament in
der Regierungszeit von Willy Brandt das Studierenden-BAföG beschlossen hat. Ich sage: In der Regierungszeit des Kanzlers Helmut Kohl haben wir das
Meister-BAföG beschlossen. Wir feiern in diesem Jahr
den 20. Geburtstag des Meister-BAföGs. Das freut uns
umso mehr, weil es ein Kind von CSU und CDU ist. Man
könnte fragen: Wieso hatten Willy Brandt und die Sozialdemokraten die berufliche Bildung damals nicht mit
im Blick? Warum hat man damals nicht auch das Meister-BAföG beschlossen?
({3})
In jedem Fall ist es so, dass CSU und CDU immer ein
starkes Augenmerk auf die berufliche Bildung hatten. Ich
bin heilfroh - das können wir jetzt feiern -, dass wir mit
dem Meister-BAföG so viel hinbekommen haben.
({4})
- Ja, ich denke, da kann man ruhig klatschen. - Wir haben
1,7 Millionen Aufstiegsfortbildungen ermöglicht; das
Fördervolumen betrug 6,9 Milliarden Euro. Ich sage es
noch einmal: Ohne den damaligen Beschluss der Union
gäbe es heute Hunderte, ja Tausende von Facharbeitern,
Meistern und Technikern nicht. Es gäbe auch weniger
Unternehmer in diesem Land; denn wir brauchen Meister
zur Führung der Handwerksbetriebe. Deswegen war das
1996 eine weitreichende und richtige Entscheidung.
Für uns war berufliche Bildung immer das Thema.
So war das auch bei den Koalitionsverhandlungen. Jeder Partner hat andere Schwerpunkte. Am Schluss einigt
man sich auf etwas. In den Koalitionsverhandlungen war
klar, dass die Stärkung der beruflichen Bildung für uns
ein Topthema war.
({5})
Deswegen haben wir ein ganzes Maßnahmenbündel formuliert. Vieles davon haben wir schon umgesetzt. Dabei
verfolgen wir ein Leitbild - es ist hier schon mehrfach
angeklungen -: Akademische und berufliche Bildung
sind gleichwertig; das sind zwei gleichwertige Säulen.
Dieses Leitbild hat weitreichende Konsequenzen, zunächst für die persönliche Ebene. Was heißt das für den
jungen Menschen? Er muss sich frei entscheiden können.
Seine Entscheidung darf nicht durch Falschinformationen oder öffentliche Diskussionen darüber, ob das eine
oder andere mehr wert ist, verzerrt werden. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene - auch die Ebene muss betrachtet werden - braucht man ein vernünftiges Maß, ein
angemessenes Verhältnis zwischen akademischer und
beruflicher Bildung. Dieses vernünftige Maß geht aber
immer mehr verloren. Das wird deutlich, wenn man sich
die Prognosen anschaut. Ich nenne die Zahlen: 2000 ist
ein Drittel eines Jahrgangs, einer Alterskohorte an die
Hochschulen gegangen, während zwei Drittel den Weg
der beruflichen Bildung gewählt haben. Die KMK prognostiziert für das Jahr 2020 - das ist in vier Jahren -,
dass das Verhältnis dann genau umgekehrt sein wird. Das
heißt, dass zwei Drittel eines Jahrgangs an die Hochschulen gehen wollen und ein Drittel die berufliche Bildung
wählen wird, und das alles bei einer geringeren Anzahl
Schulabgänger.
Wenn diese Prognosen Wirklichkeit werden, dann
werden wir einen großen Fachkräftemangel haben. Dann
werden wir natürlich auch in manchen akademischen
Berufen einen Fachkräftemangel haben, beispielsweise
bei den Ingenieuren, aber der Fachkräftemangel im beruflichen Bereich wird um den Faktor zehn größer sein.
Er wird eine Dimension annehmen, in dessen Folge davor kann man nur warnen - unsere mittelständischen
Strukturen und unsere Handwerksbetriebe in Gänze zur
Disposition gestellt werden. Viele Firmen werden keine
Nachfolgeregelung finden können, werden Aufträge ablehnen müssen, weil es keine Mitarbeiter mehr gibt. Das
kann nicht unser Weg sein.
({6})
Um es noch einmal klar zu sagen: Wir brauchen zwei
starke Säulen. Hinsichtlich der Stärkung der akademischen Ausbildung brauchen wir uns von niemandem etwas vorwerfen zu lassen. Wir brauchen starke Hochschulen, eine starke Lehre und eine exzellente Forschung. Es
gibt keine politische Kraft in Deutschland, weder historisch noch aktuell, die mehr für die Hochschulen getan
hat als diese unionsgeführte Regierung seit 2005.
({7})
Ich nenne einmal die Begriffe - ich will das eine nicht
gegen das andere ausspielen -: Hochschulpakt - 20 Milliarden Euro vonseiten des Bundes, obwohl es Länderaufgabe wäre; Exzellenzinitiative - 4,6 Milliarden Euro,
wodurch wir einen Impuls in die Hochschulen hineingeben; Qualitätspakt Lehre - 2 Milliarden Euro, um hohe
Qualität an den Hochschulen zu schaffen. Es gibt noch
vieles andere mehr. Ich sage noch einmal: Obwohl das
im Wesentlichen originär die Aufgabe der Länder wäre,
machen wir das, weil wir starke Hochschulen wollen.
Das ändert aber nichts daran, dass wir eines nicht
brauchen: dass viele junge Menschen aufgrund von falschen Vorstellungen, falschen Informationen und falschen Werturteilen an die Hochschulen gehen und nach
Jahren dann feststellen, dass sie in der beruflichen Bildung eigentlich wesentlich besser aufgehoben wären.
Wenn ein Drittel der Studierenden die Hochschulen ohne
Abschlüsse wieder verlassen, ist das doch ein klares Indiz, dass die Entscheidung vorher nicht treffsicher und
richtig war.
({8})
Wir brauchen es nicht, dass zwei Drittel eines Jahrgangs an die Hochschulen gehen, wenn zur selben Zeit
Lehrstellen umfänglich nicht besetzt werden können,
wenn wir zu befürchten haben, dass wir in wenigen Jahren Millionen Facharbeiter zu wenig haben werden. Deswegen ist es unabdingbar gewesen, nicht nur kosmetisch
ein bisserl zu machen, sondern mit einem Maßnahmenpaket die berufliche Bildung wesentlich zu stärken. Dieses Maßnahmenpaket steht im Koalitionsvertrag. Vieles
davon haben wir schon umgesetzt. Das Meister-BAföG,
über das wir heute debattieren, ist ein gewichtiger und
wesentlicher, aber nicht der einzige Baustein, den wir
setzen.
({9})
Wir brauchen dreierlei: Wir brauchen die Gleichwertigkeit von akademischer und beruflicher Bildung. Diese
Gleichwertigkeit darf nicht nur ein Motto sein, sondern
sie muss sich materiell abbilden. Deswegen haben wir
das Meister-BAföG nicht nur punktuell ein bisschen angepasst, sondern wir werden es - das ist schon gesagt
worden - im parlamentarischen Verfahren auf dieselbe
Ebene wie die akademische Förderung stellen. Das heißt,
der Zuschussanteil wird von 44 Prozent gewichtig auf
50 Prozent erhöht und ist dann gleichgestellt mit dem
beim Studierenden-BAföG, der auch 50 Prozent beträgt.
Ich glaube, das ist ein richtiges Signal und tolles Ergebnis.
({10})
Das war Kernanliegen der Unionsfraktion.
({11})
Wie ist es dazu gekommen? Wir haben mit der Ministerin das erste Paket vorbereitet, natürlich im Rahmen der
haushalterischen Mittel. Es war dann die Unionsfraktion
in der Führungsklausur im September unter Führung von
Volker Kauder, die gesagt hat: Wir wollen die Gleichwertigkeit schon in diesem Schritt umsetzen.
({12})
- So war es, Herr Heil. Das ist historisch richtig. Den Beschluss gab es bei uns in der Fraktionsführungsklausur,
bei der SPD nicht. - Es war damals die klare Ansage,
dass wir das wollen. Die Haushälter haben das mit unterstützt, und ich bin heilfroh, dass die SPD diesen Weg
mitgegangen ist.
({13})
Im Ergebnis heißt das, dass wir die Gleichwertigkeit
hinbekommen und 27 Millionen Euro im parlamentarischen Verfahren noch einmal draufsetzen.
({14})
Wir stellen ein Gesamtpaket von 56 Millionen Euro
vonseiten des Bundes inklusive - Kollege Heil hat es
gesagt - des Länderanteils von 80 Millionen Euro zusätzlich für das Meister-BAföG pro Jahr zur Verfügung.
Geld alleine reicht aber nicht. Wir brauchen darüber
hinaus richtige und realistische Einschätzungen von Fähigkeiten und Fertigkeiten bei jungen Menschen.
({15})
Deswegen ist es absolut wichtig, dass wir die Berufsorientierung ausbauen, übrigens auch an den Gymnasien. Es
kann nicht sein, dass sie dort bisher viel zu wenig gelebt
wird.
({16})
Wir brauchen auch eine realistische Sicht auf Karriereperspektiven bei den jungen Menschen. Es ist einfach
falsch, zu glauben, dass ein Akademiker mehr verdient.
Viele gehen der OECD hier auf den Leim. Das mag im
Durchschnitt stimmen, aber wenn man konkret auf die
Berufsgruppen schaut, sieht man: Es ist sehr wohl der
Fall, dass der Weg der beruflichen Bildung in vielen Bereichen auch aus finanzieller Sicht karriereperspektivisch
sehr attraktiv ist.
Lassen Sie mich abschließend noch eine bemerkenswerte Sache ansprechen, die mich sehr freut. Das, was
wir nach meiner Einschätzung am Ende des parlamentarischen Verfahrens beschließen werden, ist praktisch
deckungsgleich mit dem, was die CSU-Landesgruppe in
Kreuth vor einem Jahr bei ihrer Klausur beschlossen hat.
({17})
Man sieht: Die CSU-Landesgruppe hat eine außerordentliche Weitsicht. Ich freue mich, dass sich die SPD-Kollegen dieser Weitsicht der CSU-Landesgruppe anschließen.
Danke schön.
({18})
Danke, Herr Kollege Rupprecht.
Angesichts der fünften Jahreszeit, in der wir uns befinden, begrüße ich recht herzlich auf der Tribüne das
Köln-Porzer Dreigestirn. Seien Sie herzlich willkommen
bei uns.
({0})
Nächste Rednerin in der Debatte: Katja Dörner aus
Bonn.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Mit Blick auf die Tribüne möchte ich sagen: Es heißt bei uns im Rheinland
„Alaaf“.
({0})
Aber um ganz ernst zu werden: Liebe Kolleginnen,
liebe Kollegen, die Ministerin hat eben über die geübte
Praxis der Opposition gesprochen. Mir scheint es so zu
sein, dass es die geübte Praxis der Regierung ist, die eigenen Gesetzentwürfe trotz der diversen Mängel, die wir
darin sehen, ganz großartig zu finden.
({1})
Vielleicht sind das zwei Seiten einer Medaille, und wir
können uns darauf einigen, dass wir, wenn wir im parlamentarischen Verfahren gemeinsam darüber diskutieren,
im besten Fall zu einem besseren Ergebnis kommen.
({2})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir befinden uns
unzweifelhaft in einer Zeit sehr großer Veränderungen.
Einiges ist schon angesprochen worden: Digitalisierung,
neue technische Möglichkeiten, auch gesellschaftliche
Veränderungen; ganze Ausbildungsberufe verschwinden
innerhalb relativ kurzer Zeit, neue entstehen. Selbstverständlich hat das Auswirkungen auf die Erwerbsbiografien. Viele von uns werden das bedauern: 40-jährige oder
auch 10-jährige Dienstjubiläen werden zunehmend seltener. Arbeitsplatzwechsel und berufliche Neuanfänge
werden Realität, werden Normalität. Auf diese Veränderungen muss sich auch unsere Bildungsförderung einstellen. Darauf müssen die Ausbildungsförderung und auch
die Aufstiegsförderung reagieren. Wir sehen, dass Ihr
Gesetzentwurf da deutlich zu kurz gesprungen ist.
({3})
Sie feiern eine Novelle, die ein Schritt ist; das will ich
gar nicht bestreiten. Aber sie ist eben auch nicht mehr.
Wir meinen, wir müssen hier ganz dringend den Blick
öffnen. Wir dürfen uns nicht mehr nur auf die Aufstiegsfortbildung innerhalb eines einmal gewählten Berufsfeldes konzentrieren. Das ist der Unterschied zu Ihnen und
der Punkt, den wir in dieser Debatte betonen wollen. Ihr
Gesetzentwurf greift diesen Aspekt aber gerade nicht auf.
Deshalb hat er die Zukunft zu wenig im Blick.
({4})
Meine Kollegin hat schon gesagt: Es gibt in Ihrem
Gesetzentwurf auch eine ganze Reihe von Punkten, die
wir begrüßen. Dazu gehört zum Beispiel die Anhebung
der Leistungen und der Freibeträge. Ich habe mich auch
gefreut, zu hören, dass wir beim Unterhaltsbeitrag mit
einer Erhöhung auf 50 Prozent rechnen können; das unterstützen wir natürlich. Das ist eine gute Entwicklung.
({5})
Aber auch hier gilt das, was wir bei der BAföG-Novelle vorgetragen haben: Diese Erhöhung kommt sehr, sehr
spät, und angesichts der tatsächlichen Preisentwicklung
fällt sie einfach zu gering aus. Diese Kritik können wir
Ihnen nicht ersparen.
({6})
An einem weiteren Punkt ist Ihr Gesetzentwurf leider
nicht mutig genug: Sie versprechen die Durchlässigkeit
zwischen akademischer und beruflicher Bildung. Schaut
man aber genau hin, dann sieht man: Es entpuppt sich
diese Durchlässigkeit doch als Einbahnstraße. Es ist ja
super - wir finden das absolut richtig -, dass Bachelorabsolventen und Studienabbrecher zukünftig Meister-BAföG bekommen können. Aber warum wird einer
erfahrenen Fachkraft nicht das Masterstudium ermöglicht? Das wäre aus unserer Sicht tatsächliche und echte
Durchlässigkeit.
({7})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir müssen die
Bildungsförderung endlich für andere Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen öffnen. Sonst werden weiterhin zu
viele von der Weiterbildungsförderung faktisch ausgeschlossen bleiben. Ich habe da insbesondere die älteren
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick. Gerade
einmal 18 Prozent der Empfängerinnen und Empfänger
von Meister-BAföG sind älter als 35 Jahre. Unter lebenslangem Lernen verstehen wir etwas anderes. Wir finden,
an der Stelle besteht deutlicher Handlungsbedarf.
({8})
Ein weiterer Punkt: Gerade einmal 32 Prozent der Geförderten waren Frauen. Dabei gibt es beispielsweise genug Krankenschwestern oder Verkäuferinnen, die schon
lange nach einer neuen beruflichen Herausforderung oder
nach neuen Perspektiven suchen. Da ist die Frage - die
Ministerin hat eben davon gesprochen -: Was ist gerecht?
Wir finden es nicht gerecht, dass diese Personengruppe,
gerade Frauen, nicht in den Genuss dieser Förderung
kommt. Auch an der Stelle wollen wir etwas verändern.
({9})
Denn es ist völlig richtig, wie wir hier gehört haben: Aufstieg durch Bildung muss für jede und für jeden ein erfüllbarer Wunsch sein.
Vizepräsidentin Claudia Roth
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was sollte also passieren? Wir brauchen endlich eine konsequente Förderung des lebenslangen Lernens. Es ist an der Zeit, die
Weiterbildungsförderung und auch die Aufstiegsförderung zu öffnen, sie unabhängiger zu machen, mehr Zugänge zu schaffen, auch für Ältere und auch für Menschen mit geringer Vorbildung. Dafür haben wir mit
unserer „Bildungszeit PLUS“ einen Vorschlag gemacht,
der beinhaltet, dass alle zertifizierten Fort- und Weiterbildungen gefördert werden können, die zu einem anerkannten Abschluss führen. Weil das die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer natürlich Zeit und Geld kostet, schlagen
wir diesen sozial gestaffelten, individuellen Mix aus Darlehen und Zuschüssen vor.
({10})
Ich muss zum Schluss kommen und will noch einmal
versöhnlich sagen: Alles in allem sehen wir es durchaus
so, dass Sie mit dem Gesetzentwurf an wichtigen Schrauben drehen, und Sie drehen auch in die richtige Richtung.
Etwas mehr Weitblick und die Öffnung der Förderung
wären aus unserer Sicht aber gut und wichtig, um den
Weiterbildungsbereich fit für die Zukunft zu machen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({11})
Vielen Dank, Kollegin Katja Dörner. - Nächster Redner: Oliver Kaczmarek für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich glaube, dieser Gesetzentwurf wird zu Recht heute an
der prominentesten Stelle im Plenarablauf besprochen;
denn es geht um eine bildungspolitische Grundsatzfrage.
Es geht nämlich um die hier schon zitierte Gleichwertigkeit von beruflicher und akademischer Bildung und im
Wesentlichen auch um die Wertschätzung für die berufliche Bildung.
({0})
Diese wird eben nicht durch Plakate oder Sonntagsreden
dokumentiert, sondern durch das, was bei den Menschen
ankommt, und dadurch, wie wir es schaffen, Karrierewege zu eröffnen, und ich glaube, hier haben wir in dieser
Wahlperiode schon eine ganze Menge erreicht.
({1})
Ich will die BAföG-Novelle und das Meister-BAföG
noch einmal im Zusammenhang betrachten:
Wir haben in allen Debatten - auch denen zur
BAföG-Novelle - deutlich gemacht, dass das für uns zusammengehört und dass hier die gleichen Ziele verfolgt
werden.
Wir haben erstens gesagt: Es muss eine substanzielle
Erhöhung geben. Das erreichen wir beim BAföG mit der
Erhöhung der Freibeträge und Bedarfssätze ab dem kommenden Wintersemester um 7 Prozent. Das hat es in dieser Größenordnung seit 2008 nicht mehr gegeben. Beim
AFBG - dem Meister-BAföG - erreichen wir das über
die Erhöhung des Zuschussanteils. Bei beiden Gesetzen
ist also eine substanzielle Erhöhung gegeben.
({2})
Zweitens haben wir gesagt: Es soll eine strukturelle
Modernisierung geben, nämlich eine Annäherung an die
Lebenswirklichkeit und an veränderte Bildungsbiografien. Auch das werden wir erreichen. Wir haben beim
BAföG die Bachelor-Master-Lücke geschlossen und
viele andere Dinge gemacht, und wir werden auch beim
Meister-BAföG neue Zielgruppen erreichen. Das Gesetzgebungsverfahren dafür haben wir jetzt noch vor uns,
und das eine oder andere an dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wir sicherlich noch verändern.
Drittens haben wir gesagt: Eine besondere Bedeutung
muss sich nicht nur, aber auch darin niederschlagen, wie
man das haushaltspolitisch unterlegt. Einige Beispiele
dafür möchte ich hier gerne noch einmal nennen:
Beim BAföG werden nicht einmalig, sondern jedes
Jahr 1,2 Milliarden Euro zur Entlastung der Länder zur
Verfügung gestellt, wie dies im Koalitionsvertrag vorgesehen ist.
({3})
Darüber hinaus sind in der Novelle jährlich 500 Millionen Euro zusätzlich und 300 Millionen Euro für Darlehensanteile am Studierenden-BAföG vorgesehen. Diese
Mittel werden nicht im BMBF-Etat zusammengekratzt,
sondern obendrauf gelegt. Es sind also zusätzliche Ausgaben. Das ist eine ganz klare Schwerpunktsetzung, die
wir schon bei der BAföG-Novelle vorgenommen haben.
({4})
Das Schöne beim Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz ist, dass das, was wir im Gesetzgebungsverfahren
jetzt vielleicht noch vorhaben, durch die Weitsicht unserer Haushaltspolitiker schon im Haushalt vorgesehen ist,
bevor der Gesetzentwurf überhaupt verabschiedet wurde.
Das ist also auch on top, wurde obendrauf gelegt. Das
zeigt: Wir wollen, dass die Mittel für die Weiterbildungsförderung direkt bei den Menschen ankommen, und uns
hier nicht auf Sonntagsreden beschränken.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist aber völlig klar:
Nicht alle Aufgaben, die wir auf dem Weg in die Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft für Fachkräfte
schultern müssen, sind damit erledigt.
Ich habe mich ein bisschen über die Botschaft im Antrag der Grünen gewundert, die ich heute Morgen in den
Tickern gelesen habe: Sie wollen statt Meister-BAföG
„für wenige“ Weiterbildung für alle.
Erstens finde ich, dass 172 000 durch das Meister-BAföG Geförderte gar nicht so wenig ist.
({6})
Zweitens. Es geht hier nicht um ein Instrument der
Elitenförderung oder sonst etwas, sondern um eine gezielte Förderung beim Übergang in die Wissensgesellschaft. Letztlich geht es auch um die Verbesserung der
Position von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, denen wir mit diesem Gesetzentwurf einen Aufstieg durch
Qualifizierung ermöglichen wollen.
({7})
Insofern ist das auch etwas, was für breite Zielgruppen in
Betracht kommt.
({8})
Wir müssen die Debatte jetzt weiterführen. Im Übergang zur Wissensgesellschaft brauchen wir für alle, die
sich darauf vorbereiten wollen - ob in der akademischen
Weiterbildung oder für diejenigen, die Grundbildungsdefizite haben -, Instrumente; wir brauchen Zeit, Geld und
Beratung.
Nicht alles muss aber der Staat leisten. Ich finde es
sehr bemerkenswert, dass in der Metall- und Elektroindustrie ein entsprechender Tarifvertrag mit Bildungszeiten vereinbart wurde, den ich beispielgebend finde.
({9})
Aber wir müssen eben auch unsere Instrumente überprüfen. Dafür finde ich auch hier in dieser Debatte viele
Ansätze, zum Beispiel Bildungsprämien und die Verbesserung und Glättung der AFBG-BAföG-Schnittstellen,
damit auch lebensbegleitendes Lernen ermöglicht wird.
Ich freue mich auf die Ausschussdebatte darüber.
Meine Damen und Herren, wir müssen deswegen jeweils auf die Lebenssituation schauen. Wir müssen auf
das schauen, was Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
beim Übergang in die Wissensgesellschaft brauchen. Wir
müssen uns die Instrumente genau ansehen und sie sinnvoll miteinander verbinden, damit wir den Menschen den
Weg in die Wissensgesellschaft, den wir alle gehen wollen, erleichtern.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Nächster Redner in der
Debatte: Dr. Thomas Feist für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Meine werten Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Frau Dörner, was Sie erzählen, ist einfach nicht wahr.
Deswegen muss ich das am Anfang klarstellen. Wir haben - und zwar in beide Richtungen - eine Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung. Ich
bin der lebende Beweis. Wir können uns vielleicht einmal darüber unterhalten.
Wissen Sie, ich habe einen Handwerksberuf - Heizungsmonteur, also richtig mit Arbeit und Hände-dreckig-Machen und so etwas - gelernt. Dann habe ich
Musikwissenschaft, Theologie und Soziologie studiert.
Im Gegensatz zu Ihnen habe ich aber kein Abitur. All
das ist möglich in diesem Land. Und wenn Sie sagen:
„Das ist nicht möglich“, dann erzählen Sie zum Beispiel
den jungen Leuten, die da oben sitzen, die Unwahrheit.
Deswegen: Wir haben eine Durchlässigkeit nach beiden
Richtungen hin. Und dass wir das Meister-BAföG erhöhen, ist eine gute und richtige Sache.
({0})
Ich nehme aufgrund Ihres Nickens an, dass Sie eine
Zwischenfrage oder -bemerkung erlauben.
Aber mit großer Freude.
Frau Dörner, bitte.
Herr Feist, Sie haben mir ja offensichtlich zugehört.
({0})
Ich habe eine ganz kurze Zwischenfrage. Mitnichten
habe ich - das werden Sie mir doch sicher bestätigen - in
Abrede gestellt, dass ein Lebensweg wie der Ihre bzw.
eine Berufskarriere, wie Sie sie absolviert haben, in unserem Land nicht möglich sind, sondern ich habe gesagt,
dass es auch in Ihrem Falle bzw. generell nicht möglich
gewesen wäre, in diesem Kontext Meister-BAföG zu beziehen. Das ist der Punkt, den ich gemacht habe. Es ging
um die Frage: Wann bekommt man welche Förderung?
Und da ist die Durchlässigkeit weiterhin nicht so gegeben, wie wir es uns wünschen würden.
({1})
Das ist ein ganz anderer Kontext als der, den Sie hier
erwähnt haben.
Das ist wirklich eine ganz interessante Vermutung, die
Sie da anstellen, Frau Kollegin. Ja, ich habe studiert, und
ich habe dafür kein Meister-BAföG bekommen. Aber naOliver Kaczmarek
türlich kann man Meister-BAföG bekommen, wenn man
ein Studium angefangen hat. Wir sorgen doch jetzt mit
dieser Gesetzesnovelle gerade dafür, dass diejenigen, die
ein Bachelorstudium angefangen und es auch vollendet
haben, in den Genuss des Meister-BAföGs kommen.
({0})
Wenn Sie richtig - so wie ich es bei Ihnen getan habe zugehört hätten, hätten Sie auch mitbekommen, dass jemand, der ein Meisterstudium abgeschlossen hat, dieses
auch anrechnen lassen kann und dafür BAföG bekommt.
({1})
Insofern geht Ihre Frage wirklich am Ziel vorbei. Wir
haben eine gute Durchlässigkeit, und wir verbessern diese mit dem heute eingebrachten Gesetzentwurf noch erheblich.
({2})
„Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ ist ein sperriger Begriff; deswegen spricht man auch vom „Meister-BAföG“. Ich möchte mich - weil schon viele Kollegen
etwas zu den verschiedenen Teilen dieser Gesetzesnovelle gesagt haben - heute auf das Meister-BAföG aus der
Sicht des Handwerks konzentrieren.
Spätestens wenn man an einer Meisterfeier teilnimmt,
wird man auf den Slogan des Handwerks „Die sichersten Wertpapiere gibt es im Handwerk“ aufmerksam
gemacht. Da ist was dran. Denn ein Meisterbrief - das
haben wir gehört; man kann es aber nicht oft genug sagen, weil darüber noch viele Mythen in der Gesellschaft
herumgeistern - sorgt dafür, dass man unterproportional
von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Die Gefahr, arbeitslos
zu werden, ist um 2,1 Prozent geringer, als wenn man einen akademischen Abschluss hat. Deswegen ist es wichtig, junge Leute zu ermutigen, den Weg der beruflichen
Bildung und der Aufstiegsfortbildung - das heißt eines
Meisterstudiums - zu gehen. Um dafür die Voraussetzungen zu schaffen, werden wir dieses Gesetz novellieren.
({3})
Wir werden - das ist angesprochen worden - den
Zuschuss wesentlich erhöhen. Aber wir werden gerade
dort besonders aufstocken, wo Leistung belohnt werden soll. Das heißt, demjenigen, der ein Meisterstudium
erfolgreich abgeschlossen hat, werden jetzt nicht mehr
25 Prozent des Darlehens erlassen, sondern 40 Prozent.
Leistung soll sich lohnen. Genau das ist Ausdruck dieses
Gesetzes. Deswegen ist dies ein guter Tag und ein gutes
Gesetz, ein Gesetz, das wir jetzt noch weiter verbessern
werden.
({4})
Warum habe ich mich so auf die Meister bezogen? Ich
habe mich auf die Meister bezogen, weil sie nicht nur
Betriebe leiten und Ausbildungsplätze bereitstellen, sondern weil sie in unserem Land auch Vorbilder sind. Dies
zu unterstützen, das ist, denke ich, Aufgabe der Politik,
wie sie sein sollte.
Ich habe letztens in einer Diskussionsrunde mit Sozialpädagogen flapsig das wiederholt, was unser Kammerpräsident immer erklärt. Er sagt: Ein Meister ersetzt fünf
Sozialarbeiter. - Da ist durchaus was dran. Der Widerspruch war überschaubar. Meister sind nicht nur wichtig, weil wir sie für Unternehmensnachfolgen brauchen,
sondern auch deswegen, weil wir Meister brauchen, gestandene Frauen und Männer, die in ihrem Beruf etwas
zuwege gebracht haben und mit Lebenserfahrung und
Wissen junge Leute ausbilden. Deswegen ist die Änderung dieses Gesetzes, wie wir sie jetzt vornehmen wollen, wichtig und gut.
({5})
Die Meister - da komme ich jetzt so langsam zum
Schluss, weil meine Redezeit abläuft - sind auch deswegen eine besonders wertvolle Spezies in diesem Land,
weil sie in ihren Unternehmen Wirtschaftsleistung generieren und junge Leute ausbilden und weil sie das Rückgrat der deutschen Wirtschaft darstellen. Angesichts der
erfolgreichen Entwicklung, etwa in meinem Bundesland
Sachsen, in dem das zweite Jahr in Folge mehr Lehrverträge als vorher abgeschlossen worden sind - über
2,4 Prozent mehr -, ist es wichtig, dass wir etwas für die
Ausbildung der Meister tun. Wenn wir sehen, dass wir in
den nächsten beiden Jahren - die Prognosen schwanken
da etwas - zwischen 550 000 und 580 000 Unternehmensnachfolgen regeln müssen - allein in Sachsen betrifft das über 5 000 Unternehmen -, ist es höchste Zeit,
dass wir attraktive Bedingungen für diejenigen schaffen,
die sich in dieser Art und Weise fortbilden wollen und
Unternehmen übernehmen können.
Als letzten Punkt möchte ich die Regulierung auf
europäischer Ebene ansprechen; ich denke, auch das ist
wichtig. Wenn wir über die Wichtigkeit von Meistern
in Deutschland diskutieren, dann erinnere ich mich daran, dass 2004 einige Berufsgruppen und Berufe aus der
Meisterpflicht herausgenommen worden sind. Dies hat
dazu geführt, dass die Zahl größerer Unternehmen ausgedünnt worden ist und kleine Ein-Mann-Unternehmen
an den Markt kamen, die eben nicht mehr ausbilden. Ein
Beispiel ist das Fliesenlegerhandwerk. Bei Gesellenfreisprechungen kann man sehen, wie wenige in diesem Bereich ausbilden - das ist verschwindend gering.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend mein Appell: Wenn man einmal einen Fehler gemacht hat, dann kann man ihn als solchen benennen. Wir
sollten versuchen, diesen Fehler zu beseitigen.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank, Kollege Feist. - Abschließender Redner
in der Debatte ist Swen Schulz für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie
mich zunächst sagen, dass ich mich freue, heute hier als
Mitglied des Haushaltsausschusses in der Fachdebatte
sprechen zu dürfen.
Wir Haushälter gelten gelegentlich als etwas schwierig.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir gelten vollkommen zu Recht als schwierig: Wenn etwas unsinnig
oder nicht finanzierbar ist, dann geht das nicht durch unseren Ausschuss; Frau Hübinger stimmt mir da zu. Aber
Sie wissen ja, dass die Bildungs- und Forschungspolitik
unsere besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung
genießt.
({1})
Wir Haushälter sind ja Dienstleister für die Fachpolitik. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist tatsächlich das
Meister-BAföG.
Die Bundesregierung hat eine Gesetzesnovelle vorgelegt, die in voller Jahreswirkung 30 Millionen Euro
zusätzliche Ausgaben vorsah. Der Haushaltsausschuss
hat diese Summe nicht nur akzeptiert und unterstützt,
sondern wir haben noch mehr gemacht. Wir haben zur
hellen Freude der Ministerin Wanka den Betrag mehr als
verdoppelt, nämlich auf 70 Millionen Euro jährlich verbesserte Förderung des Bundes,
({2})
und das noch vor Verabschiedung der Novelle. Das ist
ein ziemlich ungewöhnlicher Vorgang, der zeigt, wie
wichtig uns Bildung ist.
Auf diesem Weg haben wir dem Fachausschuss finanziellen Spielraum gegeben, um den guten Gesetzentwurf
der Bundesregierung weiter zu verbessern.
({3})
Wir tragen damit Sorge dafür, dass das Meister-BAföG
zeitgleich mit dem BAföG für Schüler und Studierende
eine ordentliche Verbesserung erfährt, und wir verwirklichen, was wir schon im Koalitionsvertrag als Grundsatz verankert haben: Die berufliche Bildung ist uns
genauso wichtig wie die akademische Bildung. Mit uns
gibt es keine Bevorzugung oder Benachteiligung eines
Bildungsweges, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({4})
Bildung ist von großer Bedeutung. Das ist nicht nur
ein Sonntagsredenspruch. Für die Menschen, ihre Chancen, den sozialen Zusammenhalt, für Wirtschaft und
Arbeit ist Bildung zentral. Bildung darf nicht am leeren
Geldbeutel scheitern. Die Bildungsförderung liegt gerade uns von der SPD am Herzen. Wir wollen soziale Hürden abräumen. Darum war es uns so wichtig, das BAföG
zu verbessern, und darum verbessern wir auch das Meister-BAföG.
Aber das ist nicht alles. Wir haben uns im Koalitionsvertrag noch einiges mehr vorgenommen. Wir haben uns
mit der Bildungsfinanzierung beschäftigt und Entscheidungen gefällt. Bereits im letzten Jahr haben wir die
Begabtenförderung für die berufliche Bildung gestärkt.
In diesem Jahr haben wir die Mittel für die Promotionsförderung erhöht. Und wir starten im kommenden Jahr
eine Initiative für den wissenschaftlichen Nachwuchs im
Umfang von 100 Millionen Euro jährlich.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Schüler-BAföG, Studierenden-BAföG, Meister-BAföG, Begabtenförderung berufliche Bildung und akademische
Förderung: Wir machen die Bildungsfinanzierung in
Deutschland leistungsstärker, besser und gerechter.
({5})
Wir werden uns noch genauer anschauen, wie es mit
der Förderung von Migrantinnen und Migranten weitergeht. Das Thema haben wir auch schon mit Blick auf das
Anerkennungsgesetz und auf nötige Qualifizierungsmaßnahmen in den Koalitionsvertrag aufgenommen. Angesichts der vielen Geflüchteten erhält dieses Thema noch
einmal eine ganz besondere, eine stärkere Bedeutung.
({6})
Wir arbeiten also den Koalitionsvertrag bei der Bildungsfinanzierung Punkt für Punkt ab, ja wir gehen sogar
deutlich darüber hinaus, mit einer prominenten Ausnahme - diesen Dissenspunkt innerhalb der Koalition will
ich auch gar nicht verschweigen -: das Deutschlandstipendium.
({7})
Dem Koalitionsvertrag zufolge sollen 2 Prozent der
Studierenden das Deutschlandstipendium erhalten. Doch
wir sehen eine Stagnation. Die zur Verfügung gestellten
Mittel werden nicht abgerufen. Das haben wir Sozialdemokraten immer kritisiert, und es zeigt sich jedes Jahr
aufs Neue, dass das Deutschlandstipendium keine gute
Idee war.
({8})
Wir sollten stattdessen das Geld dafür verwenden, die
Begabtenförderwerke und das BAföG weiter zu stärken.
({9})
Aber gut, wir sind eben in der Koalition unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen programmatischen
Aussagen. Da wir in der Koalition ansonsten keine Probleme beim Thema Bildungsfinanzierung haben, kann
ich nur sagen: Das ist an dieser Stelle eine gute und erfolgreiche Zusammenarbeit der Koalition auch und gerade im Haushaltsausschuss und mit den Fachpolitikern.
Ich bedanke mich dafür.
({10})
Vielen Dank, lieber Kollege Schulz. - Damit schließe
ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7055, 18/7239 und 18/7234 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Tagesordnungspunkten 5 a
und 5 b:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Mehr Klarheit für den Verbraucher bei der
Bezeichnung von Lebensmitteln - Das Deut-
sche Lebensmittelbuch und die Deutsche Le-
bensmittelbuch-Kommission reformieren
Drucksache 18/7238
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Harald Ebner, Friedrich Ostendorff,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Echte Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission - Mehr Transparenz und
Beteiligung
Drucksache 18/7242
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die Plätze einzunehmen bzw. zu wechseln.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen noch einmal,
Platz zu nehmen und Gespräche woanders zu führen, damit ich die Aussprache eröffnen kann und damit die erste
Rednerin die gebührende Aufmerksamkeit bekommt.
Ich erteile der Kollegin Gitta Connemann für die
CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Früher
war alles besser“, heißt es zu Unrecht. Früher war nicht
alles besser, aber manches einfacher, jedenfalls wenn es
um die Auswahl von Lebensmitteln ging. Das Angebot
war sehr klein. Tante Emma beriet und erklärte selbst,
und vieles wurde zu Hause hergestellt. Zuhause ist für
mich Holtland, ein kleines Dorf in Ostfriesland, wo sich
Himmel und Erde küssen. Dort gab es übrigens nur einen
einzigen Laden. Frau Böden verkaufte Tilsiter. Krautsalat machte unsere Mutter selbst, natürlich mit Zucker;
sonst schmeckt es nicht. Wir wussten, was wir aßen.
Die Zeiten ändern sich. Frau Böden ging. Selbstbedienungsläden kamen auch zu uns nach Holtland. Das
Sortiment wurde größer und internationaler. Nicht jeder
wusste mehr, was auf dem Teller lag. In dieser Zeit entstand das Deutsche Lebensmittelbuch, über das wir heute
sprechen. Es regelt in Leitsätzen, wie ein Produkt heißen
darf, wie es hergestellt wird und was drin sein muss. Es
ist ein Leitfaden. Es soll den Herstellern Orientierung
geben, zum Beispiel was in eine Kalbsleberwurst gehört
und wann sich ein Eis Speiseeis nennen darf. Wer sich an
diese Regeln hält, ist auf der sicheren Seite. Es soll Verbraucher vor Täuschung schützen; denn der Verbraucher
kann dort lesen, was laut Verkehrsauffassung zum Beispiel unter einem Produkt wie Schinkenbrot zu verstehen
ist. Das Lebensmittelbuch ist also Bedienungsanleitung
und Wörterbuch in einem.
Inzwischen gibt es 21 Leitsätze für rund 2 000 Lebensmittel, übrigens demokratisch erarbeitet von den Mitgliedern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission.
Sie kamen und kommen aus der Verbraucherschaft, der
Wirtschaft, der Wissenschaft und der Lebensmittelüberwachung. Alle Mitglieder eint: Sie haben gearbeitet wie
Herkules und Sisyphus in einer Person, und zwar immer
ehrenamtlich. Vor dieser Leistung ziehe ich meinen Hut.
Ich sage im Namen meiner Fraktion für diesen Einsatz
aller Mitglieder in den letzten 53 Jahren herzlichen Dank.
({0})
Die Arbeit der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission hat sich grundsätzlich bewährt. Aber die Zeiten
ändern sich auch heute. Inzwischen gibt es Lebensmittel
im Überfluss, übrigens so sicher und preiswert wie nie
zuvor. Dies verdanken wir unseren Landwirten, Bäckern,
Schlachtern, Gärtnern und Fischern, aber auch unseren
Herstellern. Heute Abend wird die Internationale Grüne
Woche in Berlin eröffnet. Das ist das Schaufenster der
Land- und Ernährungswirtschaft. Für meine Fraktion
sage ich: Wir sind stolz auf unsere deutsche Landwirtschaft und unsere deutsche Ernährungswirtschaft.
({1})
Die Vielfalt führt aber auch zu Herausforderungen.
Das kennen Sie vielleicht selbst: Sie stehen vor Hunderten von Produkten im Supermarkt. Meine Frau Böden würde heutzutage nur noch ein Drittel der Käsesorten kennen. Wir selbst wissen immer weniger über die
Herstellung von Lebensmitteln. Kalbsleberwurst enthält
zum größten Teil Schweinefleisch. Wussten Sie das? Was
heute nach einem ausgewachsenen Lebensmittelskandal
klingt, ist aber das Originalrezept. Anders wäre Kalbsleberwurst gar nicht herzustellen und würde im Übrigen
auch nicht schmecken. Aber für uns stellt sich damit natürlich die Frage: Ist diese Bezeichnung noch zeitgemäß?
Die Leitsätze sind zum Teil veraltet. Zum Teil haben
sie mit der gängigen Verbraucherauffassung nichts mehr
zu tun. Was verstehen Sie unter einem Schinkenbrot? Ich
Swen Schulz ({2})
persönlich verstehe darunter ein Brot mit Schinken. Der
Hersteller liest aber im entsprechenden Leitsatz:
Es weist einen herzhaft-aromatischen Geschmack
auf. Ein Zusatz von Schinken ist nicht üblich.
Die Begründung lautet, in einem Bauernbrot sei ja auch
kein Bauer. Wenn sich der Hersteller an die Regel hält,
dann wird der Verbraucher nicht getäuscht. Aber er fühlt
sich enttäuscht; denn für ihn ist das Schinkenbrot etwas
anderes. Übrigens versteht er unter Fruchtcreme auch
eine Creme mit Früchten, aber tatsächlich kann sie ohne
Früchte sein, wie auch ein Pfirsich-Maracuja-Saft ausschließlich aus Äpfeln und Orangen bestehen kann. Das
kann kein Verbraucher nachvollziehen.
Wer sich jetzt beschweren will, zum Beispiel bei der
Lebensmittelbuch-Kommission, muss gleich eine Begründung mitliefern. Das können weder Sie noch ich;
ich jedenfalls nicht. Denn wer von uns ist Lebensmitteltechnologe? Es braucht am Ende Jahre, bis die Kommission reagiert, auch reagieren kann. Das liegt an den
sehr schwierigen Verfahren und Abstimmungsprozessen.
Das ist übrigens nicht nur unsere Wahrnehmung, liebe
Elvira Drobinski-Weiß, lieber Alois Rainer, sondern auch
das Ergebnis eines Gutachtens, das das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, verehrte Frau
Kollegin, liebe Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth,
in Auftrag gegeben hat. Ich fand es herausragend, dass
unser Haus, das Ernährungsministerium, diesen Anlauf
gemacht hat - nicht nur kritisieren, sondern auch handeln
-; für diese Initiative gilt Ihnen, dem Minister und dem
Haus ein ganz herzlicher Dank.
({3})
Das Gutachten bestätigte: Es besteht Handlungsbedarf. Deshalb sagen wir, die Koalitionsfraktionen: Wir
brauchen eine Reform des Deutschen Lebensmittelbuchs
und auch der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission,
besser heute als morgen; denn das Vertrauen der Verbraucher ist eine wertvolle Währung, mit der nicht gespielt
werden darf.
({4})
Wir als Fraktion wollen ein Lebensmittelbuch, das
seinen Namen verdient. Dafür muss der Anspruch von
Klarheit und Wahrheit gelten. Es muss drin sein, was
draufsteht; aber es muss eben auch draufstehen, was drin
ist. Irreführung und Täuschung darf es an dieser Stelle
nicht geben. Ich bin froh, dass sich auch die Fraktion der
Grünen dieser Erkenntnis angeschlossen hat und einen
entsprechenden Antrag nach unserem Antrag auf den
Weg gebracht hat.
({5})
An der paritätischen Besetzung der Kommission wollen wir übrigens nicht rütteln; denn wir benötigen die
Sach- und Fachkenntnisse entlang der gesamten Kette
der Lebensmittelerzeugung. Wir brauchen die Lebensmittelüberwachung für die technischen Eigenschaften.
Wir brauchen die Wissenschaft, wenn es um Aspekte
der Lebensmittelsicherheit geht. Es geht natürlich auch
um Rezepturen; deswegen brauchen wir die Wirtschaft,
die Hersteller. Aber es geht auch ganz wesentlich um die
Verbraucherinnen und Verbraucher, darum: Was verstehen sie wirklich unter einem Produkt? Nur so können alle
Interessen unter einen Hut gebracht werden.
Was wir brauchen - das bestätigt das Gutachten -,
sind klare Ziele. Das ist schwer, wenn das Lebensmittelbuch Wörterbuch und Bedienungsanleitung in einem
sein will. Es stellt sich die Frage, wie man das besser
moderieren kann. Wir brauchen straffere Verfahren, übrigens auch für die Arbeit der Kommission. Wir brauchen
mehr Transparenz und eine bessere Verständigung zwischen Kommission und Öffentlichkeit; denn eines darf
nicht entstehen: der Eindruck von Geheimniskrämerei.
Das führt zu Misstrauen.
Wichtige Erkenntnisse darüber, was wir zu tun haben,
lieferte uns übrigens auch - das tut es nach wie vor das Internetportal Lebensmittelklarheit.de. Es hat sich
bewährt. Das sage ich mit Dank an das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; denn es finanziert
dieses Portal ganz wesentlich. Ich sage das aber auch mit
Dank an die Verbraucherzentralen, die es initiiert haben
und die mit uns gemeinsam die Verbraucherrechte bewachen und hüten. Herzlichen Dank an beide!
({6})
Etwa 30 Prozent der dort gemeldeten Produkte wurden von den Anbietern geändert. Insgesamt gab es Tausende von Meldungen. Es gab inzwischen an dieser
Stelle 700 Platzierungen. Es wurden etliche Produkte
geändert; sie wurden verbraucherfreundlicher gestaltet.
Tees wurden umbenannt. Wenn ein Tee Himbeer-Vanille-Traum heißt, dann muss er am Ende auch Himbeere
und Vanille enthalten. Wenn er es nicht tut, dann darf er
nicht so genannt werden. Die Verpackungen wurden neu
aufgemacht.
Die Einträge auf dieser Internetplattform sind für uns
wie eine Wünschelrute. Es lohnt sich, diesen zu folgen;
denn in vielen Fällen - nicht in allen - zeigen sie, wo
Handlungsbedarf besteht. Deshalb wollen wir, dass die
Internetplattform zukünftig stärker in die Arbeit einbezogen wird; das muss nicht sein, aber es soll sein. Zudem
brauchen wir mehr Begleitforschung.
Wir müssen auch etwas an den Verfahren ändern. Sie
müssen gestrafft werden.
({7})
Eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von zweieinhalb
Jahren ist viel zu lang. Das verhindert Aktualisierungen
und neue Leitsätze. Dafür brauchen wir aber auch eine
bessere finanzielle und personelle Ausstattung des Sekretariats. Eine Halbtagskraft kann die Arbeit nicht alleine
erledigen, und die ehrenamtlichen Mitglieder sollten sich
auf etwas anderes konzentrieren dürfen als auf Hotelbuchungen. Sie sollten übrigens auch eigene Anträge stellen dürfen.
Wir sind davon überzeugt: Mehr Klarheit und Wahrheit bei Lebensmitteln, gerade auch beim Deutschen
Lebensmittelbuch, ist eine Chance für die Lebensmittelwirtschaft und ein Gewinn für Verbraucherinnen und
Verbraucher; denn das Vertrauen ist die wichtigste Währung. Enttäuschen wir sie nicht! Dafür stehen wir ein.
Wir hoffen auf entsprechende Änderungen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Gitta Connemann. Danke auch für den
Hinweis, was das Bauernbrot nicht enthält.
Frau Haßelmann hat das Wort.
Ich möchte, dass geklärt wird, wo der Minister ist.
Wir führen heute eine Debatte über das Thema Deutsche
Lebensmittelbuch-Kommission. Das ist ein TOP, den die
Koalition in der Kernzeit angesetzt hat. Ich glaube, der
Minister ist für morgen entschuldigt wegen der Internationalen Grünen Woche, aber nicht für zwei Tage. Könnten
Sie das bitte klären? Ich sage das auch in Wertschätzung
der Kolleginnen und Kollegen der Opposition, die heute
sprechen, und des Themas insgesamt, das der Koalition
sehr wichtig zu sein scheint; sonst würde man das nicht
in der Kernzeit debattieren.
Darf ich das jetzt als Zitierantrag verstehen?
Ja.
Dann haben die anderen PGFler das Wort. - Herr
Grosse-Brömer.
Erstens. Hier ist die Parlamentarische Staatssekretärin
anwesend, die im Übrigen auch auf der Rednerliste steht.
Infolgedessen ist das Ministerium vertreten. Zweitens.
Der Minister ist zurzeit mit dem Bundespräsidenten beim
Presserundgang auf der Internationalen Grünen Woche.
({0})
Ich würde empfehlen, das zumindest jetzt als Entschuldigung zu akzeptieren. Wenn Ihnen der Bundespräsident nicht als Entschuldigung ausreicht, dann müssen
wir darüber diskutieren. Ich finde aber, das ist eine angemessene Entschuldigung. Obwohl ich für das Ministerium gar nicht zuständig bin, übermittele ich Ihnen diese
Information hiermit gerne.
({1})
Frau Haßelmann.
Dann bestehen wir nicht auf einer Abstimmung. Aber
ich muss Ihnen ehrlich sagen: Ich finde das nicht in Ordnung.
({0})
Wenn sich Dienstag die Parlamentarischen Geschäftsführer darauf verständigen, wer vonseiten der Bundesregierung als entschuldigt gilt oder nicht und der Minister
Schmidt für den heutigen Tag nicht entschuldigt wird,
dann können meine Fraktion und ich nicht wissen, dass
er sich auf der Grünen Woche befindet.
({1})
Der Minister ist für morgen entschuldigt, und das war
von uns sofort akzeptiert. Wenn es aber zwei Debatten in
der Kernzeit zu einem ihn betreffenden Thema gibt und
er nicht da ist, dann ist es doch selbstverständlich, dass
man seine Anwesenheit einfordert. Das ist unser gutes
Recht. Ich habe jetzt die Begründung für seine Abwesenheit gehört. Mich wundert sehr, dass Sie diesen TOP
trotzdem in der Kernzeit ansetzen. Wir bestehen aber
nicht auf einer Abstimmung.
({2})
Es gibt also keinen Zitierantrag, über den wir abstimmen müssen. Vielleicht können wir diese Frage auch im
Ältestenrat behandeln.
Mit Ihrer Zustimmung fahren wir jetzt in der Debatte
fort. Ich gebe Karin Binder das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Auch ich finde das sehr kritikwürdig, was
Kollegin Haßelmann gerade angesprochen hat, vor allem
vor dem Hintergrund, dass wir heute zu diesem Tagesordnungspunkt, den ich für sehr beratungswürdig halte,
eine Sofortabstimmung durchführen sollen.
({0})
Ich bin der Meinung, dass dieses Thema zusätzlicher
Vorschläge und Anregungen im Ausschuss bedarf. Wir
hätten aus dem Antrag der Regierungskoalition sicherlich noch ein bisschen mehr machen können, wenn Sie
uns die Möglichkeit gegeben hätten, mit den Fachpolitikerinnen und Fachpolitikern im Ausschuss zu beraten;
denn ich glaube schon, dass es an der einen oder anderen
Stelle durchaus noch Möglichkeiten gäbe, etwas zu verbessern.
({1})
Warum reden wir heute über die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission und das Deutsche Lebensmittelbuch? Wir reden darüber erstens, weil die Grüne Woche
beginnt - sonst hätten wir diesen prominenten Aufsetzungstermin heute nicht -,
({2})
und zweitens, weil seit Jahren heftige Kritik von Verbraucherinnen und Verbrauchern sowie den Verbänden
an der Arbeit dieser Einrichtung geübt wird, und zwar
sehr berechtigte Kritik.
Was ist denn eigentlich die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission? Sie ist eine paritätische Zusammensetzung aus 32 Vertreterinnen und Vertretern aus der
Wissenschaft, aus der Lebensmittelüberwachung, aus
Verbraucherverbänden und aus der Wirtschaft. Wie sieht
die Arbeit dieser Kommission aus? Sie soll beraten, was
für die Verkehrsbezeichnung von Lebensmitteln sinnvoll
ist, damit Verbraucherinnen und Verbraucher möglichst
nicht getäuscht werden. Wir haben allerdings das Problem, dass diese Kommission in ihren Entscheidungen
durch die Lebensmittelwirtschaft mehr oder weniger
ständig blockiert wird; denn die acht Vertreter der Lebensmittelwirtschaft, die gegen alles sind, was eine ehrliche Verbraucheraufklärung eigentlich beinhaltet, haben
durch das Konsensprinzip, das diesem Gremium auferlegt ist, die Möglichkeit, alles zu unterlaufen.
Warum heißt Kalbsleberwurst „Kalbsleberwurst“, obwohl keine Leber und nur ein kleiner Anteil Kalbfleisch
darin ist? Viele alte Menschen verlassen sich aber darauf. Kalbfleisch ist für ihren Cholesterinspiegel weitaus
besser als Schweinefleisch. Aber in Kalbsleberwurst ist
85 Prozent Schweinefleisch.
({3})
Was ist an der Bezeichnung ehrlich? Ich muss sagen: Die
Leitsätze helfen doch nicht, wenn es hier eine Blockadehaltung der Wirtschaftsvertreter gibt.
({4})
Es gibt keine Transparenz bei diesem Gremium.
Nichts wird öffentlich gemacht. Es gibt keine Protokolle. Was soll das? Wir loben Lebensmittelklarheit und
-wahrheit. Es gibt ein Portal, in dem sich die Verbraucherinnen und Verbraucher beschweren dürfen. Prima!
Und was wird dann daraus? In der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission spielt das alles keine Rolle. Es
geht eben nicht darum, was die Verbraucher erwarten. Es
geht darum: Was ist die allgemeine Verkehrsauffassung?
Da haben sich bisher leider die Wirtschaftsvertreter sehr
stark durchgesetzt. Das Absurde im Zusammenhang mit
der Kalbsleberwurst habe ich Ihnen gerade schon erklärt.
({5})
- Es ist Kalb drin. Wunderbar! Bisher waren es 15 Prozent. Jetzt müssen es 25 Prozent sein. Na prima!
Mehr Klarheit für Verbraucherinnen und Verbraucher
finden die Damen und Herren, die sich dafür interessieren, auf der Rückseite in 0,8 Millimeter großer Schrift.
({6})
Das lesen natürlich alle Konsumentinnen und Konsumenten während des Einkaufs so nebenher: 0,8 Millimeter. Ich habe meine Lupe heute vergessen. So ein Pech!
({7})
Von daher: Es muss vorne draufstehen, was drin ist. Nur
dann gibt es wirklich Wahrheit und Klarheit.
Ich muss es noch einmal sagen: Die Sofortabstimmung heute halte ich für völlig daneben.
({8})
Das ist der eine ganz große Kritikpunkt, weshalb wir uns
auf jeden Fall enthalten werden, obwohl ich zugestehe,
dass in Ihrem Antrag durchaus Ansätze sind, die wir unterstützen können.
({9})
Ihre Analyse teile ich. Nur leider ist das, was dann daraus
wird, wieder das Problem: Es sollte. Es könnte. Es wäre
schön, wenn.
({10})
Das ist dann die Konsequenz. Ich würde mir wünschen,
dass wir daraus eine Verbindlichkeit machen. Das würde
ganz anders aussehen.
({11})
Ihre Forderung ist, ein klares Ziel für das Deutsche
Lebensmittelbuch zu definieren:
Um die Arbeit der DLMBK zu erleichtern, ist die
Zielsetzung der Leitsätze klarzustellen. Der Anspruch der Verbraucherinnen und Verbraucher auf
„Wahrheit und Klarheit“ soll prägende Wirkung auf
die Leitsätze entfalten.
So weit d’accord.
({12})
Diesem Ziel entsprechend sollten in die Gruppe
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch
Verbraucherforscher berufen werden.
Warum heißt es denn nicht „werden berufen“?
({13})
Unter „Verfahren zu vereinfachen und zu verkürzen“
heißt es dann:
Zur Erhöhung der Effizienz der Arbeit der DLMBK
sollte die Arbeit der ehrenamtlichen Kommissionsmitglieder aufgewertet … werden.
Es steht so oft das Wort „sollte“ in Ihren Vorschlägen. Ich
würde mir einfach wünschen, dass wir daraus eine Verbindlichkeit machen. Dann wird ein Schuh daraus, und
dann können wir auch darüber reden.
({14})
Völlig außen vor lassen Sie leider den Umstand, dass
es auch ganz andere Vorschläge gibt. Das möchte ich
heute der Vollständigkeit halber einmal erwähnen. Es
gibt durchaus Vorschläge von Verbraucherorganisationen. Foodwatch beispielsweise sagt, eine Überlegung
wäre, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission
aufzulösen und diese Aufgabe beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit anzusiedeln.
Dieser Vorschlag ist nach meinem Dafürhalten auf jeden
Fall bedenkenswert; denn ich sehe ein Problem: Nach
wie vor haben wir es mit einem ehrenamtlichen Gremium zu tun. Alle Mitglieder mit Ausnahme der acht, die
von der Wirtschaft gestellt werden, müssen das neben ihrer beruflichen Tätigkeit machen oder werden von nicht
gewinnorientierten Organisationen dafür abgestellt. Alle
außer diesen acht haben es also wesentlich schwerer. Für
die acht, die von ihren Betrieben bezahlt werden, ist das
natürlich kein Problem. Alle anderen, die wirklich ehrenamtlich arbeiten, müssen aber schauen, wie sie die Zeit
dafür aufbringen. Und ich behaupte: In einer Zeit, in der
Lebensmittel mittlerweile überwiegend als Fertigprodukte konsumiert werden, für die dann die Überprüfung
stattfinden muss, sind Ehrenamtliche ganz schön gefordert. Daher halte ich die Überlegungen von Foodwatch
für berechtigt. Man sollte im Ausschuss noch einmal darüber nachdenken.
({15})
Zwar ist in dem hier vorliegenden Koalitionsantrag
die Forderung enthalten:
Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, zeitnah Vorschläge zur Reform des DLMB
und der DLMBK vorzulegen.
Das kann ich nur begrüßen und unterstreichen. Aber
dann kommt es:
Ziel muss es dabei sein, die Akzeptanz der Verbraucherinnen und Verbraucher für die Leitsätze des
DLMB zu erhöhen …
Es soll also die Akzeptanz der Verbraucherinnen und
Verbraucher für diese Leitsätze erhöht werden, wobei wir
ja am Beispiel der Kalbsleberwurst festgestellt haben,
wie sinnvoll die sind. Dafür muss ich die Akzeptanz der
Verbraucherinnen und Verbraucher erhöhen? Das verstehe ich nicht. Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die Leitsätze müssen sich an der Erwartungshaltung
der Verbraucherinnen und Verbraucher orientieren. Das
ist doch der Sinn und Zweck. Ich muss doch den Verbraucherinnen und Verbrauchern die Möglichkeit geben, sich
anhand der aufgestellten Leitsätze zu entscheiden. Letztendlich erwarten die Verbraucherinnen und Verbraucher,
dass das draufsteht, was drin ist.
({16})
Bisher ist das nicht der Fall, obwohl es, wie Frau
Connemann gesagt hat, 21 Leitsätze zu 2 000 Lebensmitteln gibt. Man sieht ganz deutlich, dass die Leitsätze
nicht der Erwartungshaltung entsprechen. Deshalb muss
umgekehrt angesetzt werden. Wir müssen erreichen, dass
die Leitsätze dem entsprechen, was Verbrauchererwartung ist und was auch Verbraucherverbände erwarten.
({17})
Daher ist es für mich extrem wichtig, dass mit dieser Reform auch ein Verbandsklagerecht eingeräumt wird.
Ich bin dankbar, dass auch die Grünen einige Punkte
zur Kennzeichnung aufgegriffen haben; denn ich denke,
dass die Bezeichnung eines Lebensmittels auch ganz viel
mit der Lebensmittelkennzeichnung zu tun hat. Darüber
sollte im Zusammenhang mit dieser Reform ebenfalls
nachgedacht werden. Ich erwähne nur die Lebensmittelampel. Auf jeden Fall sollten wir dieses Thema angehen
und dann auch eine Evaluierung durchführen, um herauszufinden, was das bringt und ob man nicht vielleicht doch
eine ganz andere Lösung finden muss.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({18})
Vielen Dank, Kollegin Binder. - Nächste Rednerin ist
Elvira Drobinski-Weiß für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren
auf den Tribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
hat wohl selten ein Antrag im Bundestag so schnell Wirkung gezeigt wie unser Antrag zur Reform des Lebensmittelbuches, den wir heute gemeinsam mit unserem Koalitionspartner hier einbringen; denn gestern haben wir
überraschend erfahren, dass Minister Schmidt heute also, liebe Karin, doch sehr zeitnah - seine Eckpunkte
zur Reform des Lebensmittelbuches vorstellt. Das freut
uns natürlich;
({0})
denn wir haben seit Monaten gewartet, und es ist nichts
passiert. Etwas befremdlich stimmt mich nur, dass wir
als Mitglieder der Regierungsfraktionen darüber so spät
informiert wurden,
({1})
obwohl wir doch immer nach dem Stand der Dinge gefragt haben. Na ja, was wahr ist, muss wahr bleiben.
({2})
Nun gut. Dann kommt hoffentlich endlich Fahrt auf in
Sachen Lebensmittelbuchreform.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/
CSU-Fraktion, wenn wir mit unseren Anträgen so erfolgreich sind, dann fallen mir noch jede Menge Themen ein,
zu denen wir Anträge einbringen müssen, damit Sie aus
der Warteschleife kommen und endlich etwas passiert.
Ein Stichwort für mich ist natürlich - Sie sehen es mir
nach - die Gentechnik.
Doch nun zurück zum eigentlichen Thema. Schenken
wir der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission die
Aufmerksamkeit, die sie verdient. Die Grüne Woche ist
dafür eine gute Gelegenheit. Karin, ich sehe das sehr viel
positiver als du.
Für die große Mehrheit der Verbraucherinnen und Verbraucher dürfte das Lebensmittelbuch bislang ein Buch
mit sieben Siegeln sein.
({3})
Doch das Schattendasein, das die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission in der Öffentlichkeit führt, wird ihrer Bedeutung nicht gerecht; denn sie bestimmt maßgeblich mit, was in den Lebensmitteln enthalten ist, die wir
als Konsumenten in den Regalen der Supermärkte wiederfinden. Inzwischen hat die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission in ihren Leitsätzen mehr als 2 000 Lebensmittel aufgelistet und beschrieben; Frau Connemann
hat darüber schon informiert. Sie gelten als wichtige
Richtlinien dafür, auf welche Art und Weise Produkte
hergestellt werden müssen, wenn sie einen bestimmten
Namen tragen. Für die Unternehmen liegen die Vorteile
auf der Hand: Gemeinsame Standards garantieren einen
fairen Wettbewerb und verhindern, dass schwarze Schafe Produkte, die von minderwertiger Qualität sind, unter
dem gleichen Namen verkaufen.
Vor allem sind gemeinsame Leitsätze aber wichtig, um
Verbraucherinnen und Verbraucher beim Griff ins Supermarktregal vor Täuschung und Irreführung zu schützen.
({4})
Wenn sie auf dem Etikett einer Verpackung „Pfirsich-Maracuja“ lesen, dann sollen sie sicher sein können, dass
in dem Produkt auch solche Früchte enthalten sind und
nicht nur deren Aromen; denn Verbraucher sind keine
Detektive. Sie sollen ohne Lupe, Handy oder einen Abschluss in Ernährungswissenschaft in der Lage sein, zu
erkennen, was sie kaufen. Und genau da liegt die Krux.
({5})
Viele der Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch
sind heute so formuliert, dass sie dem Verbraucherverständnis widersprechen. Das heißt schlicht: Wir verstehen sie nicht. Schokoladenpudding muss demnach nicht
mehr als 1 Prozent Kakao enthalten. In Lammwurst darf
auch Schweinefleisch verarbeitet sein, und wer glaubt,
Kalbswürstchen enthielten vor allem Kalbfleisch, der
irrt. Doch das Bedürfnis der Menschen nach klaren,
wahrheitsgemäßen Informationen darüber, wie Lebensmittel hergestellt und verarbeitet wurden, ist in den letzten Jahren gewachsen. Sie wollen sich darauf verlassen
können, dass Lebensmittel das enthalten, was der Name
auf der Verpackung ihnen verspricht. Kennzeichnungen,
die eine Qualität suggerieren, die nicht gegeben ist, wollen sie nicht. Davon zeugen die vielen Meldungen, die
beim Portal Lebensmittelklarheit.de von Verbraucherinnen und Verbrauchern eingehen, die sich durch Produktkennzeichnungen getäuscht fühlen.
Im Koalitionsvertrag haben wir durchgesetzt, dass
sich die Leitsätze im Deutschen Lebensmittelbuch künftig klar an den Erwartungen der Konsumenten orientieren. Damit kommt der Verbraucherforschung bei der
Erarbeitung der Leitsätze eine ganz wichtige Funktion
zu. Heute sind in der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission - Frau Binder hat es schon erwähnt - Rechtsund Wirtschaftswissenschaftler, Ernährungsphysiologen
und Lebensmitteltechniker vertreten. Aber es gibt in der
Gruppe der Wissenschaftler niemanden, der systematisch
hinterfragt, welche Erwartungen die Verbraucherinnen
und Verbraucher tatsächlich mit einer bestimmten Produktkennzeichnung verknüpfen. Wir wollen deshalb,
dass künftig auch zwingend Vertreter der Verbraucherforschung in die Lebensmittelbuch-Kommission berufen
werden und die Ergebnisse der Verbraucherforschung
besser genutzt werden.
({6})
Zudem müssen den Mitgliedern der Kommission mehr
eigene finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, damit sie,
wenn es notwendig ist, selbst Verbraucherbefragungen in
Auftrag geben können. Wir wollen, dass die Erkenntnisse,
die im Internetportal Lebensmittelklarheit.de gesammelt
werden, in die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission
einfließen. Wird dort eine verwirrende Kennzeichnungspraxis offensichtlich, soll sich die Kommission mit dieser Problematik auseinandersetzen.
Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, mit dem Antrag
haben wir eine gute Vorlage geschaffen, um ein neues
Kapitel in der Geschichte der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission zu schreiben. Wenn wir den Verbraucherinnen und Verbrauchern endlich die Rolle einräumen, die ihnen zusteht, dann bin ich auch sicher, dass es
ein Erfolg wird.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({7})
Nicole Maisch ist die nächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission und ihre
Leitsätze, die häufig völlig an den Erwartungen der VerElvira Drobinski-Weiß
braucherinnen und Verbraucher vorbeigehen, stehen seit
Jahren zu Recht in der Kritik. Deshalb ist es gut, dass
sich die Koalition des Themas annimmt und einen Antrag
vorgelegt hat, den auch wir nicht komplett schlecht finden. Ich finde es total interessant, dass der Minister seine
Eckpunkte heute der Öffentlichkeit, aber offensichtlich
weder dem Koalitionspartner noch dem Parlament präsentieren will.
({0})
Es wurde gesagt, er hätte wichtige Termine auf der
Grünen Woche. Wir haben noch einmal nachgefragt,
wann diese dann anfangen. Das ist um 12 Uhr. Offensichtlich hat sich der Minister zu Fuß auf den Weg in die
Messehallen gemacht. Wir finden das ökologisch gut,
aber angesichts der Tatsache, dass wir als Parlament das
Recht haben, mit dem Minister zu sprechen, finde ich es
eine ziemliche Frechheit.
({1})
Ein letzter Satz dazu: Die offizielle Eröffnung der
Grünen Woche beginnt heute Abend. Es wird auch über
Nacht noch an den Ständen geschraubt. Baut der Minister
den Stand des BMEL selbst? Was macht er jetzt eigentlich auf der Grünen Woche? Warum diskutiert er nicht
mit uns hier?
({2})
Meine Damen und Herren, die Kolleginnen und Kollegen haben viele absurde Beispiele gebracht: Zitronenlimo ohne eine Spur von Zitrone, Seelachs, der kein
Lachs, sondern ein dorschartiger Kohlfisch ist. Es gibt
eine ganze Menge zu verändern. Das ist natürlich keine
sinnvolle Verbraucherinformation, sondern quasi staatlich abgesicherte Verbrauchertäuschung. Dass das nicht
so bleiben kann, sehen Sie auch selbst. Deshalb haben
Sie einen Antrag vorgelegt. Dort stehen positive Sachen
drin. Wir haben noch zwei grundsätzliche Punkte, die
man verbessern müsste, damit mehr Klarheit und Wahrheit herrschen.
Der erste Punkt ist eine grundsätzliche Orientierung
der Bezeichnung an den Verbrauchererwartungen. Das
heißt, man muss hinterher die Verbraucher befragen:
Ist die Bezeichnung wirklich das, was ihr zum Beispiel
unter Schokocreme, Zitronenlimo und Schinkenbrot versteht, oder ist es anders? Wenn die Bezeichnung an den
Verbrauchererwartungen vorbeigeht, dann ist sie nicht
brauchbar, dann muss eine neue gefunden werden.
({3})
Natürlich brauchen wir Transparenz darüber, was in
diesem Gremium passiert. Dazu gehört auch: Wer hat
welches Interesse vertreten? Das heißt: Ist eine bestimmte Verkehrsauffassung von der Industrie gepusht worden
oder von den Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern? Auch dazu gehören Klarheit und Wahrheit. Hier springt Ihr Antrag ein bisschen zu kurz.
({4})
Es gibt einige gute Vorschläge von der Koalition. Im
letzten Jahr haben wir vor der Grünen Woche einen ganz
guten Antrag zum Thema Ernährung beraten. Das war
wunderbar. Was haben Sie nicht alles gefordert: gesündere Lebensmittel im Supermarkt, Reduzierung von Zucker, Salz und Fett, Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung, Eindämmung der Lebensmittelverschwendung
und - weil Sie so schön dabei waren - keine Quengelkassen mehr in Supermärkten. Ich würde den Minister gerne fragen - das geht jetzt nicht, deswegen frage ich die
Staatssekretärin -: Was ist seitdem umgesetzt worden?
Ich kann Ihnen sagen: Nichts. Dieser Minister betreibt
Arbeitsverweigerung seit zweieinhalb Jahren.
({5})
Wenn Sie mehr Transparenz und Täuschungsschutz für
Verbraucherinnen und Verbraucher wollen: Warum gammelt dann der Gesetzentwurf zum Lebens- und Futtermittelgesetzbuch seit Monaten auf dem Ministerschreibtisch? Ich habe gestern die Staatssekretärin gefragt, wie
lange er da noch Staub ansetzen soll. Sie hat mir gesagt Zitat -: Dies lässt sich im Moment in einer weiteren Konkretisierung noch nicht darstellen. - Auf Deutsch: Der
Minister wird sich nicht damit beschäftigen, er weiß auch
nicht, wann; wir lassen es einfach liegen und hoffen, dass
die Bevölkerung es nicht merkt. - So, finde ich, kann
man keine Politik machen.
({6})
Was ist bei der Qualitätsoffensive zur Verbesserung
des Schulessens in Deutschland eigentlich wirklich in den
Bundesländern, in den Schulen angekommen? 290 000
Euro machen Sie für alle 16 Vernetzungsstellen Schulverpflegung locker - das haben Sie der Kollegin Binder
in einer E-Mail geschrieben. Ich finde, das ist ziemlich
wenig. Die Studie, mit der sich Herr Schmidt erzählen
lassen hat, dass das Essen in den Schulen schlecht ist,
hat fast genauso viel gekostet. Da frage ich mich doch:
Gibt es in der Ernährungspolitik eine vernünftige Prioritätensetzung? Die Antwort muss leider lauten: Nein.
({7})
Wir finden: Wenn man es mit Transparenz für Verbraucher wirklich ernst meint, dann braucht man eine gesetzliche Pflicht zur Kennzeichnung der Art der Tierhaltung. Ich habe der Presse entnommen, dass sich seit drei
Tagen auch der Minister mit diesem Thema beschäftigt.
Er hat in einem Interview erwähnt, es wäre doch ganz
nett, wenn die Verbraucher wüssten, wie das Schwein
oder das Kalb, von dem das Schnitzel stammt, gehalten
würde. Nur hat man im Ministerium noch nicht wirklich
Ideen dazu entwickelt. Das ist schade; denn die entsprechende Arbeitsgruppe der Länder tagt seit über einem
Jahr, und der Tierschutzbund hat schon vor zwei Jahren
eine Tierschutzkennzeichnung eingeführt. Die Debatte
läuft und läuft und läuft, nur immer ohne den Minister.
Zum Schluss. Ich finde, wenn wir über Klarheit und
Wahrheit reden, dann kommen wir an der Nährwertampel nicht vorbei.
({8})
Sie dachten, die Debatte ist tot. Das ist sie nicht. Wir werden das immer wieder beantragen, werden die Debatte
weiter führen,
({9})
da wir finden: Jahresanfänge sind eine Zeit für gute Vorsätze. Für Klarheit und Wahrheit zu sorgen, ist ein guter
Vorsatz. Nur muss man als Minister auch entsprechend
dafür arbeiten.
({10})
Für die Bundesregierung hat nun die Parlamentarische
Staatssekretärin Maria Flachsbarth das Wort.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie angesichts der Verpflichtungen, die Herr
Bundesminister im Rahmen der Internationalen Grünen
Woche hat, nun doch mit mir vorliebnehmen.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, von A wie
Aachener Leberwurst bis Z wie Zwiebelwurst, dazwischen noch die Bulette, die gebrühte Touristenwurst und
der Marmorkuchen - all das findet man im Deutschen
Lebensmittelbuch. Nachdem hier von Verbrauchererwartungen gesprochen wurde, möchte ich sagen: Weder gebrühte noch abgebrühte Touristen befinden sich in
der Wurst, auch kein Marmor in dem nach ihm benannten Kuchen. Im Deutschen Lebensmittelbuch findet man
21 Leitsätze und die Beschreibung von über 2 200 Lebensmitteln. Man kann darin nachsehen, was denn jetzt
die Inhaltsstoffe sein müssen. Die Beschreibungen werden von der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission
erarbeitet, in der jeweils acht ehrenamtliche Mitglieder
aus den beteiligten Kreisen, also Wissenschaft, Wirtschaft, Verbraucherschaft und Lebensmittelüberwachung, in sieben Fachausschüssen tätig sind.
Sie wissen - das ist heute schon mehrfach angeklungen -, dass das Deutsche Lebensmittelbuch selbst, aber
auch die Struktur der Kommission Gegenstand vielfältiger kritischer Diskussionen sind. Es geht dabei vorwiegend um die mangelnde Transparenz der Entscheidungsfindung, um den Einfluss der Wirtschaft, um die
Dauer der Entscheidungswege und um die Erfüllung des
Anspruchs der Verbraucherinnen und Verbraucher auf
Klarheit und Wahrheit. Das ist hier heute schon von allen
Seiten angeklungen.
Diese Punkte finden sich erfreulicherweise auch in
den Anträgen aus dem Plenum wieder, die hier vorliegen. Die Bundesregierung teilt viele der Kritikpunkte
ausdrücklich oder kann sie zumindest nachvollziehen.
So sind wir uns hinsichtlich der Maßnahmen an vielen
Stellen - um nicht zu sagen: den meisten Stellen - mit
den vorliegenden Anträgen einig.
({1})
Das Bundesministerium für Ernährung hat eine wissenschaftliche Evaluation beauftragt und die Eckpunkte
einer Reform der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission und des Deutschen Lebensmittelbuchs erarbeitet, die ich Ihnen jetzt gerne vorstellen möchte. Die
Rahmenbedingungen der Reform ergeben sich aus dem
Anspruch auf Klarheit und Wahrheit, den Erkenntnissen
der Evaluationsstudie und den Stellungnahmen der beteiligten Kreise und Experten. Wir wollen mehr Effizienz,
mehr Akzeptanz und mehr Transparenz durch Straffung
und Stärkung der Strukturen erreichen. Dabei hat sich
die Grundstruktur der Lebensmittelbuch-Kommission
durchaus bewährt.
Bundesminister Christian Schmidt hat deshalb im
März 2015 entschieden, die Grundstruktur grundsätzlich beizubehalten. Deshalb bleibt es bei einer paritätisch
aus den vier Kreisen, also Wissenschaft, Lebensmittelüberwachung, Verbraucherschaft und Lebensmittelwirtschaft, zusammengesetzten ehrenamtlichen Kommission mit 32 Personen. Sie wird weiter unabhängig von
Weisungen beschließen und soll fachlich, inhaltlich und
organisatorisch durch Personal im Bereich des BMEL
unterstützt werden. Im Konsens getroffene Entscheidungen machen die Akzeptanz und die Glaubwürdigkeit der
DLMBK und der verschiedenen Leitsätze aus. Darum
werden wir das Konsensprinzip erhalten. Auch in Zukunft wird keiner der vier beteiligten Kreise, sofern er
denn geschlossen abstimmt, überstimmt werden können.
Damit wird der Anspruch erfüllt, eine möglichst breit getragene Mehrheit zu erreichen.
Lassen Sie mich kurz auf das gesetzliche Umfeld des
Deutschen Lebensmittelbuches eingehen. Die Leitsätze
sind ein untergesetzliches Regelwerk. Sie dienen der
Auslegung des Artikels 17 der EU-Lebensmittelinformationsverordnung Nummer 1169/2011, indem sie die
Verkehrsauffassung der aufgeführten Lebensmittel beschreiben, für vorverpackte wie für lose Ware. Alle Wirtschaftsbeteiligten, insbesondere aber die Verbraucherinnen und Verbraucher, werden dadurch vor Irreführung
und Täuschung geschützt, der lautere Wettbewerb wird
gestärkt, und alle Beteiligten bekommen eine Hilfestellung, um Rechtssicherheit zu erhalten. Diese Aufgaben
und Ziele, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind unsere
Richtschnur bei der Reform des Deutschen Lebensmittelbuches und der entsprechenden Kommission.
Mit einem Maßnahmenbündel aus regelmäßiger Überprüfung der Leitsätze, erleichterter Antragstellung, effizienteren Abstimmungsverfahren, der Einführung eines
Schlichtungsverfahrens, einer höheren Sitzungsfrequenz
und systematischer Einbeziehung wissenschaftlicher ErNicole Maisch
kenntnisse werden wir die DLMBK-Arbeit deutlich effizienter gestalten, Diskussionen versachlichen und die
Aktualität der Leitsätze spürbar erhöhen und damit auch
den Verbraucherbelangen mehr Geltung verschaffen.
Alle 21 Leitsätze sollen künftig innerhalb der weiterhin fünfjährigen Berufungsperiode systematisch überprüft und aktualisiert werden. Grundlage dieser Überprüfungen sollen unter anderem aktuelle Erkenntnisse aus
Markt- und Verbrauchererhebungen sein einschließlich
des Portals Lebensmittelklarheit.de. Dessen Redaktion soll künftig die Möglichkeit haben, im Präsidium
der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission über die
neuesten Ergebnisse des Portals zu berichten und damit
sicherzustellen, dass gerade der aktuelle Stand der Erkenntnisse auch zeitnah in die Kommissionsarbeit einfließen kann. Bei Bedarf werden darüber hinaus, wie hier
aus der Runde gefordert, Verbrauchererwartungen und
Verbraucherverständnis sowie Marktgegebenheiten mit
Hilfe gezielter Forschung erfasst werden.
Wir beabsichtigen darüber hinaus, das Berufungsverfahren transparenter zu gestalten. Zum einen soll die
Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission möglichst heterogen zusammengesetzt bleiben, sodass ein möglichst
breites Feld fachlicher Expertise abgedeckt wird. Zum
anderen werden wir die Kriterien, die wir an die Auswahl der Mitglieder stellen, veröffentlichen und die Mitglieder, deren Zustimmung vorausgesetzt, auf der Internetseite der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission
vorstellen. Das Antragsverfahren soll insofern erleichtert
werden, als dass Formulierungsvorschläge nicht mehr
zwingend verlangt werden. Das wird insbesondere den
Verbrauchern helfen.
Der Bearbeitungsstand der Leitsätze und aktuelle Sachstandsberichte werden künftig zeitnah auf der
Homepage der Deutschen Lebensmittel-Kommission
veröffentlicht werden und nachvollziehbar sein. Neben
dem Fachchinesisch, das bleiben wird und bleiben muss,
damit die Angaben justiziabel sind, werden wir aber
auch aktuelle verbrauchernahe Informationen über die
Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission sowie Ziel
und Zweck der Leitsätze in verständlichem Deutsch erläutern, damit auch die Öffentlichkeitsarbeit letztendlich
professioneller und zielgruppenorientierter werden kann.
({2})
Wir werden darüber hinaus all diese Maßnahmen
selbstverständlich auch insofern unterstützen, als dass
entsprechende finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt
werden. Dafür in dieser Runde einen ganz herzlichen
Dank an den Haushaltsgesetzgeber.
Dort allerdings - das will ich auch sagen -, wo die
Kapazitäten der 32 nach wie vor ehrenamtlich tätigen
Mitglieder der Lebensmittelbuch-Kommission erschöpft
sind, werden die avisierten Reformmaßnahmen eine
Grenze finden. Als solche Grenze sehen wir 15 Präsenztage pro Jahr und DLBMK-Mitglied.
Die Fachabteilung in unserem Haus wird nunmehr mit
der Umsetzung des Reformkonzeptes, insbesondere der
Erarbeitung einer neuen Geschäftsordnung beginnen. Parallel dazu laufen die Vorbereitungen für die Erstellung
einer Liste möglicher Kandidatinnen und Kandidaten für
die Berufung zum 1. Juli dieses Jahres, da die Amtszeit
der amtierenden Kommission am 30. Juni endet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die verschiedenen
Akteure der Lebensmittelkette - die Wirtschaft, die Überwachung, die Wissenschaft und die Verbraucherschaft haben naturgemäß unterschiedliche Blickwinkel auf die
Prozesse, die vom Acker bis zum Teller durchlaufen werden. Die ehrenamtlichen Mitglieder der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission haben sich über Jahre hinweg fachlich engagiert, fachlich versiert und konstruktiv
in die Prozesse eingebracht, haben um Formulierungen
gerungen und Leitsätze formuliert. Dafür möchte ich
mich sehr herzlich und ausdrücklich bedanken.
({3})
Wir tragen mit der Reform nun unseren Teil dazu bei,
die Lebensmittelbuch-Kommission bestmöglich zu unterstützen und die Rahmenbedingungen neu und so zu
gestalten, dass die Arbeit künftig noch effizienter, aktueller und transparenter erfolgen kann. Ziel ist es, die Kommission zu befähigen, die Überarbeitung und die Aktualisierung der Leitsätze entsprechend den Anforderungen
aus der Verbraucherschaft nicht zuletzt zügig anzugehen
und somit die redliche Herstellungspraxis und die berechtigten Verbrauchererwartungen in Einklang zu bringen. Damit stellen wir uns gemeinsam mit den Mitgliedern der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission der
obersten Maxime im Lebensmittelverkehr, nämlich dem
gesundheitlichen Verbraucherschutz und dem Schutz vor
der Irreführung und Täuschung.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Oliver Krischer erhält nun das Wort für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verbraucherinnen und Verbraucher haben ein Recht darauf,
dass die Verpackung eines Lebensmittels auf den ersten
Blick das deutlich macht, was das Produkt enthält. Das
sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Frau
Flachsbarth, selbstverständlich enthält Marmorkuchen
keinen Marmor, aber das wissen die Verbraucher auch.
({0})
Was wir in den Supermärkten tagtäglich erleben, das
habe ich gestern Abend in einem Berliner Supermarkt
ausprobiert. Man kommt hinein und findet im Eingangsbereich Smoothies, so heißen diese Fruchtsaftgetränke.
Auf den Verpackungen steht: Brombeere, Erdbeere, Johannisbeere. Jeder erwartet natürlich, dass dieser Saft aus
diesen drei Früchten besteht. Wenn man die Lupe herausholt und hinten auf das Kleingedruckte guckt, stellt
man aber fest: Diese drei Früchte machen nicht einmal
20 Prozent des Inhalts aus; der Rest ist Apfel- und Orangensaft. Die Bezeichnung „Multifrucht“ wäre vielleicht
okay, das mag auch ganz lecker sein, aber das, was draufParl. Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth
steht, entspricht nicht dem, was drin ist. Das muss sich
dringend und schnell ändern.
({1})
Die Beispiele sind unzählig. In jedem Supermarkt finden
sich Dutzende von Fällen. Da gibt es die Olivenpaste,
von der jeder erwartet, dass sie aus Oliven besteht. Wenn
man genau draufschaut, stellt man aber fest, dass sie nur
zu 2 Prozent aus Oliven besteht. Das ist Verbrauchertäuschung.
Das alles ist keine neue Erkenntnis. Wir diskutieren
über dieses Thema schon seit Jahren. Wir diskutieren
schon seit Jahren über die Lebensmittelbuch-Kommission. In Ihrem Koalitionsvertrag haben Sie das alles richtig
adressiert. Das ist zweieinhalb Jahre her. Der Minister
hat vor knapp einem Jahr ein Gutachten vorgestellt, in
dem dieser Reformbedarf festgestellt wird. Er hat angekündigt:
Ich will das Buch nicht neu schreiben, aber einzelne
Kapitel mit deutlicher Feder kräftig überarbeiten.
Dazu hatte er ein Jahr lang Zeit. Nichts ist passiert.
Jetzt, pünktlich zur Internationalen Grünen Woche, wird
hier ein Schaufensterantrag vorgelegt.
({2})
Es wird angekündigt, dass das gemacht werden soll. Das
wird nicht umgesetzt, sondern die Umsetzung wird nur
angekündigt. Ich sage: Das ist ein Stück weit Arbeitsverweigerung.
({3})
Allein die Tatsache, dass der Minister sich nicht hier
ins Parlament bewegt, um zu versuchen, seine Vorstellungen deutlich zu machen, und sich möglicher Kritik zu
stellen, spricht Bände. Wenn er tatsächlich auf der IGW
den Stand des Ministeriums aufbaut, dann ist das ohne
Zweifel die größte Leistung, die er in dieser Legislaturperiode vollbracht hat.
({4})
Dass Sie Regierungshandeln nur simulieren und nicht
tatsächlich handeln, das haben wir schon im letzten Jahr
erlebt. Da haben Sie hier einen Antrag unter der Überschrift „Gesunde Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“ eingebracht. Was ist in dieser Zeit umgesetzt
worden? Es wurden quengelfreie Kassen gefordert. Ich
habe nichts mehr davon gehört, dass die verboten werden sollen. Der Anteil von Zucker, Fetten und Salz in
Fertigprodukten sollte reduziert werden. Was haben Sie
gemacht? Es ist nichts passiert.
({5})
Das Thema Lebensmittelverschwendung sollte angegangen werden. Nichts ist passiert. Das alles haben Sie angekündigt. Ich sage Ihnen: In einem Jahr, pünktlich zur
Grünen Woche, werden wir hier wieder diskutieren. Mit
der Lebensmittelbuch-Kommission ist es wieder bei der
Ankündigung der Umsetzung geblieben. Daran, ob das
ausreicht, kann man ganz erhebliche Zweifel haben.
Meine Damen und Herren, Minister Schmidt hat eine
neue Sportart erfunden, das Ministermikado: Wer sich
bewegt, verliert. Darin will er deutscher Meister werden.
Das kann angesichts der Herausforderungen, die wir in
der Agrar- und Ernährungspolitik haben, nicht sein.
({6})
Wir brauchen nicht nur eine Reform der Lebensmittelbuch-Kommission, sondern wir brauchen insgesamt
klare Kennzeichnungsregelungen vor allen Dingen beim
Fleisch. Es muss erkennbar sein, wie die Tiere gehalten
werden. Wir brauchen die Nährwertampel. Wir brauchen
eine klare Definition, was vegane und vegetarische Lebensmittel sind. Das erwarten die Verbraucherinnen und
Verbraucher. Wir brauchen auch endlich eine vernünftige
EU-weite Regionalkennzeichnung. Das sind Punkte, die
Sie anpacken müssten, genauso wie insgesamt eine Reform der Agrarpolitik.
Es kann doch nicht so weitergehen. Am Samstag werden hier wieder Tausende Menschen dafür demonstrieren, dass wir endlich eine andere Agrarpolitik, dass wir
Lebensmittel ohne Pestizide und Gifte, dass wir artgerechte Tierhaltung statt Massentierhaltung bekommen,
({7})
dass Landwirtschaft Verbraucherinteressen dient und
eben nicht den Agrarkonzernen und nicht der industriellen Landwirtschaft. Das wäre die Herausforderung. Aber
da muss man einfach sagen: Die Große Koalition und
insbesondere der Mikadominister Schmidt sind an dieser
Stelle nicht Teil der Lösung. Sie sind das Problem. Das
müssen wir ändern.
Ich danke Ihnen.
({8})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Carsten Träger
das Wort.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Eigentlich
debattieren wir heute über ein echtes Luxusproblem, über
ein Problem des Luxus im wahrsten Sinne des Wortes.
({0})
Wir haben den Luxus, dass wir nie ein größeres Angebot
an ständig verfügbaren Lebensmitteln hatten. Nie hatten
wir mehr Freiheit, genau das zu essen, worauf wir gerade
Lust haben. Zu jeder Jahreszeit, tagtäglich und überall
stehen wir einem reichhaltigen Angebot von LebensmitOliver Krischer
teln gegenüber. Alles gut also? Leider nein. Denn mit
dem Übermaß wachsen auch die unerfreulichen Begleiterscheinungen: Umweltprobleme, Höfesterben, gesundheitliche Folgewirkungen.
Deshalb geht es in Deutschland heute beim Essen
schon lange nicht mehr darum, einfach nur satt zu werden. Essen ist heute nicht einfach nur mehr Essen. Essen
ist Politik. Essen ist Lifestyle, Mode, Gesinnung. Für
manche ist Essen Religion. Da ist festzustellen: Immer
mehr Menschen sind unzufrieden mit den Bedingungen,
die ihren vermeintlich freien Kaufentscheidungen zugrunde liegen. Viele haben es längst satt. Unter diesem
Motto werden wir auch an diesem Wochenende wieder
Zehntausende sehen, die auf die Straße gehen und gegen
die industrielle Landwirtschaft demonstrieren, vielleicht
sogar Hunderttausende. Der Protest wächst und geht
durch sämtliche gesellschaftliche Schichten. Lassen Sie
uns diese Mahnrufe ernst nehmen. Lassen Sie uns etwas
tun.
({1})
Aber was? Ich bin nicht der Meinung, dass uns hier
Vorschriften wirklich weiterhelfen. Es kann nicht darum
gehen, den Menschen vorzuschreiben, was sie essen sollen.
({2})
Ich will nicht die Debatte, die wir schon geführt haben.
Ich mag keine unnötigen Vorschriften, schon gar nicht
bei einer solch grundlegenden Frage wie: Was will ich
essen? Ich möchte, dass die Verbraucher selbst entscheiden. Dazu müssen wir ihnen die notwendigen Informationen an die Hand geben. Verbraucher haben einen
Anspruch auf Wahrheit und Klarheit als Grundlage ihrer
Kaufentscheidungen.
({3})
Es muss bei den Lebensmitteln draufstehen, was drin ist,
und es muss drin sein, was draufsteht.
({4})
Wenn sich die Verbraucher auf leicht lesbare Informationen auf den Produkten verlassen können, dann bin ich
mir sicher, dass sie bei ihrem Einkauf in der Mehrheit
Entscheidungen für gute Produkte aus nachhaltiger Produktion treffen.
({5})
Kaum jemand wird Geflügelfleischprodukte kaufen,
die hauptsächlich aus Schweinefleisch bestehen, oder
Fruchtcremes, die keine Früchte enthalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Deutsche Lebensmittelbuch leistet hier einen wertvollen Beitrag, und
es könnte einen noch weitaus wertvolleren Beitrag leisten. Seine Leitsätze geben Orientierung, wie ein Produkt
hergestellt ist und was es enthält. Wir brauchen dringend
eine solche Institution mit hohem Sachverstand und mit
hoher Glaubwürdigkeit.
({6})
Wir müssen dafür sorgen, dass es genau diese Institution mit hohem Sachverstand und hoher Glaubwürdigkeit auch gibt. Wir müssen dafür sorgen, dass die zentralen Informationen schneller bereitstehen. Wir leben
im Zeitalter des globalisierten Handels. Der Einkauf im
Netz erobert längst auch den Lebensmittelbereich. Da
müssen die wichtigsten Informationen schneller bereitstehen, wesentlich schneller. Die Informationen müssen
verständlicher aufbereitet werden als bisher. Hier gibt es
berechtigte Kritik am Deutschen Lebensmittelbuch. Lassen Sie uns diese Kritik ernst nehmen und die Verfahren
sowie die Kommunikation deutlich verbessern!
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner für die CDU/CSU-Fraktion ist der
Kollege Alois Rainer.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Seit nunmehr über 50 Jahren erstellt
die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission Leitsätze
für das Deutsche Lebensmittelbuch und für die Verbraucherinnen und Verbraucher, Leitsätze, die als Richtschnur
gleichermaßen für Unternehmen zur Herstellung als auch
und vor allem - das muss gesagt werden - für den Verbraucher zum Verzehr als untergesetzliche Standards
zur Verfügung stehen. Es sind ja schon viele Beispiele
genannt worden, etwa das eines Fruchtsaftgetränks bzw.
eines Fruchtsafts oder die Frage: Von welchem Tier
stammt das Wiener Schnitzel? Diese Fragen stellen sich
nicht nur Verbraucher, sondern auch der eine oder andere
Hersteller.
Liebe Kollegin, zur Kalbsleberwurst muss ich schon
etwas sagen. Als Metzgermeister, der mit Sicherheit
schon einige Hunderte von Kilos Kalbsleberwurst hergestellt hat, weiß ich, was da drin ist. Ich kann Ihnen nur
sagen: Es ist gut, dass jetzt 15 Prozent Kalbfleisch in der
Kalbfleischleberwurst drin sein müssen. In der Kalbsleberwurst muss sogar ein Teil Kalbsleber drin sein; wie
groß dieser Teil sein muss, ist aber nicht definiert. Ich
kann Ihnen sagen: Wenn die Kalbsleberwurst - nennen
wir sie jetzt einmal so - zu 100 Prozent aus Kalbfleisch
wäre, würde sie nicht schmecken, und sie wäre viel zu
teuer. Sie wäre für den Verbraucher schlichtweg nicht bezahlbar. Darum: Bitte seien Sie mit den Beispielen und
den Emotionen vorsichtig!
({0})
Wir wollen die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission reformieren. Das ist der richtige Weg; das ist gut,
und wir machen das. Zusammen mit dem Ministerium
werden wir die richtigen Schritte einleiten.
Das Deutsche Lebensmittelbuch - das ist gesagt worden - ist eine Sammlung von Leitsätzen, die die allgemeine Verkehrsauffassung von Lebensmitteln widerspiegeln. Das heißt auch, dass wir hier von untergesetzlichen
Standards sprechen, die im Vollzugsalltag als belastbare
Grundlage zur Feststellung der allgemeinen Verkehrsauffassung zur Verfügung stehen. Denn grundsätzlich gilt,
dass die Leitsätze einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen sollten, jedoch keine verbindlichen Rechtsvorschriften darstellen.
Die Ziele der Leitsätze sind vielfältig. Es geht um die
Schaffung von Klarheit im Lebensmittelverkehr durch
klare und deutliche Definition. Auf den Verbraucherschutz muss großen Wert gelegt werden. Zu nennen ist
auch die Vereinfachung des Marktes für Hersteller und
Händler. Vor allem sind die Leitsätze auch ein Instrument
zur Einhaltung der Mindeststandards, liebe Kolleginnen
und Kollegen. Diese Mindeststandards werden von der
Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission geprüft, unter Berücksichtigung von nationalen und internationalen
Standards überarbeitet und im Einvernehmen mit dem
BMEL und dem Bundeswirtschaftsministerium entsprechend veröffentlicht.
Im Grunde hat sich dieses System bewährt. Der Evaluierungsbericht, der im März letzten Jahres vorgestellt
worden ist, sagt aus, dass dieses System alternativlos ist.
Ich zitiere:
Bei allen identifizierten alternativen Strukturen/
Institutionen, welche die Aufgaben der DLMBK
potentiell effektiver und effizienter umsetzen könnten, bleibt festzuhalten, dass insbesondere bzgl. der
Akzeptanz bei den involvierten Kreisen sowie der
rechtlichen Legitimation der Entscheidungsfindung
keine Option eine eindeutige Vorteilhaftigkeit gegenüber der DLMBK aufweisen kann. Im Gegenteil, hier zeigen sich, insbesondere durch die paritätische Zusammensetzung, die zentralen Stärken der
DLMBK in ihrer derzeitigen Konstruktion.
Genau darauf gehen wir in unserem Antrag ein.
Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Ja, wir haben ein System, das überarbeitet und angepasst werden
muss, aber ich möchte sagen, dass wir keine völlige Neustrukturierung oder Neugestaltung erzielen wollen. Vielmehr wollen wir mit unserem Antrag die in letzter Zeit
zu Recht häufig geäußerte Kritik an den Leitsätzen des
Deutschen Lebensmittelbuches bzw. an der Arbeit der
Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission angehen.
Ich denke hier insbesondere an die Kritik an der intransparenten und ineffizienten Struktur. So beträgt zum
Beispiel die durchschnittliche Bearbeitungszeit etwa
neun Monate. Bis zur endgültigen Beschlussfassung vergehen durchschnittlich zweieinhalb Jahre. Das ist nicht
nur in der heutigen Zeit zu viel. Da ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin, stelle ich mir vor, dass die Bearbeitungszeit wesentlich verkürzt wird.
Zudem sind einige Leitsätze für die Verbraucherinnen
und Verbraucher nur schwer nachzuvollziehen. Die Verbraucherinnen und Verbraucher wollen informiert werden, und das ist auch gut so. Sie sollen selbstbestimmt
entscheiden können, was sie kaufen.
({1})
Wir wollen - ich denke, darin sind wir uns alle einig - einen verbraucherfreundlichen Markt. Unser Ziel
ist es daher, dass sichere und gute Produkte unter fairen
und nachhaltigen Bedingungen hergestellt und angeboten werden. Diese Vorgaben sollen aber nicht nur für die
Verbraucher, sondern gleichermaßen auch für die Lebensmittelwirtschaft gelten, und glauben Sie mir - ich
habe es eingangs schon gesagt -: Gerade in dieser Sache weiß ich, wovon ich spreche; ich bin ein Stück weit
selbst betroffen.
Mit dem Ausdruck „Wahrheit und Klarheit“ sind wir
auf dem richtigen Weg. Wir wollen Sicherheit und Vertrauen für die Verbraucherinnen und Verbraucher.
Vielleicht war es dem einen oder anderen noch gar
nicht bewusst, bevor es vorhin angesprochen wurde: Alle
32 Mitglieder der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission arbeiten ehrenamtlich. Es gilt, dieses Engagement
nicht mit Füßen zu treten, sondern die bisherige ehrenamtliche Arbeit der Mitglieder zu unterstützen und aufzuwerten. Dafür brauchen wir finanzielle Mittel. Deshalb
lautet unsere Forderung an das Bundeslandwirtschaftsministerium auch, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission bei ihrer Arbeit personell und finanziell adäquat
zu unterstützen.
({2})
Für eine effiziente und transparente Arbeit müssen
ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.
Nur so kann langfristig sichergestellt werden, dass die
Arbeit der Kommission produktiver, der jeweilige Ablauf effizienter und die Öffentlichkeitsarbeit transparenter gestaltet werden kann. Die Verbraucher haben ein
Recht darauf, zu erfahren, was sie kaufen und verzehren.
Ich komme jetzt noch ganz kurz zu dem Antrag der
Grünen. Es ist nett und sehr angenehm, dass Sie Teile
unseres Antrags befürworten und übernehmen.
({3})
In anderen Bereichen Ihres Antrages gehen Sie aber
über das heutige Thema, die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission, hinaus.
({4})
Was machen das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch und die Kennzeichnung für die Tierhaltung in einem Antrag zur Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission? Ich werde mich mit Ihnen über dieses Thema gerne
sehr ausführlich unterhalten, lieber Kollege Ebner. Wir
wissen ja, dass wir uns bei diesem Thema gerne aneinander reiben. Bei der heutigen Behandlung der Reform der
Lebensmittelbuch-Kommission brauchen wir das aber
mit Sicherheit nicht. Vielleicht bringen Sie es übers Herz,
unserem Antrag zuzustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie
mich zum Schluss noch deutlich machen: Unser Antrag
stellt praktikable Lösungen für eine Reform des Deutschen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission dar. In dieser Reform finden
sich die Verbraucher und die Lebensmittelunternehmer
gleichermaßen wieder.
Vielen Dank.
({5})
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Dirk Wiese das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Gutes Essen ist wichtig. Es ist eine Frage von
Gesundheit, Genuss und Lebensqualität.
({0})
Und ganz besonders wichtig ist: Das Essen muss schmecken. Das ist den meisten Menschen deutlich bewusst. In
einem anstrengenden Alltag in Beruf und Familie ist es
jedoch oft nicht so einfach, auch noch auf eine ausgewogene Ernährung zu achten. Ich glaube, viele von uns hier
im Raum können ein Lied davon singen.
Ich möchte die Debatte heute dazu nutzen, ganz zu
Beginn meiner Ausführungen im Namen der SPD-Bundestagsfraktion denjenigen Danke zu sagen, die in unserem Land gute Produkte herstellen. Das sind die Landwirtinnen und Landwirte, die jeden Tag unterwegs sind.
Denen sage ich erst einmal ein großes Dankeschön für
die hervorragende Arbeit, die sie jeden Tag leisten.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geschmack allein macht aber nicht gesundes Essen aus. Die Art, wie
Lebensmittel produziert und konsumiert werden, hat
weitreichende Konsequenzen für Menschen, Tiere und
Umwelt. Daher muss Politik Rahmenbedingungen dafür
schaffen, dass sichere und gesunde Lebensmittel erzeugt
werden. Sie muss durch einfache, verständliche und verlässliche Verbraucherinformationen bewusste Konsumentscheidungen ermöglichen und gegen Verbrauchertäuschung entschieden vorgehen. Viele diesbezügliche
Kennzeichnungen sind in den Leitsätzen des Deutschen
Lebensmittelbuches beschrieben.
Es gibt aber deutliche Kritik am Deutschen Lebensmittelbuch. Dabei handelt es sich um vier wesentliche
Punkte:
Erstens. Es fehlt an einer klaren Zielsetzung.
Zweitens. Es mangelt an einer effektiven Umsetzung
des Lebensmittelbuches. Hier spiele ich auf die langsame
Änderungs- bzw. Anpassungsgeschwindigkeit der Leitsätze an.
Drittens. Es fehlt an einer personellen und finanziellen
Ausstattung, die eine vernünftige Arbeit gewährleistet.
Viertens. Es fehlt - das ist schon angeklungen - an
Transparenz. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, fordern
mehr Transparenz über den Meinungsbildungsprozess
gerade innerhalb der Kommission. Das ist dringend notwendig.
({2})
Beim Einkauf im Supermarkt fällt vielen von uns
mittlerweile auf, dass die Zusammensetzung der Lebensmittel nicht mehr dem entspricht, was eigentlich versprochen wird. Produktverpackung und Werbung suggerieren
eine Qualität oder Herkunft, die in der Ware oft nicht
drinsteckt. Begriffe wie „Hausmacherkost“ oder „stärkt
die Abwehrkräfte“ täuschen zum einen über den eigentlichen industriellen Herstellungsprozess hinweg. Zum anderen suggerieren sie dem Verbraucher eine Extraportion
Gesundheit. Gerade das Onlineportal Lebensmittelklarheit.de ist ein unverzichtbares Projekt, wenn es darum
geht, mehr Transparenz für den Verbraucher herzustellen. Hier können Aufmachung und Kennzeichnungspraktiken bei Lebensmitteln gemeldet werden, durch die sich
der Verbraucher offensichtlich getäuscht fühlt.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich dafür eingesetzt, dass das Projekt Lebensmittelklarheit weiter vorangetrieben und im Bundeshaushalt fest verankert wird.
Und das ist gut so.
({3})
Zur Veranschaulichung will ich noch zwei Beispiele nennen. Dabei geht es einmal um Lebensmittelimitate. Die kommen immer häufiger vor. Aus preiswerten
Rohstoffen entstehen Analogkäse oder Schinkenimitate.
Zwar sind diese Produkte nicht verboten, wichtig ist jedoch, dass der Verbraucher erkennen kann, ob er ein echtes oder nachgemachtes Lebensmittel kauft.
Ein anderes Beispiel betrifft die Kennzeichnung von
Fruchtsaftgetränken. Irreführende bunte Bilder wecken
falsche Erwartungen beim Verbraucher. Das darf nicht
sein. Dagegen muss man vorgehen.
({4})
Um es auf den Punkt zu bringen: Wichtig ist, dass nur
noch draufsteht, was drin ist, und drin ist, was draufsteht.
Und das sollte, bitte, für die Verbraucherinnen und Verbraucher verständlich sein.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zunehmend wird
auch die Herkunft des Nahrungsmittels vom Verbraucher
als ein bestimmender Faktor der Kaufentscheidung gesehen. Ich glaube, jeder von uns stellt in seinem Wahlkreis
bzw. seiner Region fest, dass die regional hergestellten
Produkte immer wichtiger werden und regionale Produkte ein wesentlicher Grund für Kaufentscheidungen der
Verbraucherinnen und Verbraucher sind.
({6})
Meine Heimat Westfalen - oder besser gesagt: Südwestfalen - ist eine Region, in der zahlreiche kulinarische Spezialitäten zu Hause sind.
({7})
Dabei handelt es sich um die „westfälischen Fünf“.
Schinken, Mettwurst, Pumpernickel, Stuten und Korn
stehen gerade für traditionelle Produkte nationaler Herkunft und Qualität.
({8})
Ich möchte an dieser Stelle gar nicht vom guten sauerländischen Bier sprechen.
({9})
Aber ein Blick auf den Kollegen Willi Brase zeigt mir:
Auch im Siegerland gibt es hervorragende Produkte, gerade auch in flüssiger Form.
({10})
- Jetzt habe ich etwas angerichtet?
Aus prinzipiellen Gründen, Herr Kollege, muss ich
schon Wert auf den Hinweis legen, dass diese Auflistung
exemplarisch, aber nicht vollständig ist.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident, ich muss an dieser Stelle sagen, dass ich keinen artikulierten Widerspruch vom
Minister höre. Unter Juristen gilt: Schweigen heißt Zustimmung. Von daher, glaube ich, habe ich in diesem
Punkt recht.
({0})
Im Sauerland - um noch einmal auf meine Heimatregion zu sprechen zu kommen - gibt es übrigens, gerade was regionale Produkte anbelangt, eine Vielzahl
von Hofläden, die durch Regionalität und Qualität überzeugen. Gute Beispiele hierfür sind das Netzwerk hofladen-sauerland.de oder viele Bauern- und Geflügelhöfe,
die mit Produkten aus der Region werben und diese verkaufen. Die Palette an Restaurants mit regionaler Kost ist
ebenfalls groß. Diese Angabe der geografischen Herkunft
funktioniert also auch als Qualitätssignal für die Verbraucher.
Richten wir an diesem Punkt den Blick auf den globalen Lebensmittelhandel. Wir müssen uns nicht immer
nur vor amerikanischen Chlorhühnchen oder kanadischem Rindfleisch fürchten, sondern wir müssen uns
bereits auf nationaler Ebene für eine Pflicht zur Kennzeichnung der Herkunft von Lebensmitteln einsetzen.
So können wir unsere nationalen Standards sichern und
weiterentwickeln. Daher müssen wir uns gemeinsam
für den Erhalt regionaler Kennzeichnungen im internationalen Freihandelsabkommen einsetzen; denn dies ist
ein entscheidender Wettbewerbsvorteil für die deutsche
Landwirtschaft.
({1})
Das heißt, wenn wir jetzt noch vor unserer eigenen Tür
kehren, also unsere Hausaufgaben machen, und das
Deutsche Lebensmittelbuch reformieren, dann können
wir uns dem Wettbewerb mit unseren Qualitätsprodukten
stellen.
Eine Anmerkung zum Schluss an die Kolleginnen und
Kollegen der Grünen: Wenn Frau Haßelmann schon kritisiert, dass der Minister nicht anwesend ist, dann sollte
doch Frau Haßelmann selbst bitte bis zum Ende der Debatte anwesend sein.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort erhält nun die Kollegin Carola Stauche für
die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Vor fast einem Jahr - das wurde heute
schon genannt -, am 15. Januar 2015, diskutierten wir
hier im Plenum des Deutschen Bundestags einen Antrag
unserer Regierungskoalition mit dem Titel „Gesunde
Ernährung stärken - Lebensmittel wertschätzen“. Darin
finden sich zwei wunderschöne Sätze:
Im Alltag der Verbraucherinnen und Verbraucher
spielen Ernährung und gesunde sowie sichere Lebensmittel eine zentrale Rolle. Nie zuvor waren Lebensmittel in Deutschland so sicher, bezahlbar und
vielfältig wie heute.
({0})
Diese Sätze galten damals, und diese Sätze gelten auch
heute noch. Ich betone dies explizit, weil von mancher
Seite unterschwellig der Eindruck erweckt wird, die
deutsche Lebensmittelwirtschaft sei eine Bande von Betrügern und die Verbraucherinnen und Verbraucher ständen alle kurz vor einer Vergiftung.
({1})
Deshalb wiederhole ich:
Nie zuvor waren Lebensmittel in Deutschland so sicher, bezahlbar und vielfältig wie heute.
({2})
Unsere Land- und Ernährungswirtschaft leistet zum
ganz überwiegenden Teil eine sehr gute Arbeit. Das
Deutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission haben hierzu in der Vergangenheit einen ganz wichtigen Beitrag geleistet. Dafür gebührt ihr unser Dank.
({3})
Jedoch auch in diesem Bereich gilt: Das Bessere ist der
Feind des Guten. Ein im internationalen Vergleich hohes
Niveau und mündige Bürgerinnen und Bürger lassen nahezu folgerichtig die Forderung entstehen, sich nicht mit
dem Erreichten zufriedenzugeben, sondern immer weiter
nach Verbesserungen zu streben.
Unstrittig ist, dass das Lebensmittelbuch und die
Kommission reformiert werden müssen, um auch weiterhin die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllen zu können.
Dabei geht es aber nicht um einen radikalen Umbau des
Systems, sondern um eine behutsame und zielorientierte
Weiterentwicklung des bewährten Instrumentes.
Deshalb finde ich es sehr schade, dass der Antrag der
Grünen Dinge vermischt: Einerseits fordert er, was ohnehin bereits politischer Wille ist, nämlich die Ergebnisse
der Evaluation des Lebensmittelbuches umzusetzen. Das
findet sich auch im Antrag unserer Regierungskoalition.
({4})
Ich denke, Details muss ich hierzu nicht weiter ausführen. Das haben meine Vorredner bereits zur Genüge getan.
Andererseits verknüpft der Antrag damit Elemente,
die mit dem Lebensmittelbuch nichts oder nur am Rande
zu tun haben.
({5})
- Ja, genau. - Dazu kann ich nur sagen: Insbesondere das
Mantra von der Lebensmittelampel wird nicht dadurch
richtig, dass es permanent wiederholt wird, obwohl es
gar nicht hierhergehört.
({6})
Ich möchte meine Rede vom Juni 2010 zum Thema
Lebensmittelampel in Erinnerung rufen.
({7})
Im Land des Autos sind wir uns der Bedeutung von
Ampeln durchaus bewusst, allerdings gehören diese an Kreuzungen und nicht auf Lebensmittel. Auf
der Straße helfen sie, den Verkehr zu regeln; auf
Lebensmitteln führen sie dazu, den Verbraucher zu
verwirren. Es mag schön aussehen, wenn alle Lebensmittel mit grünen, gelben oder roten Punkten
gekennzeichnet sind. Aber ist das nicht zu kurz gedacht? Sollen wir den Bürgern durch eine Ampelkennzeichnung die Entscheidung leicht machen,
({8})
keine Margarine mehr zu kaufen, weil diese mit
einem roten Punkt gekennzeichnet ist? Das klingt
polemisch, aber genau das ist die Ampelkennzeichnung auch - Polemik oder vielmehr Aktionismus
und Alibipolitik.
({9})
Außerdem widerspricht die Ampelkennzeichnung dem
EU-Recht.
({10})
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, diese Aussage war damals so richtig, wie sie es heute ist. Ich finde es
schade, dass die Ampel doch immer wieder Eingang in
Anträge findet, noch dazu in Anträge, die sich mit anderen Themen befassen.
({11})
Ich denke, wichtiger als eine umfassende Entmündigung der Verbraucherinnen und Verbraucher durch wenig aussagekräftige Symbolpolitik wie eine Lebensmittelampel ist eine echte Information mündiger Bürger und
Bürgerinnen, auf deren Grundlage sie sich eine eigene
Meinung bilden können.
({12})
Noch ein anderer Punkt ist mir in diesem Zusammenhang wichtig: Der Deutsche Bauernverband weist in einer Stellungnahme zu Recht darauf hin, dass so manche
Irritation von Verbrauchern auch durch verlorengegangenes Allgemeinwissen über die Erzeugung von Lebensmitteln hervorgerufen wird. So sind im Normalfall weder
Leber noch Käse Bestandteil von Leberkäse, weder früher noch heute, und das wird auch in Zukunft so sein. Er
wird aber trotzdem Leberkäse heißen. Echte Aufklärung
über Lebensmittel und deren Herstellung erreichen wir
nicht mit einer Ampel.
({13})
Ähnliches gilt für die Tierhaltungskennzeichnung von
Fleisch: Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates
für Agrarpolitik beim BMEL hat darauf hingewiesen,
dass es keine objektiven Anhaltspunkte dafür gibt, dass
die Größe eines Tiermastbetriebs Einfluss auf das Tierwohl hat. Das ist für mich ein wichtiger Hinweis darauf,
dass die Dinge nicht so einfach sind, wie manchmal behauptet wird.
Ich betone noch einmal: Wir sollten in unseren Debatten zu den Themen Ernährung und Landwirtschaft
sachlich und themenbezogen diskutieren und nicht Dinge
vermischen, die nicht vermischt gehören.
({14})
In diesem Sinne soll mein Schlusswort auch wieder
dem Antrag unserer Regierungskoalition gehören. Ich
bin der Meinung, dass mit unserem Antrag ein bewährtes
Konzept sinnvoll weiterentwickelt wird. Ich bin überzeugt, dass ein reformiertes Lebensmittelbuch unsere erfolgreiche und verdienstvolle Land- und Ernährungswirtschaft auch weiterhin nach Kräften unterstützen wird.
Danke.
({15})
Ursula Schulte ist für die SPD-Fraktion die letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren auf der Tribüne! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich freue mich wirklich, dass wir heute in der
Kernzeit über mehr Klarheit für Verbraucherinnen und
Verbraucher sprechen, Klarheit insbesondere dann, wenn
es um die Bezeichnung von Lebensmitteln geht. Dabei
ist es mir völlig egal, ob Grüne Woche ist oder nicht;
denn mir ist einfach das Thema wichtig. Wenn die Grüne
Woche dazu beiträgt, dass wir dieses Thema in die Kernzeit hieven können, dann soll es mir recht sein.
({0})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der letzten
Legislaturperiode deutlich gemacht, dass sie eine Verbraucherpolitik für alle Menschen machen will. Es bleibt
unser Ziel, alle Verbraucherinnen und Verbraucher in die
Lage zu versetzen, ihren Bedürfnissen entsprechend klug
einzukaufen und sich bewusst zu entscheiden. Das ist sozusagen unser verbraucherpolitisches Credo.
({1})
Wir alle wissen, dass es den Verbraucher bzw. die Verbraucherin so nicht gibt. Die Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich, die Kaufentscheidungen ebenso. Verbraucher
handeln auch nicht immer rational. Viele Kaufentscheidungen kommen aus dem Bauch heraus; das kenne ich
auch persönlich. Am Ende ärgert man sich oft. Trotzdem:
Wenn ich an der Ladentheke stehe und ein Produkt kaufen will, dann habe ich auch das Recht, zu wissen, was
drin ist. Das ist für mich Klarheit und Wahrheit.
({2})
Es ist wichtig, dass wir über die Reform des Deutschen Lebensmittelbuches und der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission reden. Allerdings kennen viele
Verbraucher und Verbraucherinnen das Lebensmittelbuch überhaupt nicht; auch das muss sich ändern. Das
Buch hat sich nach meiner Meinung bewährt. Es ist aber
in die Jahre gekommen. Wir müssen also Hand anlegen
und das Buch fit für die Zukunft machen. In diesem Zusammenhang zitiere ich Herrn Minister Schmidt, der in
einer Pressemitteilung im März 2015 gesagt hat, dass
der Qualitätswettbewerb auf dem Lebensmittelmarkt
gestärkt werden müsse, damit Verbraucherinnen und
Verbraucher nachhaltige Kaufentscheidungen treffen
können. Dazu sind aber klare und eindeutige Informationen über die Produkte notwendig. Dazu kann auch die
Lebensmittelampel beitragen. Frau Stauche, hier bin ich
ganz anderer Meinung als Sie. Ich will keinen Beipackzettel bei Lebensmittelprodukten lesen.
({3})
Effizienz, Transparenz, mehr Kommunikation und die
daraus folgende Akzeptanz seien die Grundpfeiler des
anstehenden Reformprozesses, so der Bundesminister. Ich tue jetzt einfach einmal so, als ob der Minister anwesend sei. Die SPD-Fraktion freut sich, Herr Minister,
({4})
dass Sie nun den Ankündigungsmodus aufgegeben haben
und konkrete Eckpunkte vorlegen.
({5})
Das hat doch recht lange gedauert. Aber es heißt nicht
umsonst: Gut Ding will Weile haben. Seltsam, dass mir
in diesem Zusammenhang auch das Wahljahr 2017 einfällt.
Von unterschiedlichen Seiten wird derzeit Kritik am
Deutschen Lebensmittelbuch geäußert. In der Tat ist
vieles verbesserungswürdig. Es kann doch nicht angehen, dass ich beispielsweise Geflügelleberpastete kaufen
möchte und dann feststellen muss, dass die Bestandteile
vorwiegend aus Schweinefleisch bestehen. Ich habe einmal einen Blick in die Leitsätze zum Fleisch und zu den
Fleischerzeugnissen geworfen. Dort ist bei der erwähnten Geflügelleberpastete von Gänseleber die Rede. Das
ist auch richtig. Aber dann heißt es weiter: fettgewebsund sehnenarmes Schweinefleisch, teilweise - das ist die
Krönung des Ganzen - auch ohne Fleisch. Man könnte
darüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre.
({6})
Für mich ist klar: Der Anspruch der Verbraucher auf
Wahrheit und Klarheit soll prägend für die Leitsätze des
Deutschen Lebensmittelbuches sein. Wir müssen wissen,
was wir kaufen. Wir können erwarten, dass in der Geflügelleberpastete größtenteils Geflügelleber enthalten
ist. Für mich gilt: Was draufsteht, muss auch drin sein;
das hat schon mein Kollege Carsten Träger betont. So
einfach ist das eigentlich auch, selbst wenn der Deutsche
Bauernverband meint, dass Leberkäse kaum Leber oder
Käse enthalten würde und dass das immer schon so war.
Das mag richtig sein, aber dann ist nicht das Unwissen
der Verbraucher an dem Misstrauen gegenüber Lebensmittelbezeichnungen schuld, sondern es sind schlichtweg
die irreführenden Bezeichnungen.
({7})
Gesunde Ernährung fängt damit an, dass wir uns auf
die Zutatenliste und die Kennzeichnung von Lebensmitteln verlassen können. Das ist nicht nur für Allergiker von großer Bedeutung. Die allgemeinen Leitsätze
des Lebensmittelbuches dienen dabei der Orientierung.
Sie müssen aber verständlich formuliert und aktuell
sein. Umfassende Verbraucherinformation und mehr
Transparenz, das sind unsere Ziele. Deshalb hält meine
Fraktion eine enge Verzahnung der Arbeit der Lebensmittelbuch-Kommission mit dem Internetportal Lebensmittelklarheit für sinnvoll.
({8})
Mit den Erkenntnissen, die die Verbraucherinnen und
Verbraucher über diese Plattform mitteilen, hat sich die
Kommission dann auch zwingend zu befassen. Letztendlich sind doch die Verbraucher die Fachleute in eigener
Sache.
Die von Ihnen, Herr Minister, vorgelegten Eckpunkte
scheinen in die richtige Richtung zu gehen. Schön, dass
Sie damit unsere Forderung aufgreifen, die wir Sozialdemokraten schon lange verfolgen. Es ist immer gut, wenn
man lernfähig ist.
({9})
Lassen Sie mich noch einige Sätze zur Arbeit der
Kommission sagen. Wenn die Deutsche Lebensmittelbuch-Kommission effektive, transparente und zielorientierte Ergebnisse liefern soll, muss sie materiell und
personell auch besser ausgestattet werden. Wir benötigen
zusätzlich eine Straffung der Verfahrensabläufe, wir benötigen eine bessere Kommunikation, die dann zu mehr
Klarheit und Akzeptanz der Ergebnisse führt.
({10})
Dabei plädiere ich weiterhin auch für eine gleichgewichtige Interessenvertretung in der Kommission und
verweise in diesem Zusammenhang noch einmal auf das
SPD-Papier aus der letzten Wahlperiode. Wir haben damit den Ausbau der Verbraucherforschung gefordert. Die
Verbraucherforschung gehört ganz selbstverständlich in
die Kommission.
({11})
Wenn dann die Kommission zusätzlich von sich aus
noch Initiativen ergreifen kann, dann können wir ein
verbrauchergerechtes Lebensmittelbuch sowie eine noch
effizienter arbeitende Lebensmittelbuch-Kommission erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mittlerweile bin ich
ein ausgesprochener Fan der regionalen Produkte und
der regionalen Vermarktung. Viele Verbraucherinnen
und Verbraucher wollen inzwischen bei ihrem Einkauf
ebenfalls wissen, woher die Produkte kommen. Wir dürfen den Begriff „regional“ aber nicht verwässern oder
inflationär benutzen. Meine Hoffnung ist, dass die Diskussion über das Deutsche Lebensmittelbuch die regionale Wertschöpfung politisch flankiert und einen Beitrag
zu einer nachhaltigen Entwicklung bäuerlicher Landwirtschaft leistet. Immer mehr Wachstum, immer mehr
Export, das ist nur für wenige große Betriebe die richtige
Richtung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf der Druck-
sache 18/7238 mit dem Titel „Mehr Klarheit für den Ver-
braucher bei der Bezeichnung von Lebensmitteln - Das
Deutsche Lebensmittelbuch und die Deutsche Lebens-
mittelbuch-Kommission reformieren“. Wer stimmt für
diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält
sich? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koa-
lition bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Unter dem Tagesordnungspunkt 5 b stimmen wir ab
über den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 18/7242 mit dem Titel „Echte Reform
der Deutschen Lebensmittelbuch-Kommission - Mehr
Transparenz und Beteiligung“. Wer stimmt für diesen
Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? -
Damit ist der Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und
6 b:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann ({0}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Zusatzbeiträge abschaffen - Parität wiederherstellen
Drucksache 18/7237
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lasten und Kosten fair teilen - Paritätische
Beteiligung der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an den Beiträgen der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen
Drucksache 18/7241
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Dazu höre
ich keinen Widerspruch. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst
die Kollegin Sabine Zimmermann für die Fraktion Die
Linke.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die gesetzliche Krankenversicherung ist eine
der wichtigsten sozialen Errungenschaften in unserem
Land. Die Grundidee war, dass Versicherte und Arbeitgeber eine Solidargemeinschaft gründen; denn jeder kann
krank werden und ist darauf angewiesen, dass die Kosten
von den Gesunden für die Kranken mitgetragen werden.
Doch, meine Damen und Herren von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und CDU/CSU, Sie haben dieses Erfolgsmodell über die Jahre deutlich geschwächt und ausgehöhlt. Diese Entwicklung muss endlich gestoppt und
rückgängig gemacht werden.
({0})
- Ich erzähle Ihnen gleich, wie das geht.
2005 wurden die Versicherten mit einem Sonderbeitrag belastet und die Arbeitgeber entlastet. Damit wurde
die paritätische Finanzierung, also halbe-halbe, aufgegeben. Das, meine Damen und Herren, war der erste Schritt.
({1})
Als Begründung diente, dass der Ausgabenanstieg
mit den Einnahmen nicht mithalten werde. Ein logischer
Schluss wäre gewesen, die Einnahmebasis zu verbreitern. Dazu gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Man
hätte zum Beispiel Kapitalerträge heranziehen können,
oder man hätte die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen
können. Das wäre sozial gewesen.
({2})
Aber Sie setzen diesen unsozialen Weg fort und greifen
den Versicherten mit immer höheren Zusatzbeiträgen immer tiefer in die Tasche, und das ist ungerecht.
({3})
Wir als Linke tragen das nicht mit.
Die Bundesregierung begründet diese Maßnahmen
auch damit, dass die Arbeitgeber von Lohnnebenkosten
entlastet werden müssen und dass damit Arbeitslosigkeit verhindert wird. So wurde wieder einmal die Legende vom Kapital als scheuem Reh bedient, und diese
Sichtweise hat sich eigentlich bis heute in dieser Bundesregierung festgesetzt: zu hohe Löhne, überbordende
Sozialversicherungsbeiträge usw. usf., Beschäftigte, die
den Arbeitgeber eigentlich nur Geld kosten. Man kann es
schon gar nicht mehr hören.
({4})
Mit dieser Verdrehung der Tatsachen muss endlich
Schluss sein.
Meine Damen und Herren, unternehmerischer Erfolg
hat sich noch nie durch niedrige Löhne und möglichst
geringe Sozialversicherungsbeiträge eingestellt, sondern
nur durch gute, innovative Produkte oder hochwertige
Dienstleistungen. Diese Wertschöpfung wird von den
Beschäftigten erbracht und getragen. Deshalb ist es nur
gerecht und logisch, dass sich der Arbeitgeber mindestens hälftig an der Finanzierung der Krankenversicherung seiner Beschäftigten beteiligt; denn deren Gesundheit muss auch in seinem ureigenen Interesse sein.
Aber ungläubig durfte man sich zum Jahreswechsel
die Augen reiben, dass nun ausgerechnet die SPD die
Rückkehr zur paritätischen Finanzierung fordert. Denn
Sie waren es doch gewesen - Edgar, du lachst mich so
an -, die den Ausstieg aus dem Solidarprinzip auf den
Weg gebracht haben. Falls, liebe Genossinnen und Genossen der SPD, Sie aus diesem Fehler tatsächlich gelernt haben, begrüßen wir das.
({5})
Besser spät als nie. Ob Sie allerdings den Willen haben,
dies auch in der Großen Koalition umzusetzen, das muss
erst bewiesen werden. Noch fehlt mir der Glaube daran.
Bei uns bleibt es nicht bei Ankündigungen. Wir fordern in unserem heutigen Antrag die Wiederherstellung
der paritätischen Finanzierung. Weg mit den Zusatzbeiträgen, und das schnellstmöglich! Nur das ist gerecht.
Die gesetzliche Krankenversicherung hat eine elementare soziale Schutzfunktion, und die muss gestärkt werden.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, Kollegin Zimmermann. - Nächste Rednerin: Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Verehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Verehrte Damen und Herren! Uns liegen
zwei Anträge der Oppositionsfraktionen vor, die Parität
in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder einzuführen. Liebe Frau Zimmermann, in einem Punkt sind
wir uns einig: Das Krankenversicherungssystem ist eine
elementare Säule des sozialen Sicherungssystems in
Deutschland, und diese muss immer finanzierbar bleiben. Es gilt immer noch der Grundsatz der Wertschöpfung und der Erarbeitung der Produkte über die Kreativität und den Fleiß der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
der Arbeitnehmer. Aber sie bekommen ihren Lohn erst
dann, wenn der Arbeitgeber die Produkte auf dem Markt
verkaufen konnte; denn die Mittel für die Löhne finanziert der Kunde. Dieser Grundsatz gilt immer noch. Insofern will ich versuchen, ein bisschen Systematik in das
Durcheinander der uns vorliegenden Anträge zu bringen.
Präsident Dr. Norbert Lammert
Gut, man kann zu Beginn eines Jahres, in dem der
durchschnittliche Zusatzbeitrag um 0,2 Prozent angestiegen ist, einmal grundsätzlich über das Finanzierungssystem diskutieren. Das gibt uns auch die Gelegenheit, das
eine oder andere noch einmal aufzufrischen.
Schon einige Jahre bringen wir mit diesem bewährten
Prinzip - Sie haben die Zahlen genannt - wirtschaftliche
Entwicklung und Sicherung der Arbeitsplätze voran. Das
kann niemand in diesem Haus wegreden. Wir haben in
der Zwischenzeit nicht mit Defiziten zu kämpfen, sondern wir haben immer noch erhebliche Rücklagen, die
selbstverständlich unterschiedlich verteilt sind - das ist
wahr -; das hat aber andere Ursachen.
Ich finde es ein bisschen komisch, liebe Kolleginnen
und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, dass Sie heute mit einem Antrag die Bundesregierung dezidiert auffordern, ein Gesetz vorzulegen, um die Parität wieder
einzuführen, wo Sie es doch in der rot-grünen Bundesregierung waren, die aus der Not heraus, die es damals
gab - zum Beispiel 5 Millionen Arbeitslose und schlechte wirtschaftliche Parameter -, Maßnahmen ergriffen haben, die die Finanzierbarkeit unseres bewährten solidarischen Gesundheitssystems sichern sollten.
({0})
Wir als Union haben damals mitgestimmt, die Entscheidung mitgetragen, weil es richtig war.
({1})
Komischerweise ist es jetzt so, dass wir fast die Einzigen sind, die an diesen Prinzipien festhalten. Was in
schwierigen wirtschaftlichen Zeiten ökonomisch richtig
ist, das kann man nach Adam Riese auch in guten wirtschaftlichen Zeiten nicht einfach außer Kraft setzen; das
gilt auch dann. Deshalb ist das Grundprinzip heute mehr
denn je, in guten Zeiten für schlechte Zeiten zu sorgen.
Das tun wir an vielen Stellen.
({2})
Eine Forderung der Linken hat mich etwas überrascht.
Sie haben in Ihrem Antrag unter anderem gefordert, den
damals wegen der notwendigen Finanzierung der Pflegeversicherung abgeschafften Feiertag Buß- und Bettag
wieder einzuführen.
({3})
Sie verweisen sogar darauf, dass der Freistaat Sachsen
diesen Feiertag nie abgeschafft hat und deshalb die Arbeitgeber und Arbeitnehmer die zusätzlichen Kosten
tragen. Sie fordern für dieses Land eine Sonderregelung.
Das kann man ernsthaft diskutieren.
Ich frage Sie aber jetzt etwas. Sie sind ja in mehreren
Ländern mit in der Regierung. Warum führen Sie denn
in Thüringen den Feiertag Buß- und Bettag nicht wieder
ein? Das können Sie selber über die Länderparlamente
machen. Da müssen Sie uns als Bundesgesetzgeber überhaupt nicht bemühen.
({4})
Frau Zimmermann hat kurz darauf hingewiesen, dass
die Abkopplung von den steigenden Kosten durch Festschreibung eines einheitlichen Beitrags - erst Sonderbeitrag, dann Zusatzbeitrag - eine bestimmte Entwicklung
genommen hat. Der damalige Sonderbeitrag sollte zum
Beispiel dazu dienen, die zusätzlichen Kosten für das
Krankengeld zu erwirtschaften. Das kann man in einem
großen Topf sowieso nicht machen; das ist auch nie geschehen. Ich will damit sagen, dass es bestimmte Entwicklungen gegeben hat.
Um Legendenbildung vorzubeugen - - Die Präsidentin unterbricht mich.
Nein.
Nein. Gut. - Zwei Minuten habe ich noch, und es
blinkt.
({0})
Entschuldigung. Es hat tatsächlich angefangen, zu
blinken. Im Zweifelsfall war die Technik schuld.
Aber Sie merken, wie ich auf Ihre Zeichen reagiert
habe, Frau Präsidentin.
Ich will in sieben Punkten noch einmal sagen, warum
wir es auch heute für richtig halten, an dem bewährten
System festzuhalten.
({0})
Erstens. Die Krankenkassen erhielten mit dem festgeschriebenen Arbeitgeberbeitrag und mit der Möglichkeit,
über den Zusatzbeitrag zu reagieren, ihre Beitragsautonomie zurück. Sie haben die Möglichkeit, auf die Konstellation in ihrer gesetzlichen Krankenkasse zu reagieren. Das stärkt sie, und das fördert den Wettbewerb.
Zweitens. Der absolute Zusatzbeitrag wurde in einen
prozentualen Zusatzbeitrag umgewandelt. Ein solcher
ist immer, auch hier, transparenter und vor allen Dingen
gerechter. Der Versicherte kann sich das bei seinem Zusatzbeitrag vor Augen führen. 1,1 Prozent - das ist der
durchschnittliche Zusatzbeitrag - von 1 500 Euro brutto
ist weniger als 1,1 Prozent von 3 000 Euro brutto. Deshalb ist das auch gerecht.
({1})
Drittens. Die Mitglieder können selber besser entscheiden, welche Kasse sie für ihre persönliche Situation
für richtig halten. Sie können das Preis-Leistungs-Verhältnis überprüfen und damit notfalls auch kontrollieren,
ob die speziellen Satzungsleistungen oder auch die GeMaria Michalk
schäftsstellendichte zu ihrer persönlichen Situation passen. Somit stärken wir auch die Rechte der Versicherten.
Viertens. Nicht der Arbeitgeber soll dafür entscheidend sein, wo ein Versicherter das aus seiner Sicht beste
Angebot findet. Auch dadurch wird die Autonomie des
Versicherten gestärkt.
Fünftens. Mit dem einheitlichen Arbeitgeberanteil ist
gewährleistet, dass sich der Arbeitgeber in allen Fällen
gleich am Kassenbeitrag beteiligt. Ich erinnere daran,
dass er die komplette Lohnfortzahlung im Krankheitsfall
alleine tragen muss. In manchen Fällen macht das sogar
mehr aus als der Zusatzbeitrag. Das ist ein Wert an sich.
Sechstens weise ich deshalb auf das Präventionsgesetz hin; denn auch die betriebliche Gesundheitsvorsorge
spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle und hat
direkte Auswirkungen auf den Zusatzbeitrag der Krankenkassen.
Siebtens verweise ich auf das Sonderkündigungsrecht
für jeden Versicherten. Wenn die Kasse die Beiträge erhöht, können die Versicherten selber entscheiden, was sie
tun.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mehr Wettbewerb
und mehr Transparenz sind heute genauso richtig wie
damals, als wir das System grundhaft umgebaut haben.
Deshalb werden wir beide Anträge ablehnen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Vielen Dank, Frau Kollegin Michalk. - Nächste Rednerin: Maria Klein-Schmeink für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kollegen hier im Hause! Frau Michalk, Sie
haben gerade gesagt: in guten Zeiten für schlechte Zeiten sorgen. Sie haben aber leider keine Argumentation
dafür geliefert, wie man eigentlich in guten Zeiten für
schlechte Zeiten sorgt. Ein sehr wichtiger Ansatz wäre,
den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade in Zeiten
guter Finanzlage so zu strukturieren, dass er funktioniert.
Das wäre die Aufgabe gewesen. Und genau das passiert
mit den Zusatzbeiträgen eben nicht.
({0})
Nicht ohne Grund diskutieren wir heute hier zwei Anträge, die im Wesentlichen - auch wenn sie in anderen
Aspekten nicht gleich sind - darauf gerichtet sind, die
Parität wiederherzustellen. Das hat doch einen guten
Grund; denn ein Jahr, nachdem Sie die kassenindividuellen Zusatzbeiträge in Kraft gesetzt haben, haben wir erstmalig eine Situation, in der sie spürbar sind. Wir wissen
schon heute: Die Entwicklung wird rasant fortschreiten,
wenn wir nicht gegensteuern, und es wird zu hohen Zusatzbeiträgen und einseitiger Belastung der Versicherten
kommen.
Da gilt es jetzt gegenzusteuern. Nicht umsonst plädieren die Linke, die Grünen und auch die SPD dafür. Ihr
ganzer Parteitag hat sich dafür ausgesprochen; aber auch
Ihre Arbeitnehmervereinigung hat sich so geäußert.
({1})
Der Patientenbeauftragte, Herr Laumann, hat deutlich
gemacht: Wir müssen wieder hin zur Parität.
({2})
Wenn wir jetzt Zeiten mit der besten Konjunktur und
der besten sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung
überhaupt haben, dann muss das doch der Zeitpunkt sein,
zu dem wir die Arbeitgeber wieder gerecht beteiligen,
nämlich hälftig beteiligen, und dafür sorgen, dass sie ihre
Lasten genauso tragen wie die Arbeitnehmer. Es gibt keinerlei Begründung dafür, dass ausgerechnet die gesetzlich versicherten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
in diesen Zeiten eine extra Konjunkturbeihilfe zahlen.
Nichts anderes ist es ja.
({3})
Wenn Sie argumentieren, das würde Arbeitsplätze
sichern, dann lassen Sie sich doch zum Beispiel einmal
den Handwerkerlohn vor Augen führen. Das kann man
beispielsweise für Bayern gut darstellen. Der Geselle
verdient pro Stunde 13,50 Euro brutto. Wenn wir den Arbeitgeber wieder paritätisch beteiligen, zahlt er in diesem
Fall 6 Cent mehr für diese Handwerkerstunde, die im
Übrigen insgesamt 48 Euro kostet. Daran sehen Sie: Das
ist kein wirklicher Beitrag, um Arbeitsplätze zu sichern.
Im Gegenteil: Sie wälzen Kosten auf die Versicherten ab,
und das ist so nicht hinnehmbar.
({4})
Zusätzlich verlieren wir mit der Aufgabe des Prinzips der paritätischen Finanzierung die Arbeitgeber als
Wächter für Kostenkontrolle im Gesundheitswesen. Das
ist eine ganz wichtige Funktion gewesen, die sie immer
innehatten. Aber jetzt haben wir einen Mechanismus,
nach dem die Versicherten sämtliche Kosten im Gesundheitswesen zu tragen haben. Der Arbeitgeber ist nicht
mehr beteiligt. Wir wissen, dass es um mindestens 11 bis
12 Milliarden Euro pro Jahr geht, und wir wissen auch,
dass Sie durch die zahlreichen Reformen des letzten Jahres bis 2019 weitere Kosten in Höhe von 12 Milliarden
Euro verursacht haben. All das soll nur der Versicherte
zahlen. Das finden wir ungerecht.
({5})
Da muss man gegensteuern, und ich würde mir sehr
wünschen, dass Sie diese gesellschaftliche Diskussion,
die ja von weiten Kreisen getragen wird, tatsächlich zum
Anlass nehmen, noch einmal innezuhalten und sich zu
fragen: Müssen wir nicht die Zusatzbeiträge abschaffen
und wieder eine paritätische Finanzierung herstellen? Ist
das nicht das, was gefragt ist? Wir brauchen nicht einen
Preiskampf zwischen den Krankenkassen um den günstigsten Tarif, sondern wir brauchen Investitionen in den
gesellschaftlichen Zusammenhalt und einen Wettbewerb
der Kassen, gute Versorgung zu organisieren. Das ist die
Aufgabe, die jetzt anzugehen wäre.
({6})
Diese Aufgabe ist angesichts des demografischen
Wandels wichtiger denn je. Stattdessen beschäftigen Sie
unsere Krankenkassen damit, zu überleben. Eine der
größten Krankenkassen wird den Spitzensatz erheben
müssen.
({7})
Das wird zu enormen Verwerfungen führen. Es wird zu
einer enormen Abwanderung von Versicherten führen.
Da richten Sie ernsthaft Schaden an in der gesetzlichen
Krankenversicherung. Das wiederum bitte ich Sie wirklich mit in die Betrachtung zu nehmen. Das gehört mit in
die Anhörung und bitte schön auch in die Verhandlungen
zwischen SPD und CDU; denn es reicht nicht - das muss
ich an dieser Stelle schon noch einmal sagen -, Opposition in der Regierung zu spielen.
({8})
Ich erwarte von Ihnen ganz klar: Verhandeln Sie ernsthaft! Sorgen Sie dafür, dass wirklich Druck entsteht und
wir diese Zusatzbeitragsentwicklung stoppen.
({9})
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. - Nächster Redner: Dr. Karl Lauterbach für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Damen und Herren!
Zunächst einmal ist es richtig, dass wir damals den Zusatzbeitrag, den Sonderbeitrag von 0,9 Prozent eingeführt haben. Das war notwendig und ist Zeichen eines
wichtigen gesamtgesellschaftlichen Bündnisses. Ich bitte
Sie, sich Folgendes in Erinnerung zu rufen: Wir hatten
damals, Anfang 2005, 5 Millionen Arbeitslose. 5 Millionen Menschen waren nicht in Arbeit. Die Tatsache, dass
wir den Zusatzbeitrag eingeführt haben, war schmerzhaft. Das ist uns als SPD sehr schwergefallen. Das ist
auch den Gewerkschaften, die uns zum Teil sehr konstruktiv begleitet haben, sehr schwergefallen. Aber dazu
muss man nicht nur stehen, sondern dafür muss man
sich auch bedanken. Das tue ich an dieser Stelle. Die Arbeitnehmerschaft hat einen wesentlichen Solidarbeitrag
geleistet, der dazu geführt hat, dass wir heute in Europa
zu den wenigen Ländern gehören, die anderen Ländern
helfen können. Jeden Tag kommen Menschen zu uns, die
unsere Hilfe dringend benötigen. Man stelle sich nur vor,
wir wären jetzt in einer wirtschaftlichen Lage, in der wir
selbst keine Arbeit hätten, in der wir selbst Unruhe hätten. Dann wären wir nicht in der Lage, hier irgendjemandem entgegenzukommen. Somit: Das war ein Bündnis,
zu dem wir stehen, das richtig war und das seine Wirkung
getan hat.
({0})
Trotzdem ist auch richtig, was die Kollegin KleinSchmeink gesagt hat: dass die Zeiten sich geändert haben. Das hat gewirkt. Die Arbeitslosigkeit ist stark zurückgegangen. Wir haben Haushaltsüberschüsse, und wir
haben jetzt im Prinzip das ökonomische Profil, mit dem
wir es uns leisten könnten, die Sonderbelastungen für die
Arbeitnehmer wieder zurückzunehmen.
({1})
Es gibt keine ökonomischen Gründe mehr dafür, bei
diesen Sonderbelastungen zu bleiben. Zu einem gesellschaftlichen Bündnis gehört, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich in einer Notsituation gemeinsam helfen,
aber auch, dass man das nicht vergisst, wenn die Notsituation behoben ist. Das ist jetzt unsere Forderung.
Auch wir als SPD kämpfen für die Wiedereinführung der
Parität; denn jetzt wäre die Gelegenheit, zu zeigen, dass
es damals um dieses gesellschaftliche Bündnis ging und
dass nicht eine Umverteilung vorgenommen wurde, die
ideologischen oder prinzipiellen Überlegungen folgt.
({2})
Ich will darauf hinweisen, dass das eine sehr wichtige
Grundsatzentscheidung ist, und zwar mit folgendem Hintergrund: Es gibt kein anderes Sozialsystem, weder das
Rentensystem noch das Pflegesystem noch die Arbeitslosenversicherung, in dem alle zukünftigen Kostensteigerungen allein von den Arbeitnehmern zu bezahlen sind.
In allen anderen Systemen beteiligen sich die Arbeitgeber an den Steigerungen. Das ist im Gesundheitssystem
von allergrößter Bedeutung; denn in diesem System werden die Kosten am stärksten steigen.
({3})
Wir haben drei Herausforderungen:
Erstens haben wir eine älter werdende Babyboomer-Generation, also eine Kohorte von jetzt noch im Beruf stehenden und einigermaßen gesunden Menschen, die
demnächst älter und kränker sein werden.
Zweitens werden wir einen technischen Fortschritt haben, der in einigen Bereichen großartig, aber auch sehr
teuer ist. Wir rechnen zum Beispiel damit, dass die Medikamente, die für Krebsbehandlungen bezahlt werden
müssen - die Kosten liegen jetzt bei jährlich 6 Milliarden
Euro -, in 30 Jahren 45 Milliarden Euro im Jahr kosten
werden.
({4})
Das kann nicht allein von den Arbeitnehmern bezahlt
werden. Wir können nicht einerseits die Arbeitnehmer
in guten Jahren in den Betrieben beschäftigen und damit
Wirtschaftswachstum erreichen und andererseits, wenn
sie älter sind, krebskrank werden und Hilfe benötigen,
sagen: Das bezahlt der Arbeitnehmer alleine. - Das können wir nicht tun.
({5})
Drittens ist es so, dass durch die Behandlungserfolge, die wir haben, viele Menschen mehrere Krankheiten erleben werden. Derjenige, der eine Krebskrankheit
überlebt, hat immer noch das Risiko, an Demenz zu
erkranken oder einen Herzinfarkt zu bekommen. Zum
Teil bedingen sich diese Krankheiten auch gegenseitig.
Das heißt, der Kostenanstieg im Gesundheitssystem ist
deutlich gravierender als in jedem anderen Sozialsystem.
Die Kostenanstiege in der Rentenversicherung oder der
Pflegeversicherung, die wir erwarten können, sind sehr
klein im Vergleich zu den Zusatzbelastungen, die wir im
Gesundheitssystem haben werden. Man kann davon ausgehen, dass aufgrund der drei genannten Faktoren in 20
oder 30 Jahren die zu erwartenden Zusatzbelastungen bei
den Sozialversicherungen zu 70 Prozent durch das Gesundheitssystem bedingt sein werden.
Somit ist es richtig, hier jetzt die Weichen zu stellen
für eine paritätische Finanzierung ohne Wenn und Aber.
Es ist noch richtiger, dies im Rahmen einer Bürgerversicherung zu tun. Es ist nicht einzusehen, dass sich
ausgerechnet Beamte, Gutverdienende, Selbstständige,
diejenigen, die des Solidarpaktes eigentlich überhaupt
nicht bedürfen, daraus entfernen können und nicht mitbezahlen. Somit treten wir für eine paritätisch finanzierte
Bürgerversicherung ein.
({6})
Das ist seit vielen Jahren unsere Position. Das ist keine
neue Position. Ich trage hier keine Neuigkeiten vor. Wir
werden dafür weiterhin kämpfen.
Ich hoffe, dass wir auch bei der Union Verständnis finden; denn wir haben ja gute Argumente. Wir setzen auf
die Überzeugung
({7})
und auf die Bürger, die unsere wichtigste Unterstützung
sind. Die Bürger sehen es zu 70 bis 80 Prozent so, wie ich
es gerade vorgetragen habe. Das kann auch für eine vermeintliche Volkspartei nicht ohne Konsequenzen bleiben. Daher haben wir gute Chancen, das mittelfristig auf
dem Verhandlungsweg zu erreichen. Ich bin froh, dass
die Opposition das Kernanliegen der SPD, was Bürgerversicherung und Parität angeht, unterstützt. Wir sind für
jede Unterstützung dankbar und nehmen das gerne mit.
({8})
Vielen Dank, Karl Lauterbach. - Nächster Redner:
Erich Irlstorfer für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
CDU, CSU und liebe Kollegen der SPD: Ich kann mich
noch an die Bundestagswahl 2013 erinnern. Im Anschluss
an die Wahl haben wir in den Koalitionsverhandlungen
gemeinsam den Rahmen für die Gesundheitspolitik der
Koalition für diese Wahlperiode beschlossen.
Der Koalitionsvertrag umfasst Vereinbarungen zur Sicherstellung und Verbesserung einer flächendeckenden
ärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik. Diese Vereinbarungen haben wir in erster Linie im GKV-Versorgungsstärkungsgesetz konkretisiert. Infolgedessen werden zum Beispiel in zehn Tagen die Terminservicestellen
ihre Arbeit aufnehmen.
Mit dem Krankenhausstrukturgesetz haben wir wiederum die Ziele des Koalitionsvertrages in Bezug auf
die Weiterentwicklung der stationären Versorgung in ein
Gesetz gegossen. Im Zentrum der Reformen steht die
Sicherstellung und Steigerung der Qualität in den Kliniken - all diese Dinge, die uns sehr wichtig sind. Ebenso
gab es Reformen in der Pflege. Ich möchte schon daran
erinnern, dass all diese Dinge keine Schnellschüsse waren, sondern wir das sauber und ordentlich miteinander
vorbereitet haben. Mit den Reformen setzen wir eines
der für mich wichtigsten und vielleicht auch komplexesten Vorhaben dieser Großen Koalition um, und das
gilt auch für das GKV-Finanzstruktur- und QualitätsWeiterentwicklungsgesetz, das die unmögliche Abkürzung GKV-FQWG trägt und ein wahrer Zungenbrecher
ist. All das basiert auf Vereinbarungen des Koalitionsvertrages, und darauf setzen wir auch.
({0})
Allen genannten Gesetzen ist gemeinsam, dass sie
das Ergebnis bewusster Entscheidungen sind. Ich möchte einmal grundsätzlich erläutern, weshalb die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung in der
heutigen Form aus meiner Sicht richtig ist. Die Zahlen
des Statistischen Bundesamtes und von Eurostat zu den
Lohnnebenkosten in der Privatwirtschaft zeigen für 2014
folgendes Bild: Auf 100 Euro Bruttoverdienst entfielen
in Deutschland zusätzlich 28 Euro Lohnnebenkosten. Im
EU-Durchschnitt waren es 31 Euro. Im Durchschnitt der
Länder der Euro-Zone waren es 35 Euro. Deutschland
liegt also unter dem Durchschnitt, meine sehr geehrten
Damen und Herren. Ich sage in aller Deutlichkeit: Das ist
auch gut und notwendig.
({1})
Neben den Lohnnebenkosten spielt natürlich eine
Vielzahl anderer Faktoren für den wirtschaftlichen Erfolg eines Landes eine Rolle. Beispielsweise betragen die
Lohnnebenkosten in Schweden 46 Prozent, in Dänemark
nur 15 Prozent, doch beides sind durchaus wirtschaftlich
starke Länder. Ich gestehe: Ich bin der Auffassung, dass
wir uns nicht an den Lohnnebenkosten Frankreichs in
Höhe von 47 Prozent oder Italiens in Höhe von 39 Prozent ein Beispiel nehmen sollten. Ich möchte hier keine
wirtschaftliche Diskussion führen. Es scheint mir jedoch
offenkundig, dass eine Begrenzung der Lohnnebenkosten durchaus sinnvoll und notwendig ist, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft aufrechtzuerhalten und zu gewährleisten.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren der Opposition, Sie können mit Sicherheit vieles kritisieren und aus
Ihrem Blickwinkel sehen; aber ich glaube, Sie können
der Großen Koalition hier nicht vorwerfen, dass unsere
Wirtschaftsdaten nicht in Ordnung wären, dass sie nicht
gut wären.
Ich möchte auch sagen: Ein weiteres Indiz für die Relevanz der Lohnnebenkosten ist die Tatsache, dass die
Parität in der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung - das wurde schon erwähnt - unter Rot-Grün
aufgegeben wurde, als Deutschland noch als kranker
Mann Europas tituliert wurde. Soweit es in einer solchen
Situation möglich und wirtschaftlich sinnvoll ist, sollte
man die Arbeitgeber von Belastungen durch hohe Lohnnebenkosten etwas verschonen.
Man kann sich jetzt fragen, ob eine paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung aus einem
anderen Grund geboten wäre - Sie tun das -, etwa weil
die Parität in allen anderen Bereichen der Sozialversicherung besteht, nur in der Krankenversicherung nicht, also
aus ordnungspolitischen Gründen, oder weil die Parität
ein Wert an sich ist. Meine sehr geehrten Damen und
Herren, ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, ob die
Parität ein Wert an sich ist. Im Allgemeinen bin ich aber
der Auffassung, dass eine allzu unausgewogene Verteilung der Finanzierung von Sozialversicherungssystemen
weder wirtschaftspolitisch noch gesellschaftspolitisch
richtig wäre.
Allerdings befinden wir uns in Deutschland heute
nicht in der Lage, dass die Sozialversicherung unausgewogen finanziert wäre. Ich finde im Gegenteil, dass sie
ziemlich ausgewogen finanziert ist, auch unter Berücksichtigung der aktuellen Steigerung der Krankenversicherungsbeiträge.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Bemerkung oder Frage von Frau Klein-Schmeink?
Gerne. - Bitte.
Herr Irlstorfer, Sie haben in Ihren Ausführungen deutlich gemacht, dass es ordnungspolitisch unter Umständen ein Argument für die Parität geben könnte. Das führen wir auch an. Ich habe hier eine Aufstellung über die
Kosten einer Handwerkerstunde, die die Arbeitsgemeinschaft der bayerischen Handwerkskammern für 2013 erarbeitet hat. 48,51 Euro kostet allgemein die Handwerkerstunde, davon entfallen 13,50 Euro auf den Bruttolohn.
Das heißt, wenn wir eine Anpassung vornehmen und den
Beitrag wieder paritätisch gestalten würden, würde das
einem Plus von 6 Cent entsprechen. Das ist sehr wenig.
Schauen Sie sich die Aufteilung insgesamt an.
4,98 Euro fallen für die gesetzlichen Sozialaufwendungen an. Für tarifliche Sozialaufwendungen sind 5,94 Euro
vorgesehen. Wir haben betriebliche Gemeinkosten von
14,45 Euro. Ein Teil entfällt auf die Mehrwertsteuer.
Das heißt, der Anteil an der gesetzlichen Krankenversicherung ist erstens niedrig und zweitens überhaupt kein
Argument dafür, von der paritätischen Finanzierung abzuweichen. Im Gegenteil: Ordnungspolitisch macht es
großen Sinn; denn wir wissen doch, dass die Arbeitgeber
dann mit dazu beitragen würden, die Entwicklung im Gesundheitswesen kostengünstig zu gestalten.
Wir werden aufgrund unserer älter werdenden Gesellschaft sowieso hohe Kostensteigerungen haben. Daher
meine Frage: Ist es nicht wichtig, dass wir beide, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, im Boot haben, und zwar paritätisch?
({0})
Frau Kollegin, diese Aufstellung entspricht mit Sicherheit der Wahrheit. Aber ich glaube, das wäre ein
falsches Signal zum falschen Zeitpunkt. Deshalb ist es
richtig, dass wir so handeln, wie wir es vorhaben. Das ist
eine politische Entscheidung.
({0})
Im Übrigen sind die Beitragsanpassungen nicht unerklärlich oder in irgendeiner Form beliebig getroffen
worden, sondern sie ergeben sich aufgrund der Verbesserungen in der Gesundheitsvorsorge, des medizinischen
Fortschritts und auch der demografischen Entwicklung,
die sich im solidarischen System der GKVen widerspiegelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie fordern, genauso wie der Kollege Lauterbach, nahezu in jedem zweiten Antrag, den wir im Gesundheitsausschuss
beraten und im Plenum besprechen, die Einführung der
Bürgerversicherung. Wie das konkret und sinnvoll aussehen soll, das habe ich von Ihrer Seite bis heute leider
noch nicht erfahren. Ich kann nur sagen: Aus dem vorliegenden Antrag geht das ebenfalls nicht hervor.
Außerdem wird im vorliegenden Antrag der Linken
die Abschaffung der Zusatzbeiträge gefordert. Diese
Zusatzbeiträge haben allerdings einen bestimmten Sinn
und Zweck. Wir als CDU/CSU wollen einen Versorgungswettbewerb zwischen den Kassen. Ebenso wollen
wir die Krankenkassen zur Wirtschaftlichkeit anhalten.
Dafür nutzen wir eine ganze Reihe von Instrumenten.
Der Zusatzbeitrag ist eines davon. Die Abschaffung des
Zusatzbeitrags würde daher erfordern, eine Alternative anzubieten. Sie verweisen auf Ungenauigkeiten im
Morbi-RSA, doch dies ist in meinen Augen eine andere
Baustelle. Morbi-RSA und Zusatzbeitrag stehen zwar in
einem Zusammenhang, sie sind aber nicht austauschbar,
auch nicht, wenn man am Morbi-RSA Änderungen vorgenommen hätte.
Abschließend noch ein letzter Gedanke. Wenn die
Parität als Prinzip beschworen wird und die Unausgewogenheit der Sozialversicherungsbeiträge thematisiert
wird, dann bitte ich, die Situation insgesamt zu betrachten. Es ist doch so, dass eine paritätische Finanzierung
der Sozialversicherungssysteme nicht unbedingt von
Vorteil für alle Arbeitnehmer wäre. Beispielsweise werden die Beiträge zur Unfallversicherung allein von der
Arbeitgeberseite getragen. Auch im Fall von Krankheit
wird die Entgeltfortzahlung allein vom Arbeitgeber getragen, bevor die Krankenkasse nach sechs Wochen einspringt und Krankengeld zahlt. Es gibt auch noch andere
Beispiele.
({1})
Denken Sie an Ihre Redezeit, bitte?
Selbstverständlich achte ich auf die Zeit. - Ich komme zum Schluss. Ab einem gewissen Grad des Ungleichgewichts der Anteile der Arbeitnehmer und Arbeitgeber
stellt sich gewiss die Frage nach einer Korrektur. Ich
möchte aber sagen, dass das heute nicht der Fall ist. Es
ist daher nicht der richtige Zeitpunkt.
An die Kollegen der SPD gerichtet möchte ich sagen:
Wir haben den Arbeitgeberanteil im Koalitionsvertrag
aus guten Gründen so festgeschrieben. Daran halten wir
uns auch. Es wäre schön, wenn Sie uns hier unterstützen.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der nächste Redner:
Harald Weinberg für die Linke.
({0})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte
auf ein paar Argumente eingehen, die hier vorgebracht
worden sind.
Zuerst möchte ich auf das Arbeitsplatzargument bzw.
Lohnnebenkostenargument eingehen. Dieses Argument
war damals falsch, und es ist heute nicht richtiger. Das
muss man meines Erachtens in aller Deutlichkeit sagen.
({0})
Dieses Argument ist falsch, weil Unternehmer Arbeitskräfte nicht einfach sozusagen auf Vorrat einstellen und
auf Halde legen, nur weil sie gerade günstiger zu haben
sind. Diese Vorstellung steckt hinter diesem Argument.
Diese Vorstellung ist aber grundfalsch.
({1})
Ich habe Ihnen in der letzten Wahlperiode anhand eines deutschen Exportgutes, eines Golfs mit einem Listenpreis von etwa 25 000 Euro vorgerechnet, was die
Einführung der Parität ausmachen würde. Wenn man
das ausrechnet, kommt man bei einem Listenpreis von
25 000 Euro auf einen Unterschied von 40 Euro. Währungsschwankungen und der derzeitige Abgasskandal bei
VW haben gravierendere Folgen für den Wettbewerb als
eine paritätische Finanzierung.
({2})
Über welches Volumen reden wir? Das Volumen ist
ordentlich: Von 2005 bis 2015 wurden durch den Sonderbeitrag von 0,9 Prozent von den Versicherten 102 Milliarden Euro mehr als von den Arbeitgebern gezahlt. Von
2016 bis 2020 wird die eine Seite geschätzt 115 Milliarden Euro mehr zahlen als die andere Seite.
Jetzt will ich auf die Frage eingehen, was dieser Zusatzbeitrag bewirkt. Sie sprechen ja immer von einem
Versorgungswettbewerb. Dieser Zusatzbeitrag führt meines Erachtens aber - das ist schon mehrmals gesagt worden - zu einem Vermeidungswettbewerb und zu einem
Preiswettbewerb unter den Kassen, den wir nicht wollen.
Ich will Ihnen das einmal anhand einer deutschen Krankenkasse deutlich machen.
Ein internes Papier des Vertriebsbereichs dieser Krankenkasse liegt mir vor. Ich kann Ihnen das also durchaus nachweisen. In diesem internen Papier des Vertriebs
heißt es: Mit der Scharfstellung der Zusatzbeiträge wird
der Versorgungswettbewerb zum Preiswettbewerb. Das steht in einem Papier einer Krankenkasse. Das ist
wahrscheinlich nicht die einzige Krankenkasse, bei der
das in einem internen Papier steht. - Weiter heißt es dort:
Neuakquisitionen müssen durch Wertsteigerung der Versichertensubstanz ein qualitatives Wachstum sichern und
so ihren Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens unter den Bedingungen des Morbi-RSA leisten.
Den ersten Teil dieses Satzes „Neuakquisitionen müssen durch Wertsteigerung der Versichertensubstanz ...“
muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Das bedeutet ja im Prinzip: Man versucht, alle mehrfach Erkrankten und alle schwer Erkrankten wegzubekommen,
und man versucht, Junge und Gesunde anzuziehen. Das
wird dem Vertrieb einer Krankenkasse in einem solchen
Papier vorgegeben. Das ist der Wettbewerb, den Sie auslösen.
({3})
Noch einen Satz zur Lohnfortzahlung, weil die immer
wieder angeführt wird. Die Lohnfortzahlung ist nach eiErich Irlstorfer
nem sechswöchigen Streik 1956/57 in Schleswig-Holstein eingeführt worden. Das ist also kein Almosen der
Arbeitgeber,
({4})
sondern eine erkämpfte Errungenschaft.
({5})
Das ist danach in Gesetzesform gegossen worden, weil
Adenauer nicht wollte, dass es wegen dieser Angelegenheit zu einem Flächenstreik kommt. Das ist die Situation
gewesen. Das muss noch einmal in aller Deutlichkeit gesagt werden.
Herr Weinberg, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder
-bemerkung von Karl Lauterbach?
Ja.
Vielen Dank. - Die Anschuldigung, die Sie hier vortragen, ist gravierend. Es ist natürlich wichtig, darauf einzugehen. Ich kenne viele Krankenkassen, die auf diesen
Wettbewerb anders reagiert haben, die versucht haben,
ihre Mitglieder zu halten oder neue zu gewinnen durch
bessere Qualität. Wenn Sie so etwas vortragen - das ist
ein gravierender Vorwurf; da stimme ich Ihren Kolleginnen und Kollegen zu -, dann sollten Sie auch sagen, um
welche Krankenkasse es sich handelt.
({0})
Herr Weinberg, bitte.
Ich habe ja gesagt, dass mir das vorliegt. Das ist ein
internes Papier einer Krankenkasse.
({0})
- Das ist die KKH Allianz.
({1})
- Bitte sehr. - Und die HEK übrigens auch noch.
Zum Schluss möchte ich versuchen, eines herauszuarbeiten. Wir haben hier im Parlament eigentlich, wenn
man die Beschlusslagen ernst nähme, eine deutliche parlamentarische Mehrheit für die Wiedereinführung der
Parität.
({2})
- Die kommt am Ende durch Abstimmung zustande,
Herr Henke. Das ist richtig. - Die Grünen wollen, so sage
ich es einmal, den Sündenfall von 2005 jetzt korrigieren.
Sie haben deutlich hinzugelernt und jetzt einen Antrag
dazu vorgelegt. Es gibt bei der SPD auf allen möglichen
Klausuren und Sitzungen Beschlüsse, die in Richtung
Wiedereinführung der Parität gehen.
Es gibt - das will ich in aller Deutlichkeit sagen - auch
bei den Arbeitnehmerorganisationen der Union, bei der
CDA und bei der CSA, Beschlüsse, die eindeutig in die
Richtung gehen, die Wiedereinführung der Parität auf
die Tagesordnung zu setzen. Mit dem Vorsitzenden der
CDA, Herrn Laumann, haben wir da sogar jemanden, der
auch in der Regierung sitzt.
Wir hätten also eine deutliche parlamentarische Mehrheit, wenn alle gemäß der Beschlusslage handeln. Das
wäre schön; das wäre gut. Aber ich glaube und befürchte,
das werden wir nicht erleben. Dennoch freue ich mich
auf die weiteren Beratungen und denke, wir sollten dieses Thema auf jeden Fall immer wieder aufrufen.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Weinberg. - Nächste Rednerin:
Hilde Mattheis für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, wir als SPD haben in unseren Beschlüssen mehrfach
bestätigt: Wir wollen die Bürgerversicherung. Wir wollen zurück zur Parität. - Das haben wir in großer Ernsthaftigkeit beschlossen. Das ist keine politische Luftblase,
sondern wir haben seit Beginn des Konzeptes der Bürgerversicherung, dem Sie von den Grünen sich ja angeschlossen haben, diese beiden Ziele immer wieder kommuniziert.
({0})
- Ich kann mich erinnern, dass es in der Historie der Grünen durchaus auch Debatten gab, die näher bei der FDP
waren als bei der Bürgerversicherung.
({1})
Frau Bender, eine Ihrer Vorgängerinnen, hat sehr massiv dafür gekämpft. Ich bin also froh, dass Sie dann Anfang 2000 diesen Beschluss zur Bürgerversicherung gefasst haben, nachdem die Heinrich-Böll-Stiftung Ihnen
ein Gutachten dazu geliefert hat.
({2})
Da besteht bei uns große Einigkeit.
Es war klar: Mit Eintritt in die Große Koalition ist das
eine Frage, bei der wir mit unserem Partner nicht so nahe
zusammenkommen. Da sind wir auf unterschiedlichen
Sternen. Trotzdem muss man dieses Ziel unter diesen
politischen Vorzeichen und auch unter Beachtung der
Historie immer wieder klar kommunizieren. Das tun wir
als SPD.
Damit kommunizieren wir auch klar: Wir wissen, dass
unser gutes Umlagesystem das krisenfesteste ist, das
es überhaupt gibt. Wir hoffen immer, dass es auch ein
Mehr an Einsicht bei anderen Parteien gibt. Denn gerade in der Zeit der Finanzmarktkrise ist das Prinzip nach
der Mackenroth-These - in der Zeit, in der ich Ausgaben
zu tätigen habe, sorge ich auch für die Einnahmen, und
zwar paritätisch - das sicherste Prinzip für die Menschen
überhaupt. Das immer wieder zu kommunizieren, ist unsere politische Aufgabe; diese haben wir angenommen.
Jede Art von Kapitaldeckung zeichnet irgendwie ein
Luftschloss, aber führt nicht zum Ziel. Dazu gibt es ganz
viele Berechnungen.
({3})
Wir wissen - das mag ich hier gerne einräumen -, dass
es auch unter dem Druck gesellschaftlicher Debatten - an
diesen gesellschaftlichen Debatten beteiligten sich nicht
nur Wirtschaftsverbände, sondern auch Gewerkschaften, Sozialverbände, alle miteinander - am Anfang der
2000er-Jahre durchaus eine Kommunikation gab, die
auch die beiden Parteien hier vor mir mitgetragen haben,
nämlich dass man die Senkung von Lohnnebenkosten anstreben muss. Diese Debatte hat sich überholt. In dieser
Debatte stecken wir jetzt nicht.
({4})
- Nein, das sage ich ganz offen. - Deshalb verlieren wir
das Ziel der Bürgerversicherung nicht aus dem Blick.
Wir sagen klar: Wir wollen, dass die Menschen in
unserem Land am medizinischen Fortschritt teilhaben
können und dass dies zu finanzieren ist. Deshalb haben
wir in unserem Koalitionsvertrag gern den Punkt aufgenommen, den medizinischen Fortschritt - entsprechende
Maßnahmen lagen bei der letzten Bundesregierung ja auf
Eis - miteinander voranzubringen. Was haben wir gemacht? Zu nennen ist das Palliativ- und Hospizgesetz,
das Versorgungsstärkungsgesetz, das Krankenhausstrukturgesetz, das Präventionsgesetz. Ich könnte noch ein
paar andere Punkte aufzählen.
({5})
- Ja, den Bereich der Pflege will ich nicht vergessen; das
ist aber ein anderer Finanzierungsblock. - Das haben wir
miteinander auf den Weg gebracht, und zwar mit dem
Ziel, Versorgungslücken in diesem Land zu schließen.
Es ist nämlich klar, dass die Zugänge zur medizinischen
Versorgung sowohl im ländlichen als auch im städtischen
Bereich nicht für alle gleich sind. Durch die Gewährleistung der Finanzierungssicherheit wollten wir sicherstellen, dass auch die Krankenhäuser ihren Platz als wichtiger Baustein im Versorgungssystem behalten. All das
haben wir gemacht.
Jetzt sehen wir, dass das Geld kostet - allerdings
nicht erst jetzt; bitte keine falschen Interpretationen. Wir
wussten, dass das mehr Geld kostet. Wir sind damit auch
offensiv in Wahlkämpfe gegangen. Wir als SPD haben
gesagt: Wer gute Pflege haben will, muss auch bereit
sein, dafür mehr zu zahlen. - Jetzt führen wir eine gesellschaftliche Debatte. Wir sind in einer Phase, in der
die Wirtschaft boomt und in der es dem Land richtig gut
geht; die Wachstumsdaten bestätigen das. Darüber sind
wir alle froh. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass alle an
diesem Wachstum teilhaben. Das schaffen wir unter anderem mit einer fairen und paritätischen Finanzierung.
Dafür setzen wir uns ein.
({6})
- Wachstum fällt nicht vom Himmel - Entschuldigung -,
sondern daran sind alle,
({7})
vor allen Dingen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, beteiligt. Wir haben in dieser gesellschaftlichen
Debatte immer gesagt: Teilhabe lässt sich nicht allein
dadurch sicherstellen, dass man nur gute Löhne für gute
Arbeit zahlt, sondern man braucht auch ein Sozialversicherungssystem, das paritätisch finanziert ist.
Meine abschließende Bemerkung: Nicht alle Versicherungen sind paritätisch finanziert. Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer finanzieren, und zwar über
die Steuer, ein Drittel der Ausgaben für die Rente. Im
Hinblick auf die Pflegeversicherung wurde schon gesagt,
dass die Entscheidung, den Buß- und Bettag als Feiertag abzuschaffen, ungefähr einen Beitragssatzpunkt ausmacht. All das bitte ich zu bedenken.
Ich bin froh, dass wir die Unterstützung des Arbeitnehmerflügels der CDU haben. Ich bin zwar nicht immer
mit allen Äußerungen von Herrn Laumann einverstanden; das ist so im politischen Geschäft.
Denken Sie an Ihre Redezeit?
Ich komme zum Ende. - Aber in diesem Punkt vertraue ich auf seine starke Durchsetzungskraft und auf das
Gewinnen von Einsichten in den nächsten Wochen.
Ich danke fürs Zuhören.
({0})
Nächster Redner: Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn man diese Debatte, in der
der Begriff „Bürgerversicherung“ beinahe so häufig vorkommt wie „Parität“, verfolgt und sieht, dass in diesem
Jahr, 2016, nicht alle gesetzlichen Krankenkassen einen
höheren Zusatzbeitrag verlangen, dann wird doch klar,
dass in dieser Debatte nicht in erster Linie der Zusatzbeitrag im Vordergrund steht, sondern dass Sie etwas anderes im Blick haben, nämlich die Landtagswahlen, die
bald stattfinden, und die Bundestagswahl im nächsten
Jahr.
({0})
Es ist Ihr gutes Recht, den Finger in die Wunde zu
legen und zu sagen, dass die SPD eine andere Auffassung
zur Bürgerversicherung hat als die Union; das dürfen Sie
alles machen. Das hindert uns aber nicht daran, auf den
Koalitionsvertrag zu verweisen, den wir im Jahr 2013
vereinbart haben und den wir erfolgreich umgesetzt haben; Kollegin Mattheis hat all die guten Gesetzesvorhaben, die wir gemeinsam auf den Weg gebracht haben,
aufgezählt. Das werden wir in den nächsten eineinhalb
Jahren fortsetzen. Wir werden uns an den Koalitionsvertrag halten und gute Politik für unser Land machen.
({1})
Herr Riebsamen, erlauben Sie eine Zwischenfrage
von Frau Klein-Schmeink?
Ja, aber gerne.
Herr Riebsamen, Sie sprachen gerade vom Koalitionsvertrag und sagten, dass er einzuhalten sei. Man könnte
natürlich auch sagen: Als der Koalitionsvertrag formuliert worden ist, war noch nicht absehbar, dass sich die
Konjunktur dauerhaft so gut entwickeln wird. Vielleicht
haben Sie damals auch nicht absehen können, welche
Kosten im Gesundheitswesen Sie durch die zahlreichen
Reformen des letzten Jahres zusätzlich auf den Weg gebracht haben. Wir alle wissen, dass durch die Gesetze der
Großen Koalition ein dicker Batzen von 12 Milliarden
Euro bis 2019 obendrauf kommt, und wir wissen auch,
dass die Kosten im Gesundheitswesen jährlich um 3 bis
5 Prozent steigen.
Diese Kosten werden alleine bei den Versicherten abgeladen. Sie sind also nur von diesen zu tragen, und die
Arbeitgeber sind daran nicht mehr beteiligt. Vielleicht
haben Sie das in diesem Umfang zu Beginn der Verhandlungen über den Koalitionsvertrag nicht entsprechend im
Auge gehabt. Es sieht ja auch so aus, als ob Ihre Arbeitnehmervereinigung genau das thematisiert.
Meinen Sie nicht, dass dieser gesellschaftliche Diskussionsprozess jetzt aufgenommen werden und man
nicht um jeden Preis auf die Einhaltung eines Vertrages
pochen sollte?
Sehr geehrte Frau Klein-Schmeink, beim Abschluss
des Koalitionsvertrages haben wir wie heute auch im
Auge gehabt - darauf wäre ich noch zu sprechen gekommen -, dass es eben nicht von Gott gegeben ist, dass eine
Konjunktur immer so bleibt, wie sie ist. Zurzeit ist sie
Gott sei Dank sehr gut, aber gucken Sie sich heute doch
nur einmal die Wirtschaftsschlagzeilen an.
({0})
Gucken Sie sich an, wie die Entwicklung in China aussieht, von der unsere Wirtschaft sehr stark abhängt.
({1})
Gucken Sie sich auch die Entwicklung der Rohstoffpreise an. Sie sehen dann sehr deutliche Wolken am Horizont
auftauchen, und darauf müssen wir uns einstellen. Alles
andere wäre keine verantwortungsvolle Politik.
({2})
Der Begriff „Solidarität“ wird auch in dieser Debatte sehr ausgiebig strapaziert. Ich möchte Sie schon noch
einmal darauf hinweisen, dass wir uns in Bezug auf die
Solidarität nicht zu verstecken brauchen. Wir geben im
Jahr über 200 Milliarden Euro - das sind über 11 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts - für den Gesundheitsbereich
aus und liegen damit gemeinsam mit anderen Ländern
an der Spitze in Europa, zum Beispiel mit der Schweiz,
mit den Niederlanden und mit Frankreich, die alle unterschiedliche Systeme haben. Die einen haben Arbeitgeberbeiträge, aber nur geringe, die anderen haben keine
Arbeitgeberbeiträge, und wieder andere, wie Frankreich,
haben eine Kostenerstattung von 70 Prozent.
Wenn wir das alles einmal nebeneinanderbetrachten,
dann wird sehr deutlich, dass wir uns eben nicht zu verstecken brauchen, sondern dass wir in unserem Land eine
ausgeprägte Solidarität zwischen Gesunden und Kranken
und zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern haben.
({3})
Weil dies so ist, haben wir eine gute Wettbewerbsfähigkeit. Wir sind hier mit an der Spitze in der Welt und
können anderen Ländern helfen, wie der Kollege Professor Lauterbach völlig richtig ausgeführt hat, und das
wollen wir auch so beibehalten. Wir wollen diese gute
Wettbewerbsfähigkeit auch in Zukunft besitzen. Vor zehn
Jahren haben das auch die Grünen einmal so gesehen, als
die Entlastung der Unternehmen eingeführt wurde.
({4})
Das war damals so richtig, wie es heute richtig ist. Deswegen: Wir sollten darauf schauen, dass wir hier in guten
Zeiten nicht Gesetze machen, die uns in einigen Jahren
oder auch schon in kurzer Zeit wieder einholen können.
Das wird mit uns nicht zu machen sein.
({5})
Zum Thema Kassenwettbewerb. Es geht ja nicht nur
um Geld und um Ent- und Belastungen an der einen oder
anderen Stelle, sondern es geht auch darum, dass die Versicherten in unserem Land - das war damals auch der
Grund dafür, warum man eine Entlastung der Unternehmen in Höhe von 0,9 Prozent eingeführt hat - in die Lage
versetzt werden, zu vergleichen. Es ist sicher wichtig,
die Beiträge zu vergleichen; aber auch die Leistungen
der einzelnen Kassen und der Service, den die einzelnen
Kassen anbieten, müssen untereinander verglichen werden können.
Gerade in einer Zeit, in der die Kosten im Gesundheitswesen unter anderem aufgrund der Medikamentenpreise und der Demografie in den nächsten Jahren in der
Tat nach oben gehen, ist es umso wichtiger, dass sich
auch die Versicherten in unserem Land mit diesem Thema auseinandersetzen und eine Auswahl treffen können,
welche Krankenkasse für sie die richtige ist.
({6})
Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der noch
gar nicht zur Sprache gekommen ist: Die Wirtschaft kann
den Euro nur einmal ausgeben.
({7})
Das ist doch eigentlich eine Binsenweisheit, und es ist
auch völlig klar: Wenn wir die Parität wiederherstellen
würden, dann würde die zusätzliche Belastung, die dadurch bei den Unternehmen entsteht - sie mag nicht hoch
sein -, bei den Tarifverhandlungen eine Rolle spielen. Ob
das dann in Tarifverhandlungen bei den Unternehmen so
durchsetzbar sein wird, weiß ich nicht; aber es wird jedenfalls Gegenstand sein.
Das heißt, wenn aufgrund einer konjunkturell guten
Lage oder eines guten Produktivitätsfortschritts 1 Euro
mehr zur Verfügung steht, dann würde dieser nicht zu
100 Prozent den Mitarbeitern zugutekommen, sondern
es werden vielleicht nur 90 Cent sein, weil 10 Cent für
die Wiederherstellung der Parität ausgegeben werden.
Auch damit muss man bei Tarifverhandlungen rechnen.
Insofern ist es doch auch eine gewisse Augenwischerei
gegenüber den Arbeitnehmern, zu sagen: Auch wenn die
Parität hergestellt ist, bekommst du das, was mehr erwirtschaftet wird, zu 100 Prozent. - Das ist nicht richtig.
({8})
Ich tue mich übrigens überhaupt nicht schwer, in Versammlungen zu erklären, warum wir jetzt einen höheren
Zusatzbeitrag von durchschnittlich 0,2 Prozent haben.
Wir haben in den letzten zwei Jahren eine nicht ganz billige Gesetzgebung gemacht. Nehmen wir zum Beispiel da bin ich Berichterstatter - das Krankenhauswesen. Mit
dem Pflegestellen-Förderprogramm und dem Pflegezuschlag erhalten die Krankenhäuser mehr Geld, um mehr
Pflegepersonal einstellen zu können. Das ist gut so. Die
Nutznießer sind vor allen Dingen die Patientinnen und
Patienten, die jetzt in den Krankenhäusern mehr Pflege
am Bett zur Verfügung haben. Und genau dies lässt sich
den Patientinnen und Patienten in Gesprächen erklären.
Ich schaffe das. Und jeder andere, der das ernsthaft will,
wird es auch schaffen.
Es geht, wenn man einmal ein Einkommen von
3 500 Euro zugrunde legt, um 7 Euro im Monat - bei
einer Halbtagsbeschäftigung ist es entsprechend weniger -, die für diese besondere, gute Leistung zukünftig
eingesetzt werden. Das ist, meine Damen und Herren,
erklärbar.
({9})
Es geht aber auch um die Tatsache - Kollege Irlstorfer
hat es richtigerweise angesprochen -, dass die Arbeitgeber Berufsgenossenschaftsbeiträge und Unfallversicherungsbeiträge leisten sowie die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall zu tragen haben. Das zahlen sie allein; da
kann man von Parität gar nicht reden. Wenn man all das
einmal zusammenfasst, ist das, was wir heute debattieren - ich habe das schon gesagt -, keine Frage der Parität
und des Interessenausgleichs. Es handelt sich in der Tat
um Wahlkampf. Insofern ist dieser Antrag ein Stück weit
nicht ganz ehrlich. Deswegen werden wir ihm auch nicht
zustimmen.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Kollege Riebsamen. - Nächster Redner
ist Dr. Edgar Franke für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es gibt einen klaren roten Faden sozialdemokratischer
Gesundheitspolitik. Dieser rote Faden besteht in einer
Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Menschen. Da haben wir, liebe Kolleginnen und Kollegen,
in den letzten zwei Jahren viel erreicht. Ich nenne nur
einige Stichworte: Versorgungsstärkungsgesetz, Präventionsgesetz, Regeln für den Palliativ- und Hospizbereich,
Pflegestärkungsgesetze und Krankenhausstrukturgesetz.
({0})
Frau Klein-Schmeink, wir sind die Probleme bei der
ambulanten ärztlichen Versorgung sowie bei der Qualität
der Krankenhausversorgung angegangen. Und wir haben, liebe Sabine Zimmermann - auch das darf man nicht
vergessen -, die pauschalen Zusatzbeiträge abgeschafft.
Weiterhin haben wir einkommensabhängige Zusatzbeiträge eingeführt und den allgemeinen Beitragssatz sogar
auf 14,6 Prozent abgesenkt. Das war Politik für die Patientinnen und Patienten, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({1})
- Und natürlich für die Versicherten. Richtig.
Ich sage auch ganz deutlich: All diese Verbesserungen
sind - auch daran darf man einmal erinnern - gegen den
Willen der Opposition beschlossen worden. Heute fordert diese Opposition, dass Zusatzbeiträge abgeschafft
werden, um die Parität wiederherzustellen.
Ich darf zunächst daran erinnern - auch das darf man
nicht vergessen -, dass die Zusatzbeiträge unter SchwarzGelb als Kopfpauschalen „scharf gestellt“ worden sind.
Die FDP mit ihren damaligen Gesundheitsministern
wollte nicht nur den Wettbewerb verschärfen, sie wollte
noch etwas ganz anderes: nämlich schrittweise die Beiträge zur Krankenversicherung vom Einkommen abkoppeln und die Kopfpauschale einführen. Die pauschalen
Zusatzbeiträge waren eine Kopfpauschale. Gegen diese
Kopfpauschale hat die SPD immer Widerstand geleistet,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Es war unvernünftig, dass der Arbeitnehmer den gleichen
Zusatzbeitrag wie sein Chef bezahlt. Das gilt auch heute
noch.
({3})
Es ist schon richtig, Harald Weinberg, dass die eine
oder andere Krankenkasse, um Zusatzbeiträge zu vermeiden, den Leistungskatalog oder auch die freiwilligen
Satzungsleistungen ausgedünnt hat. Die Kassen haben
Angst, durch erhöhte Zusatzbeiträge Versicherte zu verlieren. Wir brauchen einen Leistungswettbewerb, aber
nicht primär einen Preiswettbewerb oder einen Zusatzbeitragsvermeidungswettbewerb; auch das ist richtig.
({4})
Unsere Strukturreformen für eine verbesserte gesundheitliche Versorgung der Menschen haben mittelbar zu
Kostensteigerungen und damit auch zu steigenden Beitragssätzen geführt. Natürlich diskutieren momentan die
Menschen angesichts eines Plus von 12 Milliarden Euro
in 2015 darüber, wie man damit in Zukunft umgehen
kann. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag ist um 0,2 Prozentpunkte auf 1,1 Prozent gestiegen. Einige Krankenkassen - auch das muss man sagen - haben weitere Erhöhungen zumindest nicht ausgeschlossen.
Ich glaube - und hier sind wir fast alle einer Meinung -, dass es sozial unausgewogen ist, wenn die zukünftigen Steigerungen allein zulasten der Arbeitnehmer
und der Rentner gehen. Das sollte nicht sein, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({5})
So führt eine Zementierung des Arbeitgeberbeitrages
perspektivisch dazu, dass sich die Schere zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil weiter öffnen wird.
Damit muss man sich politisch beschäftigen. Das muss
man hier im Bundestag diskutieren.
Die SPD tritt für eine paritätische Finanzierung der
Krankenversicherung ein. Wir haben es gehört: Es gibt
momentan einen gesellschaftlichen Diskurs zu diesem
Thema. Wir haben schon gehört, welche Arbeitnehmerorganisationen sich dafür einsetzen. Wir alle wissen,
dass die Krankenversicherung seit 1883 besteht, dass sie
schon damals gemeinsam finanziert wurde, was sich bewährt hat, und dass ab 1951 die paritätische Finanzierung
galt. Das sind Grundprinzipien unseres Sozialstaats und
unserer Sozialversicherung in Deutschland. Diese Prinzipien haben sich bewährt.
Natürlich ist die SPD vertragstreu. Natürlich weiß die
SPD, dass wir uns in einer Koalition befinden. Ich habe
auch gerade gesagt, dass wir in dieser Koalition viele
Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung beschlossen haben. Aber ich glaube schon, dass wir in der zweiten
Halbzeit noch einmal darüber nachdenken können, wie
wir eine hälftige Finanzierung erreichen können.
Abschließend muss ich sagen: Es ist - ich sage es noch
einmal - auf Dauer unsozial und ungerecht, wenn allein
die Beschäftigten, wenn Rentner und Arbeitnehmer für
den medizinischen Fortschritt zahlen müssen, jedenfalls
was die Zusatzbeiträge anbelangt. Das sollte man „in
Acht behalten“, wie man in Nordhessen so schön sagt.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden in der
Frage der Parität, also der hälftigen Finanzierung der
Krankenkassenbeiträge, in verschiedenen Gremien sicherlich noch die eine oder andere Diskussion haben.
Hier werden wir auch Überzeugungsarbeit leisten müssen. Aber ich denke, die Argumente sprechen dafür, die
Parität wiederherzustellen, weil es vernünftig, weil es sozial gerecht und weil es der Willen der Menschen ist, der
Versicherten und der Patienten.
Danke schön.
({7})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Rudolf Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Lieber Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Edgar Franke,
als der Reichstag im Jahr 1883 das Gesetz betreffend die
Krankenversicherung der Arbeiter verabschiedete, wurden die Arbeitgeber zum ersten Mal gezwungen, einen
Beitrag zu bezahlen. Ihr Beitrag lag damals bei einem
Drittel der Versicherungskosten. Der jeweils zur Hälfte
getragene Beitrag wurde dann im Jahr 1951 eingeführt.
Mir erscheint es ein bisschen verwegen, die Frage von
Solidarität, Gerechtigkeit und Vernunft alleine an dem
Unterschied von 0,2 Prozentpunkten festzumachen. Es
war Ulla Schmidt bzw. die SPD, die zusammen mit den
Grünen die Zusatzbeiträge eingeführt hat. Die Differenz
von 0,9 Prozentpunkten durch die Zusatzbeiträge auf der
Arbeitnehmerseite ist also eine rot-grüne Errungenschaft.
Die Aufregung darüber war damals viel kleiner als jetzt
über die 0,2 Prozentpunkte.
({0})
Ich finde, das ist eine seltsam unterschiedliche Kategorie
der Bewertung.
Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Klein-Schmeink?
Wenn ich den Satz noch zu Ende führen darf.
Und danach ja?
Anschließend sofort. - Deswegen bin ich zwar der
Meinung, dass es nicht für ewige Zeiten so sein kann,
dass man praktisch nur auf der Arbeitnehmerseite Entwicklungen hat. Aber dieses Prinzip gilt jetzt erst einmal
für diese Legislaturperiode. Denn ich hasse es, dass man
den Arbeitgebern Zusagen macht, um sie dann anschließend wieder zur Disposition zu stellen.
({0})
Wir haben als Koalition den Arbeitgebern einen Beitragsanteil von 7,3 Prozent zugesagt. Ich finde, es gehört zur
Planbarkeit, Vertrauensgrundlage und Verlässlichkeit
von Politik, dass man dann auch dazu steht.
({1})
Frau Kollegin Klein-Schmeink, jetzt haben Sie das
Wort.
Danke schön. - Herr Henke, Sie haben gerade selber
ausgeführt, dass eine solche Entscheidung nicht für die
Ewigkeit sein kann. Ich will noch einmal darauf hinweisen, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen,
unter denen die Abkehr von der hälftigen Finanzierung
2001 entschieden worden ist, grundsätzlich dramatisch
andere waren und dass es damals insgesamt einen großen Notstand gegeben hat. Uns drohten europäische Vertragsverletzungsverfahren. Wir hatten eine dramatische
Entwicklung bei der Arbeitslosigkeit und wirklich negative Vorzeichen in der wirtschaftlichen Entwicklung.
Wir sind heute ganz massiv in einer anderen Situation.
Gerade die Deutlichkeit, mit der wir sehen, dass wir auf
der einen Seite gesellschaftliche Aufgaben zu stemmen
haben und auf der anderen Seite gerade im wirtschaftlichen Bereich eine hohe Prosperität besteht, ist der Grund,
warum man nicht einfach weiter die Kosten auf die Arbeitnehmer abwälzen darf, sondern dahin kommen muss,
die gesellschaftliche Solidarität wieder zu stärken. Denn
wir haben gemeinsam im sozialen Bereich viele Aufgaben zu bewältigen. Deshalb sollte der soziale Zusammenhalt gestärkt werden. Ist das nicht auch die Aufgabe
als Gesamtgesellschaft und für Sie als CDU/CSU, die
auch den sozialen Zusammenhalt im Blick haben sollte?
({0})
Vielen Dank für die Frage, Frau Klein-Schmeink. Ich
will sie gerne in zwei Abschnitten behandeln, weil Sie
zum einen die Kosten auf der Arbeitnehmerseite und
zum anderen das Stichwort „Prosperität“ angesprochen
haben.
Der erste Teil. Ja, ich gebe Ihnen ausdrücklich recht,
dass die Bilanz der Bundesregierungen unter Führung
von Angela Merkel seit 2009 zu einer Stärkung der Wirtschaftskraft Deutschlands geführt hat. Ich gebe Ihnen
ausdrücklich recht, dass wir Lichtjahre von der Situation
entfernt sind, die wir unter der Regierung Schröder gehabt haben.
({0})
Und ich gebe Ihnen ausdrücklich recht, dass uns das in
den Stand versetzt, Ausgaben zu finanzieren, die wir früher nicht hätten finanzieren können.
({1})
Ich sage aber auch, dass diese erzielten Erfolge nicht
von allein eintreten. Einer der Schritte, die dabei zwingend sind, ist, dass man in seinen Aussagen und Ankündigungen verlässlich bleibt. Deswegen kann man die
Kalkulationsgrundlage für die Unternehmen, die Zusage,
in dieser Legislaturperiode 7,3 Prozent nicht zu überschreiten, nicht einfach beliebig ändern. Denn das wäre
ein Beitrag dazu, Unzuverlässigkeit als zentrale Botschaft zu verbreiten. Das ist das eine.
({2})
Dabei würde ich lieber um mehr Wettbewerbsfähigkeit
als um weniger Verlässlichkeit ringen.
Nun zum zweiten Teil meiner Antwort. Sie sagen ständig - Herr Weinberg und Frau Zimmermann haben das
ebenfalls vorgetragen; Herr Lauterbach hat das noch am
mildesten vorgetragen, während Frau Mattheis das etwas
stärker betont hat -, dass wir die Arbeitnehmer einseitig
belasten.
({3})
Jetzt gestehe ich Ihnen einmal etwas. Ich halte die Unterscheidung zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag für hoch künstlich.
({4})
In der Wirklichkeit des Lebens wendet ein Unternehmen
selbst keinen Eurocent auf, egal ob es ihn in Investitionen, die Betriebskosten, die Löhne der Arbeitnehmer,
die Sozialabgaben, die Gewerbesteuer oder andere Steuern steckt, der nicht auf der Leistung und der Arbeit der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer basiert. Alles, was
verdient werden muss, müssen die in den Betrieben tätigen Menschen erwirtschaften. Sie erwirtschaften den
kompletten Ertrag der Betriebe dadurch, dass sie ihre betriebliche Arbeitsleistung erbringen.
({5})
Weil das so ist, müssen die Arbeitnehmer es erwirtschaften, egal ob es sich um den Arbeitgeberbeitrag oder um
den Arbeitnehmerbeitrag handelt. Sie müssen beide Teile
der Sozialabgabe durch ihre Anstrengung, Leistung und
Kreativität erwirtschaften.
({6})
Das Geschäftsmodell eines Unternehmens funktioniert
nur, wenn die Produktivität ausreicht, um alle Kosten zu
refinanzieren. Weil das so ist, ist die Frage, ob der Arbeitnehmerbeitrag 0,2 Prozentpunkte höher oder niedriger ist, im Hinblick auf die betriebliche Realität und die
Ansprüche, die das System an die Arbeitnehmer stellt,
gleichgültig.
({7})
Herr Kollege Henke, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Kollegen Lauterbach?
Ja.
Nur ganz kurz. Zunächst einmal vielen Dank für Ihre
volkswirtschaftlichen Ausführungen. Wenn ich Ihrer
bestechenden Logik folge und es keinen Unterschied
macht, ob der Arbeitgeber- oder der Arbeitnehmerbeitrag
steigt, weil es sich sowieso um einen Beitrag handelt,
dann komme ich zu dem Schluss, dass der Arbeitgeber
die gesamte Sozialversicherung bezahlen könnte.
({0})
Jedenfalls ist es nicht zu begreifen, warum man, wenn
man der Argumentation der Linken in der Antragsbegründung folgt - derjenige, der wenig hat, ist auf jeden
Eurocent angewiesen -, bei 50 Prozent Schluss macht.
Lieber Herr Lauterbach, worauf ich hinaus will, ist Folgendes: Frau Klein-Schmeink hat uns vorgetragen, dass
das bei einer Handwerkerstunde einen Unterschied von
nur 6 Cent ausmacht. Herr Weinberg hat gesagt, dass es
bei einem Golf einen Unterschied von nur 40 Euro ausmacht. Aber wer bezahlt das denn? Das bezahlt doch derjenige, der eine Handwerkerstunde in Anspruch nimmt
oder einen Golf kauft. Sind das keine Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer? Im Wesentlichen müssen die Menschen das über den Preis bezahlen, die dann belastet werden.
Ich bin ein Anhänger des Systems unserer solidarischen Krankenversicherung. Aber was ich Ihnen mit
meinen Ausführungen klarmachen will, ist, dass es sich
hier um eine total künstliche Auseinandersetzung handelt, wenn man die Beantwortung der Frage, ob das System solidarisch, vernünftig und gerecht ist, alleine davon
abhängig macht, ob es einen Unterschied von 0,2 Prozentpunkten gibt. Sie jazzen ein Thema hoch, das für die
Menschen gar keine zentrale Bedeutung hat. Damit tragen Sie dazu bei, dass die Menschen plötzlich wie wild
auf den Beitragsunterschied schauen. Sie tun so, als wäre
ein etwas höherer Beitrag quasi eine Bestrafung für die
Versicherten, die ihn aufbringen müssen. Ich empfehle
den Menschen, weiterhin Mitglied der Krankenkasse, zu
der sie Vertrauen haben, zu bleiben und mit dieser wie
bisher zufrieden zu sein, auch wenn diese einen Zusatzbeitrag erhebt.
({0})
Herr Kollege Henke, Sie haben den Wunsch nach einer
weiteren Zwischenfrage bei der Kollegin Zimmermann
hervorgerufen.
Ja.
Vielen Dank, Herr Kollege Henke, dass Sie die Frage
noch zulassen. - Ich finde, Ihre Sichtweise ist natürlich
insofern klar, als Sie durch die Beitragsbemessungsgrenze hier voll geschützt sind. Nehmen wir aber einmal eine
Frau, die 2 500 Euro im Monat verdient. Die soll im Jahr
bis zu 540 Euro mehr Krankenversicherungsbeiträge
leisten. Meinen Sie nicht, dass das bei dem geringen Einkommen etwas viel ist?
({0})
Der Beitrag in dieser Höhe kommt nicht zustande.
Diese Differenz entsteht nicht. Das ist völlig illusionär.
Sie malen ein Gespenst an die Wand, das es nicht gibt.
Jeder, der rechnen kann, kann das nicht nachvollziehen.
Ich muss Ihnen sagen: Da kann ich Ihrer Mathematik
nicht folgen. Es tut mir leid, aber das gilt vielleicht für
die meisten im Haus.
({0})
Ich möchte auf die Frage der Differenzen zwischen
den Beiträgen zurückkommen und einen Blick zurück auf
1993 werfen, als das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung den
Bürgern das Recht eingeräumt hat, ihre Krankenkasse ab
1996 frei zu wählen. Das ist insofern in dieser Debatte
von Bedeutung, als ein Versicherter heutzutage frei entscheiden kann, bei welcher Krankenkasse er sich versichern will. Dabei kann er die Zusatzbeiträge vergleichen,
er kann die Leistungsprogramme der Krankenkassen
vergleichen, er kann durch seine Entscheidung Leistungen hinzugewinnen, oder er kann direkt Geld sparen. Die
Beitragssatzspanne zwischen den verschiedenen Krankenkassen liegt heute bei 1,5 Prozent.
Bevor das Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung beschlossen wurde, vor 1993, hatten wir große Beitragsspannen
der Versicherungen. Damals gab es ein Gefälle bei den
Beitragssätzen von bis zu 8 Prozent. Also es gab Arbeitnehmer, die in ihrer Krankenkasse, aus der sie nicht ausscheiden konnten, 8 Prozent mehr bezahlen mussten als
Arbeitnehmer in anderen Krankenkassen, die sich diese
auch nicht aussuchen konnten.
Darf ich eine Grafik hochhalten, Herr Präsident?
Hochhalten geht, das ist erlaubt.
Es ist kein Plakat. - Jedenfalls kann man im Zeitverlauf sehr gut erkennen,
({0})
dass die Spreizung der Beiträge über die Jahre hinweg
abgenommen und nicht zugenommen hat, und das ist ein
Verdienst der Unionspolitik. Deswegen finde ich, dass
wir an dieser Stelle keine starke Nachhilfe von Ihnen benötigen.
({1})
Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger ist - das
haben alle Umfragen gezeigt - natürlich einverstanden,
dass sich Beiträge erhöhen, wenn sie durch eine qualitativ bessere Versorgung profitieren.
({2})
Das hat Herr Franke dargelegt, das hat Frau Mattheis dargelegt, das hat Herr Irlstorfer dargelegt, das haben Herr
Riebsamen und Maria Michalk dargelegt. Genau das ist
die Leistung, die in den vergangenen Jahren erbracht
worden ist.
Das zentrale Element von Solidarität ist, dass man
sich auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen
verlassen kann. Die Solidarität wird eher durchbrochen,
wenn die Länder den Krankenhäusern 3,3 Milliarden
Euro Investitionsmittel vorenthalten, die man dringend
bräuchte, um die Verlässlichkeit seitens der Krankenhäuser zu erhöhen.
({3})
Der Bund erfüllt seine Aufgabe, aber die Länder erfüllen sie zum Teil nicht. Weil das so ist, liebe Leute, muss
unser primäres Bestreben sein, die Finanzkraft und die
Verlässlichkeit der Krankenkassen stabil zu halten; denn
das gehaltene Leistungsversprechen ist der Beleg für die
größte Solidarität, die es gibt.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
({4})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf Drucksachen 18/7237 und 18/7241 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Ich sehe keinen Widerspruch. Dann sind die Überweisungen somit beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Mess- und Eichgesetzes
Drucksache 18/7194
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Es handelt sich um eine Überweisung im vereinfachten Verfahren ohne Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an
den Ausschuss für Wirtschaft und Energie zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen
Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Zusatzpunkt 3 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Fortgesetzte Militärkooperation mit SaudiArabien und der Türkei
Ich eröffne die Aussprache. Als Erster hat das Wort der
Kollege Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke.
({0})
Danke sehr. - Herr Präsident! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben bereits gestern begonnen, über dieses Thema zu debattieren. Dies geschah in einer Aktuellen Stunde, die die Regierungskoalition beantragt hatte.
Es ist eine ganze Reihe weiterer Fragen zu klären. Ich
darf versuchen, dazu einen Beitrag zu leisten. Ich finde
es übrigens auch wichtig, dass wir solche Fragen in eiRudolf Henke
ner großen Öffentlichkeit diskutieren, weil die Menschen
in unserem Land natürlich wissen wollen, was man darunter versteht, wenn von der Regierung häufiger gesagt
wird, man wolle die Fluchtursachen bekämpfen. Man
muss darüber reden, was Fluchtursachen sind, und das
will die Linke.
({0})
Ich will nicht dabei zusehen, wie die deutsche Außenpolitik im Nahen Osten - und nicht nur dort - immer unglaubwürdiger wird. Ich finde, Deutschland beschmutzt
sich, wenn der Eindruck entsteht, dass wir die Hinrichtung oder, besser gesagt, die Morde in Saudi-Arabien
hinnehmen, einfach so weitermachen und sagen: Das
ist zwar bedauerlich, aber nicht zu ändern. Doch, das
wäre zu ändern, wenn die internationale Gemeinschaft
einschließlich Deutschlands sagen würde: Wir sind nicht
mehr bereit, das hinzunehmen.
({1})
Das müssen wir in aller Öffentlichkeit deutlich machen.
47 Menschen wurden an einem Tag abgeschlachtet,
erschossen, erschlagen, enthauptet. Das ist der IS in Praxis. Man kann den IS nicht bekämpfen, indem man seine
Methoden staatlich anwendet. Das geht überhaupt nicht,
und deswegen muss man dort konsequent gegenhalten.
({2})
Ich möchte, dass das Regierungsgerede von Saudi-Arabien als Stabilitätsanker in der Region aufhört. Bis
heute redet die Bundesregierung davon, dass Saudi-Arabien ein Stabilitätsanker sei. Das kann doch in Riad nur
so verstanden werden, dass es keine ernsthafte Gegenwehr aus dem Westen gegen die Art und Weise des Vorgehens dieses Staates gibt.
({3})
Die Bundesregierung hat bis heute die Frage nicht beantwortet - ich hoffe, dass man heute eine Antwort darauf
bekommt -, warum sie dem Staat Saudi-Arabien nicht
sofort nach dieser politischen Mordorgie, die auch darauf zielte, dass die Vereinbarungen zu Syrien scheitern,
angekündigt hat: Wir werden keine Waffen mehr liefern.
Es wird keine Waffenverträge mehr geben. - Einem solchen Staat kann man keine Waffen anvertrauen. Das wäre
doch das Mindeste, was man von der Bundesregierung
hätte erwarten müssen.
({4})
Wenn die Bundesregierung nun behauptet, Saudi-Arabien sei ein Anker der Stabilität, möchte ich entgegnen:
Diese Stabilität ist eine Stabilität der Friedhofsruhe, der
Vernichtung von Demokratie, der Unterdrückung von
Menschen. Das hat nichts mit Menschenrechten zu tun.
Die Bundesregierung hat noch einmal gesagt, dass die
Wahrung von Menschenrechten ein Kriterium dafür ist,
ob man Waffenexporte genehmigt oder nicht. Mindestens
das könnten Sie ja einhalten.
({5})
Saudi-Arabien ist durch Waffen- und Geldlieferungen
für den Aufschwung des IS mit verantwortlich. Ob dafür, wie nun behauptet wird, reiche saudische Familien
verantwortlich sind und nicht der Staat, das ist nicht sehr
erheblich. Saudi-Arabien ist eine Kriegspartei in Syrien. Ohne Saudi-Arabien hätte es diesen Krieg in dieser
fruchtbaren Art und Weise in Syrien nicht gegeben, und
Saudi-Arabien führt Krieg im Jemen. Jemen und Syrien
unterscheiden sich kaum noch, was die Katastrophe für
die Menschen angeht. Was dort geschieht, das ist Mord,
und das ist auch die Vernichtung eines Staates, wie es der
Jemen ist. Wenn wir die Art und Weise des Umgangs mit
Saudi-Arabien weiter betreiben, bleibt den Menschen nur
eine Chance: fluchtartig ihre Region zu verlassen, in der
sie nicht leben können und nicht leben dürfen. Ich rede
gar nicht davon, wie man ein Leben gestalten könnte.
Ein Stabilitätsanker aus Sicht der Bundesregierung ist
auch die Türkei, ist Erdogan. Erdogan führt aber Krieg
gegen die Kurden. Wie kann man hier immer davon reden, dass man die Kurdinnen und Kurden unterstützt,
und gleichzeitig die Augen zumachen, wenn in den kurdischen Gebieten in der Türkei - und nicht nur dort Krieg gegen die Kurden geführt wird? Auch das hat mit
Demokratie nichts zu tun.
({6})
Ich habe mich immer wieder gefragt, warum die Bundesregierung sich so verhält. Es lohnt ja nicht, zu unterstellen: Sie sind eben so. - Warum also verhält sich die
Bundesregierung so? Ich habe ein sehr altes Zitat gefunden, das ich zutreffend finde. Entschuldigen Sie die Sprache; das ist nicht meine Sprache; ich zitiere das nur. - Der
Ex-US-Präsident Roosevelt hat über den Diktator Nicaraguas, Somoza, einmal gesagt: Er ist ein Hurensohn,
aber er ist unser Hurensohn.
Genau diese Denkweise - das sind unsere Verbündeten; da kann man mal wegschauen, wo man nicht wegschauen darf - finde ich in der Politik der Bundesregierung. Ich finde, das kann man nicht durchgehen lassen.
Dieses Parlament muss sagen: Schluss mit Waffenlieferungen! Schluss damit, dass die Türkei als ein Land,
das die Flüchtlinge daran hindern soll, nach Europa zu
kommen, aufgerüstet wird! Demokratie ist nicht teilbar.
Das muss man auch öffentlich verfechten. Das hat nichts
damit zu tun, ob man miteinander redet oder nicht. Ich
bin dafür, dass man miteinander redet. Aber man muss zu
keinem Festival fahren, wenn man ernsthafte politische
Debatten führt.
Herzlichen Dank.
({7})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Roderich
Kiesewetter.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Nahe und Mittlere Osten
steht vor einer ungeheuren Zerreißprobe. Ethnische, kulturelle, religiöse Konflikte überlagern sich. Es droht der
Zusammenbruch. Und wir machen eine Aktuelle Stunde
und betrachten ausschließlich die Türkei und Saudi-Arabien. Meine Damen und Herren, das ist eine verfehlte
Themensetzung.
({0})
Gut aber ist, dass wir uns in dieser Woche in zwei Aktuellen Stunden um diese Thematik kümmern. Ich denke,
die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu werfen,
ist verfehlt. Die Türkei ist erprobter NATO-Partner.
({1})
Da müssen wir Einfluss nehmen mit Blick auf ihr Verhalten gegenüber den Kurden. Da müssen wir auch sehr
deutlich machen, dass im Bereich der IS-Unterstützung
einiges zu klären ist.
({2})
Aber die Türkei und Saudi-Arabien in einen Topf zu werfen, ist schlichtweg falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Deshalb möchte ich den Blick etwas weiten. Ich betrachte das Thema Militärkooperation als deutlich zu
verengt. Die Militärkooperation mit Saudi-Arabien ist
nämlich auf einem ganz minimalen Niveau. Zwischen
1965 und 2002 gab es eine intensive Ausbildungskooperation. Ich selbst habe in der Führungsakademie noch
saudi-arabische Offiziere erlebt. Aber selbst wenn wir
deutscherseits keine Militärkooperation mit Saudi-Arabien haben, so besucht doch jedes Jahr das NATO Defense College mit einer Delegation aus arabischen Staaten
unseren Bundestag. Dabei haben wir Gelegenheit, den
Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten, weil Militär dort
eine etwas andere Stellung hat als bei uns und unmittelbar an die jeweilige Staatsführung berichtet, was es im
Bundestag an Fragen und an Diskussionen gibt. Diesen
Einfluss müssen wir auch mit Blick auf Gespräche mit
Saudi-Arabien und anderen Staaten in der Golfregion
aufrechterhalten.
Was mir bei der Diskussion deutlich zu kurz kommt,
ist die Bedeutung der sich überlagernden Machtlinien
und dessen, dass inzwischen der Iran und Russland beginnen, ein Vakuum auszufüllen. Wir Deutschen, wir Europäer dürfen es nicht zulassen, dass dieses Vakuum von
Russland und von Iran so ausgefüllt wird, dass hier ein
Keil zwischen die USA und Europa getrieben wird und
wir Europäer zuschauen.
Das, was die Linke letztlich fordert, ist: keine Beteiligung; die Region machen lassen. - Das ist vollkommen
falsch. Der gesamte Bereich des Nahen und Mittleren
Ostens gehört zu unserem Interessengebiet.
({4})
Wir selbst sind persönlich in vielen Bereichen davon betroffen: in unseren Familien, in unseren Vereinen. Hunderttausende in Deutschland kümmern sich ehrenamtlich
um Flüchtlinge aus dieser Region. Diesen Menschen und
den vielen Gruppierungen mit ihrem bürgerschaftlichen
Engagement gilt es ganz herzlich zu danken, liebe Kolleginnen und Kollegen.
In dem Zusammenhang müssen wir eindeutig herausstellen, dass wir in den nächsten Wochen eine Eskalation
zu befürchten haben. Noch in diesem Monat, vermutlich
in der nächsten Woche, findet die Implementierung des
Nuklearabkommens mit dem Iran statt. Mit dem Tag
der Implementierung werden mindestens - und das sind
niedrige Schätzungen - 70 Milliarden US-Dollar freigegeben, die zurzeit eingefroren sind, mit denen der Iran
arbeiten kann. Seien wir nicht so blauäugig, zu glauben,
der Iran werde das Geld in soziale und gesundheitspolitische Maßnahmen im eigenen Land stecken. Er wird die
Nachbarschaftskriege im Jemen unterstützen und weiter
Aufstandsbekämpfung mit Blick auf Bekämpfung von
gemäßigten Rebellengruppen betreiben. Er wird weiterhin Assad unterstützen, und er wird in vielen Bereichen
mithelfen, zur Eskalation in Syrien beizutragen. Er wird
weiter dazu beitragen, Assad zu stabilisieren, und wird
alles tun, damit diese Mittel zur Entzweiung der gemäßigten Kräfte beitragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen darauf
achten, dass die Stabilisierung dieser Regionen nicht
durch Macht- und Hegemonialfaktoren von Ländern wie
Russland und Iran erfolgt.
({5})
Deshalb möchte ich mit einem Appell schließen. Die Europäische Union hat alle Fähigkeiten für eine diplomatische, ausgleichende, balancierende Politik. Wir müssen
uns darauf einstellen, Jordanien und auch den Libanon in
der Grenzsicherung zu unterstützen. Wir müssen uns sehr
stark auf die Türkei konzentrieren, damit sie im Kampf
gegen den IS alle Mittel freimacht. Wir sollten als EU
und als Deutsche in der EU dazu beitragen, dass nicht
nur das Welternährungsprogramm, sondern mit Blick
auf die palästinensischen Gebiete auch die United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in
the Near East unterstützt wird, die einen hervorragenden
Beitrag für Bildung und Gesundheit und damit auch für
Menschenwürde leistet.
Es geht darum, die Organisationen, die in der Region
bereits aktiv sind, zu unterstützen, damit die Ernährung,
die Bildung und die Stabilisierung in den bereits vorhandenen Flüchtlingslagern weiter fortgesetzt werden können. Das ist ein Beitrag zur Fluchtursachenbekämpfung.
Deshalb geht es - weit weg von dem Thema Militärkooperation - um einen ganzheitlichen politischen Ansatz
mit dem Oberziel UN-Mandat und starker europäischer
Beitrag. Das kann Deutschland leisten. Hier müssen wir
unsere Interessen formulieren. An dieser Stelle bitte ich
auch um entsprechende Unterstützung.
Herzlichen Dank.
({6})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Claudia Roth.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der außenpolitische Kompass der Bundesrepublik
Deutschland war und ist aus gutem Grund anspruchsvoll.
Es geht um Wertebasiertheit, die sich in einem Dreieck
zwischen Multilateralismus, Frieden und Menschenrechten sowie globaler Gerechtigkeit bewegt. Wir Grüne
können einer solchen Ausrichtung folgen - da, wo sie
stattfindet.
Doch bei der Politik gegenüber Saudi-Arabien und der
Türkei vermissen wir diese formulierten Ziele schmerzlich; denn da muss ich schon fragen: Was hat es denn mit
einer wertebasierten und an Frieden orientierten Außenpolitik zu tun, ein Land wie Saudi-Arabien als sogenannten strategischen Partner oder Stabilitätsanker zu päppeln
und mit Waffen aufzurüsten, ein Land, das seiner Bevölkerung die elementaren Menschen- und Freiheitsrechte
verweigert, in dem eine blutrünstige Justiz zahlreiche
Menschen hinrichten lässt und das unter anderem den
Sacharow-Preis-Träger Raif Badawi mit Stockschlägen
traktiert?
Was hat es mit deutscher oder europäischer Interessenpolitik zu tun, wenn mit Saudi-Arabien genau das
Land gefördert wird, das die ideologische Grundlage für
Daesh und andere islamistische Fundamentalisten und
Terroristen liefert und das den Wahhabismus offensiv in
der Welt verbreitet?
({0})
Gleichzeitig geben wir aber vor, gegen genau diese Gefahr des Terrorismus und des Terrors militärisch in Syrien vorzugehen.
Was hat es mit zukunftsgewandter Realpolitik zu tun,
wenn die Bundesregierung auch auf internationaler Ebene keine klare Verurteilung dafür findet, dass Saudi-Arabien den Jemen ins Mittelalter zurückbombt, übrigens
unter Einsatz völkerrechtswidriger Streubomben?
({1})
Statt Kritik geht es wohl um Handelsbeziehungen, um
Waffenlieferungen, die übrigens in krassem Widerspruch
zu unseren Rüstungsexportlinien stehen,
({2})
und um Prestigefeierlichkeiten zusammen mit dem saudischen Königshaus.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die gleichen Fragen
stellen sich mir aber auch mit Blick auf die Türkei. Es
zieht sich in der Zwischenzeit eine Blutspur von Diyarbakir über Suruc und Ankara nach Istanbul, wo ja in diesen
Tagen deutsche Touristen von einem Selbstmordattentäter in den Tod gerissen wurden. Gleichzeitig findet in den
kurdischen Gebieten der Türkei de facto ein gnadenloser
Bürgerkrieg statt, in dem die türkische Regierung mit
über 10 000 Soldaten massiv gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgeht und in dem fast täglich Todesopfer zu
beklagen sind - auch heute wieder. Das muss deutlich
ausgesprochen werden, genauso wie natürlich eine klare
Kritik an der PKK nötig ist.
({3})
Von der Bundesregierung, von der Europäischen Union, von der NATO hören wir dazu aber vor allem nur
ein lautes Schweigen. Genauso laut ist das Schweigen zu
der Entdemokratisierung in der Türkei, wo Vertreter der
freien Presse hinter Gittern sind, Andersdenkende kriminalisiert werden, religiöse Minderheiten Unterdrückung
erleiden, die Rechte der Opposition ausgehebelt werden und es Erdogan vor allem darum geht, die HDP zu
schwächen und ihre parlamentarische Kraft zu brechen.
Es ist ein Armutszeugnis deutscher Außenpolitik, wenn
sie aufgrund ihrer innenpolitisch motivierten Abhängigkeit von Erdogan nicht mehr in der Lage ist, an diesen
Zuständen offensiv Kritik zu üben und eine glasklare
Haltung zu formulieren,
({4})
oder wenn weiterhin völlig im Nebel bleibt, wie eine Kooperation mit dem NATO-Partner Türkei in Syrien aussehen soll, der doch im Nordirak und in Syrien militärisch
gegen die Kurden vorgeht, und weiterhin der Verdacht
besteht, dass die Türkei einen Rückzugsraum für Daesh
darstellt.
Es ist richtig: Unser eigener Einfluss in der Region ist
begrenzt. Es braucht die starken Regionalmächte Türkei,
Saudi-Arabien und Iran für eine politische Perspektive,
die die Chance zum Frieden in der Region eröffnet.
({5})
Deswegen muss auch weiterhin Einfluss auf den notwendigen Politikwechsel in diesen Ländern genommen werden. Politische Einbindung, aktiver Einfluss auf die Öffnung dieser Länder und ein kritischer Dialog, das muss
doch der Ansatz deutscher Politik sein und eben nicht die
Ökonomisierung der Außenpolitik oder eine Flüchtlingsabwehrpolitik zusammen mit Erdogan.
({6})
Dieser andere Ansatz, liebe Kolleginnen und Kollegen Einbindung, Einfluss, kritischer Dialog -, stünde tatsächlich für eine wertebasierte Außenpolitik.
Vielen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Karl-Heinz
Brunner für die SPD.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer! Es ist gerade mal etwas mehr als 24 Stunden her, dass Attentäter, vermutlich
des IS, in Istanbul friedliche deutsche Touristen sinnlos
in den Tod gerissen haben. Das war ein Attentat, von dem
ich sage, dass es die letzten Zweifler überzeugen muss:
Die, die hier angeblich Krieg führen, schrecken vor
nichts zurück, ihren Terror zu verbreiten, auch nicht vor
Moscheen und Plätzen, von denen sie behaupten, dass sie
ihnen heilig sind. Das sind keine Gläubigen, wie sie sich
bezeichnen, sondern das sind Kriminelle, die es mit allen
Mitteln zu bekämpfen gilt.
({0})
Das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, auch nicht
bei dieser Aktuellen Stunde; denn dazu brauchen wir
strategische Partner. Wir können uns nicht immer aussuchen, mit wem wir reden, Kollege Gehrcke. Das ist nicht
das Ziel. Und es ist auch nicht die Zeit für Empörungsdebatten und theoretische Spiele im Sandkasten;
({1})
das ist die bittere Realität in dieser Welt.
({2})
So, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ist es nun einmal auch mit der Türkei unter Recep
Erdogan und mit Saudi-Arabien mit seinem wahhabitischen Königshaus. Ja, in Saudi-Arabien regiert ein autokratisches, unterdrückerisches Regime, das mit seinem
Wahhabismus den Nährboden für den IS bildet. Niemand
zweifelt daran. Ja, Erdogan, der die Türkei geradewegs
ins Mittelalter führen will, verfolgt Kurden, tritt die Meinungsfreiheit mit Füßen, und niemand in diesem Hohen
Haus zweifelt daran. Aber ich zweifle wirklich, ob die
Linke, lieber Kollege Gehrcke, den Ernst der internationalen Lage wirklich verstanden hat.
({3})
Denn sie wird nie müde, die sogenannten Kriegstreiber,
also die NATO, für alles Unheil dieser Welt und für das
im Nahen Osten schon zweimal verantwortlich zu machen - von der Annexion der Krim mal gar nicht zu sprechen; denn da verschließt sie die Augen. Sie wird nicht
müde, Erdogans autokratische Herrschaft in der Türkei
anzuprangern, denunziert jedoch die Kritik an Putins Unterdrückungssystem als antirussische Einmischung; das
ist übrigens alles nachzulesen. Warum wohl? Die Türkei
gehört zur NATO, und die NATO will man abschaffen,
angeblich zugunsten einer europäischen Sicherheitsstruktur mit Russland. Lautstark prangern Sie daher die
Hinrichtungen in Saudi-Arabien an, verlangen das Ende
deutscher Wirtschaftsbeziehungen zu dem Regime in
Riad. Wenn es jedoch um die massenhaft vollstreckten
Todesurteile im Iran geht, höre ich von Ihnen nichts.
({4})
Diese Doppelzüngigkeit, meine Kolleginnen und Kollegen, vergiftet die öffentliche Diskussion. Sie zeigen
mit dem Finger auf die einen und verschließen die Augen vor den anderen. Verstehen Sie mich richtig: Probleme müssen benannt werden, sie müssen ausgesprochen
werden, und wir müssen sie angehen. Genau das ist es,
was unser Außenminister Frank-Walter Steinmeier und
unser Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel machen: Sie
verhandeln, sie bringen Feinde ins Gespräch, sie nutzen
alle Möglichkeiten, um eine weitere Eskalation zwischen
Teheran und Riad zu verhindern, und sie setzen auch die
Machthaber unter Druck. Sie setzen erstmals seit Jahren
klare Kriterien für Rüstungsexporte; denn sie wissen wie
wir alle: Nur mit markigen Sprüchen und Schuldzuweisungen kommt die internationale Politik nie und nimmer
mehr voran.
Abschottung, Isolation und das Abbrechen von Kontakten sind das Gegenteil von dem, was wir jetzt brauchen. Wem nützt es denn, wenn wir Gesprächsfäden
abschneiden und Sanktionen verschärfen, wo es gerade
jetzt auf das Gespräch ankommt? Was dann passiert,
meine Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, sehen wir an den rhetorischen Fähigkeiten des
Herrn Putin. Sonst entwickelt sich da nichts fort.
Sollen wir die Kooperation mit der Türkei mit großem
Tamtam beenden? Erdogan würde sich als Opfer stilisieren, sein System eher konsolidiert auf Kosten der Kurden
und der Meinungsfreiheit.
Es war richtig, dass wir auch die Rüstungsexporte
nach Saudi-Arabien eingeschränkt haben. Für Kleinwaffen, für Pistolen, Maschinenpistolen und Gewehre gelten
die strengsten Regelungen, die wir haben. Ausfuhrgenehmigungen von G-36-Fabriken nach Saudi-Arabien
wurden grundsätzlich nicht mehr erteilt. Das ist unser
Verdienst, das Verdienst unserer Regierung. Es ist mühsam, aber es sind konkrete Schritte. Das ist verantwortungsvolle Politik.
({5})
Natürlich wären die einfachen Wahrheiten toll. Darauf
stürzen sich die Medien, die Hysterie in den sozialen Medien und Talkshows gern. Da ist Verschwörung hinter der
Sache. Doch wir sind die, die sich trauen, das auszusprechen. Der ist gut, der ist böse - dass dabei jede Lösung
fehlt und dass die Welt ein wenig komplizierter ist, fällt
kaum auf. Aber ich kann diese Doppelmoral der Linken
nicht mehr hören. Sie generiert sich zum Sprecher einer
unterdrückten Wahrheit, ist aber nur noch Megafon von
Unwahrheiten.
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({6})
Der Kollege Dr. Andreas Nick spricht jetzt für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!
Die Themenstellung dieser Aktuellen Stunde ist unter
mindestens drei Gesichtspunkten verfehlt: Erstens werden mit der Türkei und Saudi-Arabien zwei Länder auf
eine Stufe gestellt, die nicht miteinander vergleichbar
sind. Zweitens sind unsere Beziehungen zu diesen beiden
Ländern von sehr unterschiedlicher Qualität. Drittens
wird der falsche Eindruck erweckt, militärische Kooperation sei die vorrangige Dimension unserer Beziehungen zu diesen beiden Ländern oder gar unserer Außenpolitik insgesamt.
Wenn wir in dieser Woche über die Türkei sprechen,
dann denken wir zuerst an den schrecklichen Terroranschlag am Dienstag in Istanbul. Wir sind zutiefst bestürzt
und trauern um die Opfer. Zehn Todesopfer kamen aus
Deutschland, darunter auch ein Ehepaar aus Mainz und
ein Mann aus Bad Kreuznach, meiner Heimat in Rheinland-Pfalz. Vor allem sprechen wir den Angehörigen der
Opfer unser Beileid und Mitgefühl aus. Den Verletzten
wünschen wir eine baldige und vollständige Genesung.
Mein Dank gilt aber auch den türkischen Behörden und
Einrichtungen für die Versorgung der Opfer.
Die Wahl des Tatorts ist symbolkräftig und besonders perfide. Dort, im touristischen Zentrum Istanbuls,
zwischen Hagia Sophia, Blauer Moschee, Obelisk und
Deutschem Brunnen, sind die Spuren der vielfältigen
und großartigen Geschichte gegenwärtig. Hier begegnen
sich Orient und Okzident in unvergleichlicher Weise. Insofern zielt dieser Anschlag nicht nur auf den Tourismus
als wichtigen Wirtschaftsfaktor der Türkei, sondern bewusst auch auf die Rolle der Türkei als Brücke zwischen
den Kulturen und Ort der Begegnung.
Die Türkei ist NATO-Partner und eng an den Westen
gebunden. Seit Jahrzehnten hat sie sich als verlässlicher
Partner im Bündnis erwiesen, und sie befindet sich in
Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, auch
wenn deren Ergebnis offen ist. Bei aller berechtigten Kritik, die man an bestimmten innenpolitischen Entwicklungen in der Türkei, etwa im Bereich der Meinungs- und
Pressefreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und des Umgangs
mit Minderheiten üben kann - das habe ich im vergangenen Jahr nicht nur von dieser Stelle aus wiederholt getan -, bleibt zunächst einmal festzuhalten, dass die Türkei
ein demokratischer Staat ist, dessen Präsident und dessen
Regierung aus demokratischen Wahlen hervorgegangen
sind. Natürlich beobachten wir manche aktuellen innenpolitischen Entwicklungen im Land mit Sorge. Es ist richtig:
Als NATO-Partner und EU-Beitrittskandidat muss sich die
Türkei an höheren Maßstäben messen lassen als andere.
Aber eines werden wir sicherlich nicht tun: Wir wollen
und werden uns nicht durch einseitige Parteinahmen zum
Schiedsrichter der türkischen Innenpolitik machen lassen.
Wir bedauern ausdrücklich, dass der Prozess der Versöhnung mit der kurdischen Minderheit zum Erliegen
gekommen ist und dass es stattdessen zu neuen Ausbrüchen massiver Gewalt kam. Aber wir müssen festhalten:
Auch nach unserer Rechtsauffassung ist die PKK eine
terroristische und verfassungswidrige Organisation. Wir
müssen auch feststellen, dass gewaltbereite Jugendliche
der PKK-Jugend in einigen Regionen für Intifada-ähnliche Zustände gesorgt haben. Natürlich ist die Verhältnismäßigkeit der Reaktion des türkischen Staates mehr als
fragwürdig.
Unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg eines innerstaatlichen Versöhnungsprozesses sind aber zwei Dinge, nämlich einerseits die Offenheit für stärkere regionale
und kulturelle Autonomien in den kurdischen Gebieten,
andererseits eben auch das klare Bekenntnis der kurdischen Vertreter zum Gewaltverzicht und zur territorialen
Integrität der Türkei. Wir appellieren eindringlich an alle
Beteiligten, den Versöhnungsprozess nicht aufzugeben,
sondern wiederzubeleben.
Die Türkei ist und bleibt für uns ein strategischer Partner an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien. Das
geht über die aktuellen Bemühungen bei den Flüchtlingsthemen weit hinaus. Selbstverständlich spielt auch die
militärische Kooperation in unseren Beziehungen eine
Rolle, etwa bei der Nutzung der Militärbasis in Incirlik
im Kampf gegen den IS. Aber unsere Beziehungen zur
Türkei sind vielfältig. Sie betreffen die gesamte Bandbreite wirtschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher
und gesellschaftlicher Zusammenarbeit und Begegnung.
Die deutsch-türkischen Regierungskonsultationen später
in diesem Monat zeigen dies deutlich. Ich hoffe, dass wir
dort neue Initiativen auf den Weg bringen können, bis
hin zu Fragen des Jugendaustauschs und der besseren
Zusammenarbeit in der Auswärtigen Kulturpolitik, zum
Beispiel im Rahmen eines Engagements deutscher Institutionen in der Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche im Flüchtlingsbereich.
Es bleibt festzustellen: Die militärische Kooperation
steht nicht im Mittelpunkt unserer Beziehungen - nicht
zur Türkei und schon gar nicht zu Saudi-Arabien.
Vielen Dank.
({0})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Die Bundesregierung - so haben wir es von den koalitionstragenden Fraktionen gehört - will weiterhin die
Bundeswehr, Rüstung und Waffen in die Türkei schicken. Doch was für ein Land ist eigentlich die Türkei?
Wie sieht es in diesem Land aus?
Die Türkei ist das Land, in dem der türkische Staatspräsident Erdogan einen Krieg gegen die Kurden führt.
Das Auswärtige Amt hat gestern im Auswärtigen Ausschuss selbst betont, dass schon über 200 Zivilisten von
türkischen Sicherheitskräften getötet worden sind.
Die Türkei ist das Land, in dem gestern Herr Erdogan
1 128 Akademiker, die an türkischen Universitäten lehren, mit Entlassung und Strafverfolgung bedroht hat. Und
warum? Weil sie einen Appell für Freiheit und Deeskalation insbesondere im Osten der Türkei initiiert haben.
Die Türkei, das ist das Land, das die Grenze für weiteren Nachschub von Kämpfern und Waffen für die Terrororganisation „Islamischer Staat“ in Syrien offen hält.
Herr de Maizière, es geht nicht um eine 1 000 Kilometer lange Grenze, wie Sie gestern im Fernsehen erklärten,
sondern es geht lediglich um eine 100 Kilometer lange
Grenze zum IS. Und Sie wollen uns hier weismachen,
dass die zweitgrößte NATO-Armee mit 900 000 Sicherheitskräften seit Jahren nicht in der Lage ist, eine 100 Kilometer lange Grenze zu schließen? Ich biete Ihnen allen
hier in diesem Haus an, mit Ihnen in die Region zu reisen. Ich werde Ihnen zeigen, wie kurz die Grenze ist und
wie einfach man die Grenze schließen könnte, wenn man
den Nachschub für den IS tatsächlich stoppen wollte.
({0})
Die Türkei ist das Land, in dem der „Islamische Staat“
regelrecht hochgezüchtet wurde. Die Türkei ist das Land,
von dem der Bundesnachrichtendienst berichtet, dass es
Waffen an islamistische Terrorbanden in Syrien liefert.
Die Türkei ist das Land, in dem der Chefredakteur der
Tageszeitung Cumhuryiet, Can Dündar, seit fast zwei
Monaten im Gefängnis sitzt, weil er Dokumente veröffentlicht hat, die die Verwicklung der türkischen Regierung in die Waffenlieferungen an islamistische Terrormilizen in Syrien belegen. Die Türkei ist das Land,
das unter Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention und
internationalen Rechts syrische Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland abschiebt und dafür von der EU und von
Ihnen mit 3 Milliarden Euro belohnt wird. Ich weise auf
die heutige Monitor-Sendung in der ARD um 21.45 Uhr
hin, in der genau hierfür Belege geliefert werden.
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dieser Situation? Sie zieht gar keine Konsequenzen
daraus. Ich sage Ihnen: Wer will, dass deutsche Waffen
weiterhin in die Türkei Erdogans geliefert werden, der ist
nicht nur politisch verantwortlich für diese Lieferungen,
mit denen Erdogan Krieg gegen die Kurden führt. Er ist
meiner Meinung nach auch persönlich verantwortlich. Er
trägt persönlich eine Mitverantwortung für die Verbrechen, die an der Zivilbevölkerung im Osten der Türkei
begangen werden.
({1})
Sie legen mit an gegen die Kurden in der Türkei. Deshalb
fordern wir von der Linken: Stoppen Sie die Waffenexporte in die Türkei! Keinen Cent und keine Waffe an den
Terrorpaten Erdogan!
({2})
Die Bundesregierung will auch weiter Waffen an den
Terrorstaat Saudi-Arabien liefern. Wie sieht die Situation
dort aus? Massenhinrichtungen, man muss sagen: Massenschlächterei, wie beim „Islamischen Staat“, ein Angriffskrieg gegen den Jemen, Unterdrückung der eigenen
Bevölkerung, Export islamistischen Terrors weltweit und
Destabilisierung der gesamten Region, wie selbst der
Bundesnachrichtendienst mitgeteilt hat. - So sieht es aus,
wenn man nur ein paar Stichpunkte nennt. Und Sie? Was
machen Sie? Sie machen weiter wie bisher und liefern
Waffen an diese blutige Diktatur in Saudi-Arabien.
Als ich vor Kurzem auf einer Reise mit Herrn FrankWalter Steinmeier versuchte, ein Treffen mit dem geistlichen Führer der Schiiten Nimr al-Nimr und seinem
20-jährigen Neffen Ali al-Nimr, der ebenfalls verurteilt
wurde, zu organisieren, hat mir das Auswärtige Amt diesen Termin versagt. Und wissen Sie, mit welcher Begründung? Sie meinten, der Schlächter Salman, der König
dieser monarchistischen Diktatur, würde eventuell verstimmt werden, wenn eine Abgeordnete der Opposition
es aus menschenrechtspolitischer Sicht für notwendig
erachtet, sich mit diesen Gefangenen zu treffen. Ich finde
einen solchen Umgang mit einem saudischen Terrorstaat
unerträglich. Das zeigt, dass Ihnen jedweder Wertekompass verloren gegangen ist.
({3})
Sie haben keine Koordinaten mehr in Ihrer Außenpolitik. Die Linke fordert Sie deshalb auf: Kehren Sie um!
Eine Außenpolitik muss sich an Humanität, Gerechtigkeit und der Einhaltung von Menschenrechten ausrichten. Deshalb: Stoppen Sie die Rüstungsexporte! Stoppen
Sie die Waffenlieferungen an die Türkei und Saudi-Arabien! Dabei - da bin ich mir sicher - haben Sie auf jeden
Fall die Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung.
Hören Sie auf, diese Terrorpaten zu unterstützen!
Vielen Dank.
({4})
Die Kollegin Dr. Dorothee Schlegel spricht jetzt für
die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir alle sind entsetzt und schockiert über die terroristischen Gewaltakte
des IS, die unschuldigen Menschen - vorgestern in Istanbul waren viele Deutsche darunter - das Leben rauben.
Der Terror rückt näher und kann überall geschehen. Dieses Mal wurde das Herz der Türkei getroffen, Istanbul,
die türkische Stadt, die Europa am nächsten ist. Der menschenverachtende IS-Terror bedroht uns alle. In unserer
Freiheit und unserer Lebensweise lassen wir uns aber
nicht einschränken. Hierzu sei Goethe zitiert:
Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
nimmer sich beugen,
kräftig sich zeigen,
...
Sehr geehrte Damen und Herren, wir haben gestern
im Europaausschuss mit Staatsminister Michael Roth inSevim Dağdelen
tensiv über die aktuelle Situation in der Türkei - darauf
lege ich nun den Fokus - diskutiert. Die Lage in der Türkei mit Sorge betrachtend waren wir uns einig, dass ein
struktureller Dialog mehr denn je nötig und wichtig ist.
Die Türkei ist für mich dabei nicht nur auf den Staatspräsidenten zu reduzieren.
Mit David Bowie, der jüngst verstorben ist, könnte man
fragen: Where are we now? Die EU und die Türkei stehen
gemeinsam an einem Scheideweg. Ohne Not wurde der
Türkei in den letzten Jahren auch von der schwarz-gelben Bundesregierung die Tür zum EU-Beitritt vor der
Nase zugeschlagen. Das war ein gravierender Fehler.
Unter Gerhard Schröder, also vor mehr als zehn Jahren,
waren wir, was den Beitrittsprozess der Türkei betrifft,
viel weiter. Angesichts dieses Spannungsverhältnisses ist
es für die EU momentan zweifellos kompliziert, auf die
Türkei zuzugehen; denn die Türkei macht - das haben
meine Vorredner schon gesagt - erhebliche Rückschritte
in den Bereichen Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz. Doch wir müssen
ebenso in den Fokus nehmen, welche gemeinsamen Interessen - dabei geht es um mehr als um militärische und
Sicherheitsinteressen - Europa und die Türkei bei ihrer
Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise verfolgen. Mit
dem gemeinsamen Aktionsplan wurde im EU-Türkei-Dialog am 29. November letzten Jahres vereinbart, dass
Ankara das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU
und der Türkei zum Juli 2016 implementieren wird.
Die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, die
sofortige Eröffnung des Kapitels zur Wirtschafts- und
Währungspolitik und die hoffentlich baldige Aufnahme
der Verhandlungen über die Kapitel Rechtsstaatlichkeit
und Menschenrechte liegen im ureigenen Interesse Europas. Darum ist es wichtig, dass die EU halbjährlich
Gipfeltreffen mit der Türkei abhalten will; darum ist
es richtig, dass die EU einen ständigen und hochrangig
besetzten politischen Dialog einrichtet, beginnend mit
Wirtschafts- und Energiefragen.
Vielfach wurde auch hier kritisiert, dass der EU-Beitritt
instrumentalisiert werde. Das ist nicht falsch. Menschenrechtsorganisationen sprachen gar von einem schmutzigen Deal sowie dem Ausverkauf europäischer Werte.
Aber das sehe ich nicht so. Wir dürfen nicht vergessen,
dass sich die EU aus außen- und sicherheitspolitischen
Gründen für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen
hat. Diese Interessen stehen gerade heute, in Zeiten des
Staatenverfalls im Nahen Osten und angesichts seiner
Auswirkungen, vordringlicher denn je im Raum. Die
Türkei spielt als Haupttransitland eine Schlüsselrolle in
der aktuellen Flüchtlingsbewegung. Die EU ist derzeit
stärker denn je auf die Türkei angewiesen, stärker als
umgekehrt. Darum war es wichtig, die Türkei wieder für
eine Kooperation zu gewinnen. Die von Brüssel zugesagten sofortigen und längerfristigen finanziellen Hilfen für
die Unterstützung von Flüchtlingen in der Türkei müssen jetzt aber auch fließen. Alle EU-Mitgliedstaaten sind
dringend gehalten, ihre Hausaufgaben zu machen.
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sprach
vorgestern Abend bei der Auftaktveranstaltung zum
OSZE-Vorsitz Deutschlands von Kultur durch Dialog
und von Dialog durch Kultur. So ist es: Am Dialog auf
allen Ebenen geht kein Weg vorbei. Wir sollten daher die
Fortführung des Beitrittsprozesses als Chance begreifen.
Denn trotz des Spannungsverhältnisses wollen wir auf
ein gutes Verhältnis zur Türkei nicht verzichten.
({0})
Dabei vergessen wir nicht, Rechtsstaatlichkeit und
Menschenrechte einzufordern, auch mit Blick auf die
Hinweise auf die Abschiebungen von syrischen und irakischen Flüchtlingen an der türkischen Grenze und die
besorgniserregenden Entwicklungen im Südosten der
Türkei. Auch die internen Friedensverhandlungen müssen dort wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.
Ich komme zum Schluss. Parallel zu jeglicher Militärkooperation in und mit der Türkei müssen auch die
Kooperation und Kommunikation auf diplomatischer
und zwischenmenschlicher Ebene fortgeführt werden.
Hier müssen Deutschland und die EU ihr ganzes diplomatisches Gewicht in die Waagschale werfen. Es ist klar:
Das Instrument Beitrittsverhandlungen ist, um im militärischen Jargon zu bleiben, das schärfste Schwert der EU.
Denn es gilt das Primat der Friedenssicherung.
Herzlichen Dank.
({1})
Nächster Redner ist Kollege Omid Nouripour für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere:
Ich vergaß, dich darüber zu informieren, dass ich
mich mit deiner Abwesenheit praktisch abgefunden
habe, dass die Träume sich auf dem Weg zu deinen
Wünschen verirrt haben, dass mein Gedächtnis sich
langsam zersetzt und dass ich noch immer das Licht
verfolge - nicht weil ich den Wunsch habe, es zu
sehen, sondern weil die Dunkelheit beängstigend
bleibt, auch wenn wir uns daran gewöhnt haben!
Das sind Verse des palästinensisch-saudischen Dichters Ashraf Fayadh. Ein Dichter kann sich nur in Worten
und Bildern ausdrücken. Genau das hat er getan. Dafür
ist er in Saudi-Arabien zum Tode verurteilt worden.
Heute gibt es weltweit einen Tag, an dem Menschen mit
Lesungen an ihn erinnern, um seinen Fall nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Dieser Fall wie auch viele
andere, die wir kennen, Raif Badawi, al-Nimr junior oder
auch der des exekutierten Ajatollah, zeigen, mit welch
schwieriger Situation wir es zu tun haben, wenn wir über
Saudi-Arabien sprechen.
Wenn wir lautstark über eigene Werte sprechen, dann
ist es wichtig, dass wir uns selbst dabei ernst nehmen.
Das ist eine Frage der Selbstachtung. Wer sich selbst
nicht achtet, der wird auch nicht ernst genommen. Deshalb ist eine Außenpolitik ohne Werte grundsätzlich eine
schlechte Außenpolitik. Ja, wir brauchen Diplomatie. Ja,
wir müssen mit Saudi-Arabien sprechen und mit der TürDr. Dorothee Schlegel
kei sowieso. Ja, ich teile, was mehrfach gesagt worden
ist: Die Gleichsetzung dieser beiden Länder ist völlig
falsch. Das ist richtig. Die Frage ist nur: Wie machen wir
Diplomatie, wie reden wir mit diesen Ländern?
Im Falle der Türkei zitiere ich den CDU-Generalsekretär Tauber aus 2014 - da gab es, wie so oft, wieder
einmal eine Entgleisung von Herrn Erdogan -:
Diese Entgleisungen zeigen einmal mehr, wie wenig
er von Freiheit und Pluralität hält.
Der Kollege Nick hat vorhin gesagt, dass wir uns auf
keinen Fall in die innenpolitischen Auseinandersetzungen der Türkei einmischen wollen. Dann frage ich mich:
Warum fährt dann die Frau Bundeskanzlerin eine Woche vor der Wahl hin und macht faktisch Wahlkampf für
Erdogan?
({0})
Dieses Land steht mindestens an der Grenze zum Bürgerkrieg. Wir alle wissen, wer diesen angezettelt hat. Wir
alle wissen, dass die PKK eine fürchterliche Organisation ist. Aber wir müssen natürlich auch zur Kenntnis nehmen, dass so viele Journalisten in der Türkei in Gefängnissen sitzen wie seit Dekaden nicht mehr.
Wir müssen, wenn wir unsere Werte nicht aufgeben
wollen, natürlich auch realistisch sein. Stabilitätsanker:
Saudi-Arabien, Katar, Ägypten, Jordanien und der Nordirak - all diese Länder und Regionen wurden von Kolleginnen und Kollegen der CDU/CSU zu Stabilitätsankern
ausgerufen. Bei so vielen Stabilitätsankern fragt man
sich: Wo ist das Problem im Nahen Osten? Aber gerade
im Falle von Saudi-Arabien ist die Frage, ob wir es wirklich mit einem Stabilitätsanker zu tun haben.
Der Kollege Brunner hat gerade die Menschenrechtsverletzungen im Iran angesprochen. Ich glaube, ich gehöre zu den Menschen, denen man diese nicht beibringen
muss. Sie sind verheerend und brutal. Aber, mit Verlaub,
das ist der Grund, warum hier niemand fordert, dass wir
eine strategische Partnerschaft mit dem Iran unterhalten,
und warum hier niemand fordert, dass wir Waffen in den
Iran exportieren.
({1})
Das ist genau das, was wir auch für die Türkei und Saudi-Arabien verlangen.
Seit dem 26. März 2015 ist Saudi-Arabien im Jemen-Krieg involviert. Diesen haben sie nicht begonnen;
das stimmt. Aber die Gründe für das, was dort passiert,
muss man sich einfach mal anschauen: Das ist ein Thronfolgekrieg in Saudi-Arabien selbst. Es gibt mindestens
drei Personen, die in dem Land König werden wollen.
Als Nebenschauplatz wird ein Land ruiniert.
Allein seit August letzten Jahres wurden fünf Schulen
weggebombt, zuletzt eine Blindenschule, UN-Flüchtlingslager, Krankenhäuser von „Ärzte ohne Grenzen“,
Bibliotheken, Milch-, Zement- und Getränkefabriken, Ausflugslokale, mehrere Hochzeitsgesellschaften,
Schwimmbäder, Fußballplätze, Kinderspielplätze und
Weltkulturerbestätten, just diese Woche ein ganzer Straßenzug in Sanaa.
Angesichts dieser Ereignisse - ich zitiere sind wir doch froh, dass wir mit deutscher Unterstützung einen Beitrag dazu leisten können, dass
Frieden in der Welt erhalten bzw. geschaffen wird.
Denn - ich zitiere Saudi-Arabien ist ja wohl unzweideutig seit Jahrzehnten ein verlässlicher Partner des Westens ...
Das sagte hier im Plenum Joachim Pfeiffer, CDU/
CSU-Fraktion.
Volker Kauder:
Saudi-Arabien ist in der Region sicher ein stabilisierender Faktor.
Das hat er vor dem Jemen-Krieg gesagt. Aber man muss
auch wissen, dass relativ kurz bevor er das gesagt hat,
saudische Panzer die freiheitsliebenden Demonstranten
in Bahrain niedergewalzt haben. Das ist einfach - es tut
mir leid - jenseits und entfernt von „sich selbst ernst nehmen“, das ist jenseits und entfernt von den Gesetzen in
diesem Land, und das ist jenseits und entfernt von Selbstachtung und Anstand. Es ist realitätsfremd, also das, was
Sie uns immer vorwerfen.
({2})
Es ist genauso realitätsfremd, dass deutsche Waffen
von den Saudis irgendwo über Al-Qaida-Gebiet in Kisten
abgeworfen werden, damit bitte irgendjemand die Huthis
bekämpfen möge. Ich glaube nicht, dass es für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland von großem Vorteil
ist, wenn al-Qaida deutsche Waffen bekommt. Deshalb
gilt es, die Augen aufzumachen, sich anzuschauen, was
dort passiert, und die Stabilitätspartnerschaft bzw. die
strategische Partnerschaft mit Saudi-Arabien endlich zu
beenden. Reden muss man - ja, bitte, unbedingt -, aber
wir wollen keine Rüstungsexporte und keine Partnerschaft, die so ist, wie sie zurzeit ist.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Der Kollege Volker Mosblech hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die sicherheitspolitische Lage im Nahen und Mittleren Osten zeigt sich instabiler denn je. Bereits im vergangenen Herbst fielen in
Ankara über 100 Menschen Selbstmordattentätern zum
Opfer. Erst vorgestern starben bei einem erneuten Terroranschlag zehn deutsche Bundesbürger in Istanbul. Das
Attentat in der türkischen Metropole hat uns alle, denke
ich, tief getroffen. Dennoch dürfen wir uns durch Terror,
Mord und Gewalt nicht verängstigen lassen. Nach dem
erneuten Anschlag in der Türkei ist es selbstverständlich, dass wir nun enger denn je an der Seite unseres
NATO-Partners stehen.
Die Bedrohungslage zeigt sich unverändert hoch; sie
hat auch Deutschland und deutsche Bürgerinnen und
Bürger längst erreicht. Ein Blick auf den Nahen und
Mittleren Osten zeigt wachsende Instabilität, ausgelöst
durch schwelende Konflikte und steigende zwischenstaatliche Spannungen. Neben dem seit über fünf Jahren
wütenden Bürgerkrieg in Syrien mit einer schier unendlichen Anzahl verschiedener Konfliktparteien nehmen die
Spannungen zwischen den beiden Regionalmächten Saudi-Arabien und Iran mehr und mehr zu. Hinzu kommen
die ungelösten Konflikte zwischen dem jüdischen Staat
Israel und den Palästinensern sowie der jüngst entfachte
Krieg im Jemen.
Angesichts dieser prekären sicherheitspolitischen
Situation an der südöstlichen europäischen Peripherie speziell für unseren NATO-Bündnispartner Türkei kann es nur in unserem ureigenen Interesse liegen, uns
alle möglichen Gesprächskanäle offenzuhalten. Unser
Fokus muss hierbei zuerst auf unserem Bündnispartner
Türkei liegen. Gemeinsam mit Ankara sollten wir uns darauf konzentrieren, auf die Konflikte Einfluss zu nehmen,
die uns direkt betreffen und auf die wir Einfluss haben.
Dabei spielt der Syrien-Konflikt als Ursache der Fluchtbewegungen nach Europa für uns die entscheidende Rolle.
Generell nimmt die Türkei, allein geografisch, für
die Europäische Union eine außerordentlich wichtige
Stellung ein. Viele potenzielle Gefahren und destabilisierende Faktoren für Europa haben ihren Ursprung in
direkter Nachbarschaft der Türkei. Das macht unseren
NATO-Partner zu einem Schlüsselakteur in der Region.
Dieser Verantwortung ist sich das Land auch bewusst.
Die Türkei ist vom Terrorismus und vom Krieg in Syrien
länger und stärker betroffen als Europa und Deutschland
und ist zudem der einzige NATO-Partner in der Krisenregion. Das Land hat darüber hinaus eine Schlüsselrolle,
wenn es um die Steuerung des Flüchtlingsstroms Richtung Europa geht. Mit deutlich über 2 Millionen Menschen hat die Türkei mehr Flüchtlinge aufgenommen als
jedes andere NATO-Mitglied.
So gesehen haben wir ein gemeinsames Problem und
damit ein gemeinsames Interesse, dieses zu lösen oder
zumindest einzudämmen. Das geht vom Syrien-Konflikt
selbst über die Sicherung der Außengrenzen der Europäischen Union bis hin zur Aufrechterhaltung des Küstenschutzes gegenüber Schleppern und Menschenhändlern.
Selbstverständlich kann uns ebenso die innenpolitische Situation in der Türkei nicht egal sein. Wir müssen
daher auch immer betonen - und das tut unsere Bundesregierung -, dass die Beziehungen Deutschlands und der
Europäischen Union zur Türkei immer auch von einem
auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie basierenden politischen System abhängen.
Es bringt uns nichts, wenn wir nun die Gespräche mit
jedem Staat abbrechen, der nicht nach unseren Wertvorstellungen handelt.
({0})
Ich halte es für unabdingbar, alle Möglichkeiten zu nutzen, um den Syrien-Konflikt und seine Auswirkungen
einzudämmen und deeskalierend auf die nun auch gespannteren Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und
dem Iran einzuwirken.
({1})
Ein Einfrieren der Beziehungen mit dem anderen hier
genannten Staat, Saudi-Arabien, würde auch unsere Verhandlungsposition im Hinblick auf Syrien schwächen.
Es kann doch nur in unserem Interesse sein, die Beziehungen zu Saudi-Arabien aufrechtzuerhalten. Sollten wir
den Handel und die diplomatischen Beziehungen dorthin
abbrechen, würden wir zugleich auch alle Möglichkeiten
verringern, uns für eine Stabilisierung der Region einzusetzen.
({2})
Eine weitere Eskalation der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und dem Iran wäre für die gesamte Region
fatal.
Deutschland hat ein großes Interesse an der Stabilität
im Nahen und Mittleren Osten, insbesondere im Hinblick
auf die Wiener Verhandlungen über den Bürgerkrieg in
Syrien. Deshalb sollten und müssen wir die Lage dort realistisch einschätzen.
Der Konflikt in Syrien und die daraus folgende Fluchtbewegung nach Europa werden uns noch längere Zeit
beschäftigen. Als Schlussfolgerung daraus sollten wir
gerade nicht ziehen, alle Gespräche in und Verbindungen
zu den Konfliktregionen abzubrechen, um uns selbst auf
die Schulter klopfen zu können und uns besser zu fühlen.
Insofern kann ich die Position der Bundesregierung nur
weiterhin unterstützen: Nur durch eine fortgesetzte Militärkooperation mit Saudi-Arabien und der Türkei kann
wieder eine Balance erreicht werden.
Unser Ziel lautet, die Region zu stabilisieren und unsere Werte und Interessen in der Region durchzusetzen.
Dies kann nur erreicht werden, wenn wir uns mit den
Akteuren in den Krisenregionen auseinandersetzen. Vor
allem unser NATO-Partner Türkei übernimmt dabei eine
besondere Verantwortung.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({3})
Nächster Redner ist der Kollege Thomas Hitschler für
die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Diese Rede heute zu halten, fällt nicht leicht.
Einerseits ist das Thema dieser Debatte eines von Zwischentönen, von Grau, andererseits ist es schwer, diese
Debatte von dem schrecklichen Verbrechen in Istanbul
vor zwei Tagen nicht einfärben zu lassen - in Schwarz.
Es ist schwer, nicht nach scheinbar einfachen Lösungen
für komplexe Probleme zu suchen. Aber genau für diese
Reflexion sind wir hier. Es ist unsere Aufgabe, eben nicht
in Schwarz-und-Weiß-Schablonen zu denken.
Ähnlich nimmt unser Land seine außenpolitische Verantwortung wahr. Wir bemühen uns, für andere Staaten
ein guter Gesprächs-, Handels- und Bündnispartner zu
sein, etwa für die Türkei. Neben einer langen bilateralen Partnerschaft, ja Freundschaft verbindet uns die
Mitgliedschaft in der NATO. Im Rahmen dieses Verteidigungsbündnisses kooperieren Berlin und Ankara
selbstverständlich auch militärisch miteinander. Wir stehen an der Seite unseres Partnerlandes, wenn dieses angegriffen wird. Das war in der Vergangenheit so, das ist
auch heute so, und das sollte nach Möglichkeit auch in
der Zukunft so sein.
Wir müssen gerade beim Kampf gegen den islamistischen Terrorismus noch stärker mit unserem Partner
kooperieren. Dies muss auch ein Resultat des feigen Anschlags von Istanbul sein: noch stärker zusammenzustehen.
Und jetzt kommen die Grautöne: Die Türkei ist kein
perfekter Partner - wenn es so etwas überhaupt gibt. In
jüngster Zeit hat sich Ankara zunehmend von unserem
Wertekanon wegbewegt. Innenpolitisch werden Rechtsstaatlichkeit und Demokratie immer weiter beschnitten.
Der Kampf gegen den IS wird missbraucht, um den
Krieg gegen die Kurden weiter aufflammen zu lassen.
Grauenvolle Nachrichten dazu erreichen uns jeden Tag.
Gleichzeitig konnte man den bisherigen nichtmilitärischen Einsatz der Türkei gegen den IS, etwa die Kontrolle des Grenzverkehrs oder die Unterbindung des Erdölschmuggels, bestenfalls als halbherzig bezeichnen. Das
scheint jetzt zunehmend zum Problem für unseren Partner
zu werden. Gerade in dieser Situation wäre es eine verantwortungslose und falsche Antwort, die Zusammenarbeit mit der Türkei einzustellen. Lassen Sie uns - gerade
als Parlamentarier - lieber unsere Gesprächskanäle nutzen, um Veränderungen und Umdenken herbeizuführen,
Kolleginnen und Kollegen!
({0})
Auf der anderen Seite sehen wir Saudi-Arabien. Das
Land steht am Scheideweg. Lange Zeit hat das innenpolitische Rezept „vermeintlicher Wohlstand gegen Unterwerfung“ funktioniert. Dies scheint sich geändert zu
haben. Die Devisenreserven des Landes nehmen stark
ab, die Aussichten für eine gute wirtschaftliche Zukunft
nicht gerade zu. Ökonomische Reformen sind bereits in
Arbeit, aber leider gibt es noch keine Anzeichen eines
begleitenden gesellschaftlichen Reformprozesses. Im
Gegenteil: Seit einer Gesetzesverschärfung im Jahr 2014
kann jeder Widerspruch zur Politik der Herrscherfamilie als Terrorismus verfolgt werden. Im ersten Jahr der
Regentschaft des neuen Königs Salman sind mehr Menschen hingerichtet worden als in den 20 Jahren zuvor.
Bei den Frauenrechten hat sich nichts zum Positiven hin
verändert.
Auf diese Entwicklungen müssen wir Einfluss nehmen, Kolleginnen und Kollegen. Auch hier kommen wir
erneut zu Grau. Wir brauchen Saudi-Arabien, um die
Konflikte in der Region zu lösen. Nicht zuletzt bei den
Wiener Gesprächen zur Beendigung des Syrien-Konflikts werden Vertreter Riads mit am Tisch sitzen. Aber
gerade deshalb dürfen wir nicht wegsehen. Wir müssen
deutlich über die bestehenden Gesprächskanäle zum
Ausdruck bringen, dass die Entwicklung in diesem Land
nicht dazu führen wird, dass wir teilnahmslos an der
Seite stehen und wegschauen, wenn Menschen geköpft
und Menschenrechte missachtet werden. Gerade deshalb ist es gut, dass unser Außenminister Frank-Walter
Steinmeier die offenen Gesprächskanäle nutzt, um dies
auch an Saudi-Arabien weiterzugeben.
({1})
Ich sage es Ihnen noch einmal deutlich: Wegschauen,
Gespräche beenden und sich wegdrehen - das wäre genau das falsche Rezept.
Kolleginnen und Kollegen, der Scheideweg Saudi-Arabiens sollte für uns auch als Chance verstanden
werden, unseren begrenzten Einfluss zu nutzen, um positive Veränderungen zu befördern. Erste Schritte in diese
Richtung ist Bundeswirtschaftsminister Gabriel im vergangenen Jahr bereits gegangen. Rüstungskooperationen
wurden stark eingeschränkt. Und das ist auch gut so.
({2})
Diese Schritte waren gerechtfertigt und werden eine restriktive Linie zum Standard künftiger militärischer Kooperation machen. Auch hier, Kolleginnen und Kollegen,
dürfen wir das offene Wort nicht scheuen.
Deshalb noch ein weiteres offenes Wort. Lassen Sie
uns auch bei der Massenvernichtungswaffe Nummer
eins über weitere Schritte diskutieren, den Kleinwaffen. Die Bundesregierung hat hierzu erste Änderungen
eingebracht. Ich meine aber, es ist an der Zeit, einmal
grundsätzlich über dieses Thema nachzudenken und den
Export von Kleinwaffen aus Deutschland noch deutlicher
zu begrenzen - gerade in diese Region.
({3})
Zwischen Partnern muss es möglich sein, kritische
Punkte deutlich anzusprechen. Aber lassen Sie uns nicht
in ein Schwarz-Weiß-Denken verfallen. Erinnern Sie sich
daran, dass ich von Grautönen gesprochen habe. Jedwede
Kooperation auf militärischer Ebene abzubrechen, wird
unseren Einfluss weder in Riad noch in Ankara stärken.
Nutzen wir Kooperation dort, wo wir dadurch Einfluss
gewinnen und Positives bewirken können. Aber lassen
Sie uns Kooperationen überdenken, wenn dies nicht
mehr der Fall ist.
Die Welt ist nun einmal nicht einfach nur Schwarz
und Weiß. Eine verantwortungsbewusste Politik sollte
deshalb weder in Schwarz und Weiß denken, noch sollte
sie nach diesem zu einfachen Prinzip handeln. Man kann
es sich nämlich auch zu einfach machen. Verfolgen wir
besser auch weiterhin eine Politik des klugen Abwägens
und der wohlüberlegten Entscheidungen.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat jetzt die Kollegin Dagmar Wöhrl für die
CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wenn wir an Saudi-Arabien und die Türkei denken, denken wir auch an unsere sicherheitspolitische Strategie
sowie an jahrelange Kooperationen in diesem Bereich.
Die Türkei ist - das wissen wir - unser NATO-Partner.
Daher haben wir auch als Mitglied der NATO ein natürliches Interesse an der Stabilität der Süd-Ost-Flanke des
Bündnisses. Wir haben auch immer unseren Beitrag zur
Sicherheit geleistet. Das geschah auch durch die Stationierung des Patriot-Raketenabwehrsystems im Rahmen
der Mission Active Fence zum Schutz vor syrischen
Luftangriffen.
Zurzeit stellt uns die Türkei in unserer Funktion als
Mitglied der Anti-IS-Koalition den Luftwaffenstützpunkt
Incirlik zur Verfügung, von wo aus seit letzter Woche unsere Aufklärungstornados Richtung Syrien fliegen.
Leider gibt es aber auch die andere Seite. Das immer
aggressivere Verhalten der türkischen Sicherheitskräfte gegen die Kurden im Südosten der Türkei, also im
NATO-Raum, führt zu Instabilität. So legitim das Sicherheitsinteresse der Türkei in Bezug auf die Aktionen der
PKK auch sein mag, so hat es doch den Anschein, dass
bei Erdogan die Bekämpfung des IS nicht im Vordergrund steht, sondern dass dies als Rechtfertigung dafür
benutzt wird, um seine eigenen politischen Ziele durchzusetzen, ein weiteres autonomes Kurdengebiet wie im
Norden Iraks zu verhindern.
Wir müssen uns schon fragen: Warum ist es nicht
möglich, die syrische Grenze zu schließen, um den Nachschub an Kämpfern und auch den Nachschub an Ausrüstung nach Syrien hundertprozentig zu unterbinden?
({0})
Die Türkei hat sich als Transitland und in der Vergangenheit leider auch als Rückzugsgebiet für Dschihadisten zur
Verfügung gestellt.
({1})
Das heißt natürlich auch, dass inzwischen über
1 000 Schläfer allein in der Türkei zu finden sind. Daher
müssen wir auch als NATO-Bündnispartner Gespräche
mit der Türkei führen und sie auffordern, Eskalationen
im Kurdengebiet, Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung
zu unterlassen und die Verhandlungen mit der PKK wieder aufzunehmen.
Kommen wir zu Saudi-Arabien. Man muss sehen,
dass dieses Land in der Vergangenheit ein unverzichtbarer Partner zur Beilegung von Konflikten in dieser
Region war. Wir alle wissen, dass eine Beendigung des
Syrien-Konflikts, der jetzt schon über fünf Jahre andauert, bei dem über 280 000 Tote zu beklagen sind und der
zu Millionen von Flüchtlingen geführt hat, im Interesse
Deutschlands ist. Wir wissen auch: Um eine Beendigung
dieses Bürgerkrieges zu erreichen, brauchen wir die Kooperation mit Iran und mit Saudi-Arabien. Ich habe auch
Iran angesprochen, ein Land, das dem Regime Assad
Geld, Waffen und Truppen zur Verfügung stellt und somit dazu beiträgt, dass dieser brutale Krieg verlängert
wird. Nichtsdestoweniger sind diese beiden Partner unverzichtbar, wenn wir auf ein Ende dieses Bürgerkriegs
hinarbeiten.
Saudi-Arabien hat sich von Anfang an darum bemüht,
den Konflikt beizulegen. Es ist Mitinitiator der Allianz
gegen den IS. Das Land bekämpft den IS mit militärischen Luftschlägen und unterstützt die moderaten Oppositionsparteien durch Ausbildung auch im eigenen Land.
Eines dürfen wir nicht vergessen: Wir pflegen bezüglich
der Terrorbekämpfung eine enge Kooperation mit den
Geheimdiensten Saudi-Arabiens.
Ein anderer Punkt, der in diesem Zusammenhang zunehmend in Vergessenheit gerät: Hinter Saudi-Arabien
steht ein großer Teil der muslimischen Welt. Wenn der IS
im Rahmen seiner Propaganda erklärt, das Vorgehen des
Westens sei ein Kreuzzug gegen den Islam, dann wird
durch die Kooperation mit Saudi-Arabien der Beweis geführt, dass dieser Behauptung die Grundlage fehlt.
Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass in Saudi-Arabien Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Ich
glaube, jeder hier im Hause verurteilt das aufs Schärfste.
Aber wir wissen auch, dass die Eskalation zwischen Saudi-Arabien und Iran zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt
hätte kommen können. Hier zeigt sich uns eine hochexplosive Gemengelage. Die Gefahr nimmt zu, dass es zu
einer Intensivierung der zwei Stellvertreterkriege im Jemen und in Syrien kommen könnte.
Wir stehen vor schwierigen Zeiten. In Iran stehen
Wahlen vor der Tür. Bei diesen Wahlen wird auch der
Wächterrat für eine Zeit von acht Jahren neu gewählt.
Das heißt: Hier könnten die Hardliner kurz vor den Wahlen die Oberhand gewinnen, was nicht in unserem Interesse sein kann. Wenn wir heute sehen, wie schwierig
und langwierig der Weg zur Wiener Konferenz war, wie
schwierig es war, auch Iran und Syrien mit an den Verhandlungstisch zu bekommen, dann müssen wir darauf
achten, dass dieser Weg in der Zukunft nicht versperrt
wird.
Jetzt kommen die Genfer Verhandlungen. Zum ersten
Mal werden hoffentlich auch Vertreter der syrischen Regierung und die moderaten syrischen Oppositionellen mit
dabei sein. Da dürfen natürlich auch Iran und Saudi-AraThomas Hitschler
bien nicht fehlen. Ich glaube, das Schlimmste wäre, wenn
das Erreichte zunichtegemacht würde.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit!
Denn das wäre der größte Sieg, den der IS sich wünschen könnte.
Vielen Dank.
({0})
Abschließender Redner in dieser Aktuellen Stunde ist
der Kollege Dr. Johann Wadephul für die CDU/CSU.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Debatte hat einmal mehr deutlich gemacht, dass man außenpolitische Debatten mit der
Bereitschaft zur Differenzierung führen muss, zu der Sie,
Herr Kollege Gehrcke und Frau Kollegin Dağdelen, heute bedauerlicherweise erneut nicht in der Lage waren.
({0})
Das fängt schon da an - das ist mehrfach betont worden -, dass Sie die Debatte so gestalten, dass Sie zwei
Länder, zu denen wir unterschiedlich enge, zum Teil
partnerschaftliche, aber auch kritische Verhältnisse haben, in einen Topf werfen und eine gemeinsame Debatte
über den NATO-Partner Türkei und über Saudi-Arabien
führen wollen.
({1})
Nun bringen die ganze Debatte und Ihre Argumentation - gelegentlich auch die Argumentationen aus den
Kreisen von Bündnis 90/Die Grünen - die Unionsfraktion in eine eigentümliche Lage. Wir werden nämlich Verteidiger der Türkei, obwohl wir doch schon seit vielen
Jahrzehnten einen ziemlich realistischen Blick auf die
Türkei haben
({2})
und schon seit längerer Zeit vor allzu großer Euphorie
warnen, etwa wenn es um die Frage des EU-Beitritts
geht.
Aber die Türkei ist und bleibt zum jetzigen Zeitpunkt
bei allem, was man daran zu kritisieren hat, was derzeit
geschieht - ich sage gleich noch etwas dazu -, ein demokratischer Staat. Diejenigen, die dort handeln - ob sie uns
passen oder nicht; das gilt für den Präsidenten wie für die
Regierung -,
({3})
sind demokratisch gewählt,
({4})
und die Türkei ist - das sollte man nie vergessen über viele Jahrzehnte hinweg ein verlässlicher Partner
in der NATO gewesen. Herr Kollege Gehrcke, es mag
in Moskaus Interesse liegen, einen Keil zwischen die
NATO, zwischen den Westen, zwischen Europa und Ankara zu bringen. Unser Interesse ist es nicht, hier einen
Keil hineinzutreiben, sondern unser Interesse ist, Irritationen auszuräumen und die Türkei an die Wertewelt Europas heranzuführen und daran zu binden.
({5})
Es verlangt in der Tat, dass man auch das kritisch anspricht, was in den Kurdengebieten geschieht. Ich habe
mich auch kürzlich mit Vertretern der HDP getroffen und
kann das nur unterstützen. Es ist vollkommen klar, und es
gehört auch zur Notwendigkeit deutscher Außenpolitik,
dass man artikuliert, was dort schiefläuft.
Aber es gehört auch dazu - das haben Sie heute vermissen lassen -, dass man auch das, was die PKK an
Terror macht, kritisiert. Seien Sie bitte nicht auf diesem
Auge blind, liebe Kolleginnen und Kollegen der Linksfraktion!
({6})
Ich finde, dass man die Rolle Saudi-Arabiens davon
deutlich unterscheiden muss und dass es selbstverständlich für die deutsche Außenpolitik ist, Saudi-Arabien als
einen Partner zu betrachten, mit dem man in der Tat in
vielen Punkten kritische Debatten zu führen hat. Dass das
aktuell mehr zu geschehen hat als in der Vergangenheit Sie haben den Jemen-Krieg und auch die Todesurteile erwähnt -, ist vollkommen richtig. Das geschieht auch. Ich
folge dabei der gestern vom Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses in diesem Hause formulierten These: Je
mehr die Außenpolitik für die innenpolitische Debatte in
Deutschland an Bedeutung gewinnt, desto mehr müssen
wir unser außenpolitisches Handeln auch vor dem Hintergrund unserer Werte den Menschen in Deutschland
erklären. Diese These ist richtig. Das sollten wir machen,
und das geschieht in Deutschland auch.
Vor diesem Hintergrund ist es absolut richtig, dass
Bundesaußenminister Steinmeier auf seiner letzten Reise
nach Riad, an der auch einige Kolleginnen und Kollegen
teilgenommen haben, als Erstes mit Menschenrechtlern
und mit Frauen gesprochen hat, die sich in diesem System unter schwierigsten Voraussetzungen dafür einsetzen, dass die Menschenrechtslage und die Lage der Frauen besser werden.
Deswegen ist es richtig - Kollege Annen hat gestern
skizziert, was das Festival bewirken kann -, dieses Festival zu besuchen und dafür zu sorgen, dass in der saudischen Gesellschaft und Politik auch unsere Werte Platz
haben. Das macht die Bundesregierung, und darin sollten
wir sie unterstützen.
({7})
Ich habe aber zum Teil bei einigen Kritikpunkten den
Eindruck gehabt, als läge es im deutschen oder internationalen Interesse, einen Regime-Change in Saudi-Arabien herbeizuführen.
({8})
Herr Kollege Gehrcke, um das einmal grundsätzlich klarzustellen: Es sollte nie Ansatz unserer Politik sein, für
einen Regimewechsel in einem anderen Land - mit welchen Mitteln auch immer - zu sorgen.
({9})
Da hat sich Deutschland immer zurückgehalten. Das
sollte nicht unsere Politik sein. Wenn Sie diesen Ansatz
verfolgen sollten, fände ich es gut, wenn Sie das hier offen einräumten.
Bei allem, was wir an Saudi-Arabien zu kritisieren
haben - da gibt es sehr viel; das steht außer Frage -, sollten Sie die grundlegend stabilisierende Rolle, die dieses
Land innehat - darauf ist schon in der gestrigen Debatte
hingewiesen worden -, nicht unterschätzen. Herr Kollege Nouripour, Saudi-Arabien unterscheidet sich in einem
wesentlichen Punkt vom Iran. Der Iran erkennt Israel
nicht nur nicht an - das sollte Deutschland nicht vergessen -, sondern verfolgt nach wie vor auch eine Politik,
die letzten Endes auf die Eliminierung Israels ausgerichtet ist. Das ist ein zentraler Unterschied, den wir in der
außenpolitischen Gewichtung berücksichtigen sollten.
({10})
- Entschuldigung, das habe ich nicht gesagt.
({11})
Sie haben das mögliche deutsche Verhältnis zu den beiden erwähnten Staaten auf ein Niveau gestellt. Das finde
ich falsch, weil es einen gewichtigen Unterschied zwischen beiden Ländern gibt. Der Iran will die Existenz
Israels aufheben bzw. zumindest angreifen. Hier ist die
deutsche Rolle sicher und klar. Wir stehen an der Seite
Israels. An dieser Stelle gibt es auch die Unterstützung
Saudi-Arabiens. Das sollten wir berücksichtigen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({12})
Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung und Erweiterung der Beteiligung
bewaffneter deutscher Streitkräfte an der
Multidimensionalen Integrierten Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Mali
({0}) auf Grundlage der Resolutionen
2100 ({1}), 2164 ({2}) und 2227 ({3}) des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
25. April 2013, 25. Juni 2014 und 29. Juni 2015
Drucksache 18/7206
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({4})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
höre ich keinen. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort für
die Bundesregierung der Bundesministerin Dr. Ursula
von der Leyen.
({5})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wenn wir in diesen Tagen über Einsätze der Bundeswehr sprechen, dann geht es meistens um Syrien und
Irak. Die Region zwischen Euphrat und Tigris sowie
Mali am Oberlauf des Niger haben auf den ersten Blick
nicht viel gemeinsam. Aber viele Orte in diesen Ländern
teilen das gemeinsame tragische Schicksal - schauen wir
nur auf die Stadt Sindschar im Irak und die vielen namenlosen kurdischen Dörfer im Nordosten Syriens sowie
auf die Stadt Gao in Mali -, dass sie wochen- und monatelang in der Hand radikal-islamistischer Terroristen
gewesen sind. Nach der Rückeroberung dieser Gegenden
zeigen sich Bilder des Schreckens, und die geschundene
Bevölkerung erzählt von bestialischen Grausamkeiten,
die ihr widerfahren sind.
Auch die Wüstenstädte Hatra im Irak und Palmyra in
Syrien teilen eine traurige Gemeinsamkeit mit dem sagenumwobenen Timbuktu in Mali. Hier wurden willentlich unschätzbare Kulturgüter zerstört, sei es von Daesh,
Ansar Dine oder al-Qaida im Maghreb. Die Terroristen
mögen verschiedene Namen tragen. Aber eines haben
sie gemeinsam: Sie kennen keine Gnade. Sie sind hemmungslos in ihrer Zerstörungswut gegen Menschen, aber
auch gegen Kulturgüter. Die Terroristen zu bekämpfen,
heißt deshalb, ihnen mit Waffengewalt entgegenzutreten
und ihnen auch den Nährboden zu entziehen. Ganz oben
stehen dabei Aufbauhilfe und Aussöhnung. Es sind die
politischen Prozesse und der Aufbau funktionierender
staatlicher Strukturen, die darüber entscheiden, ob sich
die Bevölkerung von den Terroristen abwendet. Es muss
für die Bevölkerung erfahrbar sein, dass es ihnen ohne
Terroristen und Rebellen besser geht. Genau darum geht
es in diesem Mandat.
Seit dem Waffenstillstand vom letzten Sommer besteht
die leise Hoffnung, dass sich die Versöhnung zwischen
den Rebellen und der Regierung in Mali entwickelt. Auch
die Tuareg-Gruppen sind dazu jetzt bereit; das haben sie
mir bei meinem letzten Besuch in Mali bestätigt. Aber es
braucht noch ganz viel Engagement, übrigens auch Engagement der malischen Regierung, wenn ich das sagen
darf. Es braucht vor allem Schutz vor denen, die genau
diesen Friedensprozess nicht wollen und ihn torpedieren
wollen. Es braucht Schutz vor den Terrorbanden, aber
auch vor der organisierten Kriminalität, die alles tut, damit es keinen Frieden in Mali gibt, damit sie ungestört
ihren Handel mit Menschen, mit Waffen und mit Drogen
fortsetzen kann.
MINUSMA hat den Auftrag, diesen Waffenstillstand
zu überwachen und die Umsetzung des Friedensabkommens zu begleiten; aber MINUSMA muss dazu auch
in die Lage versetzt werden. Es fehlt dieser Mission
vor allem an Aufklärung. Darum sind wir bereit, unser Engagement in Mali bei MINUSMA zu verstärken.
MINUSMA ist eine große Mission mit circa 11 000 Soldatinnen und Soldaten; aber es fehlt ihr insbesondere an
Hochtechnologie, es fehlt ihr an Technik, an Logistik,
an Aufklärung. Wir selber hatten bisher bei MINUSMA
de facto nur einige wenige Soldatinnen und Soldaten in
den Stabsstellen in Bamako. Mit dem neuen Mandat sollen 500 Soldatinnen und Soldaten bis zum Sommer in
Mali sein; die Obergrenze liegt bei 650. Es sind Aufklärer und die dazu notwendigen Schutzkräfte, Logistiker,
Sanitäter sowie Personal für den Lufttransport und mehr
Stabspersonal.
Zentraler Bestandteil dieser erweiterten Mission sollen die neuen Fähigkeiten werden, die wir einbringen, die
Drohnen. Es ist das System LUNA, das wir einbringen
werden. Sie wissen, dass die LUNA kleinere Bereiche von
rund 80 Kilometern in der Aufklärung überblicken kann.
Deshalb prüfen wir, ob wir im Herbst auch die Heron I
nach Mali bringen können. Es geht uns nämlich darum,
dass wir nicht nur die strategisch wichtigen Ballungszentren um Gao und Gao selber, wo viele Menschen leben,
sondern auch die Verbindungsachsen zwischen den großen Städten überwachen können. Das betrifft die Städte
Kidal und Timbuktu und die Verbindungen nach Gao. Es
geht darum, dass wir auch dort Aufklärung haben.
Meine Damen und Herren, der Einsatz in Mali ist
wichtig. Es ist ein größerer Einsatz, es ist ein gefährlicher Einsatz; aber er hilft dem Land. Er hilft auch unseren eigenen Sicherheitsinteressen, weil er den Terror
eindämmt, aber auch deshalb, weil Mali ein entscheidendes Herkunfts- und Transitland bei Fluchtbewegungen
ist. Dieser Einsatz stärkt die Vereinten Nationen, und er
ist praktisch geübte europäische Solidarität; denn mit unserem größeren Engagement entlasten wir auf die Dauer nicht nur die Niederländer, sondern vor allem unsere
französischen Freunde. Deshalb bitte ich das Haus um
Unterstützung.
Vielen Dank.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Niema Movassat für
die Fraktion Die Linke.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, Sie haben hier vieles gesagt; aber eines haben
Sie verschwiegen, nämlich dass Sie deutsche Soldaten in
ein Kriegsgebiet schicken wollen.
({0})
Die Bundeswehrbeteiligung an der UN-Mission
MINUSMA in Mali wird massiv ausgeweitet. Bis zu
650 Soldaten können Sie schicken. Das wird der größte laufende Afrikaeinsatz der Bundeswehr werden. Die
Soldaten sollen jetzt auch in die Kampfgebiete im Norden Malis entsendet werden. Damit wird Deutschland
endgültig Kriegspartei in Mali, und die Linke wird dazu
Nein sagen.
({1})
Bisher ist die Bundeswehr in Mali in der Ausbildung
von Soldaten und in der Betankung von Flugzeugen
aktiv gewesen. Doch nun wird dieser Einsatz zu einem
Kampfeinsatz. Der Wehrbeauftragte, Herr Dr. Bartels,
hat den Charakter dieses neuen Mali-Mandats präzise
beschrieben. Er sagte:
Es ist … eine gefährliche Mission, vergleichbar
mit Afghanistan zur Zeit des Kampfeinsatzes der
NATO …
Es müssen doch hier im Haus alle Alarmglocken schrillen, wenn man so etwas hört.
({2})
Wir alle haben im Afghanistan-Krieg erlebt und erleben immer noch, wie trotz jahrelanger Militärintervention die Taliban immer stärker werden, wie 55 Bundeswehrsoldaten ums Leben kamen, wie 20 000 bis
40 000 afghanische Zivilisten Opfer des Krieges wurden.
Trotzdem will die Bundesregierung eine Ausweitung des
Mali-Einsatzes - als hätte es Afghanistan nie gegeben.
Lernen Sie doch einmal ausnahmsweise aus Ihren Fehlern!
({3})
Sie reden sich damit heraus, die deutschen Soldaten
seien an der Terrorbekämpfung nicht direkt beteiligt; fürs
Grobe sei nicht MINUSMA zuständig, sondern Frankreich mit seiner eigenen Antiterrormission Barkhane.
Wollen Sie uns eigentlich für dumm verkaufen? In Afghanistan war es doch ganz genauso: Die US-geführte
Operation Enduring Freedom war für die Kriegsführung
zuständig; die NATO-Mission ISAF, an der die Bundeswehr stark beteiligt war, sollte sich dagegen nicht direkt
an Kampfhandlungen beteiligen. Am Ende stand ISAF
mitten im Krieg. Man kann MINUSMA eben nicht von
der Antiterrorbekämpfung trennen.
({4})
Wer Soldaten in ein Kriegsgebiet schickt, der wird dort
am Ende auch Krieg führen.
({5})
Seien Sie deshalb ehrlich zur Bevölkerung, und erzählen
Sie nicht dieselben Märchen wie im Afghanistan-Krieg.
Aber Ehrlichkeit gehört ohnehin nicht zu den Stärken
der Bundesregierung. So behaupten Sie, dieser Bundeswehreinsatz diene vor allem der strukturellen Bekämpfung von Fluchtursachen.
({6})
Seit wann dienen Militäreinsätze dazu, Fluchtursachen
zu bekämpfen?
({7})
Libyen wurde vom Westen in Schutt und Asche gelegt.
Über welches nordafrikanische Land kommen sehr viele
Flüchtlinge? Über Libyen. Der Irak wurde durch den USKrieg völlig destabilisiert. Wo kommen viele Flüchtlinge
her? Aus dem Irak. In Afghanistan war und ist die Bundeswehr seit Jahren, und auch von da kommen sehr viele
Flüchtlinge. Kriege beenden eben keine Fluchtursachen.
Kriege sind Fluchtursache Nummer eins.
({8})
Fangen Sie endlich einmal an, Fluchtursachen zu beseitigen. Dazu muss man die Ursachen von Krieg bekämpfen. Dazu gehört der Kampf gegen Hunger, Elend, Armut, und dazu gehört auch, werte Bundesregierung, dass
Sie die Waffenexporte in alle Welt, die Deutschland vornimmt, endlich stoppen.
({9})
Ein Problem bei MINUSMA ist die strategische Ausrichtung. Die UN-Truppe hat den Auftrag, die malische
Regierung darin zu unterstützen, die volle Kontrolle über
das Land zurückzugewinnen. Gleichzeitig hat sie den
Auftrag, neutraler Vermittler zwischen den Konfliktparteien zu sein, zu denen auch die malische Regierung gehört. Man kann aber nicht einerseits neutral sein und andererseits Land zurückgewinnen wollen. MINUSMA ist
in einem Spannungsfeld, und das führt immer wieder zu
Konfrontationen mit der Zivilbevölkerung. So kam es in
der malischen Stadt Gao zu Protesten gegen MINUSMA.
Dabei erschossen UN-Truppen drei Zivilisten. Sie schicken die Bundeswehr in ein Pulverfass, und das ist komplett verantwortungslos.
({10})
Die Bundesregierung behauptet, dieser Bundeswehreinsatz diene der Stabilisierung Malis. Aber wir sehen
doch, dass Mali immer instabiler wird, dass selbst der
Süden des Landes nicht mehr sicher ist, und das trotz der
massiven Militärpräsenz.
({11})
Die Ausweitung des Einsatzes wird 36 Millionen Euro
pro Jahr kosten. Diese 36 Millionen Euro könnten zur
Stabilität beitragen, wenn man sie richtig einsetzen
würde, wenn das Geld zur Armutsbekämpfung und zur
strukturellen Entwicklung des völlig abgehängten Nordens Malis ausgegeben werden würde. Ein UN-Bericht
kommt zu dem Ergebnis, dass im Norden des Landes viele Schulen seit drei Jahren geschlossen sind.
({12})
Die Armut ist riesig. Es gab schon fünf Tuareg-Aufstände. Nur ein echter innermalischer Dialog, ziviler Wiederaufbau und eine Beteiligung der breiten Bevölkerung am
Rohstoffreichtum können einen sechsten Aufstand verhindern.
Die deutsche Strategie für Mali geht einen gefährlichen Weg, nämlich den einer Kriegsbeteiligung, den des
Krieges gegen den Terror. Zu dieser militärischen Logik
werden wir als Linke Nein sagen.
({13})
Das Wort hat jetzt der Kollege Rainer Arnold für die
SPD.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linken behaupten immer wieder, militärische Einsätze
hätten keine Wirkung oder verschlimmerten gar die Situation. Machen wir doch einmal einen Faktencheck zu
Mali.
({0})
Schauen Sie einmal zurück auf das, was in Mali los
war: Viele Jahre lang gab es im Norden des Landes
rechtsfreie Räume mit kriminellen Bewegungen, die
auch uns bedrohen.
({1})
Dann gab es einen Vormarsch einer Verbindung von Tuareg-Rebellen und Al-Qaida-Ablegern und weiteren kriminellen Energien auf die Hauptstadt Bamako.
({2})
Ich sage Ihnen: Ohne das Engagement Frankreichs und
der Staatengemeinschaft hätten wir heute Terroristen in
Bamako
({3})
und einen weiteren zerfallenden Staat wie beispielsweise
Somalia, wodurch auch unser Leben und unsere Sicherheit bedroht wären. Was mit den Menschen in Mali passiert wäre, daran darf man gar nicht denken. Dieser Einsatz hat solche Entwicklungen zunächst einmal gestoppt.
({4})
Dann gab es Friedensverhandlungen, und es kamen
Hilferufe der legitimen malischen Regierung an die UN
und an unsere französischen Freunde. Deutschland hat
diesen Einsatz von Anfang an logistisch unterstützt und
leistet Ausbildungsunterstützung im Süden des Landes.
Alle Menschen in Mali sagen: „Wir wollen hier Deutschland sehen“, weil Deutschland traditionell sehr gute Bindungen zur malischen Gesellschaft hat. Dies ist die Wirklichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Wir wissen gleichzeitig: Natürlich kann militärische
Intervention die Probleme nicht strukturell überwinden;
({5})
aber sie schafft ein Zeitfenster, und dieses Zeitfenster
wurde in Mali zum Glück genutzt für den zivilen Aufbau, für den Aufbau von Polizei, für Beratung der Regierung, besser zu regieren, Korruption zu bekämpfen.
Dieses Zeitfenster wurde vor allen Dingen genutzt, um
in diesem Land einen Friedens- und Versöhnungsprozess
einzuleiten. Der ist angesichts der Geschichte schwierig.
Es dauert, bis Menschen sich wieder vertrauen. Das ist
ganz eindeutig.
Jetzt sagen Sie, Deutschland würde zur Kriegspartei.
({6})
Nehmen Sie doch bitte einmal zur Kenntnis, dass wir Teil
einer UN-Mission sind,
({7})
die exakt die Aufgabe hat, diesen Friedens- und Versöhnungsprozess, übrigens mit einem klugen Fahrplan - der
liegt vor -, zu befördern und zu begleiten. Davon ist
Deutschland ein Teil. Ich weiß nicht, was linke Politik
sein soll,
({8})
wenn Sie Deutschland, wenn es um das Gewaltmonopol
der Vereinten Nationen geht, als politische Kriegspartei
bezeichnen. Wer, wenn nicht die Vereinten Nationen hat
dafür die Legitimation?
({9})
Jetzt sind wir in der Situation, dass uns Partner und
die UN seit langem bitten, mehr zu tun. Deutschland hat
sich entschieden, mehr zu leisten, und zwar dort, wo den
Vereinten Nationen Fähigkeiten fehlen. Wir wissen seit
langem, dass die Industriestaaten, in West und in Ost übrigens, die UN ziemlich im Stich lassen, vor allen Dingen
bei technologischen Fähigkeiten, insbesondere bei dem,
was Deutschland jetzt schwerpunktmäßig liefert, nämlich Aufklärungsfähigkeiten. Von den über 90 000 Soldaten in internationalen UN-Missionen kommen circa
130 aus Deutschland. Da können wir, glaube ich, schon
noch mehr machen, wenn wir die UN in ihren Aufgaben
wirklich stärken wollen, und wir Sozialdemokraten wollen dies.
Es gibt viele gute Gründe, sich in Mali zusätzlich zu
engagieren. Die UN sind ein Grund. Der zweite Grund ist
natürlich die Solidarität mit unserem französischen Partner als engstem Verbündeten im schwierigen Europa, das
darauf angewiesen ist, dass Deutschland und Frankreich
den Karren weiter ziehen. In dieser Situation ist Solidarität mit unseren französischen Freunden auch sichtbar zu
machen, nicht nur mit Schönwetterreden, sondern auch
mit Taten.
({10})
Wir haben mit den Niederländern eine extrem ausgeprägte militärische Kooperation. Die Entlastung, die es
in Mali gibt, erfolgt in erster Linie bei unseren niederländischen Freunden. Wer europäische Sicherheitspolitik im
Alltag befördern will, der muss in solchen Fragen auch
den Praxistest bestehen und darf, wenn er gerufen wird,
nicht von vornherein, wie es die Linken immer tun, Nein
sagen.
Nicht zuletzt geht es um die Menschen in Mali. Eine
aktuelle Umfrage - sie wurde in diesen Tagen veröffentlicht - besagt: Über 90 Prozent sehen in ihrem Land Sicherheit und Stabilität als Hauptproblem und als zweites
großes Problem die hohe Arbeitslosigkeit. - Die Menschen in Mali wissen im Gegensatz zu den Linken, dass
beides zusammengehört. Ohne Sicherheit wird es keine
wirtschaftliche Entwicklung geben. Deshalb ist alles,
was wir tun, auch immer eine Hilfe für den zivilen Aufbau. Unabhängig davon ist Mali ein wichtiges Zielgebiet
für deutsche wirtschaftliche Zusammenarbeit.
({11})
Wir tun hier sehr viel.
Ich sage ganz deutlich: Der Vergleich von Mali und
Afghanistan, den manche in den letzten Wochen gezogen
haben, hinkt nun wirklich.
({12})
Mali ist nicht Afghanistan, weder politisch noch zivilgesellschaftlich noch von der Gefahr für die Soldaten
her noch ökonomisch. Aber in einem Punkt stimme ich
den Skeptikern zu: Aus den Erfahrungen in Afghanistan
muss man für Mali lernen. Wir stimmen diesem Mandat aus Überzeugung zu, unter einer Voraussetzung: Es
darf nicht, wie es einige Jahre in Afghanistan der Fall
war, zu parallelem Arbeiten von militärischen und zivilen Strukturen kommen. Wir müssen vom ersten Tag an,
an dem wir im Norden mehr Engagement zeigen, dies in
Mali sichtbar verzahnen, indem auch Deutsche in wichtigen Funktionen der multinationalen Stäbe arbeiten. Wir
müssen auch hier in Deutschland als Parlament und als
Bundesregierung dafür sorgen, dass alle Ressorts, die für
die Entwicklung in Mali Verantwortung tragen, zusammenarbeiten, sich gut koordinieren und gut miteinander
kommunizieren. Unter dieser Voraussetzung ist es nicht
nur ein verantwortbarer, sondern auch ein notwendiger
Einsatz.
Nun wird von den Risiken gesprochen. Ich will sie
nicht verniedlichen. Militärische Einsätze sind nicht
ohne Gefahr. Sonst würden wir keine Soldaten dorthin
schicken. Die hohe Zahl der Opfer von MINUSMA-Soldaten ist traurig und tragisch, hat aber bei einer genauen
Betrachtung auch etwas damit zu tun, dass die Soldaten von MINUSMA teilweise schlecht ausgebildet und
im Großen und Ganzen auch sehr schlecht ausgestattet
sind. Wenn wir deutsche Soldaten dorthin schicken, haben die Soldaten, die die Gesprächsaufklärung auf der
Straße leisten müssen - das sind diejenigen, die gefährdet
sind; die anderen weniger -, den bestmöglichen Schutz.
Mit diesem Schutz können sie den normalen Gefahren
in Mali widerstehen. Aber niemand kann zusagen, dass
keine Gefahren bleiben, wenn Soldaten tun, was sie tun
müssen, nämlich mit den Menschen auf dem Marktplatz
und in den Häusern reden. Aber wir schätzen die Gefahren so ein, dass wir sie verantworten können. Wir reden
auch nicht drum herum. Deswegen können wir hinsichtlich der Sicherheit für die deutsche Bundeswehr mit gutem Gewissen sagen: Ja, das ist verantwortbar. Wir bitten
das Parlament, dem zuzustimmen.
Herzlichen Dank.
({13})
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt,
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
einen guten Vorsatz für das neue Jahr hatte ich mir eigentlich auch vorgenommen, mich in diesem Jahr nicht
aufzuregen, wenn jemand von der Linksfraktion sagt, die
UNO hätte nicht in Mali intervenieren sollen, sie solle
sich da raushalten und am besten abziehen. So habe ich
Sie verstanden, lieber Kollege Movassat. Ich schaffe es
aber einfach nicht, diesen Vorsatz einzuhalten.
({0})
Es war völlig richtig, dass die UNO in Mali interveniert hat, als nach dem Vormarsch der Islamisten und
Frankreichs unilateralem Gegenschlag der Staat vor einem möglichen Zusammenbruch stand. Was soll denn
anderes unsere politische Antwort sein, als zu sagen, dass
die Vereinten Nationen dann die Verantwortung übernehmen müssen? Das ist doch ein zentrales Element unserer
Politik, wie wir internationale Verantwortung organisieren wollen. Eigentlich hatte ich Sie immer so verstanden,
dass auch Sie das wollen.
({1})
Dann kann man aber doch nicht sagen, das Problem sei,
dass sie da sind und versuchen, im Norden die Situation zu bewältigen. Das allein beherrschende Element ist
eben nicht ein Konflikt zwischen der Zentralregierung
und Kämpfern im Norden, die für Autonomie oder Unabhängigkeit sind. Vielmehr kämpfen im Norden verschiedene Rebellengruppen gegeneinander, sodass eine ganz
unübersichtliche Lage entstanden ist. Die UNO versucht
jetzt, zum Erreichen eines politischen Friedensprozesses,
wofür es ja ein politisches Gesamtkonzept gibt, zwischen
diesen Gruppen zu vermitteln - deswegen die Verhandlungen in Algier, deswegen die Schritte zu einem Friedensvertrag - und das auch militärisch abzusichern. Das
ist doch die zentrale Aufgabenstellung.
({2})
Das mit der Lage in Afghanistan zu vergleichen, wird der
Sache überhaupt nicht gerecht. Das verballhornt die politische Situation in Mali. Sie ist dort nun einmal anders.
Die entscheidende Frage ist: Ist das, was die UNO
versucht, richtig, und wollen wir sie unterstützen? Da
eiern Sie immer herum. Sie sagen nie klar, dass Sie die
UNO unterstützen wollen. Sie vermeiden es aber auch,
zu sagen: Raus mit der UNO. - Sie müssen einmal klären, was Sie an diesem Punkt eigentlich wollen.
({3})
Die militärischen Fronten sind kompliziert und unübersichtlich. Man muss auch klar sagen - das ist natürlich mit ein Teil des Problems -, dass immer wieder viele
Menschen im Norden vor diesen Kämpfen flüchten müssen. Die humanitäre Not ist groß. Wir dürfen da nichts
schönreden. Aber auch hier ist die Antwort, dass wir in
dieser Situation Sicherheitskräfte der Vereinten Nationen
brauchen.
Es ist auch völlig richtig, wenn man darauf hinweist,
dass es in den letzten zwei Jahren immer wieder zu
schweren Rückschlägen bei dem Friedensprozess gekommen ist. Das müssen wir - da stimme ich Ihnen zu der Bevölkerung in Deutschland auch klar sagen: Der
Einsatz in Mali gilt zu Recht als einer der gefährlichsten UN-Einsätze, die es momentan gibt. Die Blauhelme
sind dort schon mehrfach aufgrund ungenügender Aufklärung zwischen die Fronten geraten. Wir müssen auch
die Zahlen nennen. In den letzten zweieinhalb Jahren hat
es 68 tote Blauhelmsoldaten gegeben. Das ist mit der
höchste Blutzoll, den die UNO bei einem friedensvermittelnden Einsatz bisher bezahlt hat. Das ist dramatisch. Im
letzten Jahr gab es einen verheerenden Anschlag auf ein
Hotel in Bamako. Auch darüber muss man sprechen.
Aber trotz all dieser Schwierigkeiten ist die UNO
entscheidend vorangekommen. Sie hat es inzwischen
geschafft, fast alle bewaffneten Gruppen zu Friedensverhandlungen an einen Tisch zu bekommen. Sie hat es
geschafft - mit einigen Rückschritten zwischendurch -,
dass ein Friedensvertrag unterzeichnet worden ist, der
ein wichtiger Schritt in die Richtung ist, von einem Waffenstillstand zu einem dauerhaften Frieden zu kommen.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass einige Splittergruppen im Land den Waffenstillstand immer wieder
brechen und dass bewaffnete Islamisten aus den Nachbarländern immer wieder versuchen, von dort aus zu
intervenieren. Aber die weitere Umsetzung dieses Friedensprozesses, für den es ein politisches Gesamtkonzept
gibt und der vorangekommen ist, kann in dieser Lage
natürlich nicht ohne die Absicherung durch eine starke
und auch militärisch robuste Präsenz der UNO im Land
gelingen.
({4})
Es ist wirklich klar sichtbar, dass dieser Einsatz der
Blauhelme geholfen hat, eine politische Lösung im Norden durchzusetzen und zu implementieren. Das zentrale
Element ist doch immer, dass wir sagen: Es muss einer
politischen Lösung dienen. - Das unterscheidet die Situation in Mali ganz deutlich von der Situation in vielen anderen Ländern, in denen die UNO präsent ist. Das heißt,
das ist eine sinnvolle UN-Mission. Wir als Grüne haben
sie von Anfang an unterstützt. Wir finden es auch richtig,
wenn Deutschland sich in dieser durchaus gefährlichen
Lage stärker engagiert und wenn die Bundeswehr dort
Aufgaben von den Niederländern übernimmt, aber auch
unsere französischen Partner entlastet, gerade im Bereich
der Aufklärung, deren Schwächen mit dazu beigetragen
haben, dass es so viele tote UN-Soldaten zu beklagen
gibt. In diesem Bereich können wir die Unterstützung
leisten, die dort so dringend benötigt wird.
Noch einmal: Wir wissen, wie gefährlich dieser Einsatz ist. Aber es gibt eben im Fall Malis, anders als in
vielen anderen Fällen, eine Chance auf einen dauerhaften
Frieden - es gibt ein politisches Gesamtkonzept für den
Frieden, zumindest für den Norden; ich weiß, dass es gerade bei der Frage des Staatsaufbaus auch viele Probleme
im Süden gibt -; aber diese Chance darf nicht verspielt
werden. Es hätte Folgen für den gesamten Norden Afrikas und die Sahelzone, wenn die Vereinten Nationen dies
zuließen. Deswegen werbe ich für die Zustimmung zu
diesem erweiterten Mandat.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Peter
Beyer.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Heute diskutieren wir nicht nur über die Fortsetzung,
sondern zum ersten Mal auch über eine substanzielle
Ausweitung der deutschen Beteiligung an MINUSMA.
Bislang ist der Einsatz bei allen Schwierigkeiten, die
es dort zu verzeichnen gibt, durchaus als erfolgreich zu
bewerten. Die Sicherheitslage hat sich seit Beginn der
UN-Stabilisierungsmission MINUSMA verbessert. Auch
politisch ist Mali seit den Präsidial- und Parlamentswahlen im November und Dezember des Jahres 2013 auf einem Weg zurück zur Stabilität, und das ist ja das Ziel,
das es zu erreichen gilt. Letztes Jahr konnte durch Vermittlung von Algerien ein Friedensvertrag geschlossen
werden, dessen Umsetzung vorangeht, aber immer noch
viel zu langsam.
Wichtig ist: Der Bundeswehreinsatz ist lediglich ein
Element eines umfassenden Ansatzes der Bundesregierung für Mali im Rahmen eines vernetzten Ansatzes mit
unterschiedlichen Instrumenten der Entwicklungs-, der
Außen- und der Sicherheitspolitik. Hier, Herr Kollege Movassat, möchte ich auch Sie noch einmal darauf
hinweisen - so wie mein Vorredner, Herr Dr. Schmidt,
das dankenswerterweise schon gemacht hat -, eben nicht
auszublenden, dass es letztlich nicht nur um ein Engagement im Rahmen von MINUSMA geht, sondern auch darum, dass Deutschland im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit vereinbart hat, in den nächsten drei Jahren
Mittel in Höhe von 74 Millionen Euro zur Verfügung zu
stellen. Das ist, glaube ich, etwas, was wir an dieser Stelle auch einmal erwähnen sollten.
({0})
Mit den Zusagen wird die Zusammenarbeit hinsichtlich
der Schwerpunkte Dezentralisierung, gute Regierungsführung, nachhaltige Landwirtschaft sowie Wasserversorgung und Abwasserentsorgung fortgesetzt.
Für einen Erfolg des Friedensabkommens werden die
innermalische Versöhnung und Aussöhnung entscheidend sein, durch die traditionelle und durch den Konflikt erst neu hervorgerufene Gräben in der malischen
Bevölkerung überwunden werden sollen. Nur so kann
innergesellschaftliche Stabilität geschaffen werden. Damit dies gelingt, muss sich die Sicherheitslage, die vor
allem im Norden des Landes noch als volatil zu bewerten
ist, noch viel spürbarer verbessern. So mussten die für
Oktober vergangenen Jahres angesetzten Regionalwahlen aufgrund der schlechten Sicherheitslage im Norden
abermals verschoben werden. Ihre baldige Durchführung
bleibt von entscheidender Bedeutung.
Der Mission MINUSMA kommt bei der Sicherung
und Stabilisierung des Landes und somit auch bei der Begleitung und Umsetzung des Friedensabkommens weiterhin eine entscheidende Rolle zu, die von der malischen
Regierung nicht nur gewünscht, sondern auch gefordert
wird. Bislang hat sich Deutschland mit 150 Soldatinnen
und Soldaten beteiligt, und zwar in den Führungsstäben
der Mission, bei den Verbindungsoffizieren, beim taktischen Lufttransport und mit Luftbetankungsfähigkeiten. Dies soll fortgeführt werden. Als Erweiterung der
deutschen Beteiligung sollen ab Februar dieses Jahres
eine verstärkte gemischte Aufklärungskompanie, Objektschutzkräfte und erforderliche Einsatz-, Logistik-,
Sanitäts- sowie Führungsunterstützungskräfte sowie
ein erhöhter deutscher Personalanteil in den Stäben der
Hauptstadt Bamako und im Norden Malis in Gao gestellt
werden. Dazu werden 500 Soldatinnen und Soldaten benötigt.
Es ist die Wahrheit, wenn der Wehrbeauftragte erklärt, dass dies zurzeit der gefährlichste UN-Einsatz ist.
Vor allem im Norden des Landes - das haben wir gerade
schon in den Reden gehört - kommt es immer wieder
zu Angriffen islamistischer Rebellen, auch auf die internationalen Truppen. Rund 70 Blauhelmsoldaten sind in
den vergangenen drei Jahren dabei getötet worden. Es ist
ein Einsatz in einem Gebiet, in dem sich verschiedene
bewaffnete Gruppen im Konflikt miteinander befinden.
Die UN haben dort keinen Kampfauftrag, müssen sich
aber selbst schützen können. Deshalb ist es wichtig, sich
dort stark aufzustellen. Dies können die 500 zusätzlichen
Soldatinnen und Soldaten leisten.
Trotz der Gefahr ist der Einsatz auch in seiner erweiterten Form wichtig und richtig. Deutschland demonstriert dadurch nicht nur seine Bündnisfähigkeit gegenüber
seinen Partnern, sondern unterstützt die Bemühungen der
Vereinten Nationen zur Schaffung von Stabilität und zur
Förderung des politischen Prozesses substanziell.
Der Einsatz hat auch über Mali hinaus Auswirkungen. Die Stabilisierung Malis und der Region ist nicht
nur zentraler Bestandteil der deutschen Afrikapolitik. Sie
besitzt vielmehr Strahlkraft auf die Lage im weiteren Sahel-Raum, in Libyen und bei den regionalen Nachbarn.
Die Beteiligung an MINUSMA ergänzt auch sehr gut den
deutschen Beitrag an EUCAP Sahel Mali und an der militärischen Ausbildungs- und Beratungsmission EUTM
Mali. Die Beteiligung an der UN-Mission MINUSMA
bleibt somit ein wichtiger Baustein in einem ganzheitlichen Ansatz der Bundesregierung zur Stabilisierung der
Lage in dem Land, in Mali.
Aus diesen Gründen, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, werbe ich an dieser Stelle ausdrücklich für die Verlängerung und die Ausweitung dieses Einsatzes der Bundeswehr. Den Soldatinnen und Soldaten
wünschen wir für den Einsatz, in den wir sie senden, viel
Soldatenglück, viel Erfolg, Gesundheit und eine heile
Rückkehr.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Kollegin Dr. Bärbel Kofler für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Ich spreche heute als
Entwicklungspolitikerin. Ich möchte das betonen und in
den Mittelpunkt meiner Rede stellen, weil ich glaube,
dass es für die innermalische Entwicklung von essenzieller Bedeutung ist, wie es uns gelingen kann, Sicherheit
und Entwicklung voranzubringen. Der Kollege Arnold
hat es angesprochen: Wer mit der Bevölkerung in Mali
redet, sieht, was dort gewünscht ist. Mit über 90 Prozent
wird das Thema Sicherheit als das gravierendste Problem, und zwar in allen Landesteilen, gesehen. Dicht darauf folgt die Fragestellung: Wie können wir ein Leben
selbst erwirtschaften? Wie können wir in Arbeit kommen? Wie können wir uns selbst ernähren? Bei diesen
Fragestellungen, glaube ich, müssen wir mehr tun, als
wir bisher getan haben.
({0})
Im Friedensvertrag von Algier sind ganz entscheidende Punkte für die innermalische Entwicklung festgehalten. Es geht in einem Punkt - das ist aus meiner Sicht ein
ganz entscheidender für das Gelingen des Friedensprozesses - um die Frage der Dezentralisierung des Landes,
wie man die Regionen des Landes erreichen kann und
wie es in den Regionen möglich ist, Basisinfrastruktur für die Menschen aufzubauen, um so eine Basis für
wirtschaftliche Entwicklung, aber auch für Frieden und
Stabilität zu gewinnen. Das ist ein ganz entscheidender
Punkt.
({1})
In dem Friedensvertrag von Algier steht: 30 Prozent
der Staatseinnahmen in die Regionen. - Das kann man
in den Kapiteln 4 und 5 des Friedensvertrages von Algier nachlesen. Jetzt wissen wir alle: Mali steht im Human Development Index, bei dem es um die menschliche
Entwicklung geht, auf Platz 179 von 188 gelisteten Ländern. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Angesichts unserer Erfahrungen aus der Entwicklungspolitik
wissen wir, dass wir hier unheimliche Anstrengungen
vollbringen müssen, um die Verwaltung in dem Land fit
zu machen - das ist, was die Kollegen mit Staatsaufbau
meinten -, damit sie mit den Geldern, die hoffentlich im
Rahmen eines innermalischen Aussöhnungsprozesses
auch in die Regionen fließen, ordentlich umgehen kann
und es eine positive Entwicklung für die Menschen vor
Ort gibt. Das heißt, die Leute müssen mit den Finanzen
umgehen können. Sie müssen eine Basisinfrastruktur im
Wasserbereich, im Wohnungsbereich, im Bereich der elementaren Gesundheitsvorsorge schaffen können. Dazu
bedarf es Menschen, die das tun können, die dafür ausgebildet sind. Das ist Teil der Aufgabe, der wir uns bereits
widmen, aber der wir uns in den nächsten Jahren - das
sage ich auch - wesentlich stärker widmen müssen.
({2})
Seit 2013 sind für Mali 204 Millionen Euro Entwicklungsgelder ausgegeben worden. Deutschland ist mit
seinem Engagement im Bereich der Dezentralisierung in
einer der führenden Positionen; das ist richtig und wichtig. Ich betone noch einmal: Ich glaube, wir müssen hier
mehr tun. Und wir können auch mit anderen Ländern gemeinsam mehr tun.
Dass dies aber auch Sicherheit voraussetzt, sieht man
ganz deutlich. Ich habe vor einigen Tagen mit einem Vertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako telefoniert,
der mir die Lage verdeutlicht hat. Wie sieht es momentan aus? In der Provinz Gao sitzen zum Beispiel 24 Super-Präfekte, die eigentlich in ihre Gemeinden gehen
müssten, um das, was ich gerade geschildert habe, zu organisieren, in der Provinzhauptstadt Gao fest und trauen
sich nicht heraus, weil die Sicherheitslage so katastrophal
ist, dass sie nicht in die Dörfer und Regionen kommen
können. Damit muss man sich auseinandersetzen, wenn
30 Prozent der Staatseinnahmen in die Regionen fließen
sollen, um den Menschen dort zu helfen. Also ist die Frage entscheidend, wie wir dort Sicherheit erreichen, dass
diese Menschen ihre Arbeit aufnehmen können.
In einem zweiten Telefonat mit einem Mitarbeiter der
Stiftung habe ich erfahren, dass dessen Verwandte, die
in der Nähe von Gao leben, einen medizinischen Notfall
hatten, aber die Notfallambulanz nicht über die Stadtgrenzen Gaos hinausfahren kann und niemanden, der irgendwo in der Region ist, betreuen kann. Wenn man will,
dass Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Polizisten und
Verwaltungsbeamte in die Dörfer gehen, muss man ein
Mindestmaß an Sicherheit schaffen, um dies zu gewährleisten. Deshalb ist es im Sinne der Entwicklung Malis
richtig, zur Schaffung von Sicherheit beizutragen, auch
im Rahmen des deutschen Beitrags zu MINUSMA.
Mit Verlaub - als letzter Punkt -: Das ist im Friedensvertrag von Algier auch so angelegt und vorgesehen. Wer
den Einsatz ablehnt, muss mir erklären, was die Folge für
den Friedensprozess von Algier ist.
({3})
Sollen wir ihn aufkündigen? Sollen wir etwas ganz Neues beginnen? Was ist denn die Konsequenz? Der mühsam
ausgehandelte Prozess sieht diese Rolle der internationalen Gemeinschaft vor. Daran beteiligen wir uns. Es geht
um die Entwicklung Malis, insbesondere um die Frage,
wie wir Sicherheit schaffen können, um eine positive zivile Entwicklung in dem Land voranzutreiben.
({4})
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Mit Blick auf den Diskussionsbeitrag der Linken kann
ich nur sagen: Ich verstehe ja, dass Sie, weil Sie aus dogmatischen Gründen grundsätzlich gegen jeden Einsatz
der Bundeswehr sind, immer versuchen müssen, Ihre
Ablehnung eines Einsatzes zu erklären und Argumente
zu finden. Aber so dünn wie heute waren die Argumente
schon lange nicht mehr. Das muss ich ganz ehrlich sagen.
({0})
Es ist richtig, dass in Mali nicht alles gut ist. Seit den
Attacken auf das Radisson-Hotel in Bamako gilt der Ausnahmezustand. Anschläge sind überall im Land möglich.
Armee und Sicherheitskräfte sind häufig noch überfordert. Auch die politische Situation ist wenig dynamisch.
Hier gibt es nichts zu beschönigen.
Gerade die jungen Menschen im Lande fordern ein
Ende der Polizeikorruption, der Selbstbedienungsmentalität der regierenden Klasse und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Viele frustrierte Menschen folgen islamistischen Brandstiftern. Nicht alles ist gut, aber einiges ist
besser, als wir es befürchten mussten. Wenn man sieht,
wo wir im Frühjahr 2012 waren, dann relativiert sich der
negative Eindruck ein wenig.
Mali ist eine Demokratie geblieben. An die lange demokratische Tradition kann angeknüpft werden. Es gibt
seit letztem Jahr ein Friedensabkommen mit den wichtigsten Rebellengruppen, aber es ist ganz klar: Es gibt
noch viel zu tun.
Ja, richtig ist auch: Der Einsatz ist gefährlich. Die
Dschihadisten wurden nur in die Wüste vertrieben, es
gibt sie weiterhin. Die Sicherheitslage im ganzen Land
ist angespannt, vor allem im Norden. Islamistische
und kriminelle Gruppierungen greifen überall Ausländer, MINUSMA und die malischen Streitkräfte an. Die
jüngsten Angriffe auf MINUSMA-Liegenschaften und
den Flughafen in Gao sind ein Beleg für die ständige
Gefahr. Nicht umsonst ist MINUSMA der gefährlichste
VN-Blauhelmeinsatz weltweit. Trotzdem ist dieser Militäreinsatz wichtig und richtig.
Wir haben ein VN-Mandat. Die Weltgemeinschaft
steht geschlossen, bis auf die Linke, hinter diesem Einsatz.
({1})
Die Ziele dieser Mission sind richtig: Bevölkerungszentren stabilisieren, staatliche Autorität im ganzen Land
wiederherstellen, Zugang für Entwicklungszusammenarbeit sicherstellen, nationalen politischen Dialog unterstützen, Waffenstillstand überwachen und Friedensabkommen umsetzen helfen. Nur bei einer Stabilisierung
der Sicherheitslage und einem echten politischen Prozess
hat die Umsetzung des Friedensabkommens eine Chance. Natürlich müssen sich malischer Staat und Gesellschaft in erster Linie selbst reformieren. Dafür brauchen
sie aber Basissicherheit und unsere Unterstützung.
Kolleginnen und Kollegen, es gibt eine Reihe von guten Gründen für die Ausweitung des deutschen Beitrags.
Deutschland hat ein Interesse an einer Stabilisierung der
Lage in Mali und der Sahelregion.
({2})
Ein weiterer Verfall staatlicher Autorität und Kontrolle
in dieser Region nützt kriminellen und terroristischen
Gruppen.
({3})
Zudem ist Mali eine wichtige Transitregion. Es ist in
unserem Interesse, dabei zu helfen, dass Nordmali kein
rechtsfreier Raum bleibt, indem Schleuserbanden ungehindert aktiv sein können. Durch die Ausweitung des
Einsatzes erfüllen wir außerdem auch unsere Zusagen,
uns stärker an VN-Missionen zu beteiligen. Der letzte
Punkt: Mit der Ausweitung des Einsatzes unterstützen
und entlasten wir unsere europäischen Partner, die Niederlande und die Franzosen.
Eines muss uns bei diesem Mandat ganz klar sein: Der
Einsatz in Mali ist gefährlich. Unsere Einsatzkräfte müssen entsprechend vorbereitet, ausgerüstet und beschützt
sein. Die Ausweitung des Mandats belegt auch: Deutschland engagiert sich mehr. Mehr Engagement der Bundeswehr in Deutschland, in der NATO und in den Vereinten
Nationen hat aber auch weitreichende Konsequenzen für
den Umfang und die Ausstattung der Bundeswehr. Hier
werden wir noch mehr tun müssen. Unsere Soldatinnen
und Soldaten müssen sich darauf verlassen können, dass
ihnen alles an notwendigen Mitteln zur Verfügung gestellt wird, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Dazu gehören
für mich auch ganz selbstverständlich die Entwicklung
und die Beschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen.
Gerade der Einsatz im Norden Malis zeigt, wie wichtig die erweiterten Aufklärungsfähigkeiten für die Truppe
und für den Erfolg dieser Mission sind. In diesem Zusammenhang begrüße ich ausdrücklich die Entscheidung, als
Übergangslösung bis zur europäischen Eigenentwicklung weitere Heron-Drohnen zu leasen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich sind nicht
alle Probleme mit militärischen Mitteln lösbar, schon gar
nicht ethnische Konflikte, eine korrupte Gesellschaftsordnung oder die Ausbreitung des wahhabistischen Islamverständnisses. Hier muss Mali selbst Lösungen finden, aber wir müssen unterstützen. Wir wollen nur die
Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Waffenruhe
eingehalten wird, Basissicherheit herrscht und der Friedensprozess vorankommt. Die Malier sollen mit unserer
Hilfe selbst etwas aufbauen und selbst für Sicherheit
sorgen können. Wir müssen zu den Maliern stehen und
sie auf dem von ihnen gewählten Weg der Demokratisierung, Versöhnung und Modernisierung unterstützen. Hier
sollten wir nicht zu kurzfristig planen. Auch hier werden
wir einen langen Atem brauchen.
Herzlichen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7206 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Bundesregierung
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte zur Ausbildungsunterstützung der Sicherheitskräfte der Regierung der
Region Kurdistan-Irak und der irakischen
Streitkräfte
Drucksache 18/7207
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen. - Bitte.
({1})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Jetzt steht die Beratung des Antrags zur
Verlängerung des Mandats im Nordirak auf der Tagesordnung. Dabei geht es um die Ausbildung der Peschmerga.
Da ich die Debatte eben beobachtet habe, ahne ich,
welche Salve gleich von links kommen wird. Deshalb
sage ich gleich: Meine Damen und Herren, ich habe nicht
vergessen, wie der IS die Peschmerga vor anderthalb Jahren überrannt hat, wie er versucht hat, die Jesiden auszurotten, wie er die Jesiden abgeschlachtet und in das Sindschar-Gebirge gejagt hat. Ich habe nicht vergessen, was
es damals für Bilder gegeben hat. Ich habe auch nicht
vergessen, wie schwer wir uns getan haben, zu entscheiden, tatsächlich zu intervenieren, in eine Krisenregion
Waffen zu liefern, die Peschmerga auszurüsten.
({0})
Aber wenn ich heute sehe, was gelungen ist - es ist gelungen, die Flüchtlinge zu schützen, den IS zurückzuschlagen, ihm empfindliche Niederlagen beizubringen
und Territorium zurückzugewinnen -, dann kann ich nur
sagen: Diese Entscheidung war richtig, und ich halte es
für absolut gerechtfertigt, dass wir so gehandelt haben.
({1})
Seit Mai letzten Jahres haben die Terroristen kein neues Territorium mehr dazugewonnen, im Gegenteil. Es ist
nicht nur gelungen, ihnen Einhalt zu gebieten. Ich werde
nie vergessen, wie die Peschmerga uns geschildert haFlorian Hahn
ben, was für einen Unterschied diese Unterstützung für
sie gemacht hat. Anfangs standen sie ohnmächtig da,
wenn Daesh seine Lastwagen und Autos mit Sprengmaterial gefüllt hat und sie quasi als rollende Bomben in die
kurdischen Dörfer oder in die Peschmerga-Linien gefahren hat, um sie dort zur Explosion zu bringen. Sie haben
uns geschildert, was es für sie bedeutet hat, dass sie diese
terroristischen Bomben auf Distanz halten konnten, dass
sie ihre eigenen Leute schützen konnten. Sie haben uns
geschildert, wie viel Mut ihnen das gegeben hat.
Insofern ist dieser Erfolg zwar vorrangig ein Erfolg
der Peschmerga und des jesidischen Bataillons, das wir
ausgerüstet und ausgebildet haben; ohne diese Unterstützung seitens der Bundesrepublik Deutschland und
anderer Partner wäre das aber nicht möglich gewesen.
Die Bundeswehr hat in den vergangenen zwölf Monaten mehr als 6 000 einheimische Kräfte ausgebildet, im
Nordirak und auch hier in Deutschland. Sie schlagen sich
tapfer. Wir wissen aber: Der Kampf wird noch lange dauern; er ist noch lange nicht ausgestanden. Teile Nord- und
Westiraks leiden immer noch unter dem grausamen Joch
von Daesh.
Jetzt gilt es, den Erfolg zu verstetigen und fortzusetzen, aber auch aus den Erfahrungen zu lernen. Wir
werden Sie darum bitten, die Kontingentgröße dieses
Mandats zu erhöhen, von 100 auf 150 Soldatinnen und
Soldaten. Wir haben gelernt, welchen Bedarf es neben
der Grundausbildung gibt. Wir wollen die Ausbildung
erweitern um ABC-Fähigkeiten, um Fähigkeiten in den
Bereichen Sanitätsdienst und Logistik. Das wollen wir
den Kurden, den Peschmerga beibringen.
In diesem Kampf gegen den Terror wollen wir neben
der robusten militärischen Antwort, die Daesh braucht,
natürlich auch eine zivile Antwort geben, die immer wieder eingefordert wird. Wenn man in Erbil ist, spürt man
vor allem Dankbarkeit für die breite Hilfe, die geleistet
wird, nicht nur für das, worüber wir heute im Zusammenhang mit diesem Mandat sprechen, sondern vor allem auch für die humanitäre Hilfe, die von Anfang an geleistet worden ist. Wenn wir den Kampf gegen den Terror
gewinnen wollen, dann bedarf es vor allen Dingen eines
politischen Prozesses.
Neben dem Mandat, über das wir hier jetzt sprechen,
das wir hier auf den Weg bringen, ist vor allem Folgendes
wichtig - darüber müssen wir uns im Klaren sein -: An
dem Tag, an dem wir durch die Peschmerga Territorium
oder Städte zurückerobert haben, an dem wir Daesh zurückgeschlagen haben, an dem Tag des Erfolges beginnt
eigentlich erst die entscheidende Arbeit, die auf einen
langfristigen und nachhaltigen Erfolg zielt, nämlich die
Stabilisierung, der Wiederaufbau, der Versöhnungsprozess. Wenn die Familien in die Region zurückkommen,
in der sie bitterste Erfahrungen gemacht haben, aus der
sie vertrieben worden sind - mit dieser Erfahrung sind
auch Enttäuschungen durch Nachbarn verbunden -, dürfen sie nicht Rache walten lassen, sondern müssen den
Versöhnungsprozess zusammen mit dem Aufbauprozess
verbinden. Das heißt, wir werden einen langen Atem
brauchen. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt Strecke
machen und dieses Momentum der Stärke, das ich anfangs geschildert habe, nutzen, um Daesh den Boden
vielfältig zu entziehen.
Deshalb bitte ich Sie um Zustimmung zu dem vorliegenden Mandat, auch, um der Bitte der Kurden in der
Region nachzukommen.
Unser Beitrag zeigt, dass wir unserer Verantwortung
in der Region gerecht werden. Er zeigt, dass wir unseren
Partnern in Europa, aber auch in der Welt im gemeinsamen Kampf gegen Daesh unbeirrt zur Seite stehen, dass
auf uns Verlass ist und dass Gleichgültigkeit für ein Land
wie unseres keine Option ist.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Kollegin Christine Buchholz für die
Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Entsendung deutscher Streitkräfte in den Nordirak zur Ausbildung der Peschmerga und anderer Kräfte ist Teil der
sogenannten Anti-IS-Koalition. Lassen Sie mich ganz
am Anfang sagen: Der sogenannte Krieg gegen den Terror hat nicht den Terror bekämpft, sondern er hat neuen
Terror geschaffen und die Spirale der Gewalt angeheizt.
Das sagt nicht nur die Linke, das sagt auch der Bundesnachrichtendienst. Die Lage - ich zitiere aus einer den
Medien zugespielten BND-Studie - sei „heute ungleich
gefährlicher“ als 2001. Die „Zone der Instabilität“ sei
„vom Hindukusch in die unmittelbare Nachbarschaft Europas vorgerückt“. Man kann nicht oft genug betonen:
Den IS würde es heute nicht geben, wenn die USA nicht
2003 den Irak bombardiert und dann besetzt hätten.
({0})
Welche Konsequenz zieht die Bundesregierung daraus?
Sie ziehen Deutschland immer tiefer in einen Krieg im
Mittleren Osten hinein. Das ist die falsche Antwort.
({1})
Eine wichtige Motivation der Bundesregierung formulieren Sie in Ihrem Antrag selbst: Die Intervention im
Irak stelle „einen weiteren Pfeiler der Intensivierung unseres sicherheitspolitischen Engagements dar“. Übersetzt
heißt das: Es geht um Glaubwürdigkeit, es geht darum,
als europäische Führungsmacht den wirtschaftlichen und
geopolitischen Interessen auch in Kriegszonen Geltung
verschaffen zu können. Darum geht es. Es vergeht auch
fast keine Woche, in der nicht eine neue Aufrüstungsoder Einsatzentscheidung gefasst wird. Frau Merkel hat
gestern auch im Verteidigungsausschuss deutlich gemacht, was die Marschrichtung der Großen Koalition für
die nächste Zeit sein wird: weitere Bundeswehreinsätze
und weitere Aufrüstung. Das lehnt die Linke ab.
({2})
Die Bundesregierung begründet die Fortsetzung des
Einsatzes mit den Erfolgen bei der Zurückdrängung des
IS.
({3})
Städte wie Sindschar, Tikrit und Baidschi wurden vom IS
befreit. Das ist zunächst richtig, aber es ist nur das halbe
Bild. Offenbar erleben Bewohner dieser Orte die Rückeroberung nicht alle als Befreiung. Ramadi wurde weiträumig zerstört. Dazu hat übrigens auch der Abwurf von
630 US-Bomben beigetragen. An anderen Orten folgt der
Diktatur des IS die Willkürherrschaft radikal-schiitischer
Milizen, zum Beispiel in Tikrit. Dort haben diese Milizen laut Human Rights Watch einige Hundert Gebäude
geplündert und vorsätzlich zerstört. 200 Sunniten wurden
entführt, darunter Kinder. Korrespondenten berichteten
im letzten Monat, dass auch Baidschi völlig von diesen
Milizen kontrolliert werde und eine - Zitat - Kampagne
gegen Einwohner und Rückkehrer geführt wird. So wird
der Irak nicht stabilisiert, in Wirklichkeit wird so neuer
Hass gesät. Denn in diesem Krieg gibt es nicht die eine
gute Seite.
({4})
Mit Waffen und Ausbildern stützt Deutschland eine
Regionalregierung, die ihre Macht nicht auf das Parlament, sondern auf die Waffen ihrer Streitkräfte stützt. Es
ist nicht transparent, was mit den deutschen Waffen passiert, die Sie liefern. Der Präsident des kurdischen Regionalparlaments, Yusuf Mohammed, hat jüngst in Berlin
die Befürchtung geäußert, sie könnten zum innerkurdischen Machtkampf instrumentalisiert werden; denn der
deutsche Partner Präsident Barzani hat das Parlament für
aufgelöst erklärt. Der Parlamentspräsident darf die kurdische Hauptstadt Erbil nicht einmal betreten.
Aber diese Probleme interessieren Sie nicht sonderlich, weil sie nicht in Ihre Erzählung hineinpassen. Es ist
auch nicht neu, dass die Bundesregierung die Realitäten
nicht vollständig zur Kenntnis nimmt. So sind es auch
nicht die Peschmerga gewesen, die im Sommer 2014 die
Jesiden im Sindschar-Gebirge vor dem IS gerettet haben,
sondern die PKK und ihre Verbündeten.
({5})
Doch die PKK wird von der Bundesregierung weiterhin
als terroristische Vereinigung eingestuft. Das ist heuchlerisch. Das Verbot der PKK muss endlich aufgehoben
werden.
({6})
Die Ausbildungsmission ist Teil einer überaus gefährlichen Intervention. Sie begann im letzten Jahr mit
Waffenlieferungen und der Entsendung von Ausbildern.
Dann kamen der Tornadoeinsatz und nun die AWACS.
Wir befürchten, es wird weitergehen. Der Abschuss der
russischen Militärmaschine durch die Türkei und die aktuelle Eskalation des Konflikts zwischen dem Iran und
Saudi-Arabien haben verdeutlicht, wie rasch der Konflikt in einen internationalen Krieg der Regional- und
Großmächte umschlagen kann. Wir sind der Meinung,
die Bundeswehr hat weder in Syrien noch im Irak etwas
verloren.
({7})
Die Linke stimmt gegen die Verlängerung und die
Ausweitung dieses Bundeswehreinsatzes. Beenden Sie
die Beteiligung am Krieg gegen den Terror!
Vielen Dank, meine Damen und Herren.
({8})
Das Wort hat der Staatsminister Michael Roth.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir sind sicher alle immer noch erschüttert über den furchtbaren Terroranschlag von Istanbul,
dem am vergangenen Dienstag elf unschuldige Menschen zum Opfer gefallen sind. Seit vielen Jahren hat uns
Deutsche der Terror nicht mehr so schwer getroffen wie
nun in Istanbul. Dabei war uns immer klar: Dieser Terror
verschont niemanden. Er bedroht uns alle, ob in Syrien,
im Irak, in der Türkei oder eben auch hier bei uns, mitten
in Europa.
Insofern, liebe Frau Kollegin Buchholz, bin ich über
das Weltbild, das Sie uns hier präsentieren, erschüttert:
Schwarz und Weiß, die Bösen und die Guten. Ich finde
das zynisch gegenüber den vielen Opfern einer furchtbaren Terrororganisation.
({0})
Ich hätte mir zumindest in dieser Frage ein Stückchen
mehr Zusammenhalt gewünscht,
({1})
und ich hätte zumindest erwartet, dass Sie Fakten nicht
ignorieren.
({2})
Aber wenn man Ihnen zuhört, könnte man meinen, dass
die Vereinigten Staaten und wir für all das verantwortlich
sind.
({3})
Dass wir über einen solchen Einsatz streiten, finde ich
mehr als legitim.
Dass wir darum ringen, welcher der richtige Weg sein
könnte, ist doch völlig klar. Denn der Anschlag von
Dienstag hat uns erneut auf grausame Weise vor Augen
geführt: Wir können uns vor Krieg und Terror in der Welt
nicht abschotten, weder durch stures Wegschauen noch
durch Mauern und Zäune. Die jüngsten Attentate der Terrororganisation ziehen eine blutige Spur vom Nahen Osten über Nordafrika bis hin zu uns nach Europa. Deshalb
brauchen wir Geschlossenheit. Wir brauchen Entschiedenheit. Wir brauchen Besonnenheit im Kampf gegen
den internationalen Terrorismus;
({4})
denn es geht letztlich auch um unsere eigene Sicherheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns
doch - deshalb bin ich so entsetzt über Ihre Aussagen -:
({5})
Als im Sommer 2014 die Terrororganisation „Islamischer
Staat“ weite Teile des irakischen Staatsgebietes einnahm
und dabei grausame Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Zivilbevölkerung, vor allem gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten, beging, schallte
uns doch von allen Seiten entgegen: Tut endlich etwas!
Beendet dieses Morden Unschuldiger!
Wir haben damals in einer Sondersitzung des Bundestages eine sehr emotionale Debatte über die Frage geführt, ob die Bundesregierung Waffen und weitere militärische Ausrüstung an die kurdischen Peschmerga liefern
soll.
({6})
Viele von uns - in allen Fraktionen; das will ich Ihnen
ja noch zugutehalten - haben damals mit ihrem Gewissen gerungen: Sind wir bereit, das Risiko einzugehen,
dass die von uns gelieferten Waffen später einmal in die
falschen Hände fallen könnten? Oder beschränken wir
uns auf rein humanitäre Unterstützung und riskieren damit das weitere Erstarken eines menschenverachtenden
Terrorstaates und das Versinken einer ganzen Region in
Blut und Chaos? Das sind die Fragen, mit denen wir uns
damals, finde ich, sehr verantwortungsvoll auseinandergesetzt haben.
Dann haben wir einige Monate später abermals hier
im Bundestag beschlossen, neben der militärischen Ausrüstung auch deutsche Soldatinnen und Soldaten in den
Nordirak zu entsenden, um die kurdischen Sicherheitskräfte und irakische Streitkräfte an den Waffen auszubilden. Ich erinnere mich noch gut: Das waren damals
keine einfachen Debatten, und es waren schon gar nicht
einfache Entscheidungen. Aber - dabei bleibe ich, und da
kann ich nur das unterstützen, was auch Frau Bundesministerin von der Leyen sagte - wir haben damals richtig
entschieden; denn der Vormarsch des „Islamischen Staates“ konnte vorerst gestoppt werden. Vor allem im Norden des Irak ist es den kurdischen Sicherheitskräften und
den Regierungstruppen mit Unterstützung der internationalen Allianz gelungen, den IS in die Defensive zu drängen. In den vergangenen Monaten hat der „Islamische
Staat“ wichtige Teile der von ihm kontrollierten Gebiete
im Irak verloren. Die Kombination aus gut ausgebildeten
und ausgerüsteten Bodentruppen sowie Luftschlägen der
internationalen Anti-IS-Koalition gilt als ein Erfolgsmodell.
Zu diesem militärischen Erfolg haben wir in Deutschland einen Beitrag geleistet. Es wurde schon davon gesprochen: Im November 2015 wurde die Stadt Sindschar
von Truppen befreit, die in Erbil von Bundeswehrsoldaten ausgebildet und ausgerüstet wurden. Für diesen
Beitrag haben wir im Irak große Anerkennung erfahren.
Auch in anderen Landesteilen im Zentralirak, wo wir
nicht militärisch beteiligt sind, zeigt sich der Erfolg der
internationalen militärischen Unterstützung und Ausbildung, etwa in der Raffineriestadt Baidschi oder in der
Provinzhauptstadt Ramadi, die inzwischen von Regierungskräften weitgehend befreit wurden. Unsere militärische Unterstützung der Peschmerga und der irakischen
Streitkräfte in ihrem Kampf gegen den IS zeigt also Wirkung.
Auch dank unserer Unterstützung konnten viele Menschen von der Schreckensherrschaft des IS befreit und
viele Menschenleben gerettet werden sowie Zehntausende Vertriebene in ihre Heimat zurückkehren. Dies gilt
vor allem für die ethnischen und religiösen Minderheiten
im Irak, wie zum Beispiel die christlichen Gruppen oder
eben auch die Jesiden.
Machen wir uns aber nichts vor - und das gebe ich ja
auch gerne zu -: Es liegt noch ein sehr langer und beschwerlicher Weg vor uns; denn die militärische Rückeroberung war wirklich nur der erste Schritt. Noch viel
wichtiger ist, dass die Menschen, die vom IS-Terror befreit sind, ganz schnell spüren, dass sich ihre Lebensverhältnisse im Alltag konkret verändern und dass sie in ihrer Heimat wieder eine Perspektive haben. Dafür setzen
wir uns auch im Rahmen unseres Vorsitzes der Arbeitsgruppe Stabilisierung in der internationalen Anti-IS-Koalition ein.
Angesichts der starken Zerstörungen ist der Bedarf
groß. Deshalb haben wir bereits im Dezember vergangenen Jahres 20 Millionen Euro für den Wiederaufbau
zugesagt, die beispielsweise in die Lieferung von fünf
mobilen Krankenhäusern für den Einsatz in den befreiten
Gebieten geflossen sind. Auch im Ramadi sind bereits
erste Vorbereitungen zur Beschaffung von Basisausstattung, wie Generatoren, Gesundheits- und Trinkwassereinrichtungen, im Gange.
Darüber hinaus leistet die Bundesregierung in ganz
erheblichem Umfang humanitäre Hilfe. Auch dank der
massiven finanziellen Ausweitung der humanitären Hilfe für das Haushaltsjahr 2016 wird der Irak ein Schwerpunktland unseres humanitären Engagements bleiben.
Wir werden in diesem Jahr bis zu 70 Millionen Euro für
Hilfsprogramme bereitstellen, um die Not der Flüchtlinge und der Vertriebenen im Irak zu lindern.
Es muss uns mit unseren Partnern vor Ort gelingen,
die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Perspektiven
für die heimische Bevölkerung zu verbessern. Das ist
das beste Rezept, um dem IS und seiner barbarischen
Ideologie die Grundlagen zu entziehen. Wenn es uns
gelingt, den Menschen in ihrer Heimat eine neue Perspektive zu verschaffen, dann wird auch die Zahl der
Menschen abnehmen, die sich in ihrer Not auf die lange,
beschwerliche und hochgefährliche Flucht nach Europa
machen.
Beispielshaft steht hier die Stadt Tikrit, wo es mit
deutscher Unterstützung gelungen ist, dass 90 Prozent
der vor dem IS geflohenen Bevölkerung in ihre Heimat
zurückkehren konnten. Das wollen wir nun auch in weiteren irakischen Städten erreichen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch das steht völlig außer Frage: Terrorismus lässt sich nicht alleine und
in erster Linie mit militärischen Mitteln besiegen. Unser
militärisches Engagement ist daher stets in eine politische Gesamtstrategie eingebettet.
({7})
Worum geht es? Es geht um militärische Unterstützung, Stabilisierung, den Wiederaufbau der befreiten
Gebiete und humanitäre Hilfe. Das gehört zusammen.
All das muss miteinander verknüpft werden. Nur durch
diesen umfassenden Ansatz wird es möglich sein, das
terroristische Treiben des „Islamischen Staates“ endlich
einzudämmen.
Für uns ist klar: Die Krisen im Nahen Osten müssen
letztlich politisch gelöst werden. Deshalb engagieren wir
uns im sogenannten Wiener Prozess, und vor allem deshalb sind wir der Resolution der Vereinten Nationen vom
18. Dezember 2015 verpflichtet, die noch einmal deutlich gemacht hat, dass es nach dem langen Stillstand in
Syrien eines politischen Prozesses bedarf. Hierfür setzt
sich die Bundesregierung - Außenminister Frank-Walter
Steinmeier auch ganz persönlich - ein. Deshalb bitten
wir Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen in allen Fraktionen, um Unterstützung. Das ist eine historische Chance.
Wir können die Einigung schaffen. Ohne Fortschritte im
politischen Prozess in Syrien kann der IS nicht erfolgreich bekämpft werden.
Wir unterstützen auch die irakische Regierung bei
ihrem Reformkurs und ermutigen sie, dafür zu sorgen,
dass der Irak ein multireligiöser und multiethnischer
Staat bleibt. Je stärker der irakische Staat ist, umso mehr
schwächt das den „Islamischen Staat“.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, an dieser Stelle
möchte ich mich noch einmal ganz besonders bei unseren
Soldatinnen und Soldaten, aber auch bei den zivilen Aufbauhelfern bedanken, die unter schwierigsten Bedingungen in der Region Kurdistan-Nordirak im Einsatz sind.
Sie haben im vergangenen Jahr die Ausbildungsunterstützung aufgebaut bzw. erfolgreich etabliert. Sie haben
den Einsatz mit unseren internationalen Partnern koordiniert, und sie haben sich auch um verwundete Peschmerga und ihre Behandlung in Deutschland gekümmert.
Ihnen gilt unser aller Dank und unser großer Respekt.
Ich bitte Sie im Namen der Bundesregierung um Unterstützung zur Verlängerung dieses Mandats.
Vielen herzlichen Dank.
({9})
Die Kollegin Agnieszka Brugger hat für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kollegin Buchholz, ich finde, das, was Sie gesagt haben,
kann man hier nicht so stehen lassen. Erstens war es das gehört zur Wahrheit dazu - auch das Eingreifen der
USA, das dazu beigetragen hat, dass die Jesiden aus dem
Sindschar-Gebirge fliehen konnten.
Zweitens bekomme ich Folgendes in meinem Kopf
nicht zusammen: Eine Vertreterin der Linkspartei hat
sich gerade hier vorne hingestellt und eine VN-Friedensmission wahrheitswidrig als Kriegseinsatz diffamiert. Sie
teilte rundum aus, lobte aber die PKK und war blind gegenüber der Gewalt, für die diese verantwortlich ist. Ich
muss sagen: Das wird immer gruseliger.
({0})
Frau Ministerin, Sie haben die Ausbildung der Peschmerga neulich als Erfolgsmodell bezeichnet. Mit dem
uns vorgelegten Mandat will die Bundesregierung diesen Einsatz um ein weiteres Jahr verlängern. Dazu gehört
auch die Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte und anderer Gruppen. Frau Ministerin, ich finde, die Bewertung
„Erfolgsmodell“ erfolgt zu früh bzw. etwas vorschnell.
Ausbildungsmissionen sind nicht per se gut. Sie sind
auch nicht per se schlecht. Ob sie erfolgreich waren oder
nicht, kann man oft erst nach einer längeren Zeit bewerten. Der Erfolg hängt immer von den politischen Rahmenbedingungen ab. Wer ausbildet, hat eine Verantwortung dafür, was dann mit dem vermittelten Wissen bzw.
den erworbenen Fähigkeiten geschieht. Die Geschichte
kennt leider viele Beispiele, bei denen die Unterstützung einer Seite in einem Konflikt wirkungslos oder im
schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv war.
Meine Damen und Herren, nicht dass Sie mich falsch
verstehen: Die kurdischen Kräfte sind unser wichtigster
und bester Partner in der Region. Es ist den Peschmerga-Kräften gemeinsam mit den Jesiden gelungen, ISIS
empfindliche Niederlagen zuzufügen und zum Beispiel
Sindschar zurückzuerobern. Das war natürlich ein großer
Erfolg. Deshalb halten wir die Ausbildung auch grundsätzlich für richtig und sinnvoll.
Wenn die Bundesregierung aber die entscheidenden
politischen Fragen vernachlässigt, dann droht dieses
Ausbildungsengagement zu scheitern oder wirkungslos
zu bleiben. Ausbildung alleine reicht eben nicht aus. Die
Unterstützung darf sich nicht auf das Militärische beschränken.
({1})
Angesichts der dramatischen Flüchtlingszahlen und
der wirtschaftlichen Probleme in der Region Kurdistan-Irak muss die Bundesregierung ihre humanitäre
und politische Unterstützung deutlich verstärken. Die
Entwicklungen in den kurdischen Gebieten geben aktuell auch Anlass zur Sorge. Es gibt große Spannungen
zwischen den verschiedenen Gruppen. Vor diesem Hintergrund ist es von großer Bedeutung, dass Sie genau
schauen, wen Sie unter welchen Bedingungen womit und
woran ausbilden.
({2})
Jedes Mal, wenn wir Sie bzw. die Bundesregierung
fragen, wen genau Sie eigentlich ausbilden, dann scheinen Sie es selbst nicht so genau zu wissen. Sie, Frau Ministerin, aber auch Außenminister Steinmeier sprechen
immer von den Peschmerga. Aber die Peschmerga gibt
es so nicht, sondern hinter diesem Namen verbergen sich
verschiedene Gruppen, die teilweise miteinander konkurrieren. Das ist eine sehr komplizierte Lage. Mit der
Beschreibung in Ihrer Rede sind Sie ihr nicht gerecht
geworden. Das war an dieser Stelle doch reichlich unterkomplex.
({3})
Vielmehr haben gerade auch die Bundesregierung und
die Bundeswehr angesichts der intensiven Zusammenarbeit hier die Pflicht, genau hinzuschauen und darauf
hinzuwirken, dass Konkurrenz und Konflikte ohne Gewalt ausgetragen werden. Wenn demokratische Prinzipien ausgehebelt werden, wenn die Zivilgesellschaft und
Journalisten sowie Jesiden bedrängt und bedroht werden,
dann darf man an dieser Stelle nicht einfach wegschauen.
({4})
Aber nicht nur die Herausforderungen in der Region
Kurdistan-Irak sind immens. Stabilität im Irak und ein
Zurückschlagen von ISIS wird es nur geben, wenn alle
Bevölkerungsgruppen, Sunniten, Schiiten, Kurden und
andere, die tiefen Gräben untereinander überwinden können und ihre Konflikte beilegen und sich aussöhnen. Die
Regierung von al-Abadi hat zwar viel guten Willen gezeigt. Die realen Fortschritte aber sind bisher leider sehr
bescheiden geblieben. Deutschland genießt als Staat, der
sich aus guten Gründen nicht am Irakkrieg beteiligt hat,
ein hohes Ansehen und eine große Glaubwürdigkeit. Es
ist schade und ein Versäumnis, dass Sie aus diesem wertvollen Kapital so wenig machen. Sie müssen auch den
Weg der Aussöhnung viel stärker unterstützen.
({5})
Meine Damen und Herren, auch wenn ich die Ausbildung der Peschmerga trotz der angesprochenen Probleme
für sinnvoll halte, empfehle ich meiner Fraktion, nicht
mit Ja zu stimmen. Wir Grüne haben uns bei der letzten
Abstimmung mit großer Mehrheit enthalten, weil wir ein
gravierendes juristisches Problem in Ihrem Mandat sehen. So, wie Sie die Ausbildungsmission konzipiert haben, entspricht sie nicht den Grundsätzen, die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zu
den Auslandseinsätzen der Bundeswehr in der Auslegung
unseres Grundgesetzes aufgestellt hat.
So darf die Bundeswehr nur im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit eingesetzt werden. Dazu zählen Institutionen wie die Vereinten Nationen, die OSZE,
die Europäische Union oder die NATO. Die Bundeswehr
wird hier aber im Rahmen einer Koalition der Willigen
eingesetzt, obwohl Sie diesen Einsatz sehr gut als europäische Mission auf den Weg hätten bringen können.
Unserer Auffassung nach ist das Mandat deshalb verfassungswidrig. Das ist nicht nur eine Formalie, und das ist
auch keine Lappalie.
Meine Damen und Herren, wir können die Bundesregierung nur nochmals auffordern: Machen Sie diesen
Fehler rückgängig, und sorgen Sie für einen verfassungsgemäßen Rahmen. Aber tun Sie vor allem noch viel mehr,
um die politischen Weichen in der Region so zu stellen,
dass es langfristig eine Chance auf Stabilität, Frieden
und Sicherheit gibt. Dann, Frau Ministerin, können Sie
hoffentlich in ein paar Jahren wirklich sagen, dass die
Ausbildung im Nordirak ein Erfolgsmodell war.
({6})
Für die Fraktion der CDU/CSU hat der Kollege
Dr. Johann Wadephul das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Kollegin Brugger, ich hatte mich über Ihre
sehr differenzierte Rede wirklich gefreut und schon die
Hoffnung gehabt, dass die grüne Fraktion einen Schritt
weitergehen und zustimmen würde; das hielte ich für angemessen. Aber diesen letzten Schritt konnten Sie jetzt
noch nicht gehen.
Ich will ausdrücklich sagen, dass Sie berechtigte Fragen gestellt haben, die uns und auch die Bundesregierung
bewegen. Natürlich ist die wirtschaftliche und politische
Situation in der Region Kurdistan fragil. Es steht außer
jeder Frage, dass wir darauf dringen müssen, dass auch
dort demokratische Grundsätze eingehalten werden und
dass Präsident Barzani darauf Rücksicht zu nehmen hat.
({0})
Das ist hier vollkommen zu Recht angesprochen worden;
auch wir tun das. Ich bin kürzlich dort zu einem Besuch
gewesen. Es ist klar: Das muss thematisiert werden. Darüber kann nicht hinweggegangen werden.
Ich will auch das unterstreichen, was Sie zur Fragilität
des Irak insgesamt gesagt haben. Ich nehme es schon so
wahr, dass Regierungschef al-Abadi den Versuch unternimmt, die schiitischen Milizen, die es in der Tat gibt,
die - das ist der einzige Punkt, bei dem Frau Buchholz
recht hat - wirklich nicht besonders zimperlich vorgehen und bei denen man sicherlich sehr genau aufpassen
muss, wie sie im Irak im Kampf gegen den IS militärisch
agieren, was an sich verdienstvoll ist, in die Armee zu
inkorporieren und dafür zu sorgen, dass sie zu staatlichen
Organen werden. Das ist außerordentlich schwierig, und
es ist mitnichten sicher, dass dies gelingt. Ich glaube, es
muss unsere Politik sein, alles zu unterstützen, was die
Einheit des Irak und den Aussöhnungsprozess zwischen
den Volksgruppen bzw. den verschiedenen Religionsgruppen fördert. Wir dürfen auf keinen Fall darauf setzen, dass dieser Staat wie schon andere weiter zersplittert, sondern wir müssen uns um dessen Erhalt bemühen.
({1})
Aber zentral ist bei diesem Mandat, dass wir das zur
Kenntnis nehmen, was dort militärisch geleistet worden ist. Die Ministerin hat eingangs dieser Debatte noch
einmal auf die katastrophale Situation insbesondere im
Sindschar-Gebirge hingewiesen. Ich bin selbst in Flüchtlingslagern gewesen, und viele Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Ausschüssen sind auch schon in
Flüchtlingslagern gewesen. Kein Besuch irgendeines
Flüchtlingslagers ist schön. Viele sind belastend. Ich
muss sagen, dass ich diese Bilder nach wie vor mit mir
herumtrage, wenn die Jesiden einem schildern, in welcher Art und Weise dieser Genozid, der unter dem Mantel
des Islam von den Terrorgruppen des IS verübt worden
ist, dort vonstattengegangen ist. Die Unionsfraktion bzw.
der Kollege Jung haben sich dankenswerterweise kürzlich noch einmal dieses Themas angenommen und auch
den bewegenden Film gesehen, der das dokumentarisch
festgehalten hat. Wenn Sie gesehen hätten, was dort geschehen ist, Frau Kollegin Buchholz, und wenn Sie die
Menschen erleben würden, die misshandelt worden sind,
deren Angehörige auf brutalste Art und Weise getötet,
geschlagen oder vergewaltigt worden sind, dann würden
Sie hier nicht so reden.
In einer solchen Situation muss man wissen, wo man
steht. Und in einer solchen Situation muss man diejenigen unterstützen, die einer derartigen Horrortruppe Einhalt gebieten.
({2})
Dann ist das moralisch gerechtfertigt. Ich finde sogar,
wir sind verpflichtet, diejenigen, die diese Barbarei eingrenzen und dem IS Einhalt gebieten, auch militärisch zu
unterstützen.
({3})
Da sollte man nicht anfangen, kleinlich zu fragen, welche kurdische Gruppe das ist. Wir haben doch an mehreren Stellen - auch in Kobane - erlebt, dass Kurden Differenzen, die sie untereinander haben, überwunden haben.
Das mit der innenpolitischen Frage des PKK-Verbotes
zu verbinden, wird der außenpolitischen Dimension und
auch der menschlichen Dimension dieser Katastrophe in
keiner Weise gerecht, Frau Kollegin Buchholz.
({4})
Das finde ich absolut unangemessen. Man könnte zur
PKK an dieser Stelle mehr sagen.
Ich habe mir auch die Ausbildung der Bundeswehrsoldaten dort angesehen und festgestellt, dass die Bundeswehrsoldaten das sehr verantwortungsvoll machen und
sehr genau darauf achten, welche Peschmerga dort hinkommen. Die Ministerin hätte das ansprechen können,
wenn sie mehr Redezeit gehabt hätte. Wenn sie jetzt reden würde, würde sie das wahrscheinlich auch ohne Weiteres ausführen. Es wird sehr genau darauf geachtet, dass
aus verschiedenen kurdischen Stämmen und Gruppierungen ein Mix gebildet wird. Es wird darauf geachtet, dass
die Ausbildung fast nach unseren Bundeswehrmaßstäben
stattfindet.
Ich möchte abschließend in dieser Debatte sagen: Was
unsere Soldatinnen und Soldaten und auch zivilen Beschäftigten, die dort tätig sind, in Erbil und Umgebung
leisten, ist ganz beachtlich. Das ist ein schwieriger Einsatz auf engstem Raum mit nicht immer einfachem Personal, und ich denke, wir sind alle verpflichtet, unseren
Soldaten dafür herzlich zu danken.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Der Kollege Florian Hahn hat für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Die Liste der islamistischen Terroranschläge des Jahres 2015 ist
lang und düster. Die schrecklichen Anschläge in Istanbul
in dieser Woche zeigen, dass uns der IS-Terror auch 2016
keine Atempause lässt. Das ist eine schmerzliche Realität. Daesh hat seine Strategie geändert. Die Terrororganisation konzentriert ihre Energie nicht mehr nur lokal und
regional. Wir müssen sie daher gerade lokal bekämpfen,
ihre Infrastruktur und Streitkräfte schwächen.
Die kurdischen Peschmerga sind für uns hierbei eine
entscheidende Bastion gegen den IS geworden. Am über
800 Kilometer langen bewaffneten Frontverlauf verteidigen sie nicht nur ihre eigene Sicherheit und Freiheit.
Der IS kann nicht totverhandelt werden. Daher ist
es entscheidend, ihn auch mit militärischen Mitteln zu
bekämpfen. Die tapferen kurdischen Kämpfer haben gezeigt, wie effektiv sie die IS-Barbaren zurückdrängen
konnten. Das war allerdings nur mit unserer Unterstützung, mit Waffen und mit deutscher Ausbildung möglich.
Blicken wir zurück. Im August 2014 mussten die
Pesch merga-Kämpfer im Nordwesten des Irak zurückweichen. Sie waren der IS-Terrormiliz militärisch unterlegen. Die Islamisten überrannten die strategisch wichtige Stadt Sindschar regelrecht. Die Konsequenzen waren
katastrophal. Die IS-Kämpfer hinterließen blutige Spuren
in dem von den Jesiden besiedelten Sindschar-Gebirge.
Hunderte Männer wurden bestialisch ermordet, Frauen
verschleppt, versklavt und vergewaltigt, religiöse HeiligDr. Johann Wadephul
tümer zerstört. Wir mussten in einer Abwägungssituation eine Entscheidung treffen, die einen Tabubruch darstellte: Waffenlieferungen in ein Spannungsgebiet. Die
Grünen waren damals dagegen. Die zukünftigen Risiken
seien höher als der kurzfristige Nutzen, so der Kollege
Hofreiter in der damaligen Plenardebatte. Die Sprecherin
der Arbeitsgemeinschaft Frieden wurde mit der Aussage
zitiert: Waffen machen Kriege nur noch blutiger. - Im
vergangenen Jahr soll der IS rund 14 Prozent seines
Territoriums verloren haben. Die Terroristen konnten
aus Sindschar und nun fast aus ganz Ramadi vertrieben
werden. Zudem sind die Peschmerga verantwortungsvoll
mit unseren Waffen umgegangen. Ich denke daher, wir
können heute von einem langfristigen Nutzen mit einem
kalkulierbaren Risiko sprechen. Außerdem haben wir damit auch Menschenleben gerettet. Die Anzahl gefallener
kurdischer Kämpfer ist um über 90 Prozent zurückgegangen.
Genauso wie in der Debatte über die Ausbildungsmission im Januar 2015 hat die Kollegin Brugger heute erneut angekündigt, dass die Grünen zwar eigentlich
hinter dem Einsatz stehen, aber verfassungsrechtliche
Bedenken haben und sich deswegen enthalten. In diesem
Zusammenhang möchte ich mir erlauben, Cem Özdemir
zu zitieren: „Wenn das Haus brennt, nützt es wenig, wenn
die Feuerwehr aus der Brandschutzordnung vorliest.“
Diesen sehr richtigen Hinweis sollten Sie sich auch dieses Mal gewissenhaft vor Augen führen.
({0})
Die Rückeroberung der IS-Gebiete im Nordirak gibt
uns heute recht in unserer Entscheidung über die Waffenlieferungen und die Ausbildungsmission. Unsere
Unterstützung hat Früchte getragen. Kurden und Jesiden ist es gelungen, den IS-Kämpfern schwere Schläge
zu versetzen. Mittlerweile sind mehr als 6 100 Peschmerga unter deutscher Beteiligung ausgebildet worden.
Die Anhebung der Personalobergrenze in unserer Ausbildungsmission ist ein folgerichtiger Schritt, um unser
Engagement zu intensivieren. Ich begrüße aber auch den
Beschluss über weitere Waffenlieferungen vom vergangenen Dezember, insbesondere die dringend notwendigen 200 MILAN-Panzerabwehrraketen samt Material für
die Ausbildung. Wie wichtig gerade die MILAN-Waffen
sind, zeigt uns beispielsweise der 16. Dezember 2015.
Damals war nach langer Zeit eine erste Großoffensive
des IS - darunter 16 bis an die Decke mit Sprengstoff
beladene Fahrzeuge - gegen die Kurden gestartet. Die
Kurden konnten insgesamt 14 dieser Fahrzeuge mit MILAN bekämpfen. Dann ist die Munition ausgegangen.
Die letzten beiden Fahrzeuge sind dann von der US-Luftwaffe erfolgreich bekämpft worden. Das Ergebnis waren
200 tote IS-Kämpfer, aber auch sechs Tote aufseiten der
Peschmerga. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig gerade
diese Waffe für die Kurden im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ ist. Wir sollten weiterhin an der Seite der
Kurden sein und sie unterstützen.
Herzlichen Dank.
({1})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7207 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Luise
Amtsberg, Volker Beck ({0}), Katja Keul, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes - Streichung der obligatorischen
Widerrufsprüfung
Drucksache 18/6202
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({1})
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Luise Amtsberg für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bisher
ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gesetzlich dazu verpflichtet, seine Entscheidungen zur Anerkennung von Asyl und zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft spätestens nach drei Jahren zu überprüfen.
Hierbei wird im Rahmen von Widerrufsprüfverfahren
festgestellt, ob weiterhin erhebliche Gefahren bei einer
Rückkehr in das Herkunftsland drohen oder eben andere
Ausschlussgründe vorliegen. Dieses Verfahren ist obligatorisch, also routinemäßig und sehr aufwendig.
In unserem Gesetzentwurf, der hier vorliegt, schlagen wir vor, diese obligatorische Prüfung zu streichen.
Es sei gleich zu Anfang dazu gesagt: Die Durchführung
von Widerrufsverfahren in Einzelfällen wäre auch bei
einer Annahme unseres Gesetzentwurfs weiterhin möglich. Die Ausländerbehörde kann demnach jederzeit beim
Bundesamt anfragen, ob nicht ein Widerrufsverfahren
in Betracht kommt. In der Praxis kommt dies auch vor,
wenn eine Ausländerbehörde ein Interesse an der Aufenthaltsbeendigung hat, zum Beispiel bei der Verübung von
Straftaten. In unserem Gesetzentwurf geht es also lediglich darum, diese routinemäßige Prüfung abzuschaffen.
Der Hintergrund ist, so denke ich, eindeutig. Wir wollen zügige und faire Asylverfahren und eine zeitnahe Registrierung von Asylsuchenden und - das ist zentral - die
Entlastung des Bundesamtes von unnötiger Arbeit, damit
die Asylverfahren schnell abgearbeitet werden können.
({0})
Um das zu erreichen, haben wir uns angesehen, welche Möglichkeiten es gibt, die Verfahren des Bundesamtes - das Bundesamt ist mit Arbeit überlastet - zu verschlanken. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann
sieht man, dass unser Vorschlag durchaus sinnvoll ist.
Bis Ende November 2015 wurden laut der Geschäftsstatistik des Bundesamtes insgesamt 9 742 Entscheidungen
über Widerrufsprüfverfahren getroffen. Die meisten Entscheidungen betrafen die Herkunftsländer Irak, Syrien,
Iran und Afghanistan, alles Länder mit einer schlechten
Menschenrechts- und Sicherheitsprognose, und das ist
entscheidend bei der Frage, ob Widerrufsprüfverfahren
durchgeführt werden müssen.
Aber viel wichtiger ist: In nur 5 Prozent der Fälle
erfolgte tatsächlich ein Widerruf der Asylberechtigung
durch das BAMF. Die Zahl der tatsächlich erfolgten Widerrufe steht damit in überhaupt keinem angemessenen
Verhältnis zu dem erheblichen Prüfungsaufwand, der mit
der Einleitung der Widerrufsprüfverfahren einhergeht.
({1})
Die obligatorische Widerrufsprüfung sollte deshalb
abgeschafft werden. Noch einmal der Hinweis: Damit ist
unbenommen, dass auch weiterhin in Einzelfällen solche
Verfahren durchgeführt werden können.
Sie wollen das Asylpaket II in der nächsten Woche
auf den Weg bringen. Das wäre doch durchaus eine gute
Gelegenheit, diesen Vorschlag mit aufzunehmen und im
BAMF damit die Kapazitäten, die es dringend zur Bearbeitung und Entscheidung in Asylverfahren benötigt,
freizusetzen. Ihre Bilanz, liebe Bundesregierung, ist,
gerade was diese Frage angeht, wirklich ernüchternd
bis erschreckend; denn keines der bislang verabschiedeten Asylpakete entlastet tatsächlich das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge oder reduziert die Bearbeitungszeit von Asylanträgen, und das ist doch jetzt unsere
vornehmliche Aufgabe.
({2})
Die Zahl von 360 000 anhängigen Asylverfahren macht
das deutlich. Hinzu kommen die circa 300 000 Asylsuchenden, die zwar registriert wurden, aber noch keinen
Asylantrag stellen konnten. Wenn Sie sich im Detail mit
dem Ablauf eines Widerrufsprüfverfahrens und auch
mit seinen Erfolgsaussichten beschäftigen, dann werden
Sie mir zustimmen, dass sich die Bediensteten des Bundesamtes zurzeit sicherlich mit sinnvolleren Dingen beschäftigen könnten, zum Beispiel damit, die anhängigen
Asylanträge zu entscheiden.
Dazu gehört auch der Blick auf das, was künftig kommen wird. Sie schlagen vor, die Asylverfahren von marokkanischen und algerischen Staatsangehörigen priorisiert zu behandeln, gar nicht zu sprechen von den über
14 weiteren Staaten, die der Freistaat Bayern als weitere
sichere Herkunftsländer eingestuft haben will, darunter
Staaten wie Mali und Nigeria. Wenn das auch noch alles
beim Bundesamt im priorisierten Verfahren bearbeitet
werden sollte, dann kann ich nur sagen: Gute Nacht, liebes Bundesamt.
({3})
Insofern verstehen Sie unseren Vorschlag tatsächlich
als einen Versuch, konstruktiv in die Debatte zu gehen,
Vorschläge zu machen, wo wir Kapazitäten sparen können. Das ist nämlich unser Anliegen. Wenn Sie dem nicht
zustimmen können, dann würde mich schon interessieren, mit welcher Rechtfertigung; denn die Zahlen sprechen für sich. Die meisten Widerrufsprüfverfahren sind
nicht erfolgreich. Sie binden wahnsinnig viele Kapazitäten, und die brauchen wir derzeit ganz woanders.
Herzlichen Dank.
({4})
Das Wort hat die Kollegin Andrea Lindholz für die
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Asyl und
Flüchtlingsschutz sind grundsätzlich befristete Aufenthaltstitel, die dem Schutz von Leib und Leben dienen.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ist daher
gemäß § 73 unseres Asylgesetzes verpflichtet, innerhalb
von drei Jahren zu prüfen, ob die Schutzgründe weiterbestehen und ob der Betroffene auch wahrheitsgemäße
Angaben gemacht hat. Das Ergebnis dieser Widerrufsprüfung teilt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge dann auch den Ausländerbehörden mit, die über den
weiteren Aufenthalt entscheiden.
Der Antrag der Grünen zielt darauf ab, diese Widerrufsprüfung nunmehr abzuschaffen. Damit fordern Sie
letztendlich ein von Anfang an unbefristetes Bleiberecht
für jeden anerkannten Flüchtling,
({0})
für jeden Asylberechtigten und auch für jeden subsidiär
Geschützten.
Diese Forderung ist gerade in der jetzigen Situation
mehr als absurd. Im letzten Jahr haben wir 1 Million
Flüchtlinge bei uns registriert, versorgt und untergebracht. Die Bundesrepublik nimmt mehr als die Hälfte
aller Flüchtlinge der EU auf, und trotz des Winters kommen nach wie vor tagtäglich im Durchschnitt über 3 000
neue Migranten nach Deutschland. In dieser Lage wollen
Sie noch mehr Anreize für Migration nach Deutschland
schaffen, indem Sie einen von Anfang an unbefristeten
Aufenthaltstitel versprechen. Das ist aus meiner Sicht in
keiner Weise mehr nachvollziehbar.
({1})
Ja, Frau Kollegin Amtsberg, die Widerrufsprüfung ist
aufwendig, und genau deswegen haben wir im letzten
Jahr im Zuge der Reform des Bleiberechtes den bürokratischen Aufwand reduziert. Hierauf gehen Sie in keiner
Weise, weder in Ihrem Antrag noch in Ihrer Rede, ein.
Seit August 2015 muss das Bundesamt der Ausländerbehörde nur noch über diejenigen Widerrufsprüfungen
Auskunft geben, die für eine Aufhebung des Schutzes
plädieren. Da das Bundesamt bisher in 95 Prozent der
Fälle den Schutzanspruch nicht widerrufen hat, entfallen bei vielen Prüfverfahren die aufwendigen Prüfakten
und auch die Korrespondenz mit der zuständigen Ausländerbehörde. Wir haben also für eine bürokratische
Entlastung gesorgt. Laut einer Pressemitteilung des Bundesamtes vom 13. August letzten Jahres hat sich der Arbeitsaufwand deutlich verringert. Zudem haben wir über
4 000 neue Stellen für mehr Leistungsfähigkeit im Bundesamt geschaffen. Insofern, glaube ich, ist es ein nach
wie vor richtiges und notwendiges Verfahren.
Es steht im Übrigen in Übereinstimmung mit dem
Völkerrecht und ist auch in Artikel 44 der Asylverfahrensrichtlinie explizit verankert. Wenn wir eine europäische Flüchtlingspolitik wollen, dann muss Europa sein
Asylrecht im Einklang mit dem Asylrecht seiner europäischen Nachbarn halten und darf keine weiteren einseitigen Anreize schaffen.
({2})
- Vielleicht hören Sie einfach einmal eine Weile zu; dann
würde sich Ihr Einwurf erübrigen.
Österreich hat erst im letzten Jahr die Widerrufsprüfung im Asylrecht gestärkt. Künftig sollen die österreichischen Behörden nach drei Jahren systematisch prüfen,
ob Schutzgründe im Einzelfall fortbestehen. Nur dann,
wenn das der Fall ist, wird der Aufenthaltsstatus verlängert. Wien betont ganz bewusst, dass es nur ein Asyl auf
Zeit, also einen befristeten Schutz, gewährt.
Selbst im liberalen Schweden, liebe Frau Kollegin,
beginnt man, bei der Befristung umzudenken und sich
von dem bisher großzügigen Aufenthaltsrecht zu verabschieden. Die Überforderung durch die aktuell große
Zuwanderung sorgt gerade auch in Schweden für eine
Kehrtwende in der Asylpolitik. Im November 2015 wurde verkündet, dass erwachsene Asylbewerber künftig nur
noch befristete Aufenthaltstitel erhalten sollen, und in der
Süddeutschen Zeitung war in der letzten Woche zu lesen,
dass in Schweden immer mehr Stimmen einen befristeten
Aufenthaltstitel auch für anerkannte Flüchtlinge fordern.
Erst nach einer Probezeit von drei Jahren und nach einer entsprechenden Prüfung soll es unbefristete Aufenthaltstitel geben. Selbst Schweden nähert sich also dem
deutschen Recht an und nicht umgekehrt. Diese beiden
Beispiele zeigen doch, dass der Trend in Europa gerade zu einer konsequenteren Widerrufsprüfung geht. Wir
können bei den aktuellen Flüchtlingsströmen doch nicht
noch weitere Anreize für den Zustrom setzen. Genau das
fordern Sie aber mit Ihrem Gesetzentwurf. Ich halte das
in der jetzigen Situation für verantwortungslos.
({3})
Ich glaube im Übrigen, dass es auch kontraproduktiv
ist, wenn wir uns mit den anderen europäischen Ländern
über eine weitere europaweite Verteilung der Flüchtlinge einigen, weil wir uns auch jetzt schon immer wieder
dem Vorwurf aussetzen müssen, dass wir keine gemeinsamen europäischen Regelungen finden und dass wir in
Deutschland einfach zu viele Zuzugsanreize setzen.
Die Widerrufsprüfung ist wichtig, auch im Hinblick
auf die Übergriffe in Köln und in anderen Städten. Es
muss nämlich ganz klar sein: Wer bei uns einen Flüchtlingsstatus erhält, erhält damit keinen Freifahrtschein. Es
muss klar sein: Jeder Fall wird angeschaut, wird überprüft - wenn die Gründe weggefallen sind, wird die
Berechtigung widerrufen -, und das nicht irgendwann,
wenn ein Mitarbeiter zufälligerweise feststellen sollte,
dass sich die Voraussetzungen geändert haben,
({4})
sondern durch eine systematische Prüfung, die ich nach
wie vor für richtig und auch für ein wichtiges Signal halte. Es ist in manchen Fällen gut, wenn man manche Bürokratie lässt, um Fehlanreize zu vermeiden.
Wir müssen, um die Flüchtlingskrise zu meistern,
die unkontrollierte und starke Zuwanderung schnell und
spürbar begrenzen. Ich würde mir von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grünen, hierzu einmal konstruktive Vorschläge wünschen.
({5})
Ich habe bisher keinen einzigen konstruktiven Vorschlag
vernommen. Dieser Gesetzentwurf samt der heutigen
Debatte ist im Grunde genommen absolut überflüssig,
kontraproduktiv und führt in keinster Weise dazu, dass
die Probleme in unserem Lande gelöst werden.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Grünen haben hier eigentlich gar keine neue Debatte aufgemacht. Diese Debatte haben wir im Innenausschuss
mehrfach geführt. Auch die Linke ist für die klare Abschaffung der obligatorischen Widerrufsprüfung. Sie ist
längst überfällig.
({0})
Im Moment muss jeder Einzelfall eines Flüchtlings in
der Tat drei Jahre nach der Anerkennung erneut geprüft
werden.
({1})
Auch wir halten das für eine sinnlose Beschäftigung des
Personals des BAMF, das eh total überfordert ist. Auch
vor dem Hintergrund der hohen Anerkennungszahlen,
die wir derzeit haben, muss man davon ausgehen, dass
das BAMF im Grunde genommen kollabiert, wenn man
weiterhin an dieser obligatorischen Widerrufsprüfung
festhält.
({2})
In keinem europäischen Land außer Deutschland wurde dieses Verfahren bisher praktiziert. Warum haben es
andere Länder nicht? Dass auch Österreich es jetzt einführt,
({3})
macht es nicht besser.
Die Zahlen sind folgende: 2014 hat es 12 527 Prüfverfahren gegeben. In nur 5 Prozent der Fälle ist die Asylberechtigung widerrufen worden.
({4})
Im dritten Quartal des letzten Jahres ist sogar nur noch
in 2,2 Prozent der Fälle widerrufen worden. Und die Gerichte haben in den meisten dieser Fälle den Widerruf zurückgewiesen und das Asylrecht erneut bestätigt. Wenn
man das über Jahre feststellt, dann ist es doch völlig unsinnig, immer wieder noch Prüfungen durchzuführen.
({5})
Jetzt komme ich einmal zu Ihnen, Frau Lindholz.
Es geht hier um Menschen und nicht in erster Linie um
Anreize. Wenn zum Beispiel die Kinder in Deutschland
nur für drei Jahre zur Schule geschickt werden, dann ist
das integrationshemmend, wenn man den Leuten Angst
macht: Was passiert in drei Jahren?
({6})
Wie wird es mit meiner Familie weitergehen? - Es ist
eine reine Schikane vor dem Hintergrund, dass man
weiß, dass diese Menschen sowieso hierbleiben dürfen.
({7})
Deswegen ist es richtig, dass der Schutzstatus im
Grunde genommen eine Bleibeperspektive für die Menschen haben muss. Das halte ich für absolut wichtig.
({8})
Die Menschen dürfen nicht verunsichert werden. Vor
allen Dingen ist die jetzige Regelung integrationshemmend. Das darf einfach nicht sein.
Das BAMF hat in der Tat eine Unmenge von Aufgaben. Wir haben das hier immer wieder diskutiert. Ihre
Fraktion und auch der Bundesinnenminister haben lange
Zeit alle Forderungen ignoriert, mehr Stellen zu schaffen und eine Aufstockung des Personals vorzunehmen.
Das ist lange Zeit zurückgewiesen worden. Jetzt haben
wir mehr Stellen. Nun ist es wichtig, dass die entscheidenden Aufgaben erledigt werden. Ich halte es für ausgesprochen konstruktiv, sich auch Gedanken darüber zu
machen, wie man Bürokratie abbauen kann, wenn sie im
Verfahren ohnehin nichts bringt.
({9})
Meine Damen und Herren, bereits Ende 2014 lagen
169 000 unentschiedene Asylanträge beim BAMF vor.
Heute sind es 365 000 offene Verfahren. Die Menschen,
die hier im Verfahren sind, warten bis zu einem Jahr darauf, dass sie überhaupt einen Asylantrag stellen können.
Trotz dieser Zahlen werden wichtige Schritte zur Beschleunigung der Asylverfahren nicht gegangen. Es fehlt
zum Beispiel noch eine Altfallregelung. Auch damit
könnte man das BAMF entlasten.
Statt weiterhin für diejenigen Flüchtlinge, bei denen
sicher ist, dass sie hierbleiben werden - bei den Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan und Eritrea beträgt
die Anerkennungsquote ja über 99 Prozent -, schriftliche
Verfahren zu praktizieren, wie es in letzter Zeit der Fall
war, sorgen Sie für eine erhöhte Arbeitsbelastung beim
BAMF, indem jetzt wieder individuelle Befragungen
eingeführt werden. Auch das halten wir für falsch. Diese
Maßnahmen in der Behörde, die viel Zeit kosten, müssen
zurückgefahren werden, damit die Menschen schneller
anerkannt werden.
Frau Lindholz, Sie wissen genauso gut wie ich: Erst
wenn jemand anerkannt ist, hat er Zugang zu Integration.
Mit einem Jahr und mehr dauert das gegenwärtig viel zu
lange.
({10})
Deswegen appelliere ich an Sie: Geben Sie der Integration eine Chance, und gehen Sie diese Schritte der Entbürokratisierung!
Ihre hier geführte Anreizdebatte halte ich für in der
Sache völlig verfehlt. Gerade die Menschen, über die wir
heute reden, haben einen Schutzstatus, den sie zu Recht
bekommen haben.
({11})
Sie stellen das in Zweifel, indem Sie so tun, als würden
diese Menschen hier nur irgendwelchen Anreizen folgen.
Ich danke Ihnen.
({12})
Der Kollege Dr. Lars Castellucci hat für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen hat vorgeschlagen, das Asylverfahrensgesetz zu verändern und dort die obligatorische
Widerrufsprüfung zu streichen. Dahinter steht eine Zielsetzung. Die eigentliche Zielsetzung ist, zu einer Beschleunigung unserer Asylverfahren zu kommen.
In dieser Zielsetzung stimmt die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen mit den Zielstellungen der Koalition und
dem Koalitionsvertrag überein. Auch wir sind dafür, die
Verfahren zu beschleunigen. Ich will die Gelegenheit
nutzen, zunächst einmal zu schauen, wo wir nach etwas
mehr als der Hälfte unserer Regierungszeit mit Blick auf
die Verfahren stehen.
Wenn ein Fahrstuhl für 20 Personen ausgelegt ist,
braucht man sich nicht zu wundern, wenn er mit 400 Personen stecken bleibt. So ähnlich ist es mit unseren
Asylverfahren. In den Jahren 2008 und 2009 hatten wir
23 000 bzw. 28 000 Asylsuchende in Deutschland - und
auch schon 20 000 aufgelaufene, also unerledigte Verfahren. Es brauchte also nicht die knappe halbe Million
Anträge vom vergangenen Jahr, um diesen Apparat zu
überfordern. Der Apparat war längst überfordert. Wahrscheinlich wusste man noch nicht einmal, für wie viele
Personen - auf das Bild übertragen - der Fahrstuhl eigentlich ausgelegt war.
Die Verfahrensdauer betrug in den Jahren 2008 und
2009 im Durchschnitt rund 15 Monate. Heute - das kann
man an dieser Stelle sachlich sagen - liegen wir trotz der
gewaltig gestiegenen Zahlen erheblich darunter. Je nach
Bundesland bewegte sich die Verfahrensdauer im ersten
Halbjahr 2015 - das sind die Zahlen, die mir vorliegen zwischen 3,3 Monaten, nämlich in Mecklenburg-Vorpommern, und 7,9 Monaten, nämlich in Schleswig-Holstein. Die Jahreszahlen werden aufgrund der Dynamik
im zweiten Halbjahr wahrscheinlich schlechter ausfallen.
Der Durchschnitt verdeckt dabei, dass es natürlich eine
Vielzahl von Einzelfällen gibt, bei denen die Verfahrensdauer deutlich über diesem Mittelwert liegt.
Darüber hinaus gibt es die aufgelaufenen Fälle. Das
sind mit Stand Ende letzten Jahres - ich sage das jetzt
einmal sehr langsam - 364 664. Diese 364 664 Fälle gehen nicht in die Berechnung der durchschnittlichen Verfahrensdauer ein; denn in diesen Fällen ist ja noch nicht
einmal ein Verfahren eröffnet worden. All denjenigen,
die über Obergrenzen sprechen und begonnen haben, dafür sogar Unterschriften zu sammeln, möchte ich sagen:
Mit diesen 364 664 Fällen ist für mich längst eine Obergrenze erreicht. Das kann so nicht bleiben. Wir müssen
unbedingt zu einem Abbau dieser aufgelaufenen Fälle
kommen.
Was weiterhin nicht eingerechnet wird, ist die Zeit, die
es braucht, bis überhaupt ein Verfahren eröffnet wird. Es
ist mittlerweile kein Geheimnis mehr, dass wir an dieser
Stelle den Koalitionsvertrag unterschiedlich interpretieren. Es heißt dort - ich zitiere -:
Vor dem Hintergrund der erheblich gestiegenen Zugangszahlen im Asylbereich setzen wir uns - auch
im Interesse der Schutzsuchenden - mit besonderem Vorrang für die Verkürzung der Bearbeitungsdauer bei den Asylverfahren ein.
Jetzt kommt der entscheidende Satz:
Die Verfahrensdauer bis zum Erstentscheid soll drei
Monate nicht übersteigen.
Egal wie man diesen Satz also interpretiert, müssen
wir feststellen: Wir verfehlen nach wie vor dieses Ziel.
Für mich und meine Fraktion ist völlig klar: Es ist natürlich Unsinn, von einer dreimonatigen Verfahrensdauer
beim BAMF zu sprechen und die Zeit, die es braucht, bis
überhaupt ein Verfahren eröffnet wird, nicht mit einzurechnen. Wir müssen von einer Zahl ausgehen, und wir
müssen die Verfahren so verkürzen, dass niemand länger
als drei Monate in Deutschland warten muss, bis eine
Asylentscheidung gefallen ist.
({0})
Gleichzeitig gibt es bemerkenswerte Fortschritte
beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Daran
sind die Große Koalition und die Politik natürlich nicht
unschuldig. Die Zahl der Entscheidungen ist im letzten
Jahr verdoppelt worden, obwohl es da noch gar nicht die
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gab, deren Stellen wir
mit dem letzten Haushalt genehmigt haben. Der neue
Leiter des Bundesamtes stellt uns auch in Aussicht, dass
in diesem Jahr die Einhaltung der dreimonatigen Verfahrensdauer und der Rückbau der aufgelaufenen fast
370 000 Verfahren gelingen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir das einmal in der
Zwischenbilanz anschauen, dann ist es sehr berechtigt,
hier Vorschläge zu unterbreiten, die zu einer weiteren
Verkürzung und Beschleunigung der Verfahren führen
können, und zwar im Interesse aller Beteiligten. Denn
überlange Verfahren sind für alle eine Belastung. Sie
sind nicht Ursache der Belastung. Die Ursache liegt darin, dass die Menschen überhaupt fliehen müssen. Aber
wenn man nur einmal die Zeit ab dem Grenzübertritt
nimmt und unterstellt, dass eine Verfahrensdauer von
drei Monaten erreicht würde, dann könnten wir uns die
Beschäftigung mit einigen Problemen, die in der Folge
entstehen, sparen. Sie wären abgemildert oder würden
gar nicht entstehen. Damit meine ich die Probleme, die
einfach entstehen, wenn Menschen in Massen in Unterkünften zusammengepfercht sind, wenn sie keine klare
Zukunftsperspektive haben, wenn sie im Grunde immer
noch weitgehend zur Untätigkeit verdammt sind, wenn
sie nicht für sich selber sorgen können, wenn sie nicht
wissen, was mit ihren Angehörigen in der Heimat gerade
ist. Lange Verfahren bedeuten einen unsicheren Aufenthaltsstatus. Sie bedeuten geringere Chancen auf Ausbildung und Arbeit. Sie bedeuten auch, dass die Menschen,
die sich für die Integration engagieren, mit ihrer Arbeit
häufig ins Leere laufen; denn es werden Erfolge erreicht,
und irgendwann wird den Menschen dann gesagt, dass
sie nicht bleiben können. Das ist kein sinnvoller Zustand.
Im Interesse von allen Beteiligten - den Ehrenamtlichen,
den Hauptamtlichen, den Flüchtenden selbst - müssen
wir zu einer Verkürzung der Verfahren kommen, so wie
wir uns das im Koalitionsvertrag vorgenommen haben.
Dazu gibt es verschiedene Stellschrauben. Eine Stellschraube ist das Personal. Wir haben die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge mehr als verdoppelt. Das muss jetzt erst
einmal bewältigt werden. Sie müssen eingearbeitet werden, und dann müssen wir sehen, ob es reicht.
Eine weitere Stellschraube ist die Organisation. Dazu
wird es heute, am späteren Nachmittag, noch eine weitere Debatte hier geben, nämlich zur Einführung des sogenannten Ankunftsnachweises. Wir haben ja miterleben
müssen, dass in Deutschland bis zu viermal registriert
worden ist, aber gleichzeitig die eine Behörde nicht die
Daten der anderen nutzen konnte. Diesen Zustand wollen
wir mit dem sogenannten Ankunftsnachweis beenden.
Das ist eine überfällige und sehr richtige Maßnahme.
Auch die Flüchtlinge selbst können natürlich zur Beschleunigung der Verfahren beitragen. Eines der größten
Hindernisse für schnelle Verfahren ist die fehlende oder
mangelnde Mitwirkung bei der Identitätsfeststellung.
Auch hier sind kreative Ideen gefragt, wie wir das verbessern können. Wir müssen den Behörden möglicherweise mehr Mittel in die Hand geben, damit das funktionieren kann.
Als Stellschraube gehört natürlich auch dazu, zu überlegen, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
nicht von Aufgaben entlastet werden kann, die es eigentlich zu erledigen hat, die aber im Moment keinen Beitrag dazu leisten, die Verfahren zu beschleunigen. Deswegen bin ich dankbar - das diskutieren wir schon seit
längerem - für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Ich wünsche mir, dass wir darüber im Ausschuss
offen beraten.
({1})
Welche Dinge sind relevant? Wir haben jetzt Vorschläge dazu. Zum einen müssen sie - das ist klar - der
Sache dienen; das würde dieser Vorschlag. Zum Zweiten
muss die Sicherheit gewährleistet sein. Wir wollen weder
Hoppladihopp-Verfahren, die die Rechtsstaatlichkeit infrage stellen, was die Verfahren der Flüchtlinge angeht,
noch wollen wir zu weiterer Unsicherheit beitragen.
Auch hier besteht nicht die Gefahr, dass der Antrag einen
Beitrag in die falsche Richtung leistet.
Wir sind auch gefordert, in andere Länder zu schauen.
Der Kollege Meier hat die Schweiz genannt. Ich hatte
heute Gesprächspartner aus den Niederlanden im Büro.
Dort ist die Rechtsberatung eingewoben in das Asylverfahren. Damit spart man sich auf lange Sicht, dass die
Verfahren infrage gestellt werden und sich nach hinten
verzögern.
Kurzum: Alles, was helfen kann, sollte in der Situation, in der wir sind, ohne Schaum vor dem Mund und
ohne ideologische Scheuklappen betrachtet werden. Deswegen glaube ich, dass es sinnvoll ist, dass wir im Ausschuss noch einmal darüber reden.
Um wen geht es? Ich komme einmal auf die langen
Linien zu sprechen. Es geht um diejenigen, die hier als
Flüchtlinge anerkannt sind. Es geht um diejenigen, die
bereits drei Jahre hier leben. Es geht um diejenigen, die
ihre Kinder hier schon zur Schule schicken, die die Sprache bereits können - bei den Kindern geht das erstaunlich schnell -, die ihren Lebensunterhalt bereits selbst
finanzieren können, die in eigenen Wohnungen leben
können. Mit anderen Worten: Es geht um diejenigen, die
als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, aber schon auf
dem besten Weg sind, die Freunde, die Nachbarn und die
Kolleginnen und Kollegen der Zukunft zu werden. Mit
Blick auf die langen Linien prophezeie ich, dass wir den
Tag erleben - er wird nicht so schrecklich fern sein -,
wo sich die Lage insgesamt beruhigt. Dann werden wir
angesichts unserer demografischen Entwicklung froh
sein über jeden, der nach drei Jahren mit Kindern in der
Schule, mit Arbeit und Wohnung integriert ist. Abseits
von der humanitären Verpflichtung, die wir haben, droht
uns, dass wir, wenn wir Menschen nach drei Jahren zurückschicken, gerade diejenigen zurückschicken, die wir
hier am besten brauchen können, die hier schon auf dem
Wege der Integration sind.
({2})
Hier sind wir schlecht beraten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Montesquieu
hat den berühmten Satz gesagt: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig,
kein Gesetz zu machen.“ Er hat auch gesagt: „Überflüssige Gesetze tun den notwendigen an ihrer Wirkung Abbruch.“ Das ist kein genialer Satz, aber ein richtiger.
Ich wünsche uns gute Beratungen im Ausschuss.
({3})
Die Kollegin Barbara Woltmann hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegen und Kolleginnen! Den eingebrachten Gesetzentwurf
von Bündnis 90/Die Grünen zur Streichung der obligatorischen Widerrufsprüfung durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, das BAMF, lehnen wir von
der CDU/CSU-Fraktion ab. Das haben Sie schon den
Worten meiner Kollegin Andrea Lindholz sehr deutlich
entnehmen können.
Zur Erinnerung: Die Regelung ist unter der rot-grünen
Bundesregierung im Zuge des Zuwanderungsgesetzes,
das zum 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, beschlossen
worden. Das Gesetz wurde in Übereinstimmung mit EUund Völkerrecht eingeführt, wie es auch in den meisten
Ländern der Europäischen Union der Fall ist.
({0})
Um was geht es? Nach Erteilung eines positiven Asylbescheides ist das BAMF nach § 73 Absatz 2 a Satz 1
Asylgesetz dazu verpflichtet, spätestens nach Ablauf
oder innerhalb von drei Jahren zu überprüfen, ob die
anerkannten Asylvoraussetzungen weiterhin vorliegen
und deshalb Schutz in Deutschland gewährt werden
muss oder ob sich die Verhältnisse im Heimatland der
Betroffenen inzwischen geändert haben und dadurch die
Schutzgründe weggefallen sind. Dann teilt das BAMF
den zuständigen Ausländerbehörden das Ergebnis mit.
Das alles hat seinen Grund: Sowohl Asyl als auch
Flüchtlings- oder subsidiärer Schutz sind vorübergehende Schutztitel. Auch Duldungsgründe bestehen nicht
zwingend dauerhaft. Eine Überprüfung und gegebenenfalls Aufhebung des gewährten Status halte ich daher für
angemessen und absolut notwendig. Dies ist auch wichtig, lieber Kollege Castellucci, um einer Verfestigung
des Aufenthaltes vorzubeugen, wenn die Schutzgründe
entfallen sind, das heißt die Menschen in ihren Heimatländern nicht mehr verfolgt werden. Die Anerkennung
als Flüchtling oder als Asylberechtigter soll eben nicht
automatisch zu einem dauerhaften Aufenthalt führen. Es
handelt sich um einen Schutz auf Zeit in einer lebensbedrohenden Notsituation für den Betroffenen. Dies ist
auch der Unterschied zu einer Einwanderung, um die es
hier ja gerade nicht geht. Das ist nämlich ein ganz anderes Rechtsinstitut. Es geht nicht um ein dauerhaftes
Bleiberecht.
({1})
Schauen wir uns beispielsweise die Zahlen aus dem
Jahr 2009 an. Damals sind bei rund 15 000 Widerrufsprüfverfahren circa 4 800 Asylbescheide, also knapp ein
Drittel, widerrufen worden. Es ist zwar richtig, dass die
Widerrufsquote momentan mit rund 2,7 Prozent sehr gering ist und dass ein Großteil der Flüchtlinge für längere
Zeit in Deutschland bleibt. Das ist aber hauptsächlich der
seit fünf Jahren andauernden Kriegssituation in Syrien
und im Nordirak geschuldet. Solange dieser Kriegszustand anhält, ist die Prüfung für Menschen aus diesen
Ländern relativ schnell abzuhandeln.
({2})
Eine geringe Widerrufsquote ist kein Grund, auf die
jetzige Regelung zu verzichten. Es tut mir leid, Frau
Amtsberg.
Wir haben aber im letzten Jahr auf die neue Situation reagiert und mit dem Gesetz zur Neubestimmung des
Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, das zum
1. August 2015 in Kraft getreten ist, eine Entlastung des
BAMF herbeigeführt und das Verfahren vereinfacht. Es
ist auch in unserem Interesse, dass Verfahren vereinfacht
werden, und das haben wir mit diesem Gesetz im letzten Jahr getan. Denn jetzt, nach der Neuregelung in § 26
Absatz 3 Aufenthaltsgesetz, kann die Ausländerbehörde
anerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis erteilen, wenn - das ist jetzt wichtig das BAMF nicht im Ausnahmefall mitgeteilt hat, dass
die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme des Schutzstatus vorliegen. Das heißt, da entfällt
der Austausch bzw. die Korrespondenz mit den Ausländerämtern. Damit ist es einfacher geworden. So entfällt
in einer Vielzahl von Verfahren die bisher erforderliche
aufwendige Anlage und Führung spezieller Widerrufsprüfakten und - wie bereits gesagt - die damit einhergehende Korrespondenz mit den Ausländerbehörden. Der
Aufwand für Einzelfallprüfungen, die das BAMF durchführen muss, verringert sich dadurch erheblich, da die
Prüfung jetzt viel pauschaler durchgeführt werden kann.
Die Voraussetzungen für die Bewältigung der hohen
Fallzahlen - seien es nun Asylanträge, Folgeanträge, was
auch immer - haben wir mit der Aufstockung des Personals geschaffen. In diesem Jahr sollen rund 4 000 neue
Stellen besetzt werden, und auch in den letzten zwei Jahren haben wir mehr Stellen im BAMF geschaffen. Unser
Ziel ist eine dreimonatige Verfahrensbearbeitung. Bei
Asylbewerbern zum Beispiel aus sicheren Herkunftsländern soll die Bearbeitungsdauer auf drei Wochen verkürzt
werden. Insofern ist auch die Planung von Registrierzentren, die jeder Flüchtling durchlaufen muss, richtig.
Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heute noch beraten werden, wird die Verfahrensabläufe und
die Zusammenarbeit aller Stellen deutlich verbessern
und auch zu einem effektiveren Verfahrensablauf führen. Der Ankunftsausweis wird die Identifizierung und
die Registrierung erleichtern. Seit Anfang Januar werden
die Flüchtlinge, die von Bayern aus verteilt werden, dort
auch registriert. Das heißt, wir kommen schon jetzt zu
geordneteren Verfahren als im letzten Jahr.
Das zweite Asylpaket, mit dem wir unter anderem
beschleunigte Asylverfahren für Anträge mit sehr geringen Erfolgsaussichten einführen wollen und mit dem
wir auch den Familiennachzug, zumindest für subsidiär
Schutzberechtigte, begrenzen wollen, steht kurz vor der
Einigung und wird ebenfalls zu spürbaren Verbesserungen bis runter in die Kommunen führen.
Die Verfahrensänderungen, Leistungskürzungen und
auch Verschärfungen, die wir bisher durchgeführt haben,
sind, ich will es zugeben, für manch einen bitter, aber
angesichts der hohen Zahl von Flüchtlingen, die nach
Deutschland kommen, zwingend notwendig. Ich glaube
nicht, dass ich die Zahlen nennen muss; sie sind bekannt.
Wenn weiterhin pro Jahr etwas über 1 Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen würden, dann wäre das
entschieden zu viel. Die bereits in 2014 und 2015 beschlossenen Gesetze, die wir auf den Weg gebracht haben, waren wichtige erste Schritte, um mit der jetzigen
Situation gut fertigzuwerden. Wir brauchen geordnete,
schnelle Verfahren, und wir müssen auch wissen, wer
sich in unserem Land aufhält.
({3})
Es ist richtig, dass Flüchtlinge, die an der Grenze erklären, dass sie in Deutschland keinen Asylantrag stellen
wollen, bereits jetzt gemäß der Dublin-Verordnung zurückgewiesen werden. Aber eines muss klar sein: Sollten
die Zahlen nicht deutlich runtergehen, werden wir über
weitere Einschnitte im bisherigen System diskutieren
müssen.
Auch die Frage nach der Einstufung weiterer Staaten
als sichere Herkunftsländer müssen wir uns stellen. Denn
das führt - das haben wir bei der Einstufung der Balkanstaaten gesehen - zu einer deutlichen Reduzierung bzw.
zu einer Beschleunigung im Verfahren.
Im Dezember 2015 - das müssen wir uns einmal vor Augen führen - machten Asylbewerber aus den Balkanstaaten nur noch rund 8 Prozent aller Antragsteller aus. Im
Vergleich dazu: Im Sommer waren es rund 40 Prozent,
im März 2015 waren es sogar einmal 62 Prozent. Das ist
viel zu viel.
Ich denke, dass wir die richtigen Weichen gestellt haben. Mit den Asylpaketen II und III werden wir weitere
Weichen stellen. Aber alle - und das möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal deutlich betonen - müssen
ihren Teil dazu beitragen, besonders die Länder. Ich halte
es für unerträglich, dass nicht konsequent abgeschoben
wird und die Möglichkeiten des ersten Asylpakets noch
nicht von allen Ländern voll umfänglich umgesetzt werden, zum Beispiel Sachleistung vor Geldleistung, Leistungsreduzierung bei schuldhafter Verhinderung der Abschiebung.
Alles in allem bleibt festzuhalten, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es ist Ziel der CDU/CSU, die
Flüchtlingszahlen spürbar zu verringern. Wir dürfen weder die vielen Ehrenamtlichen noch die Kommunen und
schon gar nicht die Integrationsfähigkeit unseres Landes
überfordern. Damit wäre niemandem geholfen, uns nicht
und auch den Flüchtlingen nicht, die unseres Schutzes
bedürfen.
({4})
Noch einmal zum Schluss: Asylrecht ist Schutz auf
Zeit. Insofern lehnen wir den Gesetzentwurf der Grünen
ab. Die Gesetzesänderung, die wir 2015 dazu durchgeführt haben, reicht völlig aus.
Vielen Dank.
({5})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf Drucksache 18/6202 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse
und verwandte Erzeugnisse
Drucksache 18/7218
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die notwendigen Umgruppierungen, Absprachen und Abstimmungen zügig vorzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin Dr. Maria Flachsbarth.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Jedes Jahr sterben laut Suchtbericht 2015 der Drogenbeauftragten der Bundesregierung in Deutschland
110 000 Menschen an den Folgen des Rauchens. Als zuständiger Minister für den gesundheitlichen Verbraucherschutz hat Bundesminister Schmidt deshalb den Entwurf
für ein Tabakerzeugnisgesetz zur Umsetzung der EU-Tabakproduktrichtlinie eingebracht.
Für den gesundheitlichen Verbraucherschutz ist der
heute vorgelegte Gesetzentwurf ein wichtiger Meilenstein. Zugleich bleiben Zigaretten nach wie vor ein legales Genussmittel. Es wird auch weiterhin eine nennenswerte Erzeugung von Raucherzeugnissen in Deutschland
geben. Doch die hohe Zahl von Menschen, die an den
Folgen des Rauchens sterben bzw. schwer erkranken,
zeigt den dringenden Handlungsbedarf, Verbraucherinnen und Verbraucher auf die möglichen Folgen des
Tabakkonsums hinzuweisen. Deshalb werden mit dem
Entwurf die Voraussetzungen für folgende Maßnahmen
getroffen:
Das Inverkehrbringen von solchen Zigaretten und von
solchem Tabak zum Selbstdrehen wird verboten, die ein
charakteristisches Aroma haben, die in ihren Bestandteilen Aromastoffe oder technische Merkmale enthalten, mit denen sich Geruch, Geschmack oder Rauchintensität verändern lässt, oder die in Filtern, Papier oder
Kapseln Tabak oder Nikotin enthalten. Daneben dürfen
Zigaretten, Tabak zum Selbstdrehen und WasserpfeifenBarbara Woltmann
tabak nur noch mit gesundheitsbezogenen kombinierten
Text-Bild-Warnhinweisen in den Verkehr gebracht werden.
Erstmals werden neben Tabakerzeugnissen und pflanzlichen Raucherzeugnissen auch elektronische Zigaretten
und Nachfüllbehälter geregelt. Für sie enthält der Gesetzentwurf unter anderem Vorschriften zu Inhaltsstoffen,
Produktsicherheit, Verpackungsgestaltung und Mitteilungspflichten. Um die Rückverfolgbarkeit und Echtheit
von Tabakerzeugnissen zu gewährleisten, müssen deren
Packungen ein individuelles Erkennungsmerkmal und
ein fälschungssicheres Sicherheitsmerkmal tragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das umfangreiche
Gesetzespaket gestaltet die Rechtslage damit neu und
behält gleichzeitig die Interessen aller im Blick. Wir
setzen die EU-Tabakproduktrichtlinie mit Sorgfalt, aber
eben auch mit Augenmaß eins zu eins um. Wir schützen
Verbraucherinnen und Verbraucher, schränken aber nicht
ihre Entscheidungsfreiheit ein.
({0})
Um einen kleinen Ausblick auf weitere Schritte, weitere Initiativen aus dem Bundesministerium zu wagen:
Wenn die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auf
dem Spiel steht, dann muss die Politik handeln. Deshalb
werden Einschränkungen hinsichtlich der Abgabe von
E-Shishas an Kinder und Jugendliche bereits gesetzlich
verankert. Darüber hinaus will Bundesminister Schmidt
in einem weiteren Änderungsgesetz bei der Werbung vorangehen - der entsprechende Entwurf ist bereits bei der
EU-Kommission notifiziert -; denn gerade Jugendliche
können sich der allgemein präsenten Außenwerbung nur
sehr schwer entziehen. Der Zusammenhang zwischen
dem Kontakt Jugendlicher mit Tabakwerbung und der
Wahrscheinlichkeit, zu rauchen oder mit dem Rauchen
zu beginnen, wurde in mehreren repräsentativen Studien
untersucht und ist statistisch belegt. Dieses zweite Gesetz wird über diese Werbeeinschränkung hinaus regeln,
dass auch nikotinfreie E-Zigaretten und E-Shishas unter
anderem bei Werbung und Sicherheit wie nikotinhaltige E-Zigaretten behandelt werden und auch unter das
Tabak erzeugnisgesetz fallen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der gesundheitliche Verbraucherschutz steht im Zentrum unserer Politik.
Deshalb bitten wir um Ihre Unterstützung bei den anstehenden parlamentarischen Beratungen.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Kollege Frank Tempel für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Millionen Bürger wollen nun einmal leider
nicht auf ihre Zigarette verzichten. Wir wissen aber, dass
mit diesem Konsum erhebliche Risiken verbunden sind.
121 000 Todesfälle allein im Jahr 2013 werfen natürlich
auch die Frage des Verbots auf. Aber wir wissen: Genau
das funktioniert nicht. Die Inhaltsstoffe eines Schwarzmarkttabaks sind noch gefährlicher; denn sie unterliegen
keiner staatlichen Kontrolle. Zigaretten würden nicht
weniger, aber eben gefährlicher werden. Deshalb suchen
wir nach Möglichkeiten, durch präventive und regulierende Maßnahmen die Schäden durch Tabakkonsum in
unserer Gesellschaft zu verringern. Diesen Weg fordert
die Linke übrigens auch bei anderen Drogen wie Cannabis deutlich ein.
({0})
Mit der Umsetzung der Richtlinie über Tabakerzeugnisse sollen jetzt Maßnahmen eingeführt und durchgesetzt werden, die das Ziel haben, gesundheitliche Risiken
zu minimieren und den Raucher zum Verzicht auf die
Zigarette oder zumindest zur Verringerung seines Rauchkonsums zu bewegen. Es liegt in der Natur der Sache,
dass erst die Praxis zeigen wird, welche Maßnahmen
hilfreich und auch wirkungsvoll sind, zum Beispiel neue
Warnhinweise in einer Kombination von Bild und Text
auf der Verpackung, das Verbot von problematischen Zusatzstoffen oder die Beschränkung der Tabakwerbung.
Dass schadensminimierende Maßnahmen getroffen werden müssen, steht für die Linke angesichts von Tausenden Todesfällen in jedem Jahr völlig außer Frage.
Es gibt große Reserven. Laut dem Tabakatlas des
Deutschen Krebsforschungszentrums hat Deutschland
gegenwärtig im europäischen Vergleich immer noch eine
der freizügigsten Regelungen bei der Tabakwerbung. Wesentlich strengere Regelungen führen in Staaten wie zum
Beispiel Großbritannien mittlerweile zu einem Rückgang
der Raucherzahlen um sage und schreibe 11 Prozent.
Deutschland hinkt mit 3 Prozent nach wie vor hinterher
und ist weniger erfolgreich.
Die Linke wird aber auch genau beobachten und aufdecken, welche Maßnahmen tatsächlich funktionieren
und welche nur den Schein einer präventiven Regulierung erwecken. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen. Von 2002 bis 2005 gab es in Deutschland sehr
deutliche und spürbare Erhöhungen der Tabaksteuer um
jährlich rund 10 bis 16 Prozent. Daraufhin erfolgte relativ sichtbar eine Verringerung des Tabakkonsums in
Deutschland. 2011 bis 2015 gab es kontinuierliche, aber
geringere Erhöhungen der Tabaksteuer um jährlich circa
2 Prozent. In der Entwicklung des Tabakkonsums wird
das nicht mehr deutlich. Durch solche angeblich präventiven Maßnahmen, die derart verpuffen, tut man den Tabakkonzernen nicht weh, der Umsatz bleibt stabil und der
Finanzminister hat etwas mehr Steuereinnahmen. Trotzdem glauben wir immer noch, dass wir hier eine präventive Maßnahme durchsetzen.
Darüber, ob es beim Thema E-Zigaretten in der Richtlinie wirklich vorrangig um Gesundheitsschutz oder doch
eher um die Konkurrenz zur klassischen Zigarette geht,
sollten wir ebenfalls noch einmal diskutieren.
({1})
Regulierende Maßnahmen zur Schadensminimierung
müssen jedenfalls im Verhältnis zum Schadenspotenzial
stehen; da dürften wir uns einig sein. Mit der Umsetzung
der Richtlinie werden E-Zigaretten und E-Shishas jetzt
mit den herkömmlichen Tabakzigaretten gleichgestellt.
Aber typische Verbrennungsprodukte und Inhaltsstoffe
des Tabaks - das wissen Sie alle - wie Kohlenmonoxyd,
Blausäure und Teer sind im Dampf der E-Zigarette nicht
enthalten. Die E-Zigarette ist natürlich kein harmloses
Produkt; auch das wissen wir. Auch hier brauchen wir
präventive Maßnahmen wie zum Beispiel Werbeverbote.
Aber wenn hier im Sinne der Konkurrenz mit der klassischen Zigarette eine Gleichschaltung herbeigeführt werden soll, muss das sehr kritisch hinterfragt werden.
Alles in allem, so schätze ich das ein, werden zumindest einige der vorliegenden Maßnahmen dazu beitragen
können, Folgeerkrankungen und Todesfälle im Zusammenhang mit dem Tabakkonsum in Deutschland zu verringern. Ausgereizt haben wir diese Möglichkeiten aber
ganz sicher noch nicht. Es gibt weiter Diskussionsbedarf,
welche Maßnahmen zum Beispiel beim Nichtraucherschutz sinnvoll und auch durchsetzbar sind oder wie wir
noch erfolgreicher im Jugendschutz oder im Gesundheitsschutz agieren können.
Lassen Sie uns deswegen bei der Diskussion über die
Umsetzung der jetzigen Richtlinie nicht haltmachen. Es
wird ja auch eine Anhörung geben. Diese Richtlinie ist
nur ein begrenzter Fortschritt, den wir sicherlich machen
werden. Aber am Ende unseres Lateins sind wir damit
ganz sicher noch nicht.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Kollege Rainer Spiering für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Liebe
Zuhörerinnen und Zuhörer! Wir sprechen über den Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie über
Tabakerzeugnisse und verwandte Erzeugnisse.
Ich will mit den Bekenntnissen eines Rauchers anfangen.
({0})
Das heißt, ich bin jemand, der unglücklicherweise in der
täglichen Praxis damit umgehen muss. Wenn ich meinen
Tagesablauf überprüfe und mit der Zeit vergleiche - sie
liegt noch gar nicht so lange zurück -, in der ich nicht geraucht habe, dann muss ich feststellen, dass sich in meinem Leben nicht unbedingt etwas verbessert hat. Während ich früher ein durchtrainierter Sportler war, stelle
ich heute teilweise eine differenzierte Kurzatmigkeit fest;
das alles ist nicht ermunternd.
({1})
Aber es war die Entscheidung eines nicht mehr ganz jungen Herrn, die er im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte das hoffe ich jedenfalls - getroffen hat; darum geht es am
Ende auch.
Wir haben es mit einem Produkt zu tun, das nicht zu
den gesundheitsfördernden Produkten in diesem Lande
gehört, das aber ein Konsumprodukt ist und für den einen
oder anderen ein Stück Lebensfreude ausmacht; auch das
muss man attestieren. Daher muss man es dem mündigen
Bürger anheimstellen, ob er oder sie rauchen will oder
nicht.
({2})
Wir müssen in diesem Zusammenhang Wert darauf
legen, dass das, was in einer Zigarette drin ist, nichts Falsches suggeriert, also einen falschen Eindruck hinterlässt.
Wenn man sich ein bisschen in diese Thematik eingearbeitet hat, dann weiß man, dass es bei der ursprünglichen
Herstellung von Zigaretten bzw. Tabakprodukten einen
Virginia Blend und einen American Blend gegeben hat.
Der Virginia Blend ist die reine Tabaksorte - das kann
man auch nachlesen - und mit keinen oder nur wenigen
Zusatzstoffen versehen; der Virginia Blend ist sozusagen
ein Naturprodukt. Weil aber die Nachfrage nach Zigaretten ständig gestiegen ist, ist man zum American Blend
übergegangen. Der American Blend ist ein Konglomerat
aus unterschiedlichen Tabaksorten, die einzeln vermutlich nicht konsumierbar wären.
Jetzt kommen wir zu den Zusatzstoffen. Man hat Zusatzstoffe beigemengt, um sicherzustellen, dass die Zigaretten eine bestimmte Geschmacksintensität und damit
auch einen Produktmarkt haben. Wie in vielen vergleichbaren Bereichen müssen sich unterschiedliche Produkte
natürlich durch Aussehen - das ist bei Zigaretten relativ schwierig -, Geschmack und Geruch unterscheiden.
Dazu braucht man die Zusatzstoffe; das ist nachvollziehbar. Es wäre ja auch nicht schön, wenn es nur ein einziges
Parfum gäbe; auch bei Parfum erzeugt man Unterschiede
ja dadurch, dass man Aroma- und Zusatzstoffe beimengt.
Aber wir müssen bei diesen Zusatzstoffen ausgesprochen
gut aufpassen. Der Gesetzentwurf, der uns heute vorliegt,
geht sehr differenziert mit diesem Thema um; ich begrüße das ausdrücklich. Er schränkt die Zusatzstoffe ein,
und zwar maßgeblich und vernünftig.
Nehmen Sie das Beispiel von Altkanzler Schmidt, der
ja die berühmten und nach einem eigentlich gesundheitsFrank Tempel
fördernden Produkt riechenden Mentholzigaretten konsumiert hat.
({3})
Denkt man an das Einatmen von Menthol, wird der Eindruck erweckt: Das ist eine ganz tolle Sache; das kann ja
gar nicht schaden. - Das wird in Zukunft unterbunden,
und das ist auch richtig so.
({4})
Alle Zusatzstoffe, die etwas suggerieren, was das Produkt nicht hergibt, kommen vom Markt; das ist auch gut
so. Wir werden, wenn wir uns mit dem Gesetzentwurf
auseinandersetzen, hinsichtlich der Zusammensetzung
der Zusatzstoffe zukünftig sehr genau der Frage nachgehen müssen: Was ist im Hinblick auf die Gesundheit
überhaupt noch verträglich, und wie kann man das Produkt so auf den Markt bringen, dass es nicht zunehmend
schädlich ist?
Ich glaube - das ist für mich eigentlich der Antrieb, für
die Verordnung in die Bütt zu gehen -, dass Deutschland
ein Standort ist, der ordnungsgemäß produziert. Nur wenige wissen, dass 65 Prozent der Zigaretten, die in ganz
Europa konsumiert werden, in Deutschland hergestellt
werden - in deutschen Fabriken, nach deutschen Standards, von deutschen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - und von deutschen Labors untersucht werden. Ich
möchte, dass sich das nicht ändert.
({5})
Es bedeutet nämlich Produktsicherheit, und es bedeutet
für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Arbeitsplatzsicherheit.
Wir werden bei der Herstellung hierzulande darauf
Rücksicht nehmen müssen, dass andere Länder andere Gesetze haben und die Liste der Zusatzstoffe anders
formulieren. Deswegen ist nachträglich § 50 in den Gesetzentwurf eingefügt worden. Er stellt sicher, dass in
Deutschland für andere Länder nach deren Vorstellungen
produziert werden kann. Wir sollten anderen Ländern der
Welt nicht ihre Gesundheitsvorstellungen vorschreiben.
Das halte ich für gut und richtig.
({6})
Eine sehr klare Meinung vertrete ich in der Frage der
Außenwerbung. Zigaretten sind ein Produkt, das gerade
auf junge Menschen einen Reiz ausübt, der für die Zukunft dieser jungen Menschen nicht unbedingt förderlich
ist. Ich glaube, wir sind gut beraten, wenn wir uns in der
Frage der Außenwerbung ein Beispiel am europäischen
Ausland nehmen und die Außenwerbung nachdrücklich
und möglichst kurzfristig unterbinden.
({7})
Das wird in einem zweiten Teil des Gesetzentwurfs geregelt. Wenn wir das mit vereinten Kräften anstreben, dann
werden wir das auch hinbekommen.
Bei der Umsetzung der gesamten Tabakrichtlinie
spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Das Europäische
Parlament hat in 2014 entschieden; die Ausführungen der
Richtlinie sind aber leider erst ziemlich spät in Deutschland angekommen. Diese Tatsache ist dafür verantwortlich, dass wir erst heute darüber beraten und nicht schon
vor einem halben Jahr darüber beraten haben.
Ich habe mir den gesamten Herstellungsprozess der
Verpackung - also nicht der Zigarette; das ist hier von
zentraler Bedeutung - in entsprechenden mittelständischen Betrieben angeschaut und festgestellt, dass er hoch
komplex ist. Die deutschen Hersteller der benötigten
Druckwalzen bedürfen eines gewissen Vorlaufes, um die
Zigarettenverpackungen im entsprechenden Design herzustellen.
Uns wurde durch das Europäische Parlament und die
Europäische Kommission vorgegeben, diese Richtlinie
bis zum 20. Mai 2016 umzusetzen. Ich persönlich habe
die große Befürchtung, dass wir diese Frist nicht werden einhalten können. Ich glaube, wir sollten uns in der
zweiten und dritten Lesung im Interesse unserer Druckwalzenhersteller nachhaltig Gedanken über entsprechende Übergangsfristen machen, ohne unsere europäischen
Partner damit zu verstimmen.
Wir haben in großem Maße die Verantwortung für die
Zigarettenherstellung in Europa, und wir wollen unserer
mittelständischen Industrie auch die Zeit lassen, sich auf
die neuen Normen einzustellen. Lassen Sie uns deswegen
so verbleiben - das sage ich abschließend -, dass wir uns
in der zweiten und dritten Lesung über die Übergangsfristen noch den einen oder anderen Gedanken machen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
({8})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kollege Dr. Harald Terpe das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin schon erstaunt darüber, wie der Kollege Spiering
hier noch die Kurve gekriegt hat. Er hat sich mit seinen
Ausführungen zu einer bestimmten Tabaksorte - ich
habe den Namen schon wieder vergessen, weil ich kein
Raucher bin - aktuell zwar gesetzeskonform verhalten,
weil er keine Zigarettenwerbung im Hörfunk oder Fernsehen gemacht hat, aber ich fand das schon speziell. Er
hat dann aber noch irgendwie die Kurve gekriegt und
sich zur Werbung geäußert. Dazu werde ich auch noch
Stellung nehmen.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass wir als
Parlament natürlich handfeste Gründe haben, uns immer
wieder zu einer gesetzlichen Regulierung der Tabakprodukte zu äußern. Diese handfesten Gründe - das ist bereits
gesagt worden - sind die vielen Todesfälle, die mittelbar
oder unmittelbar mit dem Rauchen zusammenhängen.
Deswegen war ich zunächst sehr enttäuscht darüber, dass
die Koalition bei der Umsetzung der europäischen RichtRainer Spiering
linie im Grunde den Weg der geringsten Arbeit gegangen ist. Nachdem auf diesem Gebiet jahrelang eigentlich
nichts gemacht wurde, haben Sie diese Gesetzesinitiative
genutzt, um etwas umzusetzen, was wir eigentlich schon
jahrelang hätten umsetzen müssen. Ich spreche hier von
dem Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und
Verführung.
Es ist ja schon gesagt worden, dass es in der Gesellschaft handfeste Verführungen zum Rauchen gibt, wobei
ich jetzt nicht nur von der Außenwerbung spreche, die
Sie ja dankenswerterweise auch schon angesprochen haben. Ich denke übrigens, dass wir bei dem gemeinsamen
Versuch, die Außenwerbung zu verbieten, sicherlich zu
Verbündeten werden. Eigentlich müssten wir darüber
schon im Rahmen der Debatte über diesen Gesetzentwurf
sprechen. Ich hoffe jedenfalls, dass die Diskussionen in
den Ausschüssen und auch die Anhörung dazu beitragen,
dass wir das schon in diesem Gesetzentwurf regeln werden.
({0})
Es gibt aber auch noch andere Verführungen. Es ist
doch ein Unding, dass Studenten vor Berliner Universitäten und Hochschulen mit unentgeltlichen Tabakprodukten wie Gauloises und Croissants begrüßt werden. Was
ist das denn anderes als eine Verführung? Dem ist nicht
einfach nur mit einem Verbot der Außenwerbung beizukommen, sondern das muss untersagt werden.
({1})
Es muss auch untersagt werden, dass es in Deutschland im Rahmen des Sponsorings von Veranstaltungen ich sage es einmal so - handfeste Werbung für Tabak
gibt. Ich hoffe, dass es nicht diese Sponsorings sind, die
dazu führen, dass wir als Parlamentarier nicht in der Lage
sind, diesen Verführungen der jungen Leute Einhalt zu
gebieten.
Mein deutliches Plädoyer ist also: Lassen Sie uns
schon in diesem Gesetzesverfahren handfeste Regelungen treffen, was die Außenwerbung, das Sponsoring und
die unentgeltlich ausgegebenen Tabakprodukte betrifft.
Im Übrigen könnte so Schreibarbeit bei der Erstellung
des Gesetzes eingespart werden. Man müsste dann nicht
jeden besonderen Werbetatbestand, den man unterbinden
will, besonders herausheben. Vielmehr könnte man - das
ist unser Ziel - ein Werbeverbot in toto erlassen.
({2})
Ich hoffe, dass es dabei bleiben wird, dass die Versprechungen vonseiten der Staatssekretärin erfüllt werden
und dass wir das auf jeden Fall, und zwar zeitnah, durchsetzen werden.
Lassen Sie mich dann noch zu einem anderen Punkt dabei handelt es sich um die E-Zigaretten - kurz Stellung nehmen. Es ist besonders widersprüchlich, dass
wir einerseits trotz Todesfälle immer noch lax mit den
Tabakprodukten bzw. mit dem Tabakrauchen umgehen,
aber andererseits eine Regelung vorschlagen, die besagt,
dass die nikotinfreien Liquids nur dann auf dem Markt
angeboten werden können, wenn kein Risiko besteht. Es
gibt aber in der Gesellschaft überhaupt nichts Risikofreies. Sogar Wasser ist risikobehaftet, wenn man davon zu
viel trinkt.
Ich plädiere also dringend dafür, uns auf einen Forschungswissensstand zu bringen, auf dessen Grundlage
wir dann mit vernünftigen Argumenten belegen können,
was wir eigentlich bei diesen E-Zigaretten regulieren
müssen.
({3})
Die Kollegin Kordula Kovac hat für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren oben auf der
Tribüne! Sie haben Ihren Mitmenschen erst kürzlich einen guten Start und vor allem viel Glück und Gesundheit
für 2016 gewünscht. Gesundheit ist ein hohes Gut, und
ein jeder von uns will gesund bleiben - und dies, obwohl
wir unserem Körper im Alltag viel zumuten: ungesunde
Ernährung, zu wenig Sport und das Rauchen.
Wir alle sind uns einig, dass bei uns das gesundheitliche Wohlergehen der Menschen Priorität genießt. Rauchen aber - das weiß jeder - schadet der Gesundheit.
Rauchen ist das größte vermeidbare Gesundheitsrisiko
in Deutschland. Jährlich sterben - das haben wir heute
schon mehrfach gehört - etwa 110 000 Menschen an den
direkten Folgen des Rauchens, mein Vater übrigens auch.
Deshalb ist es nur konsequent, die Verbraucher bestmöglich vor den gesundheitlichen Folgen des Rauchens zu
schützen.
Die EU hat die Tabakproduktrichtlinie auf den Weg
gebracht. Sie kommt damit ihren Verpflichtungen im
Rahmen des WHO-Rahmenübereinkommens zur Eindämmung des Tabakgebrauchs nach. Dies wird von
Deutschland ausdrücklich unterstützt. Bis zum 20. Mai
2016 - auch das haben wir schon gehört - muss die
Richtlinie umgesetzt werden. Das ist eine ambitionierte
Herausforderung. Über Übergangsfristen, lieber Kollege
Spiering, müssen wir uns in der Tat noch einmal unterhalten. Auch ich war - wie Sie - im letzten Jahr vier Tage
unterwegs, habe mir in den Firmen angesehen, wie die
neuen Regelungen umgesetzt werden können, und habe
mich darüber informiert, ob der Zeitrahmen reicht.
Mit der Umsetzung der Richtlinie werden die Rechtsund Verwaltungsvorschriften über die Herstellung, die
Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen
und verwandten Erzeugnissen in deutsches Recht umgewandelt. Damit stärken wir den gesundheitlichen Verbraucherschutz; denn künftig wird deutlicher auf die Gefahren des Tabakkonsums hingewiesen.
Bei all dem steht vorrangig der Schutz von Kindern
und Jugendlichen vor den Gefahren des Rauchens im
Mittelpunkt. Einen ersten Schritt dahin haben wir hier
im Bundestag bereits gemacht: Das Abgabeverbot von
E-Shishas und E-Zigaretten an Kinder und Jugendliche
soll im März dieses Jahres in Kraft treten. Indem wir den
Verkauf unterbinden, schützen wir die jungen Menschen
vor den Gefahren des „Dampfens“. So werden Jugendschutz und gesundheitlicher Verbraucherschutz in gleicher Weise mit einbezogen.
Diesen wollen wir auch bei nikotinfreien E-Zigaretten
verbessern, indem wir die Gleichstellung von nikotinhaltigen und nikotinfreien E-Zigaretten anstreben. Bei Zigarettenverpackungen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
wird künftig mit kombinierten Text- und Bildwarnhinweisen noch deutlicher auf mögliche Gefahren hingewiesen. Für Tabakerzeugnisse und elektronische Zigaretten
werden verschiedene Zusatzstoffe verboten. Es darf nicht
sein, dass durch die Beifügung von Aromastoffen wie Zitrus oder Schokolade ein an sich gesundheitlich bedenkliches Produkt ein grundsätzlich neues Image erhält.
Bei den Regelungen zur Rückverfolgbarkeit ist der
Verwaltungsaufwand für die Industrie auf ein vernünftiges Maß reduziert worden. Die E-Zigarette hat Fragen
des Gesundheitsschutzes beim Rauchen wieder stärker
in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Diskussion gerückt. Wir haben das in dieser Woche bei einer Anhörung
eindrucksvoll erleben können. Für nikotinhaltige elektronische Zigaretten und Nachfüllbehälter werden Mindestanforderungen an die Produktsicherheit gestellt. Bei
den Werbebeschränkungen sollen sie den Tabakerzeugnissen gleichgestellt werden.
Der Gesetzgeber muss seinen verfassungsrechtlichen
Gestaltungsauftrag für einen wirksamen Verbraucherschutz erfüllen und diesen weiter verbessern. Darüber
besteht fraktionsübergreifend Einigkeit. Nur an der Frage des Wie scheiden sich die Geister. Durch Zwangsverpflichtungen oder bloße Verbote besteht die Gefahr der
Standortverlagerung ins Ausland. Dies, meine Damen
und Herren, würde weder den Verbrauchern noch den
Arbeitnehmern besonders dienen.
Wir wollen eine Bevormundung des Verbrauchers
ebenso wenig wie Eingriffe in die Privatsphäre. Die Entscheidung, ob man für oder gegen seinen Körper handelt,
muss jeder für sich treffen. Nur, diese Entscheidung muss
auf der Grundlage von fundierten Informationen getroffen werden. Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben:
Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen können
oder überfordert sind, muss der Staat Schutz und
Vorsorge bieten.
Die Tabakproduktrichtlinie kommt diesem Auftrag
nach. Ihre Weiterentwicklung muss deshalb auf der
Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und unter
Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit stattfinden. Wir sind auf einem guten
Weg, einen Kompromiss zu finden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen praxisnahe Lösungen, die im Sinne des mündigen Verbrauchers
liegen und im Einklang mit den EU-Vorgaben stehen und
die es der Industrie ermöglichen, auf die Vorlagen angemessen zu reagieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche uns allen eine schöne Grüne Woche.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/7218 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich bitte darum, die notwendigen Umgruppierungen
vorzunehmen. In der Zwischenzeit wechselt das Präsidium.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Sabine Zimmermann ({0}), Herbert
Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Patientenberatung unabhängig und gemeinnützig ausgestalten
Drucksache 18/7042
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Harald Weinberg, Fraktion Die Linke.
({2})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir wollen heute über die Unabhängigkeit sprechen. Um von anderen
wirklich unabhängig zu sein, darf man nicht wirtschaftlich und organisatorisch mit ihnen verbandelt sein. Ist
man dies bei gewissen Themen doch und hat vielleicht
noch herausragende öffentliche Ämter inne, dann muss
man gewisse Konsequenzen ziehen, damit man nicht
auch nur in den Geruch einer fehlenden Unabhängigkeit
kommt.
Der Kollege Henke, der leider nicht da ist, ist nicht
nur CDU/CSU-Abgeordneter im Gesundheitsausschuss,
sondern auch Präsident der Ärztekammer Nordrhein. Er
vertritt also die Interessen der Ärztinnen und Ärzte. Aus
ebendiesem Grund hält sich Kollege Henke als Abgeordneter auffallend zurück, wenn es um Gesetze geht, die
insbesondere die Interessen der Ärztinnen und Ärzte betreffen. Sonst würde man ihm womöglich unterstellen,
sein Mandat als Ärztelobbyist zu missbrauchen.
Oder der Kollege Lauterbach: Als er vor der letzten
Bundestagswahl in das SPD-Schattenkabinett berufen
wurde, legte er seinen Sitz im Aufsichtsrat der Rhön-Kliniken nieder. Das wäre für ihn als Gesundheitsminister in
spe auch nicht mit dem Amt vereinbar gewesen.
Ich erzähle das hier, weil wir alle - auch Sie, die lieben
Kolleginnen und Kollegen der Koalition - genau über
den Wert der Unabhängigkeit Bescheid wissen. Und Sie
alle wissen genau, dass es mehr als heikel ist, die unabhängige Patientenberatung einer Firma anzuvertrauen, die von Krankenkassen, Pharmafirmen und anderen
Playern im Gesundheitswesen abhängig ist.
({0})
- Wir kommen schon noch zum Ausschreibungsverfahren. - Insbesondere ist es sehr bedenklich, wenn die
Mutterfirma Sanvartis als spezialisierte Callcenter-Betreiberin die gesetzlichen Krankenkassen als wichtigen
Kunden hat. Denn gerade Konflikte mit den Krankenkassen waren bisher der Grund Nummer eins, weswegen sich Patientinnen und Patienten an die unabhängige
Patientenberatung gewendet hatten. Ob hier jetzt noch
eine Unabhängigkeit gewährleistet ist, wenn die Kassen
die Patientenberatung nicht nur finanzieren bzw. finanzieren müssen, sondern auch noch Herr über die Ausschreibungsverfahren und zudem ein wichtiger Kunde
der Muttergesellschaft des Beratungsunternehmens sind,
darf bezweifelt werden.
({1})
Ich weiß, Sie entgegnen jetzt sicher, dass Sanvartis
eine gemeinnützige GmbH gegründet hat, die auf dem
Papier nichts mit der Muttergesellschaft zu tun hat. Aber
ich entgegne Ihnen, dass wir als Abgeordnete darüber
genauso wenig wissen wie die Öffentlichkeit, weil die
Verträge, die im Zusammenhang mit der Ausschreibung
gemacht wurden, uns gar nicht vorliegen; denn sie sind
geheim. Auch auf Anfragen von uns und von den Grünen
teilt die Bundesregierung dem Bundestag wenig Substanzielles mit - mit Verweis auf Geheimhaltungspflichten. Ein solches Ausschreibungsverfahren ist das Gegenteil von Transparenz.
Aber auch ansonsten kann das Angebot von Sanvartis
nicht überzeugen. So gibt es zwar mehr Beratungsstellen als bisher, nämlich zukünftig 31 bundesweit. Allerdings scheinen sie kaum Beratungen anzubieten. Denn
nach einer Antwort der Bundesregierung auf die aktuelle
Anfrage der Grünen werden dort nur sechs Vollzeitäquivalente arbeiten. Es gibt also sechs Vollzeitstellen. Das
entspricht 240 Wochenarbeitsstunden verteilt auf 31 Beratungsstellen. Das macht gerade einmal acht Stunden
pro Woche und Beratungsstelle, und davon ist noch keinerlei Arbeitszeit für Büroorganisation oder Ähnliches
abgezogen. Die Beratungsstellen werden also weniger
als acht Stunden in der Woche geöffnet sein und tatsächlich beraten können. Das hat die frühere Unabhängige
Patientenberatung Deutschland bisher mit weniger Geld
besser gekonnt.
({2})
Jetzt komme ich noch zu den Nachteilen des Ausschreibungsverfahrens an sich: Alle sieben Jahre gibt
es nun möglicherweise einen Bruch. Der alte Anbieter
kann schon Wochen vor Ende der Ausschreibung keine
komplizierten Beratungsfälle mehr annehmen. Der neue
Anbieter braucht drei oder sechs Monate, bis sein Angebot funktioniert. So lange gucken die Patientinnen und
Patienten mit Beratungsbedarf in die Röhre.
({3})
Wir können das Rad nicht zurückdrehen und die Ausschreibung rückgängig machen. Aber wir können dafür
sorgen, dass wir die Fehler dieser Ausschreibung nicht
wiederholen. Deswegen sind unsere wesentlichen Forderungen:
Erstens: zukünftig keine Ausschreibungen mehr, sondern eine Beauftragung derjenigen unabhängigen Patientenorganisationen, die der Bundestag bestimmt.
Zweitens: eine Finanzierung aus Steuermitteln statt
aus Beitragsmitteln. Damit wären auch die Privatversicherten in die Finanzierung einbezogen, und die Kassen
hätten weniger Einflussmöglichkeiten und würden finanziell entlastet.
({4})
Drittens: einen Patientenbeauftragten des Bundestages statt der Bundesregierung. Dieser soll Aufsicht führen, dem Bundestag regelmäßig Bericht erstatten und
gegebenenfalls Änderungen vorschlagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Unabhängigkeit
lässt sich nicht in Vergabekriterien pressen. Deswegen
war es ein Fehler, dass der Patientenbeauftragte der
Bundesregierung der Vergabeentscheidung der Krankenkassen zugestimmt hat. Er hätte auch sein Veto einlegen
können.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass in Zukunft klügere
und unabhängigere Entscheidungen getroffen werden!
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist jetzt der Kollege
Reiner Meier, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein modernes und hochentwickeltes Gesundheitssystem
wie das deutsche kann aufgrund der Vielzahl der Leistungen auch einmal unübersichtlich werden. In besonders
komplizierten Situationen sind deshalb Lotsen wichtig,
die den Versicherten den Weg durch die verschiedenen
Anträge, Ansprüche und Verfahren weisen.
({0})
Neben dem Hausarzt oder den Selbsthilfegruppen hat
sich für viele Patienten die Unabhängige Patientenberatung als zuverlässige Beratungsinstanz etabliert. Die
Patientenberatung trägt entscheidend dazu bei, dass Patienten über ihre Rechte informiert werden, und hilft ihnen
dabei, diese Rechte wirksam durchzusetzen. Gestatten
Sie mir den Nebenhinweis, dass es die christlich-liberale Bundesregierung war, die die UPD nach zehn Jahren
Modellversuch in die Regelversorgung übernommen hat.
({1})
Auch in dieser Legislaturperiode haben wir die UPD
stetig weiterentwickelt. Erst vor zwei Jahren haben wir
die Mittel auf 9 Millionen Euro fast verdoppelt und die
Förderperiode von fünf auf sieben Jahre verlängert. Damit haben wir eine gute Grundlage für die neue UPD
ab 2016 gelegt. Lieber Kollege Weinberg, damals waren
wir uns über alle Parteigrenzen hinweg einig, dass die
UPD weiterhin öffentlich ausgeschrieben werden sollte,
wohlgemerkt: Alle Fraktionen hier im Deutschen Bundestag waren sich darin einig. Diese Entscheidung war
nicht nur deshalb richtig, weil dadurch ein Wettbewerb
um neue Konzepte und Ideen im Sinne des Patienten
stattfinden kann, sondern auch deshalb, weil ein öffentlicher Auftrag nicht einfach nach Gutsherrenart vergeben
werden darf. Nach Recht und Gesetz muss das beste Angebot den Zuschlag erhalten. Das ist im Interesse aller
Patienten und Beitragszahler auch geschehen.
({2})
So wird die neue UPD ab 2017 die Gesamtzahl der
Beratungen von heute 90 000 auf über 220 000 mehr als
verdoppeln. Auch wird die Zahl der regionalen Beratungsstellen auf 30 Standorte erhöht,
({3})
darunter das neue Büro in Würzburg. Weiterhin werden
durch mobile Beratungsstellen und Hausbesuche die Angebote der UPD künftig noch mehr Ratsuchenden und
einfacher als je zuvor zur Verfügung gestellt.
Es versteht sich doch von selbst, dass bei der UPD
die Unabhängigkeit der Beratung entscheidend ist für die
Akzeptanz und das Vertrauen der Versicherten.
({4})
Deshalb sage ich: Genau das ist weiterhin gewährleistet.
Das fängt schon damit an, dass die UPD eben nicht als
Abteilung der Sanvartis GmbH, sondern als selbstständige und gemeinnützige GmbH die Beratung organisiert
und leistet. Anders als früher sind die Berater direkt bei
der UPD angestellt und werden transparent nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst vergütet.
({5})
Gerade um Interessenkonflikte zu vermeiden, gilt zudem
ein striktes Verbot jeglicher Nebentätigkeit.
Erstmals wird der Beirat der UPD einen unabhängigen
Auditor einsetzen. Der Auditor hat das Recht, die UPD
und sogar einzelne Beratungsvorgänge auf Unabhängigkeit zu prüfen. Der Beirat kann der Geschäftsführung
in Fragen der Unabhängigkeit sogar direkte Weisungen
erteilen. Schließlich: Als letztes Mittel kann der Fördervertrag sogar gekündigt werden, wenn die Unabhängigkeit nicht gewährleistet ist. Deshalb halte ich fest: Die
Unabhängigkeit der neuen UPD ist an mehreren Stellen
schlagkräftig und nachhaltig abgesichert, und das ist
auch richtig so.
({6})
Die Tatsache, dass ein neuer Träger die Ausschreibung
gewonnen hat, ändert nichts an der wertvollen und engagierten Arbeit der bisherigen UPD. Hierfür gebühren der
bisherigen UPD Dank und große Anerkennung.
({7})
Die neue UPD steht nun vor der Aufgabe, die hohen
Ansprüche zu erfüllen, die die Ratsuchenden in unserem
Land zu Recht an die Unabhängige Patientenberatung
stellen. Wir sollten der neuen UPD jedoch unvoreingenommen gegenübertreten und ihr die faire Chance geben,
sich zu bewähren. Die neue UPD ist heute auf den Tag
genau 14 Tage alt. Wenn die Kollegen der Fraktion Die
Linke vorschlagen, die Spielregeln zu ändern, bevor das
Spiel eigentlich richtig begonnen hat, dann ist eine gehörige Portion Skepsis angebracht.
({8})
Zum Schluss möchte ich noch auf die Forderung nach
einem Patientenbeauftragten des Deutschen Bundestages
eingehen. Zunächst einmal finde ich es ausgesprochen
schade, dass die Forderung in den Raum gestellt wird,
ohne die gute Arbeit des Patientenbeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, aber auch die seines
Vorgängers, Wolfgang Zöller, auch nur mit einem Wort
zu würdigen.
Wir in Bayern sind bekannt dafür, sparsam mit Lob
umzugehen. Bei uns sagt man: Nicht geschimpft ist gelobt genug.
({9})
Heute mache ich aber einmal eine Ausnahme. Karl-Josef
Laumann leistet eine hervorragende Arbeit, insbesondere bezüglich der Entbürokratisierung der Pflege oder der
Qualität von Hilfsmitteln, und ist ein großer Kämpfer für
die Rechte der Patientinnen und Patienten. Dafür gebührt
ihm der Dank dieses Hauses.
({10})
Aber auch inhaltlich scheint mir Ihre Forderung nicht
durchdacht. Nach dem Grundgesetz sind Beauftragte des
Bundestages sogenannte Hilfsorgane, die nur dort tätig
werden dürfen, wo der Bundestag selbst seine Zuständigkeit entfaltet. Sie schreiben nun selbst, dass es auch darum geht, Aufsichtsfunktionen zum Beispiel gegenüber
der Selbstverwaltung auszuüben. Dabei reden wir aber
über klassische Aufgaben der Exekutive. Damit ist und
bleibt der Patientenbeauftragte bei der Bundesregierung
völlig richtig verortet. Im Übrigen dürfen wir Abgeordnete uns nach meinem Verständnis durchaus auch als
„kleine Patientenbeauftragte“ im Deutschen Bundestag
verstehen.
Ich danke Ihnen.
({11})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat jetzt für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen die Kollegin Maria KleinSchmeink das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Auch wenn sie im Ton sehr freundlich vorgetragen wurden, muss ich doch den meisten Ausführungen
des Herrn Meier massiv widersprechen.
({0})
Was wir im letzten Jahr mit der Vergabe der unabhängigen Patientenberatung an ein privates Unternehmen
erleben mussten, dessen Kerngeschäft die Beratung von
Krankenkassen und Pharmaindustrie ist, war ein Trauerspiel. Das war ein ganz schwerer Schlag gegen die Belange von Patientinnen und Patienten. Das geschah unter
Mitwirkung eines Patientenbeauftragten. Das - ich muss
es wiederholen - war ein Trauerspiel, und es ist noch immer ein Trauerspiel. Dieses Trauerspiel wird uns noch
sieben Jahre lang beschäftigen.
({1})
Das kann man auch nicht schönreden. Überlegen wir
uns: Wie lange hat es eigentlich gedauert, bis wir eine
unabhängige Patientenberatung aufgebaut haben? 2000
war der Startschuss. Frau Schmidt wird sich sehr gut erinnern; denn auch das war keine einfache Geschichte. Es
ist modellhaft entwickelt worden. Über zehn Jahre lang
sind immens hohe Qualitätsanforderungen gestellt worden. Immer wieder hat sich gerade die Krankenkassenseite durchaus sperrig gezeigt und gesagt: Diese Beratung
wollen wir eigentlich nicht haben. - Aber wir alle mussten doch einsehen: Diese Beratung ist immens wichtig,
wenn es darum geht, die sozialen Bürgerrechte von Patientinnen und Patienten zu stärken. Genau das stellen Sie
jetzt wieder infrage. Das haben Sie umgeschmissen. Die
neue UPD wird eine ganz andere UPD sein.
({2})
Sie wird eine UPD sein, die im Kern Gesundheitsinformationen herausgibt.
Warum brauchen wir eine UPD? Jede Krankenkasse
bietet genau dies, also Beratung, an. Das ist das Kerngeschäft von Sanvartis. Das brauchen wir nicht. Das,
was wir brauchen, was 80 Prozent aller Ratsuchenden
gebraucht haben, ist tätige Unterstützung bei Antragstellung gegenüber den Krankenkassen, bei schwierigen
Fragen gegenüber der Ärzteschaft, bei Verdacht auf Behandlungsfehler. Das sind die wichtigen Fragen. In der
Regel geht es um Patientinnen und Patienten, die große
und schwere Probleme haben und die auch nicht durchblicken, welche Rechte und Möglichkeiten sie haben.
Das ist die Situation, die wir alle sehr gut kennen. Gerade
da ist es wichtig, dass wir dieses verlässlich unabhängige
Beratungsangebot haben - und das ist geschleift worden.
Das werfe ich Ihnen ganz massiv vor.
({3})
Da muss ich auch den Patientenbeauftragten, Herrn
Laumann, ansprechen; denn er ist damit beauftragt, dieses Vergabeverfahren zu steuern. Er hätte darauf achten
müssen, dass wir eine gute Lösung bekommen, aber wir
haben keine gute Lösung bekommen. Das muss man einfach feststellen.
({4})
Schauen Sie sich einmal genau an, was wir bekommen:
Die Gesundheitsberatung wird ausgebaut. 80 Prozent aller Ratsuchenden brauchen aber vor Ort Unterstützung,
etwa psychosoziale Unterstützung, konkrete Beratung.
Was werden wir jetzt bekommen? Sechs Vollzeitäquivalente, die zwischen 30 Beratungsstellen herumreisen und
dort einmal in der Woche präsent sind.
({5})
So wird das aussehen.
Wir hatten vorher ein viel breiteres Angebot. Alle Beratungsstellen waren mit insgesamt 50 Vollzeitäquivalenten besetzt; sie waren Ansprechpartner rund um die Uhr.
Das weiterhin zu leisten, war die Ausgangsvoraussetzung. Ein solches Angebot hätten wir durch mehr Orte,
wo man präsent ist, und nicht durch das, was wir jetzt
bekommen, weiterentwickeln müssen.
({6})
Das Traurige ist: Vor zwei Jahren hat der Bundestag
die gesamte Phase auf sieben Jahre verlängert. Er hat
mehr Geld bereitgestellt. Wir hätten die Chance gehabt,
wirklich eine patientenorientierte Beratung anzubieten.
Genau das ist jetzt nicht geschehen, sondern der Weg dahin ist verbaut, und das ist zutiefst traurig.
({7})
Hinzu kommt: Wir haben keinerlei Transparenz. Herr
Laumann, Sie haben das Verfahren der europaweiten
Ausschreibung gewählt. Das führt dazu, dass wir null
Informationen haben. Sie können sich die Kleine Anfrage anschauen, die wir gestellt haben. Alle Fragen, die
irgendetwas mit dem Budget zu tun haben, wurden nicht
beantwortet mit dem Verweis darauf, dass ein Vertrauensschutz gilt. Das ist das Gegenteil von Transparenz.
Das ist das Gegenteil von Vertrauen bei den Patienten
schaffen, die Rat suchen. Das ist vollständig danebengegangen.
({8})
Ich meine, das müssen Sie zugeben.
Wir werden alle gemeinsam daran arbeiten müssen,
wie wir die Stärkung der sozialen Bürgerrechte, gerade
der Patientinnen und Patienten, zustande bringen. Wir
müssen die Frage beantworten: Was machen wir in Zukunft? Wir können uns nicht erlauben, dass da sieben
Jahre lang eine Lücke entsteht. Darüber werden wir nachdenken müssen. Insofern bin ich dankbar, dass es diesen
Antrag gibt, wenngleich wir jetzt in einer Situation sind,
die davon gekennzeichnet ist, dass Sie 63 Millionen Euro
verplempert haben. Das muss man ganz klar sagen.
({9})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat für die SPD-Fraktion
die Kollegin Helga Kühn-Mengel das Wort.
({0})
Übrigens, der Vollständigkeit halber: Sie war die erste
Patientenbeauftragte in Deutschland, und zwar zu Zeiten
der damaligen Großen Koalition.
({1})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen
und Herren! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher
auf den Tribünen! Frau Klein-Schmeink, ich will einen
Höhepunkt meiner Rede vorwegnehmen, indem ich direkt auf Ihren Beitrag eingehe: Es liegt an uns, an der
Politik, wie wir diesen Prozess, der jetzt in Gang kommt,
kritisch begleiten, wie wir Transparenz einfordern
({0})
und wie wir Unabhängigkeit, Qualitätssicherung und
Qualitätsaufbau in diesem Bereich begleiten und kommentieren. Ich glaube, das ist eine wichtige Aufgabe, die
wir auch annehmen werden.
({1})
Zum historischen Rahmen ist schon einiges gesagt
worden. Ursprünglich ist die Unabhängige Patientenberatung Deutschland als Modellprojekt entstanden.
Erst später, 2011, ist sie als Regelleistung etabliert und
schließlich über das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz verbessert worden.
Schritt für Schritt haben wir Patientenrechte gestärkt.
Es ist von Ihnen auch schon erläutert worden: Die
Vorgaben, die jetzt zu einer Verbesserung führen sollen,
kommen von der Politik, nicht vom neuen Träger. Wir
haben gesagt: Erhöhung der Mittel von 5 Millionen Euro
auf 9 Millionen Euro, Erhöhung der Zahl der Beratungsstellen, Verlängerung der Laufzeit, damit Kontinuität,
auch personelle Kontinuität, entstehen kann, bessere
telefonische Erreichbarkeit. Es war doch so, dass nur
42 Prozent der Anrufer durchkamen,
({2})
nicht deshalb, weil man dort nicht genug gearbeitet hat,
sondern deshalb, weil das Bedürfnis nach Information
so stark ist. Das wird mit den jetzigen Vorgaben dann
verbessert werden; jedenfalls gehen wir zunächst einmal
davon aus.
Warum haben wir das alles gemacht, haben viele
Bausteine der Patientenorientierung und -stärkung eingeführt? Weil sich der gut informierte Patient, der auf
qualifizierter und evidenzbasierter Grundlage informiert
wird, nicht nur sicherer und selbstbewusster im System
bewegt, sondern auch ökonomischer. Das ist ein wichtiger Punkt.
Viele fanden es schon etwas sonderbar, dass die
Krankenkassen diejenigen bezahlen sollen, die später
in Stellungnahmen auch Kritisches veröffentlichen. Im
Jahresbericht der UPD, der alten noch, wird deutlich:
29 000 Menschen gab es, die Informationen zum Verhalten der Krankenkassen und anderer Träger haben wollten.
Da ging es um die Schnittstelle zwischen Krankengeld
und Verrentung, um Fragen wie: Was darf die Krankenkasse? Wann darf sie aufhören, Leistungen zu bezahlen?
Es ging aber auch um das Verhalten zwischen Arzt/Ärztin und Patient, um Behandlungsfehler. Bei 19 Millionen
Menschen, die pro Jahr in eine Klinik kommen, gab es
190 000 Behandlungsfehler - in Prozent nicht viel, aber
in absoluten Zahlen doch eine Größenordnung, dass wir
uns darum zu kümmern haben.
Man muss über die alte UPD wirklich sagen: Sie hat
viel geleistet: für Evaluation, für Qualitätsaufbau und
Qualitätssicherung. Es ist natürlich bitter, wenn diejenigen, die gute und auch neue Konzeptionen entworfen
haben, zum Beispiel für die Erreichbarkeit bestimmter
Zielgruppen - etwa Migranten und Migrantinnen oder
Bildungsschwächere -, die gute Arbeit gemacht haben,
an dieser Stelle plötzlich nicht mehr zum Zuge kommen.
Das, denke ich, ist aber zunächst einmal nicht zu korrigieren; die Vergabekammer war da eindeutig.
Wir müssen jetzt sehen: Werden die Vorgaben erfüllt?
Wird die Erreichbarkeit verbessert? Es sollen demnächst
statt 80 000 Menschen 200 000 Menschen betreut werden. Was ist mit der Unabhängigkeit, mit den verschiedenen Zugangswegen, telefonisch, schriftlich, online, persönlich, was mit der Mehrsprachigkeit? Es wird Türkisch
und Russisch angeboten. Vieles soll sich da entwickeln.
Ich denke, wir als Politik haben vor allem darauf zu
achten, dass die Neutralität und die Unabhängigkeit gewährleistet werden und die Arbeit in Sachen Qualität und
Transparenz fortgeführt wird - übrigens: auch der Wissenschaftliche Beirat ist weisungsberechtigt -, dass also
das, was begonnen wurde, weitergeführt wird. Darauf
werden wir achten.
Im Übrigen gibt es im Gesundheitsbereich nach wie
vor viele Dinge zu verbessern. Wir als SPD sehen die
Notwendigkeit, die dritte Bank im Gemeinsamen Bundesausschuss zu stärken. Nordrhein-Westfalen hat eine
Koordinierungsstelle für die Patientenbeteiligung in den
Gremien eingerichtet - ein ganz wichtiger Punkt.
Wir sind also hier noch lange nicht an der Stelle, wo
wir sagen können: Alles ist gut. - Wir werden diesen Prozess und die Ergebnisse dieses Prozesses mit Blick darauf prüfen: Gibt es Verwerfungen im System? Werden
Interessen von Patienten und Patientinnen in der Arbeit
gestützt und offengelegt?
Ich danke Ihnen.
({3})
Vielen Dank. - Dr. Georg Kippels ist jetzt der nächste
Redner für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Meine lieben Zuhörerinnen und Zuhörer auf
der Besuchertribüne! Heute haben wir hier am späten
Nachmittag nicht nur eine politische Debatte, sondern
eigentlich auch eine Informationsveranstaltung für Sie,
meine sehr geehrten Damen und Herren, weil wir über
eine Institution reden, die die Politik zwar ins Leben gerufen hat, die aber eigentlich für Sie und Ihr persönliches
Wohlbefinden im Umgang mit der Gesundheitswirtschaft
elementare Beiträge leisten sollte. Insofern ist das, was
wir gerade von den Kollegen von den Linken und von
den Grünen gehört haben, genau das Gegenteil einer
Werbeveranstaltung für eine Institution, die für Bürger
da ist; denn laut ihren Aussagen wissen wir schon nach
knapp 14 Tagen exakt und mit belastbaren Zahlen, dass
die neue Institution vollkommen ungeeignet sein wird,
Hilfeleistungen für die Bürger zu erbringen. Ich weiß
nicht, ob das die richtige Diskussionsführung ist.
({0})
Ausdrücklich untermauert wird das auch noch durch
die wunderbare Terminologie in dem gestellten Antrag.
Darin werden natürlich - wen wundert es? - die Klassenkampfbegriffe der alten Zeit wieder ein bisschen hervorgeholt, um sich zwar nicht gegen das Thema zu wenden,
was inhaltlich eigentlich auch überhaupt nicht möglich
ist, aber jedenfalls einmal gegen die Ausführungsinstitution. Das ist immer das letzte Aufbäumen gegen vernünftige Maßnahmen unserer Regierung.
Es fängt schon damit an, dass der Antrag eine ganze
Reihe von Fehlbeschreibungen enthält, die einen völlig
falschen Eindruck erwecken.
So schreiben Sie sehr schön, dass der derzeitige Betreiber dadurch ins Amt gekommen ist, dass dem bisherigen gemeinnützigen Trägerverbund das Projekt entzogen
worden ist. Es war aber von vornherein auf fünf Jahre
befristet. Am 27. Januar 2011 ist ein Trägervertrag unterzeichnet worden. Jeder der Beteiligten wusste, dass
zum Ende des Jahres 2015 ein neuer Tätigkeitszeitraum
vereinbart, verhandelt und vorbereitet werden muss. Von
Entziehen kann also gar keine Rede sein.
Man muss allerdings schon einmal die Frage stellen:
Aufgrund welcher Umstände war es bei dieser immerhin
europaweiten Ausschreibung denn so, dass der bisherige
Träger, der ja über gute Rahmenkenntnisse über den Tätigkeitsbereich, das Anforderungsprofil und die Bedürfnisse der Bürger verfügt, nicht ausreichend Fähigkeiten
hatte, diese so auszuwerten, um in der Ausschreibung mit
den besten Angeboten die Nase vorne zu haben? Ich will
hier kein Urteil abgeben. Es spricht aber zumindest dafür,
dass man an dieser Stelle im Hinblick auf die weitergehende Ausschreibung nicht die erforderlichen Hausaufgaben gemacht hat.
Sehr verehrte Frau Kollegin Klein-Schmeink, Ihre
Aufregung eben ist in Ansehung Ihres eigenen Antrags
vom 19. Februar 2014, ehrlich gesagt, ein bisschen
schwer nachzuvollziehen. Sie selbst haben damals schon
nach knapp drei Jahren der ersten Laufzeit mit Vehemenz
dargestellt, dass hier Handlungsbedarf besteht. Ich darf
aus Ihrem Antrag sinngemäß zitieren: Immerhin ging
zwischen dem Jahre 2010 und dem Jahre 2013 die Erreichbarkeitsquote von 66 auf 42 Prozent zurück.
({1})
Jetzt wird natürlich gerne der Hinweis verwendet,
dass dem bisherigen Trägerverbund keine ausreichenden Finanzierungsmittel zur Verfügung gestanden haben.
Meines Erachtens muss man sich aber, wenn in einer solchen Situation größeres Beratungsvolumen entsteht, als
Betreiber doch sukzessive auf einen vermehrten Bedarf
einstellen.
Herr Kollege Weinberg, in Ihrem Antrag heißt es, es
habe ein Geschmäckle, dass das Volumen in der Ausschreibung jetzt auf 9 Millionen Euro erweitert worden
ist, und sei deshalb überhaupt nicht verwunderlich, dass
der neue Anbieter auch ein erhöhtes Angebotsvolumen
präsentieren kann.
({2})
Es ist schlicht und ergreifend so, dass dieses erhöhte Volumen natürlich auch von dem damaligen Verbund im
Rahmen der Teilnahme an der Ausschreibung hätte eingesetzt werden können.
({3})
Herr Kollege Kippels, gerade haben Sie den Widerspruch der Kollegin Klein-Schmeink geweckt. Sie bittet
darum, Ihnen eine Frage stellen oder eine Bemerkung
machen zu dürfen. Sind Sie damit einverstanden?
Sie hat ihre Gedanken gerade schon ausgeführt. Im
Moment möchte ich deshalb gern die Gelegenheit nutzen, meine Gedanken zu Ende zu bringen. Insoweit bitte
ich um Verständnis.
Bitte schön.
In der Tat war das erhöhte Finanzvolumen natürlich absehbar. Sie haben im Rahmen der Analysen schon 2014
formuliert - da komme ich gerne noch einmal auf Sie,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, zurück -, dass hier Handlungsbedarf besteht. Schon
damals wollten Sie ein Finanzvolumen von 10,5 Millionen Euro in den Raum stellen und haben eine Reihe
von Anforderungsprofilen formuliert, die jetzt Eingang
in die Ausschreibung gefunden haben. Was also soll an
der neuen Betätigung so kritisch und problematisch sein?
Eins müssen wir allerdings im Rahmen dieser Tätigkeit auf jeden Fall berücksichtigen und bewerten - ich
glaube, das ist der ausschlaggebende Gesichtspunkt -:
Richtig ist, dass der Bedarf der Bürgerinnen und Bürger,
kompetente Unterstützung im Umgang mit dem Gesundheitswesen zu erhalten, steigt. Aber er steigt nicht nur
quantitativ, sondern er steigt auch qualitativ. Insofern ist
natürlich auch die dauerhafte personelle Bewältigung
des Beratungsaufkommens, insbesondere durch geschulte Ärzte, dringend geboten. Das kann natürlich nur mit
einem geeigneten Finanzvolumen sichergestellt werden.
Zudem haben wir ein verändertes Nachfrageverhalten. Jedem ist bekannt, dass die größte Horrorsituation
eines Hilfesuchenden das Einreihen in die Warteschleife am Telefon ist. Sie können dann zwar irgendwann die
Musik mitsummen oder den Text mitsingen, aber Sie
befinden sich möglicherweise in einer aktuellen Notlage
und wollen nach zwei- bis dreimaligem Klingeln einen
kompetenten Ansprechpartner haben, der Ihnen in dieser
Situation mit Ihren ganz vielfältigen Fragen die notwendigen Informationen zur Verfügung stellt oder zumindest
Führung gibt. Hinzu kommt dann heutzutage auch noch,
dass bei den komplexen Sachverhalten, mit denen sich
die Gesundheitswirtschaft und damit auch der Patient
auseinanderzusetzen hat, Verknüpfungen verschiedener
Sachbereiche erforderlich sind. Das heißt, man muss
dauerhaft eine sehr komplexe Beratungsstruktur vorhalten. Das erfordert natürlich auch Organisationskompetenzen eines Unternehmens.
Wir werden uns zunächst einmal sinnvollerweise konstruktiv mit den Ergebnissen auseinandersetzen. Die sieben Jahre sind nun beileibe kein Zeitraum, der sich hier
als Menschheitsgeschichte darstellt. Die ersten fünf Jahre
haben uns schon gelehrt, dass vor allen Dingen ein dynamischer Prozess entsteht. Den haben wir im Ausschreibungsverfahren adäquat aufgenommen, und der wird begleitet. Er wird durch den Auditor begleitet, er wird durch
den Patientenbeauftragten begleitet, und er wird durch
uns im Rahmen permanenter Rechenschaftsberichte begleitet werden können. Wir haben vor allen Dingen auch
innerhalb der sieben Jahre das Kündigungsrecht. Wenn
wir der Auffassung sind, dass dieses Anforderungsprofil,
das - so verstehe ich die heutige Diskussion - inhaltlich
keiner Kritik unterliegt ({0})
nur die hypothetische Unabhängigkeit ist der Kritikpunkt
an vorderster Front - nicht erfüllt wird, so haben wir die
Möglichkeit, vor Ablauf der sieben Jahre aus diesem Vertrag auszusteigen.
Ich glaube, gerade mit Rücksicht auf die Komplexität der Gesundheitswirtschaft ist ein dauerhafter Qualitätswettbewerb, auch zwischen denen, die die Leistungen zu erbringen haben, wertvoll, sinnvoll und durchaus
den notwendigen Anpassungsgegebenheiten geschuldet.
Letzten Endes werden uns ja auch die Zahlen - ich glaube, damit sollten wir uns sinnvollerweise auseinandersetzen - eine Grundlage zur Reflexion geben und zeigen, ob
der Bürger, der Kunde, der Patient mit den Leistungen
dieser Patientenberatung in ausreichendem Maße zufrieden ist. Die Zufriedenheit wird sich in der Häufigkeit der
Inanspruchnahme zeigen, und es wird mit Sicherheit eine
lebhafte Diskussion über dieses neue Angebot geben.
Geben Sie dieser UPD in ihrem neuen Kleid eine Chance, sich am Markt zu bewähren. Wir und natürlich auch
Sie werden sie begleiten und an entscheidender Stelle
eingreifen. Aber hier und heute schon das endgültige Urteil zu fällen, dass diese Institution nicht die erforderliche
Unabhängigkeit und möglicherweise auch keine ausreichende Kompetenz aufweist, ist aus meiner Sicht zu früh.
Jeder muss eine adäquate Chance haben. Das ist im Sinne
der Bürgerinnen und Bürger.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank. - Letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt ist die Kollegin Heike Baehrens, SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen
Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, so hören wir es täglich in
der Werbung. Ja, es gibt Risiken und Nebenwirkungen in
unserem System der gesundheitlichen Versorgung, und
nicht immer reicht es, die Ärztin oder den Apotheker zu
fragen, sondern manchmal braucht man auch eine neutrale Anlaufstelle oder eine unabhängige Beratung.
Gesundheitsversorgung ist ein komplexes System, das
für Patientinnen und Patienten nur schwer zu durchschauen ist. Dies gilt umso mehr, je langwieriger oder auch
schwerwiegender eine Erkrankung ist. Es ist erfreulich,
dass die Behandlungsmöglichkeiten zunehmen. Gleichzeitig wird es aber auch schwieriger, Therapieentscheidungen zu fällen, ja überhaupt erst einmal Informationen
zu verstehen und zu bewerten, die wir von unserem Arzt
erhalten. Häufig trifft dann Fachsprache auf Nervosität
und Ängste. Hinzu kommen viele, oft widersprüchliche
Informationen im Internet. Manchmal braucht es Erklärung, Übersetzung oder das Aufzeigen von Alternativen.
Ganz oft braucht es einfach Orientierung.
Die Unabhängige Patientenberatung Deutschland ist
dann ein wichtiger Lotse im System. Sie gibt Rat, wohin ich mich im konkreten Fall wenden kann oder wie
ich gegebenenfalls zu meinem Recht komme. Wenn beispielsweise Fehler gemacht wurden, ist es gut, jemanden
Unabhängigen mit fachlicher Expertise an seiner Seite zu
haben. Darum sind wir als SPD-Fraktion - das hat Frau
Kühn-Mengel gerade deutlich gemacht - nicht glücklich
über den Trägerwechsel aufgrund des Ausschreibungsverfahrens. Denn diese sensible Beratungsaufgabe war
beim bisherigen frei-gemeinnützigen Trägerverbund
gerade deshalb gut verortet, weil der VdK, die Verbraucherzentrale und der Verbund unabhängiger Patientenberatung auch über die UPD hinaus ganz maßgeblich die
Interessen der Patientinnen und Patienten vertreten haben und dieses auch zukünftig tun werden. Wenn diese
Aufgabe nun von einem Tochterunternehmen eines gewinnorientierten, privaten Beratungsunternehmens übernommen wird, das gleichzeitig Krankenkassen und andere Gesundheitsdienstleister berät, ist Skepsis durchaus
angebracht.
({0})
Neutralität und Qualität der Patientenberatung müssen auch in der neuen Konstellation gewahrt bleiben.
Denn ganz häufig geht es bei der Beratung um Fragen
zu den Leistungen von Kostenträgern im Gesundheitswesen: Warum wurde meine Reha nicht genehmigt? Gibt
es günstigeren Zahnersatz? Warum bekomme ich kein
Krankengeld mehr? Zu solchen Fragen hat die UPD einerseits beraten und andererseits die Probleme auch an
die Politik oder Selbstverwaltung adressiert, damit Korrekturen vorgenommen werden konnten. So hatten beispielsweise viele Patienten in der Vergangenheit ihren
Anspruch auf Krankengeld verloren, weil sie ihrer Krankenkasse nicht den lückenlosen Verlauf der Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen haben. Das haben wir im letzten
Jahr politisch aufgegriffen, eine gesetzliche Klarstellung vorgenommen und gleichzeitig das Antragsverfahren deutlich vereinfacht. Ab diesem Jahr gibt es bei den
Krankschreibungen nur noch ein einheitliches Formular,
auf dem die Ärzte sowohl die Arbeitsunfähigkeit während der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber als
auch während der Krankengeldzahlung durch die Krankenkasse bescheinigen. Der Patient erhält künftig einen
Durchschlag mit dem Hinweis, dass für den Bezug von
Krankengeld ein lückenloser Nachweis der Arbeitsunfähigkeit erforderlich ist.
Ein anderes großes Dauerthema in der UPD sind die
sogenannten IGeL-Leistungen, die individuellen Gesundheitsleistungen, die von den Patienten selbst zu
bezahlen sind. Sie werden gern von Ärzten empfohlen,
obwohl die GKV diese Leistungen nicht bezahlt, wenn
die medizinische Indikation nicht eindeutig gegeben ist.
Wie gut ist es dann, dass man jemanden fragen kann, der
keine eigenen wirtschaftlichen Interessen verfolgt.
Im Zentrum unserer Gesundheitspolitik stehen die Patientinnen und Patienten sowie die Qualität der medizinischen Versorgung. Um die Rechte der Patientinnen und
Patienten zu stärken, haben wir in den vergangenen zwei
Jahren in der Großen Koalition einiges auf den Weg gebracht. So haben wir die Unterstützung der gesundheitlichen Selbsthilfe stärker gefördert, sodass die Kassen
zukünftig die Selbsthilfestrukturen auch finanziell unterstützen. Damit werden auch die Rechte der Patientinnen
und Patienten gestärkt.
Zum jetzigen Zeitpunkt bleibt uns nichts anderes übrig, als das Ergebnis des Ausschreibungsverfahrens zu
respektieren. Wir sagen aber ebenso klar: Bei Risiken
und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre SPD. - Denn wir
werden sowohl auf Bundesebene als auch in den Ländern
und Kommunen darauf achten, dass den vollmundigen
Ankündigungen tatsächlich entsprechende Taten folgen,
dass die UPD tatsächlich die Netzwerkarbeit fortsetzt
und die Leistungen erbringt, die eingefordert werden.
Darauf können sich alle verlassen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/7042 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung
der Registrierung und des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrechtlichen
Zwecken ({0})
Drucksache 18/7043
- Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung und des Datenaustausches zu aufentHeike Baehrens
halts- und asylrechtlichen Zwecken ({1})
Drucksache 18/7203
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({2})
Drucksache 18/7258
- Bericht des Haushaltsausschusses ({3}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/7259
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Auch hier höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich darf Sie bitten, zügig Ihre Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Für die Bundesregierung
erhält das Wort Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute beraten und verabschieden,
ist ein sehr wichtiger Schritt zur Steuerung und Ordnung
des Asylverfahrens gelungen. Mit diesem Gesetz wird
es gelingen, Asyl- und Schutzsuchende deutlich früher
als bisher, einmalig und zentral für alle und biometrisch
zweifelsfrei zu erfassen und zu identifizieren.
Das ist nötig. Denn wir müssen wissen, wer als Flüchtling in unser Land kommt. Wir wollen entscheiden, wo er
untergebracht wird. Wir wollen schnelle Verfahren ohne
Doppelarbeit, um schnell entscheiden zu können: Wer
darf bleiben und muss integriert werden, und wer darf
nicht bleiben? Wir wollen wissen, ob von einem Flüchtling eine Gefahr ausgeht. Das Gesetz hilft bei all diesen
Themen. Es ist aus drei Gründen wichtig:
Erstens: aus Gründen der Ordnung und Steuerung. Wir
wollen Selbstzuweisungen von Asylsuchenden unterbinden und selbst nach sachlichen Kriterien entscheiden,
wo ihr Verfahren durchgeführt wird. Es darf nicht sein,
dass sich einzelne Asylsuchende nicht an die Zuteilung
zu einer Aufnahmeeinrichtung halten oder sich immer
wieder zur Erstverteilung anstellen, um das Verfahren
an dem von ihnen gewünschten Ort durchzuführen. Die
Steuerungshoheit obliegt dem Staat und muss auch dort
verbleiben.
({0})
Das ist nicht nur Bedingung für eine gerechte Verteilung auf die Länder nach dem Königsteiner Schlüssel,
sondern auch für die Weiterverteilung auf die Kommunen. Auch für die Feststellung des zusätzlichen Bedarfs
an Unterkünften, an Schulen, an Integrationskursen und
für die Hinführung zu Berufen ist eine frühzeitige Kenntnis planungssicherer Zahlen wichtig.
Zweitens. Das Gesetz ist wichtig, um Schutzsuchende
bei jedem weiteren Behördenkontakt wiederzuerkennen
und Missbräuche zu unterbinden. Künftig wird nur derjenige ein Asylverfahren und entsprechende Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, der ordnungsgemäß registriert ist und einen gültigen Ankunftsnachweis vorweisen kann. Zu uns kommende Menschen
werden dafür möglichst bereits beim ersten Behördenkontakt erkennungsdienstlich behandelt und registriert,
und zwar im Wege des Prinzips „Einer für alle“. Einer registriert für alle; standardisiert und zentralisiert kommen
dann alle Daten auf eine Kerndatenbank. Alle zuständigen Behörden von Bund und Ländern, die Landespolizeien, die Bundespolizei, das BAMF, die Ausländerbehörden, auf Wunsch des Bundesrates auch die Jugendämter,
haben im Rahmen ihrer Zuständigkeit Zugriff auf die
Datei. Die Zeiten von Doppel- oder gar Mehrfacherfassungen sind damit vorbei. Unsere Behörden können dann
schnell und zweifelsfrei überprüfen, ob jemand bereits
als Flüchtling erfasst ist, wo und seit wann. Das Auftreten mit verschiedenen Identitäten und Mehrfachregistrierungen, um sich wiederholt Leistungszuwendungen
zu erschleichen oder um sich an einem Ort seiner Wahl
niederzulassen, all das wird es nicht mehr geben.
Drittens. Das Gesetz ist auch wichtig aus Gründen der
inneren Sicherheit. Viele Menschen in unserem Land fragen sich: Sind wir davor geschützt, dass sich unter dem
Deckmantel des Asyls auch Kriminelle oder gar Terroristen in unser Land begeben? Das neue Gesetz wird auch
hier für mehr Sicherheit sorgen. Unmittelbar nach der
Speicherung der Daten einer Person im Kerndatensystem
sollen die Sicherheitsbehörden einen Abgleich vornehmen und prüfen, ob zu einer Person terrorismusrelevante
Erkenntnisse oder sonstige schwerwiegende Sicherheitsbedenken bestehen. So werden die Behörden frühzeitig
solche Personen erkennen können, zu denen sicherheitsrelevante Erkenntnisse bereits vorliegen, oder sie können
später entsprechend nachfragen. Auch wenn die Flüchtlinge erst in Deutschland kriminell werden, wie etwa in
Köln, werden wir sie künftig schneller identifizieren können, und zwar dank eines bundeseinheitlichen Ankunftsnachweises mit Lichtbild und der im System hinterlegten
Daten.
Die Zeiten, in denen Menschen bis zur förmlichen
Antragstellung nur über die sogenannte BüMA identifizierbar waren - gemeint ist die Bescheinigung über die
Meldung als Asylsuchender, die bisher weder bundeseinheitlich ausgestaltet war noch ein Lichtbild hatte -, sind
vorbei. Mit dem neuen Gesetz ist eine schnelle Identifizierung möglich. Damit kann man Integrationskurse
steuern. Damit fallen Doppelerfassungen und -beratungen weg und vieles andere mehr.
Die Verabschiedung des Datenaustauschverbesserungsgesetzes ist wichtiger denn je. Die Datenschutzbeauftragte hat übrigens im Wesentlichen keine Bedenken
gegen dieses Gesetz erhoben. Das ist gut. Ich bedanke
mich sehr herzlich für die zügige Beratung. Wir wollen
das Gesetz schnell in Kraft setzen. Allerdings verbirgt
sich hinter diesem Gesetz ein sehr kompliziertes IT-Projekt. Hier werden Schnittstellen gebraucht zwischen
Polizeidateien, Dateien der Bundesagentur für Arbeit,
Dateien des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge
und verschiedensten Dateien der Länder, die wiederum
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
oft nicht landeseinheitlich sind, sondern je nach Kommune unterschiedlich. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe.
Wir werden das Projekt schnellstmöglich umsetzen. Wir
haben um schnelle Verabschiedung des Gesetzentwurfs
gebeten, auch den Bundesrat, damit das Gesetz am 1. Februar in Kraft treten kann.
Wir wollen im Februar damit beginnen, das Verfahren
aufzurollen, vermutlich erst für diejenigen, die neu kommen, und dann nach und nach durch das Migrieren der
Daten derjenigen, die schon da sind. Wir hoffen, dass das
bis zum Sommer gelingt. Das ist ein wirklich anspruchsvolles IT-Projekt. Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass
wir den Zeitplan einhalten werden, aber wir arbeiten daran.
Vielleicht könnte das Projekt ein Vorbild für andere
große IT-Projekte in unserem Land sein, indem wir Egoismen zwischen Ressorts, zwischen Bund und Ländern
und zwischen Ländern und Kommunen zurückstellen.
Wir werden so eine vernünftige Lösung für ein Projekt
haben, das einer Aufgabenerfüllung dient. Wir sollten
nicht zuerst darauf gucken: Passt das zu meinem bisherigen IT-Projekt, oder muss ich mich vielleicht ein
bisschen umstellen? Ich hoffe, dass dieses aus der Not
geborene Projekt Vorbildcharakter für die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen auch auf
anderen Feldern haben kann.
Vielen Dank für die schnelle Beratung. Ich hoffe auf
eine breite Zustimmung.
({1})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist die Kollegin Ulla
Jelpke, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch
die Linke ist der Meinung, dass eine zentrale Datenspeicherung zur Registrierung der Schutzsuchenden notwendig ist und dass wir eine Erleichterung für die Behörden
brauchen. Das ist auch die Hoffnung der Länder und
Kommunen, die sich von diesem Gesetzesvorhaben vor
allen Dingen eine Beschleunigung der Aufnahme und der
Unterbringung von schutzsuchenden Flüchtlingen erhoffen.
Wenn mit diesem Gesetzentwurf dieses Versprechen
gehalten werden könnte, wären wir, wie gesagt, voll dabei; denn es gibt in der Tat Mehrfachbelastungen bei den
Behörden durch doppelte Arbeiten, zum Beispiel durch
Doppelregistrierungen. Der Versuch, diese abzuschaffen,
sollte sehr genau beobachtet und kontrolliert werden.
Nach EU-Vorgaben müssen Flüchtlinge innerhalb von
zwei Wochen nach ihrer Ankunft als Asylantragsteller
registriert werden. Davon sind wir gegenwärtig weit entfernt. Ehe Flüchtlinge sich melden können, vergehen oft
Wochen. Ehe sie einen Asylantrag stellen können, vergehen im Moment bis zu zehn Monate. Das ist in der Tat
viel zu lang. Da muss schnellstens etwas passieren.
Anstatt die Registrierung gleich mit dem Asylverfahrensantrag zu verbinden, wird ein unnötiges, zusätzliches
Arbeitsverfahren eingeführt. Für die Flüchtlinge bedeutet das eine nervenaufreibende, kräftezehrende Zeit, in
der sie darauf warten, zu erfahren, ob sie überhaupt einen Anspruch haben. Man muss sich das so vorstellen:
Zunächst wird der Flüchtling mit einer sogenannten
BüMA - das ist Bürokratensprache -, also einer Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender ausgestattet.
Diese wird in der Regel von der Polizei, den Ausländerbehörden oder dem BAMF ausgestellt. Damit erfolgt
gleichzeitig eine Zuweisung zu einem Bundesland, zu
einer Kommune, in der der Flüchtling aufgenommen
wird. Jetzt soll ein Ankunftsnachweisausweis ausgegeben werden - er wird heute neu beschlossen -, der im
Grunde genommen besagt, dass der Flüchtling zu diesem
Zeitpunkt noch nicht einmal geduldet ist. Nach unseren
Gesetzen hat man aber nur dann Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, wenn man
als Flüchtling wenigstens eine Duldung hat.
Im Übrigen haben Kinder, die sich hier aufhalten,
deren Eltern nicht geduldet sind, keinen Zugang zum
Schul unterricht oder zu anderen Einrichtungen. Das ist
ein Riesenproblem. Ich habe in der letzten Woche unbegleitete minderjährige Flüchtlinge getroffen, die seit zehn
Monaten darauf warten, dass sie ihren Asylantrag stellen
können. In dieser Zeit können sie nicht zur Schule gehen,
hängen also einfach in irgendeiner Einrichtung rum. Sie
werden zwar versorgt, aber es ist ein unerträglicher Zustand - dabei geht es auch um das Kinderwohl -, dass
diese Kinder nicht zur Schule gehen können, dass sie keine Integrationsleistungen in Anspruch nehmen können.
({0})
Dadurch besteht natürlich die Gefahr, dass ihre Integration weiter verzögert wird. Wir sagen doch immer, dass
die Integration von Anfang an erfolgen muss, weil nur
das für die Integration sinnvoll ist, weil nur das auch im
Sinne des Schutzsuchenden ist.
Ein Problem gibt es meines Erachtens auch beim Datenschutz. Es werden notwendige Kerndaten erhoben,
aber auch eine Unzahl weiterer Daten. Die Augenfarbe,
Informationen über den schulischen und den beruflichen
Weg usw. werden aufgenommen, obwohl diese Informationen zu diesem Zeitpunkt eigentlich gar nicht nötig sind.
Ich sage das vor allen Dingen, weil es eine Datenpflege
geben muss, das heißt, die eingegebenen Daten, auf die
Kommunen und Länder zugreifen können, müssen stimmen. Diese Datenpflege bedeutet für die Behörden einen
enormen Arbeitsaufwand. Darin sehe ich im Augenblick
eher eine zusätzliche Belastung als eine Entlastung.
Herr Innenminister, es geht noch ein bisschen weiter.
Die Geheimdienste führen nicht nur eine Überprüfung
durch. Ganz bestimmten Gruppen, zum Beispiel den
Flüchtlingen aus muslimischen Ländern, wird im Grunde genommen kategorisch Misstrauen entgegengebracht.
Das wird daran deutlich, dass man ihre Daten weiterhin
speichert, dass man weiterhin Zugriff auf die Daten dieBundesminister Dr. Thomas de Maizière
ser Flüchtlinge hat. Das finden wir überhaupt nicht richtig. Wir halten das für viel zu weitgehend.
({1})
In diesem Zusammenhang muss man wirklich kritisieren, dass die Unionsfraktion - auch Sie haben das
eben wieder gemacht - hier von vornherein über Asylmissbrauch und über sogenannte terroristische Gefährder
spricht, also im Grunde genommen die Debatte über dieses Gesetz mit Parolen vergiftet. In der Flüchtlingspolitik
sollten wir einfach einmal sachlicher bleiben und sagen,
warum etwas notwendig ist, und es nicht immer gleich
ideologisch mit Missbrauchsdebatten verbrämen.
({2})
Sie denken bitte an Ihre Redezeit.
Ja, ich komme zu meinem letzten Satz. - Sie haben
sich hier gerade dafür bedankt, dass das Verfahren sehr
schnell läuft. Erst gestern wurde diese Vorlage eingebracht, am Montag hatten wir schon eine Anhörung, und
heute verabschieden wir den Gesetzentwurf. Das hängt
vor allen Dingen damit zusammen, dass dieser Auftrag
schon bei der Druckerei ist und diese darauf wartet, ihn
endlich ausführen zu können. Das halte ich für einen
Skandal. Anstatt hier ein sauberes Gesetz zu machen,
machen wir im Grunde genommen einen Schnellschuss.
Ich glaube, damit ist niemandem geholfen.
Ich danke Ihnen. - Wir werden uns im Übrigen enthalten.
({0})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion hat jetzt das
Wort der Kollege Matthias Schmidt.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren auf den Zuschauertribünen! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir reden heute über das
Datenaustauschverbesserungsgesetz, landläufig nennt
man das auch den Flüchtlingsausweis. Ich weiß, warum
dieser Begriff nicht in das Gesetz aufgenommen wurde.
Man hat stattdessen „Ankunftsnachweis“ als Begriff gewählt. Wenn man einen Moment lang darüber nachdenkt,
kommt man zu dem Ergebnis, dass auch diese Begrifflichkeit nicht ganz gelungen ist. Aber egal, das Gesetz
an sich ist gelungen, und die Intention des Gesetzes ist
sehr wichtig.
Ich will das an einem zunächst etwas abseitigen Beispiel versuchen zu erklären. Heute ist der 14. Tag des
neuen Jahres. Das heißt, wir sind langsam an der Grenze
angekommen, an der die guten Vorsätze über Bord geworfen werden.
({0})
Meine guten Vorsätze waren gegen Churchill gerichtet,
der ja einst „no sports“ gesagt haben soll. Ich wollte mehr
Sport wagen.
({1})
Ich bin durch eine große Fitnesskette darin bestärkt worden, die es mir ermöglicht hat, elf Tage lang umsonst
zum Training zu marschieren. Also habe ich am 2. Januar
mein Köfferchen gepackt und meine Turnhose hineingetan. Ich habe mich dann zu meiner großen Überraschung
in einer langen Schlange angestellt. Dort standen mehrere Menschen so wie ich, die ihre asketische Phase schon
länger hinter sich haben und viele gute Vorsätze gefasst
haben. Sie alle wollten die Chance nutzen, dort kostenfrei zu trainieren. In der Schlange gab es auch überhaupt
keine Rangeleien, keine Widersprüche. Jeder wartete geduldig ab.
Als dann endlich ich dran war, wurden logischerweise meine Daten registriert: Name, Vorname, Adresse,
Telefonnummer und E-Mail-Adresse. Damit ich meinen
Ausweis nicht weitergeben kann, wurde ich auch fotografiert. Denn so kann Missbrauch vorgebeugt werden.
All das lassen wir alle locker über uns ergehen, weil wir
die Bürokratie akzeptieren, selbst wenn sie nicht einmal
von einer Behörde kommt. Denn wir wissen, dass diese
Bürokratie Vorzüge hat, dass es gut ist, dass es so geregelt ist, obwohl wir alle gerne mal Sprüche über die
Bürokratie ablassen, so wie ich es ja auch zu Beginn über
den Namen des Gesetzes gemacht habe.
Gleichwohl, Herr Minister - das hatte ich gesagt -,
ist das Gesetz absolut notwendig. Wir brauchen eine
sichere Identifizierung der Schutzsuchenden. Wir wollen Mehrfachregistrierungen vermeiden. Vorhin beim
Tagesordnungspunkt Asylverfahrensgesetz hat Kollege
Castellucci dargelegt, dass teilweise bis zu vier unterschiedliche Behörden das Gleiche aufnehmen, weil sie
nicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren.
Das hat jetzt ein Ende. Verwaltungsverfahren werden
sehr viel effizienter ausgestaltet. Die entsprechenden Behörden bekommen Zugriff auf einen Kerndatensatz und,
Frau Jelpke, auch auf weitere Daten, zum Beispiel die
Schulbildung. Das hatten Sie ja ein bisschen kritisiert.
({2})
Aber gerade für die Integration brauchen wir den Zugriff
auf solche Daten. Darum ist das ganz gut so.
({3})
Wir brauchen den Ankunftsnachweis auch für eine
gerechtere Verteilung nach dem Königsteiner Schlüssel
und letztendlich für eine Beschleunigung der Asylverfahren. Die Beschleunigung der Asylverfahren ist aus
vielerlei Gründen wichtig und sinnvoll. Es geht darum,
die Kommunen und auch die öffentlichen Kassen zu entlasten. Aber sehr viel wichtiger ist: Kurze Asylverfahren
bedeuten auch Akzeptanz in der Bevölkerung. Kollege
Castellucci hat vorhin beim Asylverfahrensgesetz sehr
genau dargestellt, wie lange die Phase ist, bis jemand
einen Asylantrag stellt. Wir alle müssen daran arbeiten,
dass diese Phase deutlich kürzer und das gesamte Verfahren schneller wird.
({4})
Aber dieses Thema ist nicht das einzige, auf das wir
Abgeordnete Gehirnschmalz verwenden sollten, sondern
wir sollten uns auch Gedanken darüber machen: Was
kommt nach dem Asylverfahren? Es folgt, grob gesagt,
eine Entscheidung: Ja oder nein, entweder darf jemand
bleiben oder nicht. Wenn der Schutzsuchende bleiben
darf, investieren wir alle sehr viel Energie, darüber nachzudenken, wie wir ihn integrieren können: durch Arbeit,
Sprache, Ausbildung, Wohnung und verschiedene andere Sachen. Das ist alles sinnvoll und richtig; das sollten
wir auch weiterhin so machen. Aber wir dürfen auch die
zweite Möglichkeit nicht vergessen: Was ist, wenn jemand abgelehnt wird? Wie können wir bewirken, dass
er seiner Ausreisepflicht nachkommt? Bisher denken wir
relativ wenig darüber nach. Ich finde, wir sollten uns
überlegen, wie wir an dieser Stelle positive Anreize setzen können, weil auch das die Akzeptanz des gesamten
Verfahrens stärken würde.
Herr Minister, Sie haben gesagt, Sie möchten das Gesetz jetzt sehr schnell umsetzen; das ist auch gut und richtig so. Sie haben angedeutet: Bis zum Sommer könnte
bzw. sollte es klappen. Sie wollen die Änderungen nach
und nach einführen; das ist sicherlich der richtige Weg.
Wir müssen das, was nun geschieht, im Blick behalten.
Letztendlich werden wir Sie auch daran messen, wie
schnell das Gesetz umgesetzt werden kann. Das war Ihre
Idee, und es ist ein sehr guter Vorschlag. Der Bundestag
wird den Gesetzentwurf heute verabschieden. Dann ist
die Exekutive am Zuge; sie muss das Gesetz dann umsetzen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Vielen herzlichen Dank.
({5})
Ich danke auch. - Nächste Rednerin ist Luise
Amtsberg, Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die in unserem Land ankommenden Asylsuchenden haben einen Anspruch auf ein faires und transparentes Verfahren. Es geht darum, dass wir ihnen mit Respekt, Professionalität und der Rechtsstaatlichkeit begegnen, die
nicht nur das Recht gebietet, sondern natürlich auch der
Anspruch, den wir angesichts der Schicksale der Menschen, die nach oft mühevollen und teilweise lebensgefährlichen Strapazen unser Land erreicht haben, an uns
selbst haben.
Wir sind uns hier deshalb auch weitgehend einig, dass
die Ziele des vorgelegten Gesetzentwurfes überwiegend
richtig sind. Auch wir erwarten beim Umgang mit der
Situation, dass zahlreiche Flüchtlinge und Asylbewerber
zu uns gekommen sind, eine funktionierende öffentliche
Verwaltung. Wir brauchen eine effiziente Infrastruktur,
der alle elektronischen Hilfsmittel zur Verfügung stehen,
um in der ohnehin total komplexen Zuständigkeitssituation zwischen Kommunen, Ländern und Bund bei der Registrierung der Asylsuchenden effektiv voranzukommen.
({0})
Der Bund ist hier in der Pflicht, eine IT-Infrastruktur
auf die Beine zu stellen, die wesentliche Entlastungen für
alle an den Verfahren Beteiligten mit sich bringt. Damit
meine ich neben den zahlreichen unterschiedlichen Behörden auch die Asylsuchenden selbst, für die die Situation derzeit wirklich eine Belastung ist. Es ist für uns
deshalb von entscheidender Bedeutung, dass schnelle
Verfahren - von der Registrierung über die Stellung eines Asylantrags bis hin zu den Bescheiden - zu eindeutigen, fairen Entscheidungen führen. Leider - das sage ich
wirklich mit Bedauern - enttäuscht der heute vorgelegte
Gesetzentwurf diese berechtigten Erwartungen in vielerlei Hinsicht, und er wirft auch eine Vielzahl neuer Fragen
auf.
Zwar haben Sie per Änderungsantrag die Wirksamkeitsdauer des Ankunftsnachweises verlängert; das ist
gut. Aber es bleibt bei der von den Sachverständigen
am Montag im Ausschuss kritisierten Lage, dass weiterhin, sowohl vor als auch nach der Ausgabe dieses Dokuments, weitere Dokumente ausgegeben und von den
Behörden gepflegt werden müssen. Das ist eine erhebliche Belastung; das haben uns die Sachverständigen am
Montag verdeutlicht.
Die Grundkonstruktion Ihrer neuen IT-Infrastruktur
ist wackelig; das kann man nicht anders bezeichnen. Wer,
wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, seine IT an das Bundesverwaltungsamt outsourct, zugleich
aber diesen Datenbestand mit dem datenschutzrechtlich
ohnehin stets umstrittenen Ausländerzentralregister fusioniert, braucht eine Klärung der Zuständigkeiten.
({1})
Die Frage, die sich da stellt, ist ganz klar: Wer gewährleistet für genau welchen Teil dieser riesigen Datenbankinfrastruktur, in die ja Tausende von Behörden Informationen einmelden oder aus der sie Informationen abrufen
dürfen, dass kein Missbrauch erfolgt? Sie wissen: Der
Datenschutz ist ein grünes Kernthema. Wir sind nicht
überzeugt und haben erhebliche Bedenken - das hat auch
die Beauftragte für Datenschutz deutlich gemacht -, dass
das gelingen kann.
Die Erfassung jedes einzelnen Familienmitglieds führt
zu erheblichen Mehrbelastungen für die zuständigen
Behörden. Auch das haben uns einzelne Praktiker der
Matthias Schmidt ({2})
Ausländerbehörden in der Anhörung deutlich gemacht.
Gleiches gilt für die zusätzliche Erhebung von Erkennungsmerkmalen, wie das Lichtbild bei Minderjährigen
und sogar Säuglingen, obwohl die gängigen Erhebungen
aus fachlicher Sicht zur Identifizierung bisher absolut
ausreichen.
Sehr verehrte Damen und Herren, so richtig es ist, mit
einer modernen IT-Infrastruktur und einer Vernetzung
der beteiligten Behörden auf diese ungeheure logistische Herausforderung aufgrund der Flüchtlingssituation
zu antworten, so wichtig ist es auch, die rechtsstaatlichen Vorgaben für die Schaffung einer solchen gigantischen Infrastruktur zu wahren. Wir sind der Auffassung,
dass für alle nach diesem Gesetzentwurf datenmäßig
erfassten Menschen gelten muss, dass sie einen vollen
Anspruch auf den Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte haben, und dem muss der Gesetzgeber natürlich Rechnung
tragen.
Wenn künftig neben Arbeits- und Sozialbehörden sowie noch mehr Polizeibehörden auch noch - das ist Ihre
jüngste Erweiterung im Änderungsantrag - Gesundheits- und Jugendbehörden einmelden und auf Daten
zugreifen, dann verlangt das kompensierend eben mehr
Datenschutz. Sie haben versucht, mit einer gesetzlichen
Festlegung auf regelmäßige Kontrollen durch die Datenschutzbehörden ein solches Gegengewicht zu schaffen. Das erkennen wir auch durchaus an. Wir betonen
aber - und das ist eben auch die Einschätzung der Datenschutzbeauftragten -, dass dies nur funktionieren
kann, wenn eine solche Forderung auch haushaltsmäßig
unterlegt ist. Sonst überfordern Sie die Aufsichtsbehörden selbstverständlich, und die Kontrolle ist dann nicht
gewährleistet.
Zum Ende möchte ich noch einmal ganz eindeutig
ansprechen, dass die Dringlichkeit und die besondere
Herausforderung durch den hohen Zugang von Asylsuchenden von uns allen ein besonnenes Handeln verlangen. Auch wir sind bereit, hier in andere Richtungen zu
denken.
Wir stellen uns diesem Anliegen grundsätzlich überhaupt nicht entgegen, doch die Liste der fachlichen Kritikpunkte, die wir hier haben, ist lang. Ich kann sie jetzt
nicht alle auflisten, aber zum Beispiel auch die Erreichung des Ziels, die Verfahren zu beschleunigen, steht
aufgrund der einzelnen Punkte, die ich angeführt habe,
infrage. Daher werden wir uns bei der Abstimmung über
den Gesetzentwurf enthalten, was ich, Herr Minister,
wirklich außerordentlich bedaure, weil wir schon die
Hoffnung hatten, dass wir hier endlich auch einmal in
einer asylpolitischen Frage auf einen gemeinsamen Nenner kommen.
Ich finde es wirklich bedauerlich und schade, dass
die Kritikpunkte, die am Montag im Ausschuss von den
Sachverständigen geäußert wurden, nicht in den Gesetzentwurf eingegangen sind, obwohl sie von Menschen aus
der Praxis geäußert wurden. Dadurch werden wir in Zukunft natürlich entsprechende Probleme haben.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir hier vielleicht doch
noch zu einer Zustimmung kommen können. Unsere Kritik an den einzelnen fachlichen Punkten lässt das aber
leider nicht zu. Deshalb enthalten wir uns.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Nina Warken,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Datenaustauschverbesserungsgesetz, das wir heute
beschließen wollen, ist ein wichtiger Baustein, um den
Zustrom von Menschen in unser Land bewältigen zu
können. Sie, Frau Kollegin Jelpke, können, glaube ich,
auch nicht von der Hand weisen, dass Schnelligkeit hier
jetzt wirklich wichtig ist.
Gleichwohl ist natürlich auch Gründlichkeit wichtig.
Ich denke, wir sind hier sehr gründlich vorgegangen,
und wir werden auch in Zukunft bei der Umsetzung sehr
gründlich vorgehen. Ich darf den Vorwurf zurückweisen,
dass man hier nicht gründlich gearbeitet hat.
({0})
Das Gesetz wird dafür sorgen, dass jeder Flüchtling
und jeder, der unerlaubt einreist, durch ein einheitliches
und vereinfachtes System umgehend zweifelsfrei registriert wird. Die notwendigen Daten, wie Name, Herkunft,
Fingerabdrücke, aber auch Informationen zur beruflichen
Qualifikation und zu mit eingereisten Kindern, stehen
allen beteiligten Behörden sofort zur Verfügung. Die
Zuwanderung und die Asylverfahren können so besser
gesteuert und geordnet werden, und angesichts der aktuellen Lage ist das unverzichtbar.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich anhand einiger Beispiele ein wenig näher erläutern, warum
wir eine lückenlose Erfassung der Einreisenden und einen verbesserten Datenaustausch dringend brauchen:
Einen unkontrollierten Zustrom darf es nicht länger
geben. Schon aus Sicherheitsgründen müssen und wollen
wir kontrollieren, wer mit welcher Absicht zu uns kommt
und wo sich die Neuankömmlinge aufhalten. Dass dies
dringend notwendig ist, wird angesichts der erhöhten
Terrorgefahr und auch aufgrund der jüngsten Ereignisse
in Köln, Stuttgart und Hamburg niemand mehr bestreiten.
Ebenso müssen wir entscheiden können, wo die Asylverfahren durchgeführt werden. 2015 sind über 1 Million Asylbewerber zu uns gekommen. Aufgrund dieser
hohen Zahl sind die Aufnahmekapazitäten inzwischen
überall in Deutschland knapp. Es kann daher nicht sein,
dass rund 30 Prozent der Asylbewerber einfach aus den
Erstaufnahmeeinrichtungen in den neuen Bundesländern
verschwinden und dort hingehen, wo es ihnen am besten gefällt. Dagegen müssen wir dringend etwas tun. Mit
dem Ankunftsnachweis und dem automatisierten Datenaustausch werden hierfür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen. Weitere Schritte müssen folgen.
Nur wenn es uns gelingt, die Flüchtlinge in Deutschland wirklich gleichmäßig zu verteilen und die Flüchtlingszahlen deutlich zu reduzieren, werden wir in der
Lage sein, unsere Kapazitäten bestmöglich zu nutzen.
Nur so können wir auch die Mammutaufgabe Integration
bewältigen.
Deutschland hat für die Integration der Menschen, die
zu uns gekommen sind, bereits sehr viel getan und wird
dies in Zukunft erst recht tun. Aber: Integration ist keine
Einbahnstraße. Integration braucht Verbindlichkeit für
beide Seiten. Meine Damen und Herren, wir brauchen
das Datenaustauschverbesserungsgesetz, um die Integration besser zu koordinieren, und wir brauchen es für alle
Folgefragen, die sich nach der Ankunft ergeben. So weiß
zum Beispiel die Bundesagentur für Arbeit künftig, wo
wie viele Flüchtlinge untergebracht sind, wie alt sie sind
und welche Qualifikation sie mitbringen. Aber auch die
Länder und die Verantwortlichen vor Ort in den Kommunen wissen beispielsweise, wo wie viele Familien mit
Kindern leben und wie viele zusätzliche Lehrer und Stellen in der Kinderbetreuung benötigt werden.
Meine Damen und Herren, auch der Datenschutz - das
wurde bereits angesprochen - muss natürlich Berücksichtigung finden. Er wird mit diesem Gesetz auch gewahrt.
Was zum Beispiel die besonders sensiblen Gesundheitsdaten angeht, so wird nur erfasst, ob eine Untersuchung
bereits stattgefunden hat. Das dient gerade dazu, Doppeluntersuchungen zu vermeiden, also auch dem Schutz
derjenigen, die zu uns kommen.
Obendrein werden im Gesetzentwurf dem Datenschutzbeauftragten und den Datenschützern der Länder
effektive Kontrollmöglichkeiten eingeräumt. Das war
unter anderem ein Anliegen der Länder im Bundesrat.
Deren Anregungen wurden auch im Übrigen überwiegend berücksichtigt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, am vergangenen
Montag haben wir den Gesetzentwurf bei einer Anhörung mit mehreren Sachverständigen intensiv diskutiert.
Das Feedback war sehr positiv. Vor allem die Experten
aus der Asylpraxis haben betont, dass es sich um ein
gutes und wichtiges Gesetz handelt. Der Mehraufwand
wird eindeutig durch den Nutzen überwogen. Ein zentrales Anliegen aus der Praxis war die längere Gültigkeitsdauer des Ankunftsnachweises, der den Asylbewerbern
künftig ausgestellt wird. Auch das haben wir noch berücksichtigt.
Meine Damen und Herren, das Datenaustauschverbesserungsgesetz spielt auch für die Strafverfolgung eine
wichtige Rolle. Mithilfe der biometrischen Daten kann in
vielen Fällen künftig leichter geklärt werden, ob Asylbewerber Straftaten begangen haben oder nicht. So können
zum Beispiel Fingerabdrücke und andere Daten eines
Tatverdächtigen von der Polizei mit dem Ausländerzentralregister abgeglichen werden.
Meine Damen und Herren, Sie sehen an all diesen Beispielen, warum wir eine lückenlose Erfassung mit biometrischen Daten und einen verbesserten Datenaustausch
dringend brauchen. Der vorliegende Gesetzentwurf hilft
Behörden auf allen Ebenen, für Recht und Ordnung zu
sorgen. Das ist sowohl im Interesse der Schutzsuchenden
als auch im Interesse unserer Sicherheit, für die wir 2016
mehr denn je kämpfen müssen. Sorgen wir also gemeinsam dafür, dass das Gesetz so schnell wie möglich umgesetzt werden kann!
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Daniela Kolbe.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Ich will mich bei diesem wichtigen Gesetz auf den integrationspolitischen Mehrwert, den es
auch hat, konzentrieren. Wenn dieser Tage ein Flüchtling
nach Deutschland kommt, hat er oft eine sehr gefährliche Reise hinter sich und ist froh und dankbar, dass er in
Deutschland in Sicherheit ist.
Hier beginnt allerdings eine neue Reise, und zwar
durch den Behördendschungel Deutschlands. Nach
Aufnahme in die erste Notunterkunft wird er nach dem
Königsteiner Schlüssel weiterverteilt. Er lebt oft in unterschiedlichen Erstaufnahmeeinrichtungen, wird dann
an die Kommunen weiterverteilt und kann sich anschließend womöglich eine Wohnung suchen. Er hat im Laufe
der Zeit Kontakt zu unzähligen Behörden, wird oft mehrfach registriert. Er hat Kontakt zur Bundespolizei, zur
Landespolizei, zu Ausländerbehörden, zum Bundesamt
für Migration und Flüchtlinge sowie, wenn er Kinder hat,
zum Sozialamt, zum Jugendamt, zu Kitas, Schulen usw.
Wenn er sich dann - hoffentlich möglichst schnell - in
der Bundesagentur befindet oder, wenn er schon anerkannt ist, im Jobcenter einem Berater oder einer Beraterin
gegenübersitzt, dann weiß dieser bzw. diese nichts über
ihn, nicht, was der Flüchtling für einen Berufsabschluss
hat, nicht, wie er heißt und woher er kommt. Alles muss
mithilfe eines Dolmetschers mühselig eruiert werden.
Das ist im Moment der Stand. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, so konnte das eindeutig nicht weitergehen.
({0})
Wir wissen, dass Arbeit zusammen mit Sprache eine
der wichtigsten Voraussetzungen für ein Gelingen der
Integration ist. Deshalb müssen wir investieren, damit
diese Integration möglichst schnell gelingt. Dazu braucht
es eine qualifizierte Beratung. Mit dem vorliegenden Gesetz, das wir heute beraten und verabschieden wollen,
wird genau das ermöglicht.
Der starke Anstieg der Flüchtlingszahlen 2015 hat uns
ganz deutlich vor Augen geführt, dass wir in unserem
Asylverfahren und im Verwaltungsapparat starke Defizite haben. Eines der gravierendsten Defizite bisher: zu wenig Kommunikation zwischen den Behörden, aber auch
zu wenig valide Daten. Das sieht man auch im Bereich
Arbeitsmarkt ganz klar.
Das IAB hat ein paar Kenntnisse über die berufliche
Qualifikation von Flüchtlingen, und zwar aus dem Projekt „Early Intervention“, einem sehr kleinen Projekt. Darüber hinaus wissen wir recht wenig über die Menschen,
die gerade zu uns kommen. Das ist höchst bedenklich,
wenn man sich klarmacht, dass wir dabei sind, Programme für die Flüchtlinge aufzulegen. Eigentlich sollten wir
diese Programme auf Grundlage von validen Daten entwickeln. Diese aber liegen leider noch nicht vor.
Deswegen bin ich froh und glücklich, dass jetzt das
Datenaustauschverbesserungsgesetz kommt. Im Ausländerzentralregister werden jetzt zusätzlich freiwillige
Daten über Schulbildung, Berufsausbildung und sonstige
Qualifikationen möglichst gleich beim Erstkontakt gespeichert. Alle öffentlichen Stellen können darauf zugreifen, endlich auch die für Asylbewerberleistungen zuständigen Behörden und die Bundesagentur für Arbeit, also
die Stellen, die für die Grundsicherung zuständig sind,
und auch die Jugendämter - das ist für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge wichtig -; darauf hat der
Bundesrat hingewirkt.
({1})
Sie können die Daten abrufen, aber auch welche übermitteln. Ein Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit
kann zum Beispiel eintragen, wenn ein Integrationskurs begonnen oder absolviert worden ist. Er kann eine
Adress änderung speichern. Auch hier ist das Ganze keine
Einbahnstraße, sondern hier ist eine vorbildliche Kommunikation vorgesehen.
Ein weiterer wegweisender Schritt: Das BAMF erhält
endlich Daten zu Forschungszwecken. Das ist enorm
wichtig, da eine große Zahl Menschen zu uns kommt,
über die wir noch recht wenig wissen. Wenn wir diese
Aufgabe aber gut bewältigen wollen, dann lohnt sich die
Neugierde, und dann lohnt sich jede Forschungsanstrengung, damit wir diese Menschen gut integrieren und gut
auf die Bedarfe reagieren können.
({2})
Fazit: Das Gesetz ist wichtig. Es kommt endlich. Es ist
überfällig; da müssen wir uns nichts vormachen. Es wird
die Integration von Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt
und die Arbeit der Menschen in der BA und in den Jobcentern stark verbessern und vereinfachen.
Ja, ich kann nur dafür werben, sich hier nicht einfach
zu enthalten, wie das die Opposition macht, sondern diesem wichtigen Schritt hin zu mehr Integration zuzustimmen. Ich jedenfalls werde das mit großer Freude tun.
Vielen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt hat jetzt die Kollegin Andrea Lindholz
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir erleben seit Monaten, wie der deutsche Staat versucht, die Migration bzw. den hohen Zuzug in Deutschland zu steuern. Im September letzten Jahres schätzte
das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, dass sich
rund 290 000 unregistrierte Migranten in Deutschland
aufhalten. Für einen hochentwickelten Rechtsstaat wie
Deutschland ist das untragbar. Flüchtlinge haben sich
teilweise selbst verteilt und haben selbst bestimmt, wo
sie hingehen. Wir als Staat müssen den Flüchtlingsstrom
steuern. Deswegen wollen wir heute mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen weiteren Baustein setzen, um
den deutschen Behörden bessere Handlungsmöglichkeiten zur Steuerung einzuräumen.
({0})
Zentrales Ziel dieses Gesetzentwurfes ist die schnelle
und flächendeckende Registrierung aller Asylsuchenden
und der systematische Datenaustausch zwischen allen
Behörden, die mit Asylbewerbern zu tun haben, damit
insbesondere Doppelerfassungen, so wie wir das in der
Vergangenheit erlebt haben, vermieden werden.
Wir schaffen damit ein neues Kerndatensystem, das
auf bestehenden Infrastrukturen des Ausländerzentralregisters aufbaut und schon beim ersten Kontakt mit dem
Asylbewerber künftig einen umfassenden Datensatz anlegt, der später durch die anderen Behörden weitergeführt
wird. Stammdaten wie Name, Herkunftsland, Geburtsdatum, Fingerabdruck, Lichtbild, Anschrift und Telefonnummer werden ebenso gespeichert wie Informationen
über den Aufenthaltsstatus, Gesundheitsprüfungen, Impfungen, Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikationen
oder auch Integrationsleistungen.
Leistungsansprüche, sehr geehrte Frau Kollegin
Jelpke - das müssten Sie eigentlich am Montag in der
Anhörung mitbekommen haben, wenn Sie unserem
Staatssekretär Ole Schröder zugehört haben -, sind davon
nicht umfasst. Sie können im Gesetz nachlesen, dass der
Asylwunsch in Deutschland Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auslöst. Im Asylverfahrensgesetz ist ganz klar geregelt, welche Leistungsansprüche
in Aufnahmeeinrichtungen bestehen. Insofern habe ich
manchmal den Eindruck, dass Sie bewusst versuchen,
Dinge nicht oder misszuverstehen, um gute Vorhaben zu
verhindern. Das neue Gesetz hat mit Leistungsanspruch
nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({1})
Das komplexe Kerndatensystem sollen viele Behörden gleichzeitig nutzen: die Bundespolizei, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Landespolizeien,
die Ausländerbehörden, die Bundesagentur für Arbeit,
die Sozial- und Verwaltungsgerichte und auch, liebe Frau
Kollegin Amtsberg, wie von den Kommunen und Ländern gefordert, Gesundheitsbehörden und Jugendämter.
Wenn ich nicht ganz falsch liege, sind die Bundesländer
mehrheitlich rot-grün regiert. Es passiert uns oft, dass
hier von Ihnen etwas anderes gesagt wird als von Ihren
Kolleginnen und Kollegen in den Ländern,
({2})
die da sind, wo die Arbeit geleistet wird, und für weniger
Bürokratie und weniger Doppelerfassungen eintreten.
Auch das BKA und die Nachrichtendienste sind beteiligt. Es wird künftig unverzüglich ein Sicherheitsabgleich
durchgeführt. Das ist wichtig, damit gefährliche Personen wie der letzte Woche in Paris getötete Attentäter, der
jahrelang unter verschiedenen Namen in Deutschland
gelebt hatte, leichter identifiziert werden können. In der
Anhörung am Montag haben uns die Sachverständigen
auf ausdrückliche Nachfrage bestätigt, dass das Kerndatensystem auch die Strafverfolgung und Ausweisung
von Straftätern erleichtern kann. Dass der Fingerabdruck
schon beim Erstkontakt genommen und gespeichert
wird, ist dabei ein wichtiges Instrument. Der Asylbewerber erhält einen fälschungssicheren Ankunftsnachweis,
der über einen QR-Code elektronisch auslesbar ist.
Ja, Frau Kollegin Jelpke, man erhält mehrere Bescheinigungen. Ich empfehle Ihnen, einmal das Wartezentrum
in Feldkirchen oder Erding zu besuchen. Schauen Sie sich
an, wie das ist, wenn man 3 000 bis 10 000 Menschen am
Tag im Erstkontakt registrieren muss! Dann ist völlig klar,
dass man beim ersten Mal aufgrund einer solchen Menge
nicht so viele Daten direkt sammeln kann, dass es für den
fälschungssicheren Ankunftsnachweis reicht, den man
dann bekommt, wenn man an dem Ort angekommen ist,
zu dem man hinverteilt worden ist. Das ist auch richtig so;
denn so können wir Migration endlich steuern.
Auch Ihnen empfehle ich: Schauen Sie sich einmal die
Realität vor Ort an! Reden Sie mit den Leuten, statt immer nur hier Reden über Entbürokratisierung zu schwingen, die nichts, aber auch gar nichts mit der Praxis zu tun
haben!
({3})
Wir wollen also mit diesem Gesetzentwurf für mehr
Sicherheit und gezieltere Integrationsarbeit sorgen. An
der einen oder anderen Stelle gibt es Mehraufwand, aber
alle oder zumindest die meisten Sachverständigen waren
sich einig, dass unter dem Strich mehr Arbeitsersparnis
herauskommt und dass es ein guter Gesetzentwurf ist.
Insbesondere die Vertreter der kommunalen Spitzenverbände haben ihn ausdrücklich befürwortet. Sie warten
dringend darauf. Deshalb kann ich nicht verstehen, warum die Grünen sich enthalten wollen.
({4})
Sie kneifen. Ich habe es schon einmal gesagt: Von Ihnen
kommen keine guten Vorschläge. Vorhin kam ein Vorschlag, der völlig überflüssig war. Jetzt wollen Sie sich
enthalten.
({5})
Das ist Ihre Politik. Das ist eine Verhinderungspolitik
auch bei guten Maßnahmen zulasten der Kommunen und
der Städte.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD eingebrachten Entwurf
eines Gesetzes zur Verbesserung der Registrierung und
des Datenaustausches zu aufenthalts- und asylrecht-
lichen Zwecken. Der Innenausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 18/7258, den Gesetzentwurf der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD auf Drucksache 18/7043 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung bei Enthaltung der Opposition angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. -
Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetz-
entwurf ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie zu-
vor angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Innenausschusses zu dem von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verbesserung der Registrierung und des Datenaustau-
sches zu aufenthalts- und asylrechtlichen Zwecken. Der
Innenausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 18/7258, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/7203
für erledigt zu erklären. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulle
Schauws, Katja Dörner, Dr. Franziska Brantner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gesetz zur Regulierung der Prostitutionsstätten vorlegen
Drucksache 18/7243
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ({0})
Innenausschuss
Finanzausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Möhring, Ulla Jelpke, Sigrid Hupach, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Selbstbestimmungsrechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern stärken
Drucksache 18/7236
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich sehe dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, den Platztausch zügig vorzunehmen und die
Gespräche draußen vor dem Plenarsaal fortzuführen.
Wenn dem dann so ist, können wir die Sitzung fortsetzen. - Vielen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin
Ulle Schauws, Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Sehr geehrte Frau Ministerin Schwesig sie ist nicht anwesend -, ich erinnere mich gut an Ihre
Ankündigung, ein Gesetz mit klaren Regelungen für die
legale Prostitution in Deutschland vorzulegen, die dem
Schutz der Frauen dienen. Das waren die Worte der Ministerin. Wir können festhalten: Das ist Ihnen nicht gelungen.
({0})
Nach zwei Verhandlungsjahren steckt der Entwurf eines
Prostitutionsgesetzes in einer totalen Sackgasse. Sie und
die Union haben es nicht hinbekommen, sich wenigstens
auf klare Ziele zur Verbesserung der Arbeitssituation von
Prostituierten zu verständigen. Dieses Desaster ist Ihre
Verantwortung.
({1})
Frau Ministerin, den Namen „Prostituiertenschutzgesetz“ hat Ihr Gesetzentwurf mitnichten verdient. Es geht
darin nicht um den Schutz von Prostituierten. Im Gegenteil: In erster Linie geht es um Entmündigung und die
Fortsetzung der Stigmatisierung von Prostituierten.
({2})
Jetzt wurden Sie von der Realität der Praxis eingeholt.
Die Länder haben Alarm geschlagen, weil der Gesetzentwurf zudem Folgendes ist: ein teures Bürokratiemonster
für die Kommunen, ein Bürokratiemonster, das keiner
Prostituierten nutzt.
({3})
Unsere Kritik richtet sich vor allem dagegen, dass
sich Prostituierte für jede sexuelle Dienstleistung verpflichtend anmelden sollen, auch wenn sie nur gelegentlich stattfindet. Hinzu kommt: Die Behörde kann bei der
Anmeldung eine Beratungsstelle hinzuziehen ohne Einverständnis der Prostituierten. Das ist paternalistisch und
beschneidet das Selbstbestimmungsrecht von Prostituierten. Mit der Pflicht zur Anmeldung drängen Sie Prostituierte durchaus in die Illegalität, mit der Konsequenz, dass
ihnen dann jeglicher Schutz fehlt.
({4})
Vor allem Sie von der Union behaupten, eine verpflichtende Gesundheitsberatung sei hilfreich für die
Prostituierte. Glauben Sie das wirklich, Kollegin Pantel?
Glauben Sie wirklich, dass zum Beispiel mögliche Opfer
von Menschenhandel entdeckt werden können, weil sie
sich in einer Behörde in einem Gespräch jemand Fremdem anvertrauen? Selbst in Fachberatungsstellen für
Menschenhandel brauchen Betroffene Monate, um Vertrauen zu fassen und sich zu öffnen. Hier zeigt sich, so
finde ich, eines sehr klar: Es geht Ihnen um Kontrolle.
({5})
Es geht Ihnen nicht darum, Prostituierten wirklich zu helfen. Darum geht es Ihnen nicht. Nein, meine Damen und
Herren.
({6})
Ihre Vorschläge - das kommt hinzu; so argumentieren
Sie seit Monaten - bieten keine Lösung gegen Menschenhandel und gegen Zwangsprostitution. Die Menschenhändler brauchen die Prostituierten nur zur Anmeldung
und zur Gesundheitsberatung zu schicken und entziehen
sich jedem Verdacht. Sie riskieren mit Ihrem Vorschlag,
dass Zuhälter unter dem Deckmantel der Legalität Frauen als Zwangsprostituierte missbrauchen, anstatt wirksam gegen Menschenhandel vorzugehen.
({7})
- So ist das.
Wir Grüne fordern - das sage ich in aller Deutlichkeit -, dass Sie die Menschenhandelsrichtlinie endlich
umsetzen;
({8})
denn Ihr Zögern geht auf Kosten der Opfer. Was wir
brauchen, sind effektive Maßnahmen, die die Strafverfolgung verbessern und die Opfer stärken. Entkoppeln
Sie endlich das Aufenthaltsrecht von der Aussagebereitschaft der Opfer!
({9})
Erweitern Sie die Opferentschädigungsrechte, und überarbeiten Sie den Straftatbestand „Menschenhandel“, damit er endlich praxistauglich wird.
({10})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Liebes Ministerium, liebe Kolleginnen und Kollegen
von Union und SPD, Ihre Aufgabe ist simpel: Legen
Sie den unstrittigen Teil Ihres Gesetzentwurfs vor, nämlich den, der den Schutz von Prostituierten verbessert,
das Prostitutionsstättengesetz. Genau darauf zielt unser
grüner Antrag ab: eine Erlaubnispflicht für Prostitutionsstätten mit Schutzregelungen, Geschäftsplan, Dokumentationspflichten und Überprüfung der Bordellbetreibenden. So können unter anderem auch ausbeuterische
Geschäftsmodelle erkannt und unterbunden werden. Sorgen Sie dann noch dafür, dass die freiwillige Beratung
bundesweit ausgebaut wird. Gehen Sie hier mit, damit
das gesamte Vorhaben, das vor zwei Jahren auf den Weg
gebracht wurde, jetzt nicht gegen die Wand fährt.
Unsere Forderung ist Teil Ihres eigenen Vorschlags
zur Regulierung von Prostitutionsstätten. Sie haben es in
der Hand, diese Reform jetzt nicht scheitern zu lassen.
Vielen Dank.
({11})
Vielen Dank. - Der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion wird jetzt darauf antworten.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Frau Schauws, fangen wir einmal an: Sie haben
beim Thema Prostitution eine Geschichte.
({0})
Sie haben 2002 ein Prostitutionsgesetz verabschiedet,
das in den letzten 14 Jahren elendig gescheitert ist.
({1})
Dass Sie uns hier vorschreiben wollen, wie wir auf den
aktuellen Stand reagieren sollen, finde ich schon ziemlich frech.
Ich zitiere einfach einmal einen Reporter von VICE
Project, der vor wenigen Tagen in der Story im Ersten
zum Thema „Ware Mädchen“, die Sie sicherlich gesehen
haben, die Situation aktuell in Deutschland beleuchtet
hat. Er hat Folgendes gesagt: Als Deutschland und die
Schweiz die Prostitution legalisiert haben, war das eine
gute Nachricht für die Menschenhändler. - Das ist das
Ergebnis, das wir heute, 14 Jahre später, erleben. Wir
haben Ausbeutung, teilweise Sklaverei; wir haben eine
völlige Fremdbestimmung von weiten Teilen der Prostituierten.
({2})
- Zu meinen Vorschlägen komme ich gleich. - Ich kann
Ihnen Folgendes dazu sagen: Es sind heute mittlerweile Hunderttausende von Prostituierten, die in Deutschland gezwungen werden, zu arbeiten; davon sind 70 bis
80 Prozent aus Osteuropa, die nach Deutschland gelockt
werden und die aufgrund der legalen Prostitution nach
Deutschland gekommen sind. Wir haben mittlerweile
eine Armutsprostitution, die billig, widerlich und übrigens auch gefährlich ist. Deswegen haben wir als Union
gemeinsam mit der SPD im Koalitionsvertrag festgelegt,
dass es um den Schutz von Frauen geht. Es geht auch um
die Rechte der Prostituierten; aber es geht erst einmal um
den Schutz der Prostituierten.
({3})
Das Thema ist uns wichtig. Deswegen werden wir das
aufnehmen.
({4})
Man muss auch einmal darüber diskutieren, über wen wir
eigentlich reden. Die Verhältnisse müssten Ihnen bekannt
sein. Wenn nicht, sollten Sie sich darüber informieren, in
welchen Verhältnissen die jungen Mädchen leben.
Dann geht es um die Frage, was die Aufgabe eines
Prostituiertenschutzgesetzes ist. Der Staat hat sich um die
Schwachen der Gesellschaft zu kümmern. Wir reden hier
nicht in erster Linie über die Hausfrauen, die nebenbei
Geld verdienen, über die Studierenden, die sich ihr Studium damit finanzieren, oder über einen Escortservice, bei
dem man Tausende Euro in einer Nacht verdient. Wir reden hier über die Frauen, die keiner sieht. Die Ministerin
Schwesig hat einmal gesagt: In meinem Fokus steht die
Frau, die nicht sichtbar ist. - Es ist unsere Aufgabe, die
zu schützen, die keinen Schutz haben, und das werden
wir mit dem Prostituiertenschutzgesetz umsetzen.
({5})
Die gesamte Diskussion über die Frage des Schutzes
von Frauen und die Stärkung der Rechte von Frauen ist
bei uns in der Union mit klaren Zielvorgaben mit Blick
auf das Prostituiertenschutzgesetz verbunden. Wenn wir
ein Gesetz machen - das haben wir nach dem Scheitern
Ihres Prostitutionsgesetzes gelernt -, dann muss es gewisse Zielvorgaben erfüllen. Es hilft uns kein Gesetz,
das von der Branche umgangen wird. Es hilft uns kein
Gesetz, das weiße Salbe ist. Vielmehr muss das Gesetz
nachhaltig wirken. Deswegen brauchen wir klare, verbindliche Regelungen zum Schutz der schwachen Frauen.
Herr Kollege Weinberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schulz-Asche?
Aber gerne.
Herr Kollege Weinberg, ich möchte Sie nach Ihren
Ausführungen fragen, warum die Bundesregierung die
EU-Verordnung zum Kampf gegen Menschenhandel und
Arbeitsausbeutung bisher noch nicht vollständig umgeUlle Schauws
setzt hat? Diese Verordnung hat genau die prostituierten
Frauen, die Sie gerade erwähnt haben und deren Leid Sie
beschrieben haben, im Blick. Warum ist diese Verordnung noch nicht vollständig umgesetzt worden?
Wir werden sie gemeinsam mit unserem Koalitionspartner, der SPD, zügig umsetzen ebenso wie die grundsätzlichen Regelungen, die wir im Prostituiertenschutzgesetz vorsehen werden.
({0})
Noch einmal: Es gilt der Grundsatz, dass wir das, was wir
machen, vernünftig und gut machen und keine Schnellschüsse produzieren, die am Ende nicht wirken.
Ich will zu dem entscheidenden Punkt kommen, der
immer wieder angesprochen wird. Ich meine die Frage:
Was muss ein Gesetz eigentlich gewährleisten? Ihre Reaktion auf die jetzige Situation ist, zu fordern, dass wir
die Beratung ausbauen. Vor allen Dingen müssen wir Ihrer Meinung nach dafür sorgen, dass Stigmatisierung verhindert wird. Dagegen haben wir nichts. Auch wir wollen
keine Stigmatisierung. Wir wollen aber etwas mehr als
nur Beratung: Wir wollen den Schutz dieser Personen,
({1})
und der ist dringend geboten.
({2})
Ich will in diesem Zusammenhang zitieren, was in der
erwähnten Reportage in der ARD eine verdeckte Ermittlerin sagte: Die Mädchen müssen halt das Gefühl haben,
dass sie eng betreut werden und dass wir ihre Sorgen
ernst nehmen. Haben sie das Gefühl, dass man ernsthafte
Hilfsangebote macht, wie zum Beispiel, dass man NGOs
einbindet, die eng an den Mädchen dran sind, und das
aufrechterhält, sagen sie aus. - Unser Ansatz ist: Wir
wollen nicht, dass sich diese Mädchen nur einmal irgendwo vorstellen. Wir wollen sehen, wie es diesen Mädchen
geht, und ihnen Angebote machen, dass sie dauerhaft,
nachhaltig dahin gehend beraten werden, aus dieser Szene auszusteigen.
({3})
Deswegen werden wir bei gewissen Themen wie der
Gesundheitsberatung darauf achten, die Mädchen dauerhaft zu begleiten, sie immer wieder zu beraten und zu
schauen, wie wir ihnen Angebote zum Ausstieg machen
können. Für uns gilt auch: Wir wollen mit der Anmeldepflicht für Prostituierte keine Stigmatisierung. Aber wenn
man diesen Mädchen, die für viele nicht sichtbar sind,
helfen will, dann muss man wissen, wo sie sich aufhalten
und wie man ihnen Schutz gewähren kann. Deshalb muss
die Anmeldepflicht im Gesetz verankert sein.
({4})
Über diese Punkte befinden wir uns in der Koalition
in intensivsten Gesprächen; aber wir meistern das. Noch
einmal: Statt ein schlechtes Gesetz zu machen - wir haben Ihr Beispiel vor Augen -, machen wir lieber ein gutes
Gesetz. Wir bemühen uns, in den kommenden Wochen damit verbunden ist ein Appell in Richtung SPD - einen Gesetzentwurf vorzulegen; denn - das sagen wir als
Frauenpolitiker, die hier Verantwortung haben - wir können es uns nicht erlauben, noch länger zu warten. Mit der
jetzigen Situation muss endlich Schluss gemacht werden.
Insofern bin ich guter Dinge, dass wir mit der SPD in den
nächsten Wochen zu einer Lösung kommen - im Sinne
der zu schützenden Frauen.
Ich will zum Schluss ein letztes Mal aus der Reportage in der ARD zitieren. „Liane“ sagt dort Folgendes:
Mehr Kontrolle - eine Betroffene spricht also von mehr
Kontrolle -, mehr Aufmerksamkeit auf Prostitution, das
würde schon helfen. - Wenn man nachts durch die Bordelle in Berlin geht, dann findet man über 100 Mädchen,
die ihre Arbeit nicht machen möchten, und genau das ist
das Problem, vor dem wir stehen: Mehr und mehr Menschen werden zur Prostitution gezwungen. Immer weniger machen diese Arbeit selbstbestimmt. Deswegen müssen wir als Staat, der die Schwachen zu schützen hat, das
Grundelement des Schutzes stärken. Das machen wir mit
einem Prostituiertenschutzgesetz. Dabei wird es darauf
ankommen, den Schutz wirklich zu gewährleisten und
die Rechte zu stärken.
Frau Schauws, schauen Sie sich die Situation in diesem Land an; es ist vom „Bordell Deutschland“ die Rede.
Da reicht es bei allem Respekt nicht aus, die Beratungsangebote zu verbessern. Das machen wir auch. Aber darüber hinaus haben wir die wirklichen Ursachen von Prostitution zu bekämpfen, und das werden wir mit einem
Gesetz machen.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Cornelia
Möhring, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Weinberg, ich finde das schon geradezu gruselig:
Sie sagen, Sie wollen keine Stigmatisierung, aber machen das in einer Tour.
({0})
Sie sagen, Sie wollen den Schutz der Prostituierten,
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter; doch Sie legen keinen
einzigen Vorschlag vor, wie diese tatsächlich geschützt
würden. Ich will Ihnen das beweisen.
Sie wollen mit Ihrem Prostituiertenschutzgesetz eine
Anmeldepflicht, eine verpflichtende Gesundheitsberatung; Sie wollen Kondompflicht. Ich sage Ihnen: Lassen
Sie das einfach stecken! Sie verfehlen nämlich das Ziel
komplett.
({1})
Sie tun noch mehr. Sie schrammen nämlich mal eben an
einer Einschränkung von Grundrechten vorbei, und das
ist keineswegs akzeptabel.
({2})
Vor 14 Jahren - Sie haben es erwähnt - ist Prostitution
legalisiert worden. Seitdem fällt Prostitution auch unter
die Berufsfreiheit, geregelt in Artikel 12 des Grundgesetzes.
({3})
Das heißt im Übrigen nicht, dass Sexarbeit ein Beruf wie
jeder andere ist; aber das heißt - das ist der eigentliche
Punkt -: Prostitution ist legal, ist ein Beruf, und Prostituierte dürfen in ihrer Berufsfreiheit nicht eingeschränkt
werden.
({4})
Deswegen müssen die Berufsbedingungen geregelt, und
die Rechte derjenigen gesichert werden, die in dieser
Branche arbeiten, so wie es meine Fraktion in ihrem Antrag fordert.
An den geltenden Bedingungen der Prostitution - da
haben Sie recht - ist viel zu verändern. Vor allem im
Bereich der Armutsprostitution herrschen entsetzliche
Zustände. Viele nehmen Drogen. Der Ausstieg ist schon
deswegen so schwer, weil oft niemand erfahren darf,
dass einer Arbeit im Prostitutionsgewerbe nachgegangen wird. Viele Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter können
sich schlicht nicht outen. Aber mit einer Anmeldepflicht
wirken Sie zusätzlich stigmatisierend und erschweren
den Ausstieg, und Sie erschweren die Ausübung des Berufs unverhältnismäßig.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns
doch nichts vor: In den letzten zwei Jahren, in denen wir
hier diese Debatte führen, ist die gesellschaftliche Stigmatisierung gewachsen,
({6})
und zwar genau deshalb, weil zwei Themen unzulässig
vermischt werden, wie Sie das hier eben auch wieder gemacht haben.
({7})
Sie vermischen die legale Prostitution mit den Straftatbeständen - ich wiederhole: den Straftatbeständen - des
Menschenhandels und der Zwangsprostitution.
Ja, Regelungen im Prostitutionsgewerbe muss es geben. Aber Ausgangspunkt für diese Regelungen müssen
doch der konkrete Bedarf und der tatsächliche Schutz der
darin Tätigen sein.
({8})
Es ist eben ein Unterschied, ob drei Frauen in einem Wohnungsbordell arbeiten, 150 Frauen in einem Großbordell
oder einzelne Frauen in ihrem eigenen Studio oder in einer Flatratebar. Deswegen müssen die Mindeststandards
angepasst sein; sie müssen zu den Bedingungen passen.
Es ist letztlich egal, wo Prostituierte arbeiten - es ist zu
gewährleisten, dass sie das ohne Beeinträchtigung ihrer
sexuellen Selbstbestimmung selbstständig tun können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Herr Weinberg, Sie
schützen doch nicht wirklich die, die besonderen Schutz
brauchen. Keine einzige Zwangsprostituierte hätte auch
nur einen Fortschritt zu erwarten, wenn die Bundesregierung ihr Vorhaben umsetzt. Sie regeln eben nicht die
dafür eigentlich erforderlichen Ausstiegsprogramme,
Sprachkurse, Arbeitsmöglichkeiten jenseits der Prostitution. Sie regeln kein Aufenthaltsrecht unabhängig von
der Aussagebereitschaft. Armutsprostitution wird doch
nicht durch Regulierung verhindert. Dafür braucht es die
Bekämpfung von Armut. Dafür braucht es soziale Garantien, anständig bezahlte Arbeit und die Stärkung des
Selbstbestimmungsrechts.
({9})
Für diejenigen, die sich nach rationalen Erwägungen
entschieden haben, diesem Broterwerb nachzugehen,
werden die Arbeitsbedingungen durch Ihre Vorhaben
erheblich erschwert. Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter
brauchen, damit sie unabhängig zum Beispiel von Großbordellbetreibern ihren Beruf frei ausüben können, eine
Stärkung ihrer Rechte und eine Verbesserung ihrer sozialen Situation. Konkret: Sie brauchen den Zugang zu
den Systemen der sozialen Absicherung. Sie brauchen
klare Mindeststandards für Prostitutionsstätten, einen
Ausbau der aufsuchenden und nicht der verpflichtenden
Beratungs- und Informationsangebote. Prostituierte oder
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter brauchen so starke
Rechte, dass ein Zwang unmöglich wird.
Vielen Dank.
({10})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Ulrike Bahr.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Prostitution - ein Thema, das auch
im 21. Jahrhundert und mehr denn je von kontroversen
Debatten begleitet wird, ein Thema, das, obwohl es viele Emotionen weckt und manche auch in Rage bringt,
zumeist und vor allem von außen betrachtet wird, ein
Thema, das nach wie vor nicht selten neben oder gar
außerhalb der Gesellschaft zu laufen scheint. Dieses Außenstehen war ein Antrieb für das Prostitutionsgesetz,
das 2002 unter Rot-Grün in Kraft trat. Dieses Gesetz war
ein wichtiger Schritt und ein Paradigmenwechsel. Sein
Ziel war es, die Prostituierten aus der Schattenwelt der
Sittenwidrigkeit herauszuholen und ihnen mit der Möglichkeit regulärer Beschäftigungsverhältnisse den Weg in
unser soziales Sicherungssystem zu öffnen.
Heute wissen wir, dass sich die Erwartungen, die die
Mütter und Väter dieses Gesetzes damals hatten, nur zum
Teil erfüllt haben. Hier besteht weiterhin großer Handlungsbedarf. Insbesondere betrifft dies die Notwendigkeit, Prostitutionsstätten besser zu regulieren.
({0})
Darin besteht sowohl in der Regierung als auch in den
Koalitionsfraktionen durchaus große Einigkeit. Der Blick
auf die Anträge aus Ihren Reihen, liebe Kolleginnen und
Kollegen der Fraktionen von Grünen und Linken, signalisiert mir ebenfalls Zustimmung für eine durchdachte
Konzessionierung von Prostitutionsstätten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
uns in der Großen Koalition durchaus bewusst, dass hier
politisches Handeln notwendig ist. Genau vor diesem
Hintergrund hatten wir uns bereits im Koalitionsvertrag
darauf verständigt, dass wir das Prostitutionsgesetz von
2002 mit Blick auf eine bessere Regulierung der Prostitution überarbeiten wollen. Das ist für uns ein Arbeitsauftrag, der schon damals ganz klar in Richtung einer
Prostitutionsstättenregelung zum Schutz der dort tätigen
Frauen und Männer zielte. Dass wir hier zusammen mit
dem Frauenministerium bessere Regelungen einführen
wollen, steht völlig außer Frage.
Dazu gehört unter anderem auch eine Erlaubnispflicht
für den Betrieb von Prostitutionsstätten. Diese Erlaubnispflicht, die auf der Einhaltung von Mindeststandards
fußt, ist ein ganz zentrales Element des geplanten Prostituiertenschutzgesetzes. So soll und darf künftig die
Erteilung einer Erlaubnis zum Betrieb einer Prostitutionsstätte erst erfolgen, wenn hygienische, räumliche
oder gesundheitliche Mindestanforderungen ausreichend
erfüllt sind und wenn zudem die Zuverlässigkeit des Betreibenden oder der Betreibenden zweifelsfrei feststeht.
Sofern sich anhand des vorzulegenden Betriebskonzepts
Hinweise ergeben, dass beispielsweise das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingeschränkt werden könnte,
darf eine Erlaubnis natürlich gar nicht erst erteilt werden. Es steht außer Frage, dass im Falle rechtskräftiger
Verurteilungen beispielsweise wegen Straftaten gegen
die sexuelle Selbstbestimmung oder gegen die körperliche Unversehrtheit die Zuverlässigkeit einer Betreiberin
oder eines Betreibers nicht gegeben ist. Natürlich muss
eine Betriebserlaubnis auch widerrufen werden, sollten
beispielsweise im Nachgang zur Erteilung der Erlaubnis
Verstöße offenkundig werden.
Darüber hinaus soll es ein Werbeverbot für ungeschützten Geschlechtsverkehr geben. Selbstverständlich
wird es auch die Pflicht geben, Kondome bereitzuhalten
und in den Räumen auf die verpflichtende Verwendung
von Kondomen hinzuweisen.
Wie Sie sehen, gibt es durchaus Überschneidungen
zwischen unserem Vorhaben und Ihren Anträgen. Gleiches gilt bei der geplanten Präzisierung des § 3 des
Prostitutionsgesetzes. Wir wollen und werden ganz in
Ihrem wie auch im ursprünglichen Sinne noch einmal
klarstellen: Weisungen im Rahmen abhängiger Beschäftigungsverhältnisse, die Art oder Ausmaß der Erbringung
sexueller Dienstleistungen vorschreiben, sind absolut unzulässig.
({1})
In diesem Zusammenhang ist mir wichtig, noch einmal zu betonen, dass sich dieses Gesetzesvorhaben ganz
konkret auf den Bereich der legalen Prostitution bezieht.
Zweifellos helfen transparente Rahmenbedingungen und
bessere Kontrollmöglichkeiten in diesem Gewerbe dabei, die Trennlinien zwischen freiwilliger, legaler Prostitution auf der einen Seite und Zwangsverhältnissen auf
der anderen Seite scharf zu ziehen. Der konkrete Kampf
gegen verabscheuungswürdige Verbrechen wie Zwangsprostitution und sexuelle Ausbeutung sowie Menschenhandel ganz generell muss jedoch vor allem mit anderen
Mitteln, letztendlich mit den Waffen des Rechtsstaates,
geführt werden.
({2})
Im bereits laufenden Gesetzgebungsverfahren zum
Prostituiertenschutzgesetz ist es mir und meiner Fraktion wichtig, ein Prostituiertenschutzgesetz auf den Weg
zu bringen, das seinem Namen gerecht wird. Der Ansatz
des Bundesfrauenministeriums, hier mit einer klareren
Regulierung von Prostitutionsstätten mehr Rechtssicherheit und damit einen besseren Schutz vor Ausbeutung zu
schaffen, ist ein ganz zentraler Schritt, den wir vollends
unterstützen - am besten natürlich im Zusammenspiel
mit ausreichenden niedrigschwelligen und vertraulichen
Beratungsangeboten und Anlaufstellen in den Ländern.
Als zuständige Berichterstatterin ist mir im Laufe der
letzten beiden Jahre vor allem eines sehr stark aufgefallen: Wir beschäftigen uns hier mit einem politischen
Handlungsfeld in einem Bereich, in dem nach wie vor
mehr über als mit den zentralen Akteuren gesprochen
wird. Damit meine ich vor allem die Prostituierten selbst,
Fachberatungsstellen, Gesundheitsämter, Polizei und
Kommunalverantwortliche. In der SPD-Bundestagsfraktion war es uns stets ein Anliegen, möglichst breitflächig
Raum für Gespräche und gegenseitigen Austausch zu eröffnen; denn wie so oft ist auch hier das Schubladendenken weder angebracht noch spiegelt es die Realität wider.
({3})
Dabei unterscheidet sich dieses Thema sehr wesentlich von anderen Bereichen, über die wir hier in der Sozial- und Gesellschaftspolitik in der Regel entscheiden.
Familien- und Generationenpolitik betrifft jede und jeden von uns oft unmittelbar. Über Familienleistungen,
Gleichstellung oder die bessere Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf wird in aller Offenheit gesprochen
und diskutiert. Anders beim Thema Prostitution: Nur wenige bekennen sich öffentlich dazu, Prostituierte genauso
wie Freier. Nur wenige reden wirklich mit den Betroffenen statt über sie. Gesellschaftliche Stigmatisierung und
Diskriminierung sind hier nach wie vor sehr deutlich zu
spüren. Nur wenigen ist die große Bandbreite, die sich
unter einem weiten Begriff von Prostitution wiederfindet,
tatsächlich bewusst.
Dieser Vielschichtigkeit mit gesetzlichen Regelungen
gerecht zu werden, ohne erneut die Stigmatisierung von
Betroffenen zu fördern, ist sicherlich uns allen ein Anliegen. Klar ist, dass das Gelingen dieses Vorhabens letztlich auch von den Kapazitäten der Länder und vor allem
der Kommunen vor Ort abhängt. Der Bund kann und darf
hier nicht mit tauben Ohren auf Äußerungen und Hinweise aus den Kommunen reagieren. Deren Blickwinkel und
deren Expertise sind ohne Zweifel unverzichtbar, damit
in der Praxis schließlich das herauskommt, worauf der
Titel des Gesetzes zielt: eine Regulierung des Prostitutionsgewerbes, die allem voran auch dem Schutz der in der
Prostitution tätigen Personen dient.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Paul Lehrieder,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Vorab ein Wort zum
letzten Satz meiner Vorrednerin: Das Gesetz dient nicht
„auch“, sondern „vorrangig“ dem Schutz der Prostituierten. Ich glaube, das ist unser gemeinsames Ziel. Das
stand vielleicht falsch in Ihrem Manuskript. Ich wollte
das nur richtigstellen, damit es nicht falsch im Protokoll
auftaucht.
({0})
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Frau Schauws, Frau Schauws,
Sie haben hier ausgeführt, das Gesetz wäre ein Bürokratiemonster.
({1})
Sie sollten eigentlich aus der Vergangenheit gelernt haben. Uns in der Großen Koalition ist ein gutes Gesetz,
das ein paar Wochen mehr Zeit braucht, wichtiger als ein
Gesetz, das als Schnellschuss aus der Hüfte kommt. Das
Gesetz, das Sie 2002 mit unserem heutigen Koalitionspartner gemacht haben, erfüllt längst nicht den Zweck,
für den es gedacht war. Da gilt der Spruch - da gibt es
eine Frage, Frau Präsidentin -: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
({2})
Frau Kollegin Schulz-Asche, ich habe den Äußerungen des Kollegen Lehrieder entnommen, dass er Ihnen
gerne Zeit für eine Zwischenfrage gibt, obwohl es nicht
seine Aufgabe war, das zu entscheiden. Das ist eine Ausnahme.
Ich habe nur meine Bereitschaft erklärt.
Er hat im vorauseilenden Gehorsam die Bereitschaft
gezeigt. - Bitte schön.
Vielen Dank. Ich finde es ja immer schön, wenn man
entscheidungsfreudige Politiker vor sich hat. - Herr
Lehrieder, Sie haben gerade gesagt, man müsse aus der
Vergangenheit lernen. Es gibt seit 2011 eine EU-Richt-
linie gegen Menschenhandel und gegen Ausbeutung.
Bereits Anfang des Jahres 2013 hätte die damalige
schwarz-gelbe Bundesregierung die Richtlinie in deut-
sches Recht umsetzen müssen. Das ist nicht erfolgt. Es
gab dann kurz vor Ende der Legislaturperiode tatsäch-
lich einen entsprechenden Gesetzentwurf von Schwarz-
Gelb; aber selbst die Sachverständigen von CDU und
FDP haben in der Anhörung gesagt, dass die Richtlinie
damit nicht ausreichend umgesetzt wird. Letztendlich ist
der Gesetzentwurf dann von der Länderkammer gestoppt
worden.
Ich frage Sie, da Sie heute über die Bekämpfung von
Menschenhandel reden, inwieweit Sie in den Vorschlä-
gen, die Sie zurzeit machen, im Bereich der Prostitution
wirklich Maßnahmen ergreifen, die a) die EU-Richtlinie
umsetzen und b) tatsächlich dazu beitragen, dem Menschenhandel Herr zu werden.
Sehr geehrte Frau Kollegin, herzlichen Dank für die
Frage, wenngleich ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass ich etwas Ähnliches vorhin beim Kollegen
Weinberg schon einmal gehört hätte.
({0})
Gleichwohl muss ich sagen: Aufgrund des engen Sachzusammenhangs mit der Regelung der Prostitution im
Prostitutionsschutzgesetz sollen in diesem Zusammenhang auch Menschenhandel und Zwangsprostitution in
einem Paket geregelt werden. Wir sind dabei. Warten Sie
noch etwas, dann können Sie in der ersten Lesung und
der Sachverständigenanhörung konstruktiv mitwirken.
Ich darf Ihnen versichern: Was wir Ihnen vorlegen, ist
ausgewogener, ausgereifter und dient dem Schutz der
Prostituierten mehr als alles, was Sie seit 2002 gemacht
haben und Sie in Ihrer Verantwortung zu vertreten haben.
({1})
- Ich könnte Ihnen noch mehr dazu sagen.
Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatung
moniert. - Ich warte, bis die Gespräche bei den Grünen
beendet sind, damit sie mir wieder zuhören.
Aber Ihre Zeit läuft weiter.
Frau Schauws, Sie haben die Gesundheitsberatung
moniert. Ich will Ihnen dazu sagen: Die Gesundheitsberatung haben wir in den Verhandlungen, die wir bisher
geführt haben, kontrovers diskutiert. Ursprünglich wollten wir eine Gesundheitsuntersuchung; denn wir wollen
niemanden stigmatisieren. Wir sind aber der Auffassung,
dass sehr viele Frauen in dem Milieu - hier handelt es
sich auch um 18- bis 21-jährige heranwachsende Frauen
aus dem osteuropäischen Ausland, die nicht unbedingt
freiwillig hier sind - einen regelmäßigen Kontakt durch
eine Gesprächsstelle außerhalb des Milieus erhalten sollen. Deshalb wollen wir die relativ enge Vertaktung für
die 18- bis 21-Jährigen. Wir stellen uns vor, dass zumindest halbjährlich Kontakte verpflichtend sind. Das unterscheidet uns im Übrigen von den Linken und den Grünen. Wir wollen keine freiwilligen Angebote, sondern es
muss verpflichtend sein, weil ansonsten möglicherweise
Interessen aus dem Milieu sie daran hindern können, die
Angebote der Beratungsstellen in Anspruch zu nehmen.
({0})
Frau Schauws, wir haben nicht nur die 21-, 22-jährige
deutsche Jurastudentin, die diesem Beruf nachgeht. Wir
haben auch sehr viele unerfahrene, zum Teil der deutschen Sprache nicht mächtige heranwachsende junge
Frauen aus dem Ausland, die wir schützen müssen.
({1})
- Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen. Sprachkurse sind zugegebenermaßen zurzeit in aller Munde, aber
das allein wird den Prostituierten nicht helfen. Aber sie
müssen wissen, wie sie es tun sollen.
({2})
Frau Kollegin Möhring, es erstaunt mich, weil gerade Sie Sprachkurse ansprechen. In Ihrem Antrag führen
Sie auf der einen Seite aus, dass Prostitutionsgesetz von
2002 hält fest,
dass das eingeschränkte Weisungsrecht des Arbeitgebers dem abhängigen Beschäftigungsverhältnis in
der Prostitution nicht entgegensteht. Das ProstG hat
die Rechtsposition von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern gestärkt und damit auch einen Wandel in der
gesellschaftlichen Bewertung des Berufes vorangebracht.
Im nächsten Satz, Frau Möhring - das müssen Sie sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen -, schreiben Sie:
Inzwischen hat sich jedoch gezeigt, dass sich das im
Prostitutionsgesetz beabsichtigte Modell des abhängigen Beschäftigungsverhältnisses in Prostitutionsstätten in der Praxis nicht etabliert hat …
Was gilt jetzt? Wollen Sie das Gesetz von 2002 verteidigen, oder ist es, wie hier steht, tatsächlich Mist gewesen?
({3})
Meine Damen und Herren, Kollege Weinberg hat darauf hingewiesen: Laut Schätzungen der EU-Kommission arbeiten circa 200 000 Zwangsprostituierte in Europa. Nicht alle sind freiwillig in der Branche. Die, die
freiwillig dort sind, haben laut einer Schweizer Studie zu
98 Prozent bleibende Schäden aus dieser Tätigkeit. Deshalb müssen wir diesen Frauen Hilfsangebote machen,
wo immer wir es machen können.
Herr Kollege Lehrieder, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Möhring?
Ja, selbstverständlich.
({0})
- Ja, es ist alles bestellt, Frau Präsidentin.
Vielen Dank. - Sie haben mich direkt angesprochen,
Herr Kollege Lehrieder. Ich möchte einmal darauf aufmerksam machen, dass es an dieser Stelle um zwei Punkte geht. Mit dem Gesetz von 2002 wurde Prostitution
legalisiert und damit gilt die Berufsfreiheit. Es hat sich
mittlerweile gezeigt, dass natürlich die Weisungsbefugnis problematisch ist, weil die höchstpersönliche Art und
Weise dieser sexuellen Dienstleistung voraussetzt, dass
Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter selber darüber entscheiden, wie sie arbeiten und welche Leistungen sie erbringen. Das Problem ist aber, dass die Weisungsbefugnis eines Arbeitgebers Voraussetzung ist, um überhaupt
wirtschaftlichen Erfolg zu haben. Deshalb fordern wir als
Linke, dass garantiert werden muss, dass die Selbstbestimmung und die selbstständige Tätigkeit von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern auch ohne Weisungsbefugnis
von Arbeitgebern möglich ist. Das Beschäftigungsverhältnis, so wie wir es normal in der Wirtschaft kennen, ist
für sexuelle Dienstleistungen nicht praktikabel. Deswegen brauchen sie deutlich stärkere Rechte.
({0})
Frau Möhring, wir sind uns in nicht vielen Punkten einig.
Aber wir sind uns hier einig. Es ist ein Arbeitsverhältnis
sui generis. Es ist kein weisungsabhängiges Arbeitsverhältnis, weil sowohl die Zeit als auch die Anzahl der Freier, mit denen eine Prostituierte schlafen muss, überhaupt
nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen, wie wir
es verstehen, entsprechen. Deswegen wollen wir über
Gesundheitsprogramme Ausstiegshilfen anbieten. Ich
kann sagen: Okay, ich will da nicht rein, ich will das nicht
tun, aber ich muss manche Sachen tun. - Sie können aber
davon ausgehen, dass längst nicht jede Prostituierte, die
jetzt tätig ist, bei ihrer Tätigkeit absolut selbstbestimmt
ist. Es gibt genug Menschen - irgendwelche Zuhälter -,
die ein wirtschaftliches Interesse an der Tätigkeit der
Prostituierten haben. Sie sind sicherlich nicht so naiv,
dass Sie das in Abrede stellen wollen.
Ich darf aus Ihrem Antrag zitieren, in dem es heißt Sie haben es ja eben bereits eingeräumt -, dass
… ein Weisungsrecht letztlich immer die sexuelle
Selbstbestimmung zu stark gefährden würde und
ein Beschäftigungsverhältnis ohne Weisungsrecht
für einen Arbeitgeber wirtschaftlich und rechtlich
nicht umzusetzen ist.
Das ist O-Ton der Linken. Da haben Sie, wie gesagt,
recht. Darum gehört das Weisungsrecht raus aus dem Gesetz. Wir wollen nicht, dass die Prostituierten weisungsabhängig tätig sein müssen.
Vielleicht noch ein Gedanke. Vorhin wurde die Anmeldung der Prostituierten angemahnt. Die Prostituierten
müssen heute nicht angemeldet werden. Wenn Sie mit
Polizeibeamten oder Sicherheitskräften sprechen, die die
Aufgabe haben, in diesem Milieu für Recht und Ordnung
zu sorgen
({0})
- stellen Sie mir doch eine Frage, dann habe ich mehr
Zeit -, dann werden Sie sehr schnell zu hören bekommen: Wir können nur die Frauen schützen, von deren
Existenz wir wissen. - Es geht nicht darum, sie zu stigmatisieren oder irgendwelche Listen aufzustellen, um zu
wissen, wo welche Prosituierte tätig ist. Wir brauchen
zum Schutz der Frauen deshalb einen gewissen bürokratischen Aufwand der Anmeldung und der Gesundheitsberatung. Wenn es uns das nicht wert wäre, dann würden
wir wieder ein stumpfes Schwert schaffen, so wie das
rot-grüne Prostitutionsgesetz von 2002.
({1})
Noch ein Satz dazu: In den nächsten Wochen wird
hoffentlich eine Regelung im Kabinett verabschiedet.
Liebe Frau Schauws, ich freue mich auf die Debatten
im Ausschuss. Wir werden etwas Besseres schaffen als
Sie damals.
({2})
Ich wünsche Ihnen alles Gute und noch einen schönen
Abend. Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 18/7243 und 18/7236 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ({0})
zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD
Bevölkerungsstatistiken verbessern - Zivile
Registrierungssysteme stärken
Drucksachen 18/6549, 18/6994
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte, die Plätze einzunehmen, vor allen Dingen
die Rednerinnen und Redner.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Georg Kippels, CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Staatenlose leben im Niemandsland der
Weltgemeinschaft. Sie sind körperlich existent, aber sie
sind nicht Gegenstand der juristischen Anwendung. Sie
sind Individuen, aber sie werden nicht wahrgenommen.
Sie leben, aber sie werden von der Gesellschaft nicht als
vollwertiges Mitglied respektiert und vor allen Dingen
akzeptiert. Es ist ein globales Phänomen, keineswegs ein
Phänomen, das ausschließlich in den Ländern der Dritten
Welt bzw. in den Entwicklungsländern auftritt. Auch in
Weltstädten haben wir es zunehmend mit dem Phänomen zu tun, dass Menschen ohne Geburtenregistrierung
ihr Dasein fristen und in der Gesellschaft schlicht und
ergreifend nicht wahrgenommen werden. Sie sind im
Schatten der Gesellschaft. Sie sind nicht in der Lage, ihre
Menschen- und Bürgerrechte zu reklamieren und auf diese Art und Weise aktiver und gleichberechtigter Teil der
Gesellschaft zu sein.
Mit unserem Antrag „Bevölkerungsstatistiken verbessern - Zivile Registrierungssysteme stärken“ fordern
wir das verbriefte Recht eines jeden Kindes auf eine
Registrierung direkt nach seiner Geburt. Nach Artikel 7
der UN-Kinderrechtskonvention hat ein jedes Kind das
Recht, seine Persönlichkeits-, Grund- und Menschenrechte auf der Grundlage einer Geburtenregistrierung
wahrzunehmen und vor allen Dingen sein individuellstes
Merkmal, nämlich seinen Namen, unwiederbringlich zuerkannt zu bekommen.
Jedes dritte Kind unter fünf Jahren weltweit ist offiziell nicht registriert. Laut einem Bericht des UNHCR
kommt alle zehn Minuten ein Baby ohne Geburtenregistrierung zur Welt. Die Mehrzahl der nicht registrierten
Kinder kommt aus Südostasien; derzeit sind es 24 Millionen. An zweiter Stelle steht die Subsahara-Region, wo
nahezu 20 Millionen Kinder ohne Geburtsurkunde leben.
Weltweit addiert sich die Anzahl der nicht registrierten Kinder unter fünf Jahren auf immerhin 230 Millionen
Menschen. In den Entwicklungsländern sind immerhin
50 Prozent aller unter Fünfjährigen nicht offiziell gemeldet. Das heißt, alle zehn Sekunden fällt ein Kind,
ein Mensch durch das Auffangnetz der Gesellschaft und
kann sich deshalb nicht im Rahmen seiner individuellen
Möglichkeiten entwickeln und aktiv in seine Gesellschaft einbringen.
Die aktuelle Flüchtlingskrise verschärft diese Problemstellung in hohem Maße. Allein seit 2011 und dem
Beginn des Syrien-Konfliktes sind mehr als 50 000 Kinder auf der Flucht geboren worden. Sie sind juristisch
unsichtbar, aber sie sind natürlich Bestandteil unserer
Bevölkerung, sie sind Bestandteil unserer Weltgemeinschaft, und sie haben natürlich das elementare Recht, ihre
Befähigungen, ihre Talente und auch ihre Wünsche im
Rahmen ihrer persönlichen Lebensgestaltung umzusetzen.
Seit dem Jahr 2000 gab es im Bereich der Registrierung, der sehr stark verwaltungstechnisch geprägt ist, zunächst sichtbare Erfolge, die allerdings durch die Zunahme der Krisen in den Entwicklungsstaaten und durch den
damit einhergehenden Zerfall von Verwaltungsstrukturen
zunehmend wieder rückläufig wurden. Gerade ethnische
Minderheiten, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge
und Asylsuchende sind in besonderem Maße von dieser
Problemstellung betroffen.
Angesichts der zunehmenden Bevölkerungsdichte ergibt sich eine Spirale des Chaos und der Rechtlosigkeit.
Die Menschen, die keiner offiziellen Zuordnung zugänglich sind, ihren Heimatländern vielleicht moralisch und
mit ihrem Herzen, aber jedenfalls nicht juristisch verbunden sind, können in der Staatsplanung, in der Planung
der Infrastruktur von Gesundheitssystemen, von Sozialversicherungssystemen und Bildungssystemen nicht berücksichtigt werden. Damit fehlt ihnen letztendlich die
Teilhabemöglichkeit.
Keine Geburtsurkunde - kein Name, keine Bürgerrechte, die es zu artikulieren gilt; keine Geburtsurkunde - kein Schutz vor Ausbeutung; keine Geburtsurkunde - keine Gesundheitsversorgung und kein Recht auf
Bildung. Die Betroffenen sind weitestgehend vom politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgeschlossen, und sie sind - ich glaube, das ist der Punkt, der besonders beklagenswert ist - in den meisten Fällen Opfer
von Menschenrechtsverletzungen. Sie sind Gegenstand
von Kinderhandel, sie sind Gegenstand von Vergewaltigung und Prostitution, sie werden als Kindersoldaten
rekrutiert oder in Minen, Bergwerken und auf Plantagen
ausgebeutet. Sie sind aufgrund ihres Alters und ihrer
Herkunft nicht in der Lage, ihre Schutzbedürftigkeit zu
dokumentieren.
Insofern ist es im Rahmen unserer entwicklungspolitischen Aufgabenstellung eines der elementarsten Ziele,
die Unsichtbarkeit in Sichtbarkeit und in Rechtsträgerschaft umzuwandeln, was allerdings nicht nur mit entsprechenden Entwicklungshilfemitteln, mit finanzieller
Hilfe möglich ist; vielmehr müssen die Strukturen in den
betroffenen Ländern aufgebaut und unterhalten werden.
Da kommen uns in der Zwischenzeit die digitalen Errungenschaften zugute. Mit digitalen Fingerabdrücken
und dem Scan der Iris des Auges ist zunächst die Unverwechselbarkeit des Individuums aufzunehmen, und
die Daten müssen dann in der gehörigen Form mit den
Personalpapieren, mit der Geburtsurkunde und mit dem
Register der Staaten abgeglichen und in Verbindung gebracht werden.
Dies alles ist heutzutage leichter möglich. Gerade
UNICEF arbeitet intensiv an entsprechenden Projekten:
In Afrika verfügt jeder Fünfte über ein Smartphone; über
eine entsprechende App hätten Hebammen und sonstige Mitarbeiter im Gesundheitsdienst, die von Geburten
Kenntnis erlangen, die Möglichkeit, sofort vor Ort eine
wirksame und vor allen Dingen dauerhaft nachverfolgbare Registrierung vorzunehmen.
Wir alle brauchen diese Erkenntnisse, allein weil wir
mit Rücksicht auf die ständig zunehmende Bevölkerungsdichte in den Bereichen Entwicklungshilfe, Städtebau und Versorgung Planungen vornehmen müssen.
Aber nur wenn wir belastbare Zahlen haben, sind wir in
der Lage, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Ein
Staat, der seine Kinder nicht kennt, ist kein Staat. Die
demografische Entwicklung wird uns letztendlich in irgendeiner Form überrollen, wenn wir nicht in der Lage
sind, Entwicklungen vorherzusehen und zu planen.
Natürlich sind auch die Rechte in Drittstaaten zunehmend von Bedeutung - das sehen wir im Moment im
Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage -, sprich: die
Rechte in den Staaten, in die sich die Menschen begeben, in denen sie Schutz suchen. Letzten Endes wird
sich diese Frage auch auf unseren Lebensbereich auswirken und uns vor entsprechende Aufgaben stellen. Wir
werden uns dieser Frage zunehmend intensiver stellen
müssen. Wir müssen unsere Erfahrungen in diesen Prozess einbringen und die modernen technischen Möglichkeiten nutzen. Wir müssen in den Heimatländern der
Menschen, die sich auf den Weg in eine bessere Welt
begeben haben, Strukturen schaffen, die es diesen Staaten ermöglichen, ihre Bürgerinnen und Bürger zu halten
und zu versorgen.
Dieser Prozess muss mit modernen Medien vorangetrieben werden. Wir haben die Möglichkeiten dazu. Wir
müssen in dieser Frage international zusammenarbeiten,
und wir müssen die Projekte und Konzepte für alle transparent und vor allen Dingen anwendbar gestalten. Das
ist nicht nur eine finanzielle Aufgabe, sondern auch eine
logistische, der wir uns in der nächsten Zeit intensiv widmen müssen.
Deshalb ist die Bevölkerungsstatistik nicht nur eine
theoretische Berechnungsgröße, sondern Lebensrealität
für jeden, der mit seinen Personalpapieren ausgestattet
seine Individualität jederzeit gegenüber Dritten und gegenüber dem Staat geltend machen kann.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Movassat, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Weltweit wird fast jedes dritte Kind unter fünf Jahren
nicht registriert. Jährlich sind das 230 Millionen neugeborene Kinder auf der Welt, die keine Geburtsurkunde
erhalten. Was vielleicht harmlos klingt, ist dramatisch für
die Kinder; denn wer keine Geburtsurkunde bekommt,
startet mit großen Nachteilen ins Leben. Die Kinder
kommen meist aus armen Verhältnissen. Sie haben dadurch sowieso schon Probleme, ein Grundrecht wie Bildung einzufordern. Wenn sie aber keinen Identitätsnachweis besitzen, dann haben sie nicht einmal theoretisch
die Chance, irgendwelche Rechte einzuklagen. Außerdem werden diese Kinder häufiger Opfer von Menschenhandel.
Jedes Kind hat ein verbrieftes Recht auf die Registrierung seiner Geburt.
Das schreibt die Koalition in ihrem Antrag. Das unterstützt die Linke.
({0})
Aber allein damit ist den Kindern nicht geholfen;
denn jedes Kind hat auch das Menschenrecht auf Nahrung, auf Gesundheit, auf ein Leben in Würde. Das gilt
übrigens auch für Flüchtlingskinder. Wenn die CSU, die
hier Mitantragsteller ist, von Obergrenzen schwadroniert
und sagt: „Ab 200 000 machen wir zu“, dann verneint sie
de facto die Menschenrechte auch der Flüchtlingskinder,
und das steht dem Gedanken Ihres Antrags entgegen.
({1})
Aber schauen wir uns das Problem der Nichtregistrierung genauer an. Häufig ist es Familien aus abgelegenen
Regionen nicht möglich, die weite Reise zu der nächsten
Meldestelle anzutreten. Häufig wissen sie gar nicht um
die Bedeutung einer Geburtsurkunde. In anderen Fällen
entscheiden sie sich bewusst für ein sogenanntes Phantomkind, weil sie aufgrund ethnischer oder religiöser
Zugehörigkeit staatlichen Repressalien ausgesetzt sind.
Zudem wollen oder können einige Staaten keine Daseinsvorsorge für ihre Bürger anbieten, sodass eine Registrierung für die Betroffenen nutzlos erscheint. Meist
scheitert die Registrierung jedoch schlicht und einfach an
den Kosten. Deshalb brauchen wir unbedingt kostenlose
und niedrigschwellige Registrierungsangebote.
({2})
So sind moderne Lösungen wie SMS-basierte Systeme angesichts der weltweiten Verbreitung von Handys
vielversprechend. Am Wichtigsten sind aber Aufklärungskampagnen, um für das Thema zu sensibilisieren.
Die Registrierung ist auch bedeutsam, um staatliche
Maßnahmen planen zu können. Ohne die Kenntnis der
genauen Anzahl von Neugeborenen ist es eben schwer,
bedarfsdeckend Bildungs- und Gesundheitsangebote zu
planen. Deshalb begrüßen wir es sehr, dass die Vereinten
Nationen die universelle Geburtenregistrierung bis 2030
als Unterziel der SDG, der Entwicklungsziele, aufgenommen haben. Geburtenregistrierung muss ein wichtiges Thema der Entwicklungspolitik sein.
({3})
- Danke schön. - Die Forderung der Koalition nach einem
Forschungsauftrag über die Wirksamkeit von Registrierungssystemen und die Möglichkeiten der Entwicklungszusammenarbeit, hier voranzukommen, unterstützen
wir. Dennoch möchte ich zwei Punkte nennen, wie die
Bundesregierung selbst jederzeit die Lebenssituation benachteiligter Kinder in Entwicklungsländern sehr schnell
verbessern könnte. Erstens. Ändern Sie Ihre Wirtschaftspolitik! Beenden Sie Dumpingexporte und neoliberalen
Freihandel!
({4})
Denn das verhindert wirtschaftliche Entwicklung und hat
somit auch Auswirkungen auf die Situation der Kinder
in den Ländern des Südens. Zweitens. Liefern Sie keine
Waffen mehr ins Ausland! Auch das würde den Kindern
helfen.
({5})
Ich fand übrigens spannend, was die Sprecherin von
UNICEF, Sylvia Trsek, zu dem Thema sagte:
Die leider immer noch große Zahl an unsichtbaren
Kindern ist ein Indikator für die Ungerechtigkeit,
der die ärmsten Menschen der Welt ausgesetzt sind.
Das bedeutet: Wenn wir gerechter verteilen, holen wir
Menschen aus der Armut. Wer nicht arm ist, lässt in der
Regel auch seine Kinder registrieren. Auch deshalb brauchen wir globale soziale Gerechtigkeit und Umverteilung
von oben nach unten.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Michaela Engelmeier.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Antrag „Bevölkerungsstatistiken verbessern Zivile Registrierungssysteme stärken“ hat durchaus
einen sehr sperrigen Titel. Wer Böses denkt, könnte meiDr. Georg Kippels
nen, dass die Deutschen auch in der Entwicklungspolitik
das tun, was sie angeblich am besten können: verwalten
und bürokratisieren preußischer als jeder Preuße. Das ist
aber bei diesem Antrag wirklich nicht der Fall.
Es geht um Zukunftsfragen. Damit Kinder eine Zukunft haben, damit unsere jüngst im letzten Jahr verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele auch bei der
zukünftigen Generation Chancen eröffnen, müssen wir
uns mit vielen Dingen befassen. Wir wollen mit unserem
Antrag eine Initiative ergreifen, um ein für uns in den
Industrienationen alltägliches Kinderrecht umzusetzen,
und zwar den Artikel 7 der Kinderrechtskonvention, in
welchem es um Geburtsregister, Name und Staatsangehörigkeit geht:
Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in
ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich das
Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut
zu werden.
({0})
Die Vertragsstaaten stellen die Verwirklichung dieser Rechte im Einklang mit ihrem innerstaatlichen
Recht und mit ihren Verpflichtungen aufgrund der
einschlägigen internationalen Übereinkünfte in diesem Bereich sicher, insbesondere für den Fall, dass
das Kind sonst staatenlos wäre.
Dieses Kinderrecht ist nicht nur mir sehr wichtig, sondern auch wir in der Großen Koalition haben diese Initiative gerne gestartet und miteinander den Antrag formuliert. Denn erst durch eine Registrierung wird in einem
modernen Staat mit seinem Erfordernis einer funktionierenden Verwaltung ein Mensch zum Staatsbürger und
kann in den vollen Genuss der ihm zustehenden Rechte
gelangen.
Ich war im vergangenen Jahr natürlich viel unterwegs,
zum Beispiel beim Neujahrsempfang der UNICEF, und
habe immer wieder festgestellt, dass viele Leute das Thema Geburtenregistrierung gar nicht auf dem Schirm hatten. Aber wenn man sie darauf angesprochen hat, ist man
wirklich auf offene Ohren gestoßen. Das hat uns natürlich motiviert, Herr Kippels, gemeinsam mit der Union
jetzt eine Initiative zu starten.
Mit diesem Bürgerrecht kann ich passiv und aktiv an
Wahlen teilnehmen. Ich erhalte die Möglichkeit, einen
Personalausweis, einen Reisepass und andere Dokumente zu erhalten. Sozialleistungen kann ich beziehen, in
legalen Arbeitsverhältnissen beispielsweise Mindestlohn
beanspruchen und eine Sozialversicherungs- und Steuernummer beantragen. Ich kann in die Schule gehen und
mir damit einen Ausweg aus der Armut ermöglichen.
({1})
Ich kann Grundeigentum erwerben, ein Konto eröffnen
oder erben. Es bietet mir auch Schutz vor Verbrechen,
vor Kinderarbeit, vor dem Kriegsdienst und vor sexueller
Ausbeutung und Frühverheiratung. Es schützt vor Menschenhandel und illegaler internationaler Adoption. Kostenlose Impfungen und andere Gesundheitsdienstleistungen kann ich erhalten. Ich finde, es verhindert auch viele
Ungerechtigkeiten und Ungleichheit. Auf der Flucht in
einen anderen Staat - angesichts der Flüchtlingsthematik ist das im Moment ganz wichtig - erleide ich keine
Staatenlosigkeit.
({2})
Wir setzen uns für das ein, was für uns in den Industriestaaten selbstverständlich ist, und zwar nach der Geburt unseres Kindes zum Standesamt zu gehen und eine
Geburtsurkunde zu bekommen, auf welcher der Name
des Kindes, seine Herkunft und seine Eltern niedergeschrieben sind. Mit dieser Urkunde ist das Kind Träger
von Grundrechten, die es einklagen kann, und es kann einen Ausweis erhalten; es existiert. Es ist nicht unsichtbar,
wie Sie, Herr Kippels, gerade gesagt haben, und es kann
auch nicht einfach spurlos verschwinden.
Wir alle erinnern uns - ich möchte das an dieser Stelle deutlich sagen; denn es ist jetzt schon fast zwei Jahre
her -, dass 231 Mädchen in Nigeria verschwunden sind;
sie wurden von Boko Haram entführt. Ich glaube, nur ein
Bruchteil dieser Mädchen ist wieder aufgetaucht. Viele
von ihnen waren nicht geburtenregistriert. Das heißt, sie
sind de facto gar nicht da gewesen. Das, meine lieben
Freundinnen und Freunde, können wir nicht weiter zulassen.
({3})
In vielen Entwicklungsländern findet leider keine Registrierung statt; wir haben es gerade gehört. Oft fehlt
einem Staat die Möglichkeit zur Registrierung. Oft sind
es Bürgerkrieg oder Armut und die Häufung von Naturkatastrophen, die sie verhindern. Es liegt natürlich auch
an mangelnder Infrastruktur und am Fehlen eines Katasterwesens. Es ist kein Geld da, um ganz schlicht und einfach ein System aufzubauen. UNICEF beziffert die Zahl
der Kinder unter fünf Jahren, deren Geburt nie registriert
wurde, auf 230 Millionen. Das können wir doch nicht
weiter zulassen.
({4})
An dieser Stelle wollen wir ansetzen, damit sich an dieser
Sachlage etwas ändert.
Zur Verbesserung dieser Problemlagen befasst sich
unser Antrag mit der Geburtenregistrierung in Entwicklungsländern, den dabei auftretenden Problemen, und er
zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Er enthält einen Maßnahmenkatalog, mit dem die Verfahren zur Registrierung
seitens der Bundesregierung und des Parlaments unterstützt und weiterentwickelt werden können.
Unser Engagement muss darauf abzielen, sich mit
den Problemen zu befassen, die dazu führen, dass keine Registrierung erfolgt. Das liegt natürlich nicht immer
an einem reinen Mangel an administrativer Infrastruktur,
sondern an vielen unterschiedlichen Gründen. Ich habe
es gesagt: Die Registrierung kann Geld kosten, das viele
einfach nicht haben. Man ist nicht erreichbar, weil es nur
in den Städten oder im ganzen Land nur eine Meldestelle
gibt. Es gibt auch ein mangelndes Problembewusstsein,
was übrigens auch am Bildungsgrad liegt. Teilweise ist
eine Registrierung legal nicht möglich, zum Beispiel
dann, wenn die Mutter und das Kind einer ethnischen
Minderheit angehören; auch das ist ein Grund, warum
nicht registriert wird. Oder das Kind ist gar unehelich,
und dadurch entstehen soziale Stigmatisierung oder Unterhaltsverpflichtungen.
Aus dieser Vielzahl von Gründen für die Nichtregistrierung von Geburten muss sich eine entsprechende
Vielzahl von Lösungsansätzen ergeben. Daher müssen
wir, wie es in unserem Antrag formuliert ist, unsere Initiativen erweitern: mit Aufklärung und Bildung, mit flächendeckenden Registrierungsstellen, mit Unterstützung
der Reformen nationaler Gesetze, mit nationalen Partnerschaften oder einfach nur mit Unterstützung eines Telekommunikationsanbieters, also ganz niederschwellig.
Denken Sie nur an SMS-Dienste oder Handys in Afrika.
Kenia beispielsweise hat 42 Millionen Einwohner; davon
haben 38 Millionen ein Handy. Die Menschen dort haben zwar nicht solche Handys, wie wir sie haben, also
Smartphones, mit denen man sich im Internet bewegen
kann, aber SMS-fähig sind sie alle. Das ist vielleicht eine
Möglichkeit, um niederschwellig zu beginnen.
Es gibt Projekte, die wir jetzt schon unterstützen. Das
müssen wir fortsetzen, und ich bitte Sie um Unterstützung für unseren Antrag.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als letzter Redner hat Uwe Kekeritz
von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und
Kollegen! Meine Vorrednerinnen und Vorredner haben
schon sehr ausführlich klargemacht, worum es bei diesem Antrag geht. Sie beschreiben ja auch sehr deutlich,
welche Vorteile Kinder haben, wenn sie registriert sind,
und was die negativen Konsequenzen sind, wenn die
Kinder nicht registriert sind.
Ich denke, der Antrag ist von seiner Anlage her in Ordnung, aber ich möchte Ihnen auch sagen: Einen wirklichen Erkenntnisgewinn haben wir dabei nicht. Das Thema wurde sowohl vom BMZ als auch von der GIZ schon
längst aufgegriffen
({0})
- immer wieder mal aufgegriffen. Auf der UN-Ebene ist
das breit diskutiert worden, die UNICEF hat sich damit
beschäftigt, die UN-Kinderrechtskommission hat das
aufgegriffen, und auch in den SDGs ist das verankert.
Ich frage mich natürlich schon, ob wir uns zu einem
Zeitpunkt wie dem heutigen Tag nicht lieber etwas über
die SDGs hätten unterhalten sollen. Ich stelle aber fest:
Die SDGs werden in der nächsten Sitzungswoche besprochen - allerdings erst um 23.30 Uhr. Ich frage mich
natürlich schon, welche Motivation die Koalition hat,
die Diskussion über einen so wichtigen Punkt auf einen
Zeitpunkt zu schieben, an dem niemand mehr zuhört und
auch niemand mehr bereit ist, zu reden.
({1})
Das wollte ich schon einmal anmerken. Heute diskutieren wir also über ein Thema, bei dem wir wirklich keinen
großartigen Erkenntnisgewinn erzielen.
Frau Engelmeier, Sie haben wirklich schön davon
gesprochen, dass Sie endlich Initiativen starten möchten und hier ganz massiv in die Puschen kommen wollen. Wenn man den Antrag durchliest, dann muss man
allerdings ganz ernsthaft feststellen, dass Sie gar keine
Forderungen stellen. Sie richten stattdessen Bitten an die
Bundesregierung und sagen: Passt einmal auf: Ich habe
hier gute Vorschläge, und wenn ihr genügend Geld habt,
dann setzt das bitte um.
({2})
- Das ist so.
Ich frage mich natürlich schon, welche Bedeutung
dieses Thema hat. Wenn dieses Thema wirklich die Bedeutung hat, die Sie hier vermitteln möchten, dann haben
Sie bitte schön auch die Verpflichtung, der Bundesregierung zu sagen: Stellt dafür die Mittel zur Verfügung, und
macht das. - Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt.
({3})
In Ihrem Forderungskatalog kommen viele Punkte
vor, die tatsächlich extrem viel Geld kosten, und da frage
ich mich natürlich schon, was die Koalition in der Vergangenheit gemacht hat, um diese Mittel zur Verfügung
zu stellen.
Sascha Raabe schaut mich jetzt an und freut sich,
dass endlich sein Thema „0,7-Prozent-Ziel“ wieder zur
Sprache kommt. Es ist völlig richtig: Wir versprechen
der Weltöffentlichkeit seit 45 Jahren, dass wir den Anteil der Entwicklungshilfe am Bruttosozialprodukt auf
0,7 Prozent steigern werden. Dann hätten wir auch mehr
Geld, um mitzuhelfen, so extrem teure Sachen wie zum
Beispiel die Registrierungssysteme in den betroffenen
Ländern umzusetzen. Das geschieht aber eben nicht.
({4})
An einem weiteren Punkt hat die Koalition, wie ich
glaube, massiv versagt - das ist mein zweites Beispiel
für ein solches Versagen -, genügend Finanzmittel bereitzustellen: Wir waren im Juli in Addis Abeba bei der
UN-Finanzierungskonferenz. Dort wurde ein Thema von
allen Ländern ganz intensiv besprochen, weil es bei diesem Punkt für alle Staaten um sehr viel Geld gegangen
ist. Man wollte nämlich auf UN-Ebene eine Steuerkommission einführen, und es war ausgerechnet die Bundesrepublik Deutschland, die gemeinsam mit England und
den USA ganz massiv verhindert hat, dass auf UN-Ebene
eine solche Steuerkommission installiert wird.
Wir wissen, dass durch illegitime und illegale Steuervermeidung und Steuerhinterziehung jedes Jahr Hunderte von Milliarden Euro an Steuern hinterzogen werden,
und das trifft nicht nur die Entwicklungsländer, sondern
inzwischen auch ganz massiv die Industrieländer. Deswegen wäre es auch aus unserem Eigeninteresse heraus
einfach notwendig, ein faires und gerechtes Steuersystem
global zu verwirklichen.
({5})
Sie können noch so viele gutgemeinte Anträge einreichen und verabschieden, das nutzt aber nichts, wenn
Sie an anderer Stelle mit Ihrem Handeln eine weltweit
nachhaltige Entwicklung konterkarieren. Die Forderung
nach Kohärenz sollte sich auch in Ihren Anträgen widerspiegeln, aber da haben Sie leider versagt.
Danke schön.
({6})
Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen. - Damit schließe ich die Aussprache, und wir kommen zur
Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD mit dem Titel
„Bevölkerungsstatistiken verbessern - Zivile Registrierungssysteme stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6994, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf
Drucksache 18/6549 anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Niemand. Wer enthält sich? - Damit erleben wir etwas, was
selten vorkommt, dass nämlich alle Fraktionen zustimmen.
({0})
Damit ist natürlich auch die Beschlussempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Eva BullingSchröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Bildungsherausforderungen gemeinsam verantworten - Kooperationsverbot in der Bildung endlich aufheben
Drucksache 18/6875
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen, und ich eröffne die Aussprache.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen ihre Plätze eingenommen haben, können wir die Debatte dann auch tatsächlich beginnen.
Als erste Rednerin in der Debatte hat Frau Dr. Hein
von der Fraktion Die Linke das Wort.
({2})
Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Liebe Kolleginnen
und Kollegen, ich hätte auch nichts dagegen gehabt,
wenn die anderen geblieben wären. - Wir haben es Ihnen
vor Weihnachten versprochen, und wir halten Wort. Wir
bieten Ihnen erneut einen Anlass, um über die notwendige Verbesserung der Zusammenarbeit von Bund und
Ländern in Bildungsfragen im Ausschuss und hier im
Plenum zu diskutieren.
Ich weiß, dass viele von Ihnen darauf brennen, endlich
diesen unbefriedigenden Zustand zu beenden, dass der
Bund immer wieder mal über Bildung reden, aber wenig
verändern kann. Insbesondere in der schulischen Bildung
ist der Druck inzwischen sehr groß, und alle Welt erwartet von uns, dass wir endlich etwas tun.
Derzeit sind aber auch die Chancen groß, endlich das
Verbot der Zusammenarbeit in der Bildung aufzuheben.
Wir - Bund, Länder und Kommunen - haben eine gemeinsame Verantwortung, die Substanz des Bildungssystems zu erhalten und es auf den neuesten Stand zu
bringen. Sonst bleibt nämlich von der viel gepriesenen
Bildungsrepublik bald nichts mehr übrig.
({0})
Es wird uns dann auch nicht mehr helfen, dass wir uns
immer in Zahlen sonnen. Die Koalition macht das ja so
gerne, heute früh auch wieder;
({1})
denn die aufgewendeten Mittel reichen ja nicht, um die
grundlegenden Probleme zu lösen. Ich weiß schon, dass
Sie das wieder machen werden, aber es wird nicht helfen.
Wir haben das alles schon oft debattiert, und eigentlich
könnte man es leid sein. Darum möchte ich heute versuchen, das mit einem Beispiel zu erläutern, das vielleicht
ein bisschen ungewöhnlich ist. Vielleicht macht es aber
deutlich, was wir wollen und was wir nicht wollen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind Verwalter eines Hauses
mit 16 Eigentumswohnungen, und Sie dürfen immer
nur für die Malerarbeiten im Treppenhaus sorgen. In die
Wohnungen dürfen Sie nicht hinein.
({2})
- Nein, da gab es keine Eigentumswohnungen - jedenfalls nicht so viele. - Nun begibt es sich aber - es handelt
sich um ein altes und ehrwürdiges Haus -,
({3})
dass es vom Keller aus feucht wird. Und im Souterrain,
wo die Stadtstaaten wohnen, sind schon nasse Flecken an
den Wänden zu sehen. Die kann man noch einmal überUwe Kekeritz
streichen, aber die Nässe kommt immer wieder durch.
Eine grundlegende Sanierung kann aber nicht stattfinden;
denn die Eigentümer des Lofts - also die aus Bayern merken von der Feuchtigkeit noch nichts. Die werden
erst munter, wenn es durchs Dach regnet. Und die Hessen
merken es erst, wenn es durch die Fenster zieht.
Dabei wäre es ganz einfach: Man könnte die Substanz
des Hauses gemeinsam erhalten, es auch noch energetisch sanieren und barrierefrei machen.
({4})
Das würde allen nutzen. Der Aufzug ginge dann auch bis
nach oben zu den Bayern. Dann blieben immer noch die
Eigentumswohnungen. Man könnte dann aber Durchbrüche zwischen den Zimmern schaffen, Parkett oder Teppichboden legen. Man kann die Möbel selber wählen und
so fort. Nur die tragenden Wände darf man nicht einreißen. Dann wäre es immer noch ein föderalistisches Haus,
aber eines mit einer soliden Substanz.
({5})
Genau das wollen wir.
({6})
Die Aufzählung der Hausaufgaben in unserem Antrag,
die sehr umfangreich ist, macht nur deutlich, wie groß
die Aufgabe ist, die vor uns liegt. Wir sollten da rum endlich den Mut beweisen und selbst etwas vorlegen, was
die Länder nicht ablehnen können. Dies könnte man
dann durch eine Bildungsrahmenvereinbarung oder ein
Bildungsrahmengesetz, wie Sie es lieber nennen würden,
Herr Rabanus, sichern,
({7})
in dem Rechtsansprüche wie Qualitätsstandards festgeschrieben werden; eben ein Rahmen, der Vielfalt ermöglicht und Vergleichbarkeit und Anerkennung sichert. Das
wäre doch für alle etwas. Deshalb schlagen wir Ihnen
heute vor, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu
nehmen und die komplette Aufhebung des Kooperationsverbotes in der Bildung in Angriff zu nehmen. Ich glaube, die Länder wären gut beraten, dem zu folgen.
GEW und VBE, die Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft und der Verband Bildung und Erziehung,
haben das kurz vor Weihnachten in ihren Pressemitteilungen erklärt. Ich glaube, ihnen kann man glauben,
weil sie von Bildung etwas verstehen. Sie wollen diese
Aufhebung. Udo Beckmann, Vorsitzender des Verbandes
Bildung und Erziehung, hat in seiner Presseerklärung
vorgeschlagen, das Jahr 2016 zum Jahr der Bildungsgerechtigkeit zu machen. Na, das wäre doch mal was.
({8})
Dem könnten wir gut folgen.
Politik, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wird
am Ende nicht danach beurteilt, wie gut die Zahlen sind,
die man nennen kann, sondern sie wird danach beurteilt,
welche Probleme gelöst werden können; da brauchen wir
einen langen Atem. Das müssen wir jetzt angehen und
dürfen nicht mehr warten.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt Tankred Schipanski.
({0})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Frau Hein, Und täglich grüßt das Murmeltier das fällt mir zu Ihrem Antrag ein. Wir debattieren wieder
einmal die Abschaffung eines angeblichen Kooperationsverbotes in der Bildung, das angeblich im Grundgesetz
verankert ist.
({0})
Bereits begrifflich ist das in dieser Debatte eine Irreführung. Es gibt kein „Kooperationsverbot“,
({1})
sondern eine föderale Kooperationskultur.
({2})
Bund, Länder und Gemeinden, also Kommunen, engagieren sich seit Jahrzehnten gemeinsam im Bildungsbereich unserer Bundesrepublik. In unserem Grundgesetz
ist von einem „kooperativen Bildungsföderalismus“ mit
einer klaren Aufgabenzuteilung und somit klaren Zuständigkeiten die Rede.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bisher haben wir,
so glaubte ich, auf Bundesebene einen gesellschaftlichen Konsens und ein gemeinsames Ziel, nämlich mehr
Einheitlichkeit, mehr Vergleichbarkeit und mehr Transparenz im deutschen Schulsystem. Wir wollen innerdeutsche Mobilität ermöglichen. Wir wollen Mindeststandards. Wir wollen einen Grundkanon an Wissen. Wir
wollen Verbindlichkeit bei den Bildungsvereinbarungen
der Bundesländer untereinander.
Das war bisher in dieser Debatte unter dem Stichwort
„Aufhebung eines angeblichen Kooperationsverbotes“
das eigentliche Anliegen.
({3})
Dabei haben wir festgestellt, dass die Arbeit der Kultusministerkonferenz stark verbesserungswürdig ist. Daher
werben wir für einen Staatsvertrag der Bundesländer in
diesem Bereich, ähnlich wie wir das bereits beim Rundfunk kennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute bekommt
unsere langjährige Debatte einen ganz neuen ZungenDr. Rosemarie Hein
schlag. Der Linken geht es nicht um Vergleichbarkeit und
mehr Vereinheitlichung im deutschen Schulsystem. Sie
will einfach nur Geld: Geld für Schulen und für Kindergärten, für Sozialarbeit und interkulturelle Bildung, Geld
für Inklusion,
({4})
einfach nur Geld im Verantwortungsbereich der Bundesländer. Diese sollen das nach Gutdünken ausgeben können. Der Bund soll die Gießkanne füllen, und die Länder
schütten aus. Nicht mit uns!
({5})
Heute lässt die Linke ihre Maske fallen.
({6})
Es geht ihr nicht um Inhalte. Es geht ihr nicht um die
Stärkung unserer schulischen Bildung. Nein, es geht ihr
nur um Geld für die Bundesländer. Dann sollte die Linke
einen Antrag stellen, die Bund-Länder-Finanzbeziehungen neu zu ordnen, aber keinen Antrag auf Verfassungsänderung mit dem Ziel, dass die Bundesländer noch mehr
Geld vom Bund erhalten.
({7})
Für meine Fraktion stelle ich fest, dass eine Verfassungsänderung das falsche Instrument ist, um das Ziel der Linken zu erreichen.
({8})
Inhaltlich ist der hier gestellte Antrag völlig falsch. Es
wird behauptet, der Bund engagiere sich nicht im Bereich
der Bildung. Meine Damen und Herren, das Gegenteil ist
der Fall. Sie behaupten, der Bund leistet keine Unterstützung bei der Kinderbetreuung: eine glatte Lüge. Allein
für den Ausbau der U3-Kinderbetreuung gibt der Bund
Milliarden, und zwar zwischen 2008 und 2013 4 Milliarden Euro und zwischen 2013 und 2017 8,5 Milliarden
Euro im Bereich der frühkindlichen Bildung. Das sind
die Fakten.
Sie sprechen in Ihrem Antrag von sozialer Spaltung
im Bildungswesen, wenn der Bund kein Geld gibt. Ich
erinnere Sie höflich an das Bildungs- und Teilhabepaket,
das wir 2010 in diesem Hohen Hause beschlossen haben.
Mittagessenzuschuss, Lernförderung, Finanzierung von
Sportvereinen und persönlichem Schulbedarf, Geld für
Schulausflüge:
({9})
Das alles gibt es für bedürftige Kinder. Dafür stellen wir
wiederum Milliarden des Bundes im Bereich Bildung zur
Verfügung.
Es geht weiter. Sie beklagen in Ihrem Antrag mangelndes Engagement des Bundes bei Bildungsprogrammen
für Flüchtlingskinder: wieder eine Unrichtigkeit in Ihrem
Antrag. Ich erinnere an die Programme des BMBF: „Lesestart für Flüchtlingskinder“, „Kultur macht stark“ und
das Programm der Bildungskoordinatoren. Für all das
fließen Millionenbeträge in den Bildungsbereich.
({10})
Sie sehen: Wir brauchen keine Verfassungsänderung,
um den Ländern und Kommunen Bundesgeld zur Verfügung zu stellen. Das von Ihnen vorgeschlagene Instrument ist untauglich, um dieses Ziel zu erreichen.
Herr Schipanski, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, wir machen das schön fertig, und dann freue ich
mich über die Kurzintervention meiner Kollegin Hein.
Wir geben als Bund seit vielen Jahren Milliardenbeträge in den Bildungsbereich. Was wir brauchen, sind
eine Vereinheitlichung und eine bessere Vergleichbarkeit
im deutschen Schulsystem. Das erreichen wir über einen
gemeinsamen Staatsvertrag der Bundesländer. Für diesen werbe ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich.
Dem Bund steht dabei verfassungsrechtlich eine koordinierende Rolle zu. Das ist ein pragmatischer Lösungsweg, dem sich die Bundesländer nicht länger verweigern
sollten. Diesen Lösungsweg sollten wir gemeinsam verfolgen. Daher lehnen wir den Antrag der Linken ab.
({0})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Herr Özcan
Mutlu das Wort.
({0})
- Eine Kurzintervention muss man anmelden, sorry.
({1})
- Nein, das ist etwas anderes als eine Zwischenfrage.
Wenn Sie das wollen, erhalten Sie dafür das Wort. Aber
es muss angemeldet werden.
Vielen Dank, dass Sie sie noch zulassen. - Herr
Schipanski, ich kann mich noch gut erinnern, dass Sie
uns immer mit wehenden Fahnen vorgeworfen haben,
wir wollten den alten Einheitsbrei wiederhaben. Heute werfen Sie uns vor, dass wir genau das nicht wollen,
sondern dass wir Vielfalt wollen. Sie müssen sich schon
entscheiden, was Sie uns vorwerfen wollen.
Ich habe in meiner Rede ausdrücklich gesagt, dass es
uns um Vielfalt und darum geht, den Föderalismus zu
erhalten. Ich weiß nicht, ob Sie - Entschuldigung - die
Ohren nicht frei hatten oder sich mit anderen Dingen beschäftigt haben, aber es war nicht so. Ich glaube, dass
Sie mit jedem Ihrer Sätze und jedem Beispiel, das Sie
gebracht haben, unsere Forderungen eigentlich bestätigt
haben.
({0})
Herr Schipanski.
({0})
Ich habe Ihrer Rede zugehört. Wir sind aber heute
nicht im Bauausschuss - Sie haben von Häusern gesprochen und was noch alles -,
({0})
sondern es geht um den Bildungsbereich
Ich habe Ihnen klar gesagt: Bisher haben wir immer
dafür geworben, dass wir mehr Vergleichbarkeit, mehr
Einheitlichkeit und mehr Transparenz in unserem Schulsystem haben wollen. Unter diesem Punkt haben wir
das auch immer diskutiert. Wir haben immer für den
Staatsvertrag geworben, den ich Ihnen heute noch einmal
dargeboten habe. Sie kommen mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Instrument einer Verfassungsänderung in
diesem Punkt nicht weiter. Daher haben wir Ihnen heute
unseren pragmatischen Weg aufgezeigt.
({1})
- Nein, wir sind keine Blockadepartei.
({2})
Von daher kann ich Ihrer Argumentation nicht folgen. Ich
freue mich, wenn Sie uns bei den Zielen, die ich aufgezeigt habe, unterstützen wollen.
In Ihrem Antrag geht es nur darum, Geld vom Bund
zu den Bundesländern zu transferieren. Das wollen wir
weder mit einer Verfassungsänderung noch auf andere
Art und Weise.
({3})
Jetzt spricht als nächster Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen Özcan Mutlu.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Freundinnen und Freunde! Fangen wir einmal so an:
Nach der Märchenstunde von Herrn Schipanski kommen
wir zur Sachlichkeit zurück. Ich empfehle Ihnen, Herr
Kollege: Lesen Sie das Grundgesetz! Dann wissen Sie,
wovon die Kollegin Hein redet.
({0})
In keinem Land der Welt gibt es ein in der Verfassung
festgeschriebenes Verbot, dass Bund und Länder oder
regionale Provinzen in der Bildungspolitik zusammenarbeiten. Wir sind das einzige Land, das das gesetzlich
verbietet. Ich frage mich immer wieder: Was kann daran falsch sein, wenn die verschiedenen Ebenen eines
Staates - in diesem Fall Bund und Länder - zusammenarbeiten, im Interesse der Schülerinnen und Schüler, im
Interesse der Schulen und im Interesse unseres Landes?
Sie haben das anscheinend nicht kapiert. Die grandiose
Fehlentscheidung, die 2006 von der GroKo im Grundgesetz verankert wurde - mittlerweile wurde das Kooperationsverbot im Hochschulbereich gelockert -, gehört in
Gänze revidiert, und zwar so schnell wie möglich.
({1})
Zahlreiche Studien beweisen, dass fehlende Bildungsgerechtigkeit eines der größten Probleme unseres
Bildungssystems ist. Ausgerechnet hier hält die Große
Koalition am Kooperationsverbot fest und manifestiert
aus meiner Sicht die Kleinstaaterei, die eigentlich längst
überholt sein sollte.
({2})
In Anbetracht der immer größer werdenden Herausforderungen, vor denen unsere Schulen und andere Bildungseinrichtungen stehen - Inklusion, digitale Bildung,
Sprachförderung und mehr Ganztagsschulen -, muss sich
der Bund in der Tat aktiver beteiligen. Aber er kann das
nicht, weil Sie am Kooperationsverbot festhalten. Ich
sage Ihnen: Die Herausforderungen und die Probleme
werden sogar zunehmen aufgrund der Tatsache, dass seit
letztem Jahr viele Menschen im schul- und ausbildungsfähigen Alter in unser Land kommen. Diese müssen
im Schulsystem integriert werden. Kollege Schipanski,
wir wissen, dass einige Koordinierungsstellen, die das
BMBF geschaffen hat, oder eine Deutsch-App einfach
nicht ausreichen.
({3})
Wir wissen, dass viele Städte und Gemeinden völlig
überfordert sind und längst an ihre finanziellen Grenzen
gestoßen sind. Ich bin dann sprachlos - und das kommt
selten vor -, wenn Frau Ministerin Wanka - sie ist heute nicht anwesend - ganz unverblümt in der Presse sagt:
„Die Länder haben die Aufgabe, Willkommensklassen
einzurichten, da ist der Bund in keiner Weise tangiert.“
Toll! Das ist eine richtig gute Erklärung eines Problems,
das eigentlich gemeinschaftlich gelöst werden sollte.
({4})
Frau Wanka sollte sich stattdessen für eine flächendeckende Bildungsoffensive starkmachen und vielleicht
beim Kollegen Schäuble, der jetzt 12 Milliarden Euro
mehr im Säckle hat, ein bisschen mehr für Bildung und
Bildungsinvestitionen einfordern. Das wäre nötig.
({5})
Der deutsche Bildungsföderalismus hat eine zerklüftete und ineffektive Schullandschaft mit 16 unterschiedlichen Schulsystemen, Lehrplänen und Versetzungsordnungen geschaffen. Ich finde, dass dieser Zustand im
21. Jahrhundert, im Jahre 2016, nicht mehr hinnehmbar
ist.
({6})
Deshalb haben wir Grüne in unseren zwei Anträgen in
dieser Legislaturperiode - genauso wie mehrfach in der
vergangenen Legislaturperiode - gefordert, konsequenterweise das Kooperationsverbot in Gänze abzuschaffen
und durch Kooperation zu ersetzen. Es geht in der Tat um
gemeinsame Bildungsstandards und gemeinsame Ziele in der Bildung. Aber das wollen Sie nicht. Sie halten
weiterhin am Kooperationsverbot fest.
Kooperation heißt aber nicht unbedingt und ausschließlich, dass die Bundesländer Kompetenzen abgeben müssen. Da gibt es sicherlich kreative Möglichkeiten, die Zusammenarbeit zu stärken. Ich erinnere an das
letzte Mal, als der Bund tatsächlich Geld für die Bildung
in die Hand nehmen durfte. Damals flossen unter RotGrün 4 Milliarden Euro für 10 000 neue Ganztagsschulen. An diese Erfolgsstory sollten wir anknüpfen; dazu
rate ich Ihnen. Ich schaue hier insbesondere in die Reihen
der SPD. Es reicht nicht aus - ich bin noch nicht fertig -,
liebe Kollegen von der SPD,
Aber, Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
- in sämtlichen bildungspolitischen Papieren die Abschaffung des Kooperationsverbotes festzuschreiben und
zu versprechen, aber hier keinerlei Aktivitäten diesbezüglich zu unternehmen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({0})
Ernst Dieter Rossmann spricht jetzt für die SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Schipanski erwähnte schon das Murmeltier hier im
Bundestag. Ich lasse es im Winterschlaf.
Ich möchte vier agitatorische Gedanken vortragen:
Erstens. Niemand soll daran zweifeln, dass die SPD
im Bundestag, wenn es zusammen mit einem Koalitionspartner eine Mehrheit gibt, um das Kooperationsverbot
aufzuheben, voll dabei ist.
({0})
Aber wir möchten gern die Verhältnisse so zum Tanzen bringen, Herr Schipanski, dass Sie beklagen, dass
der Bund von den Ländern aufgefordert wird, ihnen Geld
blanko zu geben. Wir kommen jetzt in eine Situation, in
der sich die Länderministerpräsidenten im Rahmen der
Einigung über die Länderfinanzen 10 Milliarden Euro
zusätzlich auf Kosten des Bundes bewilligen wollen. Ist
das nicht eine Chance, zu sagen: „Cash gegen Präzision“?
({1})
Cash gegen Mitwirkung des Bundes; denn wir wollen
das Geld nicht blanko geben, weil wir wissen, dass die
Länder vor großen Aufgaben im Bereich der Bildung stehen. Sie tragen fast 60 Prozent der Kosten.
({2})
Aber wir als Bund möchten dazu beitragen, dass es
Harmonie gibt und diese Gelder eine präzise Wirkung
in Richtung auf den Ausbau der Bildung entfalten. Diesen Gedanken möchten wir ihnen gerne präsentieren.
Wir müssen jetzt die Ministerpräsidenten Ramelow und
Kretschmann, unsere Ministerpräsidenten und Ihre davon überzeugen.
({3})
Zweitens. Wenn wir in das Grundgesetz schauen, dann
sehen wir, dass der Bund und die Länder auch bei der
Bildung zusammenwirken können. Es gibt aber auch
die legendäre Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der
regionalen Wirtschaftsstruktur“ oder die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“. Das ist wichtig.
Jetzt wäre eine Gemeinschaftsaufgabe „Demografie
und Integration“ wichtig. Das wäre eine echte, zukunftsgerichtete Gemeinschaftsaufgabe. Bei der wäre natürlich
auch der Bildungsanteil hochgradig enthalten. Auch darüber sollten wir zusammen nachdenken.
({4})
Wenn wir schon nicht den ganzen Himmel bekommen,
dann wenigstens einen konkreten Himmel. Die Bedeutung der Bildung wird anwachsen; deshalb müssen wir
unsere diesbezügliche Aufgabe erfüllen.
Drittens. Wenn dies nicht geht, dann sind wir zusammen aufgefordert, spätestens im März oder April im Bundestag nicht nur ein weiteres Asylpaket zu schnüren, sondern ein Asyl- und Integrationspaket vorzulegen.
({5})
Es ist doch die gemeinschaftliche Aufgabe, die wir
haben, Bund, Länder und Kommunen konkret dazu zu
bringen, dass sie die große Bildungsaufgabe bewältigen,
die Chancen, die darin liegen, nutzen, aber auch die GeÖzcan Mutlu
fahren, die es gibt, erkennen. Alle drei Ebenen müssen
unterstützt werden, damit es eine effektive Bildungsintegration gibt. Die Felder könnten wir hier alle benennen.
Wir können nur dafür werben, dieses Signal in die Gesellschaft zu senden: Begrenzung und Integration. Dafür
brauchen wir ein Integrationspaket.
({6})
Viertens. Wenn auch das nicht reicht, werden wir
uns konkret überlegen müssen, ob wir die Initiative der
CDU-Bildungspolitiker aufgreifen, die zum Beispiel für
den Sprachenbereich statt 3,10 Euro 4,40 Euro fordern.
Das bedeutet Ausgaben von 200 Millionen Euro zusätzlich, wenn wir eine gute Sprachförderung wollen.
Andere Politiker sehen die Kindertagesstätten als Eingangstor für die Integration der Kinder. Diesen Bereich
müssen wir verbessern, damit Familien nicht aufgrund
falscher Wertvorstellungen glauben, es seien die Frauen,
die im Haus bleiben müssten und nicht lernen dürften,
weil die Männer Kinder nicht betreuen könnten.
Wir müssen auch über die duale Ausbildung nachdenken. Heute Morgen haben wir darüber gesprochen.
Lehrherren und Lehrfrauen bereiten sich jetzt auf den
Beginn der Ausbildung im August vor. Die müssen die
Sicherheit haben, dass die Ausbildungsverhältnisse, die
sie anbieten, nicht durch ausländerrechtliche Vorschriften gefährdet werden. Sie sollten sicher sein, dass es für
die Auszubildenden, die ihren Abschluss machen, später
auch eine Bleibeperspektive gibt.
({7})
Haben wir diese Gesetzesänderung schon vollzogen?
Nein. Das ist eine Gesetzesänderung, die wir brauchen,
so wie wir andere Gesetzesänderungen brauchen.
({8})
Wir brauchen auch deshalb zusätzliches Geld, weil wir
alle wissen, dass jetzt junge Menschen kommen, die aus
der Unsicherheit herauswollen. Sie wollen Geld verdienen. Oft wissen sie nicht, wie tragfähig die duale berufliche Ausbildung ist. Viele gutwillige Handwerksmeister
und andere sagen: Es ist schwierig für uns, diese jungen
Leute auszubilden. - Wir brauchen daher Aufbauklassen
in den berufsbildenden Schulen, wir werden aber auch
ganz viel überbetriebliche, außerbetriebliche Ausbildung
im beruflichen Bereich für diese jungen Leute brauchen.
Auch dafür brauchen wir Geld. Also, das Plädoyer geht
in diese Richtung.
Wir werden noch einen langen Kampf in Sachen
Grundgesetz und Kooperationsverbot führen müssen,
aber vielleicht bewegen sich bei diesen schwierigen
Dingen, nämlich den Ländern 10 Milliarden Euro cash
für Bildung und anderes zu geben, auch noch manche
Geister. Wir haben die Möglichkeit, eine neue Gemeinschaftsaufgabe zu etablieren, wir haben die Möglichkeit
eines Paktes. Hauptsache ist, dass wir etwas tun, und
zwar gemeinschaftlich, um die Probleme zu lösen, die
jetzt anstehen. Dann kann das Murmeltier auch noch einen Monat länger schlafen.
Danke.
({9})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Xaver Jung
für die Fraktion der CDU/CSU das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Der Witz bei dem Murmeltier ist ja, dass es eben
nicht schläft und dass das Ganze jeden Morgen von neuem losgeht.
({0})
Von Ihrer Rede, Herr Rossmann, ist bei mir hängen
geblieben „Cash gegen Präzision“. Da fällt mir das Beispiel mit den BAföG-Milliarden ein.
({1})
Was ist bei den BAföG-Milliarden eigentlich genau passiert? Wir haben den Ländern Geld gegeben und auf Präzision gehofft, und bis heute warten wir auf die Rückmeldung von so manchem Land dazu, was mit diesem Geld
eigentlich passiert ist.
({2})
Genau das ist der Grund, warum wir gegen die Aufhebung des Kooperationsverbotes sind. Wir sehen, dass
die BAföG-Sätze über Jahre nicht erhöht worden sind.
Woran lag das? Der Bund hat die Schuld auf die Länder geschoben, und die Länder haben die Schuld auf den
Bund geschoben. Herausgekommen ist: Es gab keine
Erhöhung. Jetzt haben wir klare Verhältnisse: Der Bund
ist zu 100 Prozent zuständig. Die Studenten bekommen
mehr Geld, und jeder weiß, wer dafür verantwortlich ist,
nämlich die Bundesregierung.
({3})
Das ist ein Beleg dafür, dass es gut ist, wenn Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar zugeteilt sind.
Ich kann mir schon vorstellen, wie es in Zukunft sein
wird, wenn wieder beide Seiten zuständig sind: Man
blockiert sich. Die einen wollen bezahlen. Die anderen
sagen: Das ist uns zu wenig; da machen wir besser gar
nichts. - Das haben wir alles schon gehabt, Frau Hein.
({4})
Ich wollte noch auf Ihren Antrag eingehen, in dem Sie
die Situation in Deutschland beschreiben. Ich muss sagen: Sie haben sich bisher immer auf die OECD berufen,
nur in diesem Antrag nicht. Das ist auch kein Wunder;
denn seit November 2015 wissen wir, dass es dem deutschen Bildungssystem wesentlich besser geht, als es die
ganze Zeit von Ihnen behauptet wurde.
({5})
Da denke ich wieder an das Murmeltier: Immer wieder behaupten Sie, unsere Bildung sei schlecht, Deutschland hinke hinterher. Das ist nicht so; die OECD hat es bestätigt.
({6})
Wir haben festgestellt: Schulpolitik gehört zu den ureigenen Kompetenzen der Länder, und die Länder wollen
diese Kompetenz auch gar nicht abgeben. Das ist Fakt
eins. Fakt zwei ist: Die Zusammenarbeit zwischen Bund
und Ländern hat bisher sehr gut funktioniert. Sie hat sogar noch nie so gut funktioniert wie zurzeit. Ich verweise
auf den Hochschulpakt, die Exzellenzinitiative, den Pakt
für Forschung und Innovation, die Qualitätsoffensive
Lehrerbildung. Wir helfen gerne zeitweise bei normaler Bildungsarbeit, Schulsozialarbeit, Erwachsenenbildung, Alphabetisierung und jetzt auch, Herr Mutlu, im
Flüchtlingsbereich - und das ist auch gut so. Frau Hein,
wir bauen also Dächer. Wir renovieren das Parkett und
machen auch andere Dinge, und wir werden das auch in
Zukunft tun können.
Im Gegensatz zu dem, was Sie gesagt haben, haben
wir, der Bund, mit unserer Bildungspolitik sehr viel zum
Positiven hin verändert.
({7})
Der Bund hat sein Soll in vielen Bereichen sogar übererfüllt.
({8})
- Frau Hein, mit Ihrem Antrag gaukeln Sie den Leuten
draußen doch vor, Sie wollten Inhalte ändern. Das passiert doch nicht. Herr Schipanski hat doch recht gehabt:
Es geht Ihnen nur um Geld. Der reiche Onkel Schäuble
hat jetzt Geld, und bei dem wollen Sie abgrasen. Sie wollen aber nicht, dass wir darauf achten, was mit diesem
Geld passieren wird.
({9})
Es ist ganz richtig - es wurde schon gesagt -: Bund
und Länder verhandeln demnächst wieder an anderer
Stelle darüber, wie man den Ländern genügend Mittel
zur Verfügung stellt. Wenn man gut verhandelt, dann
werden die Länder auch weiterhin die Verantwortung
für ihre Mittel haben. Wenn deren Mittel nicht reichen,
dann können wir das kritisieren, und wenn sie eine gute
Finanzpolitik machen, dann können sie stolz darauf sein.
({10})
Ich hoffe, dass viel von dem Geld, das die Länder
dann bekommen werden, in Bildung fließt und dass nicht
wieder an anderer Stelle gekürzt wird.
({11})
Kurz: Geld allein sorgt noch nicht für eine bessere Bildung. Die Punkte, die auch uns schon immer wichtig
waren, sind schon mehrmals genannt worden: Vergleichbarkeit, Leistung, Erleichterung des Wechsels in ein anderes Bundesland. All das sind Dinge, über die wir gerne
reden. Der richtige Weg dazu ist ein Staatsvertrag. Das
wäre ein erster Schritt. Gucken wir doch einmal, ob wir
da zusammenkommen! Wenn das gelingt, haben wir etwas erreicht, und vielleicht kann man darauf dann noch
aufbauen.
({12})
Es ist niemand dagegen, Herr Rossmann, dass wir sagen: Wir wollen in der Flüchtlingsproblematik weiterhin
zusammenarbeiten, wieder ein Projekt auflegen. Das ist
keine Sache des Grundgesetzes. Das können wir untereinander so vereinbaren, und wir werden in dieser Sache
viel tun.
Aber eines werden wir nicht tun: Wir werden nicht das
Grundgesetz ändern, um linken Ideologien nachzugehen,
sondern wir wollen auch weiterhin zielgerichtet und
treffsicher unsere Bildungspolitik hier machen, damit
auch das Jahr 2016 ein erfolgreiches Jahr für die Bildung
in Deutschland wird.
({13})
Vielen Dank. - Als letzte Rednerin in dieser Debatte
hat Daniela De Ridder für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und
Herren! Als mir angekündigt wurde, dass die Linke über
das Kooperationsverbot sprechen wolle,
({0})
habe ich mich sehr gefreut. Meine Freude wurde allerdings ein klein wenig getrübt, als ich Ihren Antrag gelesen habe: großes Potpourri mit vielen Ideen und von
allem etwas. Gleichwohl: Ihre Einladung zur Diskussion
nehmen wir in der SPD-Fraktion sehr gern an; Sie haben
es eben schon bei Ernst Dieter Rossmann gehört. Richtig
ist, dass in der Tat schon der Begriff „Kooperationsverbot“ deutlich macht, mit welchem Irrsinn wir es hier eigentlich zu tun haben.
Herr Schipanski, es geht darum, dass Bund und Länder nicht dauerhaft und nicht offiziell miteinander ins
Gespräch kommen und zusammenarbeiten können.
({1})
In anderen Ländern - wenn Sie Auslandsreisen machen,
werden Sie das sehen - versteht das kein Mensch.
({2})
Wir reden gern über Bildungsketten - das tun wir auch
in der Großen Koalition zur Genüge -: über frühkindliche Bildung, berufliche Bildung - darüber haben wir
heute Morgen diskutiert -, Hochschulbildung. Dass wir
bei diesen Bildungsketten auf Bundesseite ausgerechnet
über die schulische Bildung nicht sprechen sollen, das
erschließt sich mir nicht.
Sie gehen dabei gern auf die Situation der Länder
ein - das ist richtig; das ist gut so -, aber wir sollten doch
jetzt auch vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen - ich meine damit die Integrationspolitik einmal gucken, ob wir nicht mit bisherigen Weisheiten
aufräumen müssen.
({3})
Ich will zugeben - lassen Sie mich das ausdrücklich
vor dem Hintergrund der Aktuellen Stunde von gestern
sagen -: Mich beunruhigen die Ereignisse von Köln außerordentlich. Ich verstehe, ehrlich gesagt, nicht, warum
sich angesichts der großen Herausforderung, die wir in
der Integrationspolitik haben, jetzt nur diejenigen zu
Wort melden, die offensichtlich eine repressive Politik
verfolgen. Verstehen Sie mich nicht falsch! Ich finde,
es ist richtig, dass wir das Sexualstrafrecht reformieren,
dass wir Gewalt gegen Frauen, insbesondere sexualisierte Gewalt, hart bestrafen. Aber wir können doch als
Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker zu diesen
Ereignissen nicht schweigen. Deshalb, denke ich, müssen wir auch an der Stelle über Schulpolitik, über das
Kooperationsverbot und insbesondere über das Fallen
des Kooperationsverbotes sprechen.
({4})
Lassen Sie eine Zwischenfrage zu, Frau De Ridder?
Ja, gern.
Danke schön, Frau Präsidentin. - Liebe Kollegin,
haben Sie genaue Vorstellungen? Können Sie vielleicht
etwas entwickeln, so auf die Schnelle, in den drei Minuten, so nebenher? Als Kölnerin interessiert mich das. Ich
habe auch Vorstellungen. Das wäre einmal interessant zu
hören; das passt jetzt.
({0})
Das ist jetzt natürlich eine Herausforderung. Ich verstehe Ihre Frage, liebe Frau Scho-Antwerpes, dahin gehend, dass wir noch einmal überlegen müssen: Was heißt
denn Integrationspolitik vor dem Hintergrund der Schulpolitik? Wir sehen an den Kölner Ereignissen - das werden insbesondere Sie als Kölnerin bestätigen können -,
dass wir hier offensichtlich ein Genderproblem haben.
Welche Einrichtung, wenn nicht die Schule, ist besonders dazu aufgerufen, genau dieses Thema aufzugreifen
und deutlich zu machen, wie sich die Geschlechter zueinander verhalten? Warum soll man Schülerinnen und
Schülern das nicht beibringen?
Im Übrigen geht es darum, Lehrerinnen und Lehrern
zu vermitteln, hier beispielsweise über Diversität zu
sprechen und möglicherweise auch über Vorurteile zu
sprechen, die gerade auch Lehrerinnen und Lehrer haben - sicher nicht alle -, besonders was Schülerinnen
und Schüler mit Migrationshintergrund angeht, und die
abgeräumt werden müssen. Ich denke, da können wir ansetzen.
({0})
Richtig ist vor allem, dass wir aus den Fehlern der
Vergangenheit lernen müssen und sie nicht wiederholen
dürfen. Nach zehn Jahren Kooperationsverbot, meine
ich, ist das endlich angesagt. Die Hochschulreform - das
werden die Kolleginnen und Kollegen aus der Union zugeben - war doch richtig. Aber wir dürfen nicht dabei
stehen bleiben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, der
beste Weg aus der Armut - das ist keine Erfindung von
mir - ist der Schulweg. Ihn müssen wir beschreiten. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern auch um gute
Ideen sowie darum, dass wir einen Bildungs- und Wertekanon entwickeln. Das ist doch Ihre Debatte an dieser
Stelle.
Ich freue mich also darüber, dass wir die Diskussion
annehmen. In der Tat sollten wir alle gemeinsam auch
auf unsere Landespolitiker zugehen, das mit ihnen diskutieren und sie ermutigen, jetzt das Richtige und das Gebotene zu tun. Seien wir also tapfer und mutig! Beweisen
wir Größe! Nur Mut, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie schaffen das schon.
({1})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/6875 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Damit ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Menschenrechte und
humanitäre Hilfe ({0}) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Luise Amtsberg,
Omid Nouripour, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stärken
Drucksachen 18/4430, 18/6433
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich darf die Kolleginnen und Kollegen bitten, ihre
Plätze einzunehmen, damit wir in unserer Sitzung fortfahren können. - Auch die Kollegen von der SPD-Fraktion mögen bitte ihre Gespräche einstellen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner in dieser
Aussprache hat Frank Schwabe von der SPD-Fraktion
das Wort.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben dankenswerterweise den Antrag der Grünen
zum Thema „Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen“ vorliegen. Er gibt Gelegenheit, am heutigen Abend
noch einmal gemeinsam auf das zurückzublicken, was
2015 unter der Präsidentschaft Deutschlands im Menschenrechtsrat passiert ist.
In der Tat brauchen wir Verbesserungen im Menschenrechtsrat. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir den
Menschenrechtsrat noch gar nicht so lange haben. Dass
wir ihn jetzt haben, ist zumindest schon eine Verbesserung, nachdem wir vorher nur eine Menschenrechtskommission hatten.
Wir haben als zentrales Element des Menschenrechtsrats mittlerweile das sogenannte UPR-Verfahren. Das
hört sich kompliziert an, heißt aber nur, dass die Staaten
der Vereinten Nationen regelmäßig auf ihre menschenrechtlichen Standards überprüft werden.
Trotzdem ist noch viel zu tun. Deswegen ist es auch
gut, dass es diesen Denkanstoß der Grünen gibt, dem wir
heute zwar nicht zustimmen können, den wir aber als
Denkanstoß aufnehmen, um ihn entsprechend weiter zu
diskutieren.
Ich meine, dass Deutschland sich wirklich um die
Stärkung des Menschenrechtsrats kümmert und auch
Erfolge zu verzeichnen hat. In gewisser Weise wird das
wahrscheinlich auch dadurch gewürdigt, dass wir jetzt
zum dritten Mal in den Menschenrechtsrat gewählt worden sind und von 2016 bis 2018 wiederum Mitglied dieses wichtigen Gremiums sind - auch wenn ich zugeben
muss, dass die Wahl in dieses Gremium nicht immer dafür steht, dass man höchste menschenrechtliche Integrität
an den Tag legt, wie man sieht, wenn man sich einmal die
einzelnen Mitglieder anschaut.
2015 hatte Deutschland den Vorsitz des Menschenrechtsrats inne. Unser Dank geht wirklich - das kann
ich, glaube ich, für das ganze Haus sagen - an Botschafter Joachim Rücker, der dem Menschenrechtsrat seinen
Stempel aufgedrückt hat und Deutschland dort würdig
vertreten hat.
({0})
Es waren seine vermittelnde Amtsführung, seine Dialogorientierung, der Versuch der Konsensbildung und die
Stärkung der aktiven Rolle der Zivilgesellschaft, die diese Präsidentschaft besonders ausgezeichnet haben - auch
wenn das nicht immer so einfach ist und es auch in einer
solchen Amtsführung Widersprüche gibt, die Joachim
Rücker in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung im
September des letzten Jahres selbst benannt hat, in dem
er die Gratwanderung im Umgang in diesem Menschenrechtsrat beschrieben hat und gefragt hat:
Gestalten wir eine Resolution so, dass im Menschenrechtsrat ein Konsens möglich wird, oder lassen wir es auf eine Kontroverse und eine Abstimmung ankommen?
Es ist eigentlich egal, wie man es macht, weil die Welt
so ist, wie sie ist. Am Ende gibt es bei beiden Verfahren auch schlechte Ergebnisse und entsprechende Kritik.
Beim Thema Irak war es so, dass der Weg gewählt wurde, einen Konsens herbeizuführen, dem am Ende auch
der Irak zustimmen konnte. Dort gab es am Ende, wie
ich finde, durchaus berechtigte Kritik daran, dass zwar
die Gräueltaten des Daesh benannt worden sind, aber
entsprechende Gräueltaten von schiitischen Milizen zumindest nicht ausreichend benannt worden sind. Das war
sozusagen durchaus ein an manchen Stellen fragwürdiges Ergebnis eines solchen Konsensverfahrens.
Es gab aber auch das andere Verfahren, bei dem nämlich eine Resolution Ägyptens, die nun wirklich nicht annahme- und konsensfähig war, im Konflikt abgestimmt
wurde und wir am Ende leider beschämenderweise die
Verabschiedung einer Resolution hatten, die Menschenrechtsfragen im Rahmen von Terrorbekämpfung relativiert. Das war sozusagen das Ergebnis eines Konfliktverfahrens. Aber noch einmal: Das ist eben die reale Welt,
wie wir sie haben. Wir haben 47 Mitgliedstaaten in diesem Menschenrechtsrat, und die meisten sind eben keine
lupenreinen Demokratien.
Die Menschenrechte sehen sich gerade zurzeit besonderen Belastungen ausgesetzt. Im Zuge von weltweiten
Krisen, aber auch mitten in Europa und in Deutschland
werden Menschenrechte zunehmend infrage gestellt.
Es gibt eine wachsende Zahl von Staaten weltweit mit
repressiver Gesetzgebung gegenüber Vereinigungen
der Zivilgesellschaft, sogenannten NGOs. Das findet
man leider in allen Teilen der Welt. Da macht leider das
schlechte Beispiel Schule.
Der Menschenrechtsrat hat in seiner letzten Sitzung
am Ende des vergangenen Jahres China, Russland, Saudi-Arabien und Kambodscha besonders kritisch diskutiert. Man könnte aber auch Staaten des Europarats wie
die Türkei oder Aserbaidschan hinzufügen und lateinamerikanische Staaten wie Ecuador. Aber auch in anderen Teilen der Welt würden einem leider eine Menge
Beispiele einfallen. Auf der einen Seite sind die Menschenrechte also besonderen Belastungen ausgesetzt.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch ein wachsendes
Bewusstsein für die Bedeutung von internationaler Politik und dafür, dass man zu Hause auf Dauer nicht ordentlich leben kann, wenn Menschen in anderen Teilen der
Welt nicht ordentlich leben können. Das ist sozusagen
Außenpolitik und menschenrechtsorientierte Politik, wie
wir sie, glaube ich, verstehen sollten.
({1})
Dabei sind die Menschenrechte eben nicht irgendein
Hindernis nationaler oder internationaler Politik, sondern
sie sind eigentlich das, worum es geht, warum wir im
Kern Politik betreiben. Man kann es auch mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede vor dem
Menschenrechtsrat im März des letzten Jahres sagen:
Denn Missachtungen und Verletzungen der Menschenrechte sind nicht nur Folge, sondern Ursache
von Konflikten. Wo Menschenrechte systematisch
in Frage gestellt sind, bahnen sich soziale und politische Krisen an, ist Unfrieden praktisch vorprogrammiert.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Fortschritte
in Menschenrechtsfragen - ich glaube, das müssen wir
uns gerade vor dem Hintergrund aktueller Debatten klarmachen - sind gerade in Zeiten schwerster menschlicher
Tragödien oder nach schwersten menschlichen Tragödien entwickelt worden. Dazu gehören sicherlich die Vereinten Nationen als solche mit ihren unterschiedlichen
Konventionen. Dazu gehören aber auch - das will ich
hier noch einmal besonders betonen - die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Sie sind entstanden nach bitterster, schwerster Zeit, und sie sind gemacht worden für schwierigste
Zeiten. Sie sind eben nicht dafür gemacht worden, in
schwierigsten Zeiten genau diese Konventionen infrage
zu stellen, sondern dafür, sie in diesen schwierigen Zeiten zur Geltung zu bringen. Deshalb müssen sie gerade
jetzt für uns Leitschnur unseres Handelns sein. Ich bin
mir ganz sicher, dass wir uns aktuell genau daran messen lassen müssen und dass wir uns auch im historischen
Rückblick auf die aktuelle Situation genau daran messen
lassen müssen, ob wir in diesen schwierigen Zeiten Menschenrechte und ihre Standards zur Geltung gebracht haben.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Inge Höger spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Viele von uns verfolgen zurzeit die Hilfsaktivitäten, die
viel zu spät im syrischen Madaja beginnen. Hungernde
Menschen erhalten das erste Mal seit Oktober Unterstützung mit Lebensmitteln und medizinische Hilfe. Das
gezielte Aushungern von Zivilpersonen ist nicht nur ein
Angriff auf die Menschenrechte, es ist völkerrechtlich
gesehen ein Kriegsverbrechen.
Dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Institution wie dem UN-Menschenrechtsrat. Schon im Juni
2015 hatte dieser in einem Bericht zu Syrien darauf hingewiesen, dass alle Konfliktparteien in diesem Krieg das
systematische Aushungern als Kampfmethode einsetzen.
Es zeigt sich damit sogleich eines der Probleme bezüglich der Handlungsfähigkeit des Menschenrechtsrates.
Erst nach einem halben Jahr wurde der diplomatische
Druck so stark, dass Hilfe für die Menschen gestartet
werden konnte.
Der Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrates
für die israelisch besetzten Gebiete trat vor kurzem zurück, weil ihm von Israel der Zugang zum Gazastreifen
und zu Teilen des Westjordanlandes verweigert wurde.
Seine Bemühungen, das Leben von palästinensischen
Opfern der israelischen Besatzung zu verbessern, seien immer wieder zunichtegemacht worden, erklärte
Makarim Wibisono.
Die Beispiele zeigen, dass der Menschenrechtsrat gestärkt werden muss. Das eklatante Missverhältnis zwischen der Analyse einer menschenrechtlichen Notlage
oder von Verstößen gegen die Menschenrechte und der
politischen Handlungsfähigkeit muss überbrückt werden.
({0})
Deswegen begrüßt die Fraktion Die Linke den vorliegenden Antrag ganz ausdrücklich.
Der Menschenrechtsrat erhält gerade einmal 40 Prozent seiner laufenden Kosten aus dem Budget der Vereinten Nationen. Der große Rest ist abhängig von der
Bereitschaft der Mitgliedstaaten, zusätzliche Beiträge
zu leisten. Diese sind jedoch nicht selten an inhaltliche
Schwerpunkte geknüpft. Das schränkt die Handlungsfähigkeit des Rates ein.
Der momentan diskutierte Vorschlag, den Anteil des
Menschenrechtsrates am UN-Budget von 3 auf 5 Prozent
zu erhöhen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Dies
darf allerdings nicht zulasten anderer wichtiger Aufgaben der Vereinten Nationen gehen.
Menschenrechtsarbeit ist nur glaubwürdig, wenn
Themen weniger nach politischer Opportunität als nach
tatsächlicher Dringlichkeit behandelt werden. Niemand
kann bestreiten, dass es keine Instanz gibt, die eine hundertprozentig objektive Liste erstellen könnte, was auf
die Tagesordnung des Rates gehört und was nicht. Und
alle hier wissen, dass Menschenrechtsfragen politisch
instrumentalisiert werden können und auch werden.
Deswegen sind unabhängige Mechanismen für die Befassung mit Menschenrechtssituationen und die Stärkung
von Sonderberichterstattern und Sonderverfahren zu begrüßen.
Die Zusammensetzung des Menschenrechtsrates, in
dem auch zahlreiche autoritäre Staaten vertreten sind,
hat immer wieder zu Kritik geführt. Es wäre aber absurd,
wenn sich nur demokratische Staaten treffen würden. Das
würde auch ausblenden, dass angebliche Musterstaaten
Leichen im Keller haben. Deutschland selbst hat längst
nicht alle menschenrechtsrelevanten Konventionen und
Zusatzprotokolle unterzeichnet. Der Schutz der Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen oder der Schutz von
Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren vor Rekrutierung in die Bundeswehr sind zwei von mehreren Baustellen des Menschenrechtsschutzes in Deutschland.
Ohne den Druck der UN wäre es im letzten Jahr wahrscheinlich kaum gelungen, dem Deutschen Institut für
Menschenrechte eine gesetzliche Grundlage zu geben.
Völlig unverständlich ist, warum Deutschland sich dagegen sperrt, bei den Vereinten Nationen das Menschenrecht auf Frieden zu verankern.
Die Debatten und die regelmäßigen Überprüfungsverfahren im Rat sind also sinnvoll und notwendig und
haben auch immer wieder positive Effekte - für alle Beteiligten. Gerade in Zeiten, in denen auch in EU-Staaten
Menschen- und Freiheitsrechte gefährdet sind, brauchen
wir dringlicher denn je eine Instanz wie den UN-Menschenrechtsrat. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, die Bedingungen für seine Arbeit zu verbessern.
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Frank Heinrich
von der CDU/CSU das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wann, wenn nicht jetzt, in diesen Zeiten, sind
die Vereinten Nationen und ihre Institutionen zu stärken - gerade weil wir jetzt Dinge erleben, durch die wir
einiges bedroht sehen? Zum einen sehen wir die Weltsicherheitslage bedroht. Da fallen uns allen wahrscheinlich die gleichen Schlagworte ein: Syrien, Nordirak, die
Ukraine, verschiedene Regionen Afrikas, die Fluchtbewegungen, der näher rückende Terror. „Näher“ ist hier
subjektiv. Istanbul, Paris, Jakarta, Kairo und einige andere Orte sind hier zu nennen. Auch die Menschenrechte
sehen wir bedroht, nicht nur in einzelnen Situationen. Da
könnte man jetzt konkret die Todesurteile in Saudi-Arabien und den Fall des Bloggers Raif Badawi nennen, aber
auch den Angriff auf die sexuelle Selbstbestimmung vor
unserer eigenen Haustür, in Köln, in der vorletzten Woche. Wir, die im Menschenrechtsausschuss mitarbeiten,
haben auch immer wieder Einzelpersonen vor Augen.
Insofern wiederhole ich: Es ist wichtiger denn je, die
Rolle der Vereinten Nationen zu stärken. Deshalb ist es
gut, das Thema auch durch solch eine Debatte ins Bewusstsein zu rufen, und das auch noch - Herr Kekeritz,
Sie haben es vorhin gesagt - zu einer angemessenen Zeit,
zu der auch noch zugehört wird. Das beginnt aber eben
nicht hochpolitisch, hier in unserem Hohen Haus, sondern bei der Wahrnehmung in den Köpfen der Menschen,
eben bei der Bewusstseinsbildung. Es ist also gut, das
Thema auf der Tagesordnung zu haben, auch wenn wir
nicht in allen Punkten mit dem Antrag übereinstimmen aus zwei Gründen, auf die ich gleich noch kommen werde.
Zu Beginn nenne ich einige der Grundlagen; ein paar
Kollegen haben sie schon genannt. Die Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 hatte ziemlich großen
Einfluss auf uns als Bundesrepublik Deutschland. Sie
stand Pate für unser Grundgesetz, ein Grundwert, der in
der aktuellen Flüchtlingsdebatte immer wieder bemüht
wird - zu Recht. Darum will ich ein paar grundlegende
Passagen aus der Gründungsurkunde der Vereinten Nationen zitieren, eben weil es so aktuell ist:
WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN - FEST ENTSCHLOSSEN,
künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu
bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann
und Frau sowie von allen Nationen, ob groß
oder klein, erneut zu bekräftigen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen
aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,
den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern …
HABEN BESCHLOSSEN, IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE
ZUSAMMENZUWIRKEN.
In Artikel 1 setzten sich die Vereinten Nationen dann
diese Ziele:
den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu
wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken
und internationale Streitigkeiten oder Situationen,
die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch
friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen …
So viel zum Zitat.
Heute, 70 Jahre später, spürt man zwischen den Zeilen
immer noch diesen Idealismus. Ein solcher Idealismus
muss aber mit einem politischen Realismus einhergehen.
Er besteht im Jahr 2016 auch in der Notwendigkeit, die
Vereinten Nationen zu stärken, damit die Inhalte dieser
genialen Charta am Schluss nicht in Zynismus umschlagen.
Es folgten weitere Schritte in der Entwicklung der Vereinten Nationen: 1945 wurde die Menschenrechtskommission eingesetzt und 2006 - Frank Schwabe, du hast es
vorhin gesagt - durch den Menschenrechtsrat ersetzt. Der
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen setzt sich aus
47 Mitgliedstaaten zusammen, hat ein umfassendes Mandat zur Behandlung von Menschenrechtsverletzungen in
einzelnen Ländern sowie zur Abgabe von Empfehlungen
und berichtet unmittelbar an die Hauptversammlung.
Zum dritten Mal seit der Gründung der Institution
2006 ist Deutschland von der Generalversammlung in
den Menschenrechtsrat gewählt worden, und zwar für
den Zeitraum 2016 bis 2018. Zudem leitete im letzten
Jahr, 2015, der deutsche Diplomat Joachim Rücker als
Präsident den Menschenrechtsrat. Der Menschenrechtsrat hat folgende wesentliche Aufgaben: alle Menschenrechte und Grundfreiheiten zu schützen und zu fördern,
sich mit Menschenrechtsverletzungen zu befassen, Empfehlungen abzugeben, Menschenrechtsfragen in das System der Vereinten Nationen zu integrieren sowie zur Weiterentwicklung des Völkerrechts beizutragen. Das ist in
vielen Fällen gelungen; es ist gerade in der Rede genannt
worden und steht auch in Ihrem Antrag. Da heißt es an
einer Stelle:
Dem Menschenrechtsrat ist es in den letzten Jahren
trotz aller Schwächen immer wieder gelungen, dieser Rolle gerecht zu werden.
Einige Beispiele aus dem Antrag sind: das Recht auf
Wasser, was mir ganz besonders nah ist, das Recht auf
gleichgeschlechtliche Partnerschaften, die Teilnahme an
der Zivilgesellschaft als integraler Teil der Arbeit des
Rates und das Instrument des Allgemeinen Überprüfungsverfahrens, Universal Periodic Review. Ergänzen
könnte man: Einsetzung des Sonderberichterstatters zur
Bekämpfung der Straflosigkeit im Jahr 2011 und damit
ein Mandat zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern. Wir haben vor einigen Wochen über dieses Thema
diskutiert.
Noch einmal zu Ihrem Antrag. Er enthält eine Passage, bei der ich mich frage: Da die Dinge schon existent
sind, warum sollten wir sie dann fordern? Da steht:
Diese Chance
- also der Vorsitz im letzten Jahr kann die Bundesregierung nutzen, indem sie sich
für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und
Arbeitsweise des Rates einsetzt, seiner Politisierung entgegenwirkt, über Regionalgruppen hinweg
diplomatische Allianzen aufbaut, innovative Themenschwerpunkte setzt und auch im Inland den
Menschenrechtsschutz weiterhin ernst nimmt und
damit ihre Glaubwürdigkeit international unter Beweis stellt.
Was das betrifft, würde ich sagen - und da gebe ich
meinem Kollegen Schwabe recht -: Wir sind den größten Teil des Weges gegangen. Die Bundesregierung hat
sich während der deutschen Mitgliedschaften dafür eingesetzt, das Profil des Rats als zentrales Gremium und
Frühwarnmechanismus des internationalen Menschenrechtsschutzes zu schärfen.
Zu den Forderungen der Bundesregierung, die sie
auch eingebracht hat, gehörte, dass der Menschenrechtsrat konsequent kritische Menschenrechtssituationen ansprechen soll - das tut er inzwischen - und dazu alle ihm
verfügbaren Instrumente wie die gerade genannte universelle Staatenüberprüfung, Sonderberichterstatter und
Sondersitzungen nutzen soll. Er sollte nicht nur Impulsgeber sein für neue Menschenrechtsstandards, sondern
sich auch stärker der Umsetzung von Menschenrechtsstandards zuwenden.
({0})
Die Bundesregierung nutzte den Vorsitz außerdem
dazu, als Brückenbauer zu wirken - so steht es im Antrag
der Grünen, aus dem ich eben schon zitiert habe -, dessen
Aufgabe auch darin besteht, der zunehmenden Polarisierung des Menschenrechtsrates entgegenzuwirken; dieses
Argument wurde eben schon angeführt. Ein besonderes
Augenmerk richtete der Vorsitz auf die Wahrung und
Stärkung von Beteiligungsmöglichkeiten von Nichtregierungsorganisationen, auch im Menschenrechtsrat
selbst.
Darüber hinaus hat die Koalition mit der Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für das Deutsche Institut für
Menschenrechte - auch das thematisieren Sie in Ihrem
Antrag - unterstrichen, dass Deutschland den Menschenrechtsschutz auch hier im Inland ernst nimmt, auch wenn
das einiges an Ringen bedeutet hat.
Wir unterstützen Menschenrechtsverteidiger weltweit
intensiv in ihrer Arbeit. Die Regierung wie auch wir als
Parlament beobachten kontinuierlich und engmaschig
deren Lage und arbeiten daran, das System noch weiter
zu verbessern. Wir kooperieren hier sehr stark mit anderen Staaten der Europäischen Union. Zudem setzt sich
die Bundesregierung bei den Regierungen anderer Staaten häufig für Menschenrechtsverteidiger ein; wir haben
auf viele Einzelfälle hingewiesen. Ihr Schutz ist wichtig - und wird es auch bleiben - und gehört als integraler
Bestandteil in den Aktionsplan der Bundesregierung.
Da der Antrag genau die von mir genannten Aktivitäten benennt und einfordert, obwohl vorhanden, und da
Sie sich mit den Bezügen auf die deutsche Präsidentschaft zeitlich überholen, haben wir uns entschlossen das ist die logische Konsequenz -, ihn abzulehnen.
Wie zu Beginn meiner Rede angekündigt, möchte ich
zwei konkrete Punkte benennen, denen wir zustimmen.
Erstens. Sie kritisieren in Ihrem Antrag die andauernde
Unterfinanzierung des Rates. Tatsächlich beträgt der Anteil nur 3 Prozent des VN-Kernbudgets. Frau Höger, Sie
haben es angesprochen: Damit können nur 40 Prozent
der Kosten gedeckt werden. Wir freuen uns darüber, dass
der Anteil nun auf 5 Prozent aufgestockt wird. Auch Herr
Rücker hat das empfohlen.
Der zweite Punkt ist die ständig drohende Politisierung der Arbeit; auch das ist richtig. Das Gesamtproblem
der Vereinten Nationen ist, dass Resolutionen - wir haben das Beispiel Syrien gut in Erinnerung - politisch moFrank Heinrich ({1})
tiviert geblockt werden. Und doch gilt, was der deutsche
Präsident Rücker im September gegenüber der Süddeutschen Zeitung gesagt hat: Was wäre denn, wenn wir uns
auf internationaler Ebene ausschließlich mit denen, die
es gut machen, zusammensetzen? Ich meine, das wäre
ein reiner Club von Gleichgesinnten und würde nichts
bringen. - Wir unterstützen die Forderung, dass die Indikatoren, von denen auch Sie gesprochen haben, entwickelt werden und dazu beitragen, die Tagesordnung des
Rates nach objektiven Kriterien zu gestalten.
Ich komme zum Schluss. Das Unwort des letzten Jahres lautet - es ist uns allen präsent, auch durch die Nachrichten dieser Woche -: Gutmensch. Beim Menschenrechtsrat geht es aber nicht darum, irgendwie einfach mal
gut zu sein. Was schlimmer ist, ist, dass dabei auch das
Wort „naiv“ mitschwingt. Die Vereinten Nationen haben drei Kernaufgaben: Menschenrechte, Sicherheit und
Entwicklung gewährleisten. Diese drei gehören nahtlos
zueinander: Ohne nachhaltige Entwicklung keine Sicherung der Menschenrechte und keine Beseitigung von
Fluchtursachen und in der Folge Bedrohung der Sicherheit, auch bei uns in Europa und Deutschland.
Die Vereinten Nationen in allen Bereichen zu stärken,
liegt in unserem ureigenen Interesse. Dazu werden wir
auch die erneute Mitgliedschaft im Menschenrechtsrat
nutzen.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({2})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in der Aussprache
hat Tom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Diskussionen im Menschenrechtsrat sind
äußerst kompliziert. Das ist hier von verschiedenen Kollegen auch besprochen worden. Eines der Probleme des
Menschenrechtsrates ist, dass da sehr verschiedene Staaten drin sind, aber glücklicherweise sind sie drin, weil
man ja Brücken bauen will. Das erfordert aber einiges
an Kooperationswilligkeit und -fähigkeit. Was dem immer wieder entgegensteht, ist eine Politisierung oder eine
Machtpolitik, die an die Stelle von Sachpolitik tritt, dass
also nicht über die Menschenrechte selbst, zum Beispiel
über das Menschenrecht auf Wasser, geredet wird, bei
dem es einen breiten Konsens geben könnte, sondern
man in Blöcken denkt. Das hindert die vernünftige Debatte.
Schon in der Charta steht - Herr Heinrich hat es eben
gesagt -, dass das Ziel das Zusammenwirken ist. Da ist
einiges notwendig; da muss man auch über seinen Schatten springen. Der Menschenrechtsrat schöpft da - das hat
Botschafter Rücker gesagt - sein Potenzial bedauerlicherweise nicht aus.
Die Tatsache, dass bei dem Antrag, den wir heute hier
vorgelegt haben, in 90 Prozent der Dinge ein Konsens
ist, es aber keine Möglichkeit gibt, im Menschenrechtsausschuss Brücken zu bauen und hier zu einer gemeinsamen Resolution zu kommen, der wir alle zustimmen
und damit natürlich auch den Menschenrechtsrat in Genf
stärken, ist ein Ausdruck von unnötiger Polarisierung,
unnötiger Politisierung und von Machtpolitik in unserem
Menschenrechtsausschuss. Das Potenzial des Menschenrechtsausschusses wird da nicht ausgeschöpft.
({0})
Da können Sie hier noch so oft sagen, dass wir uns ja alle
einig sind.
Ein zweiter Punkt, der den Menschenrechtsrat hemmt,
sind Double Standards. Das sind unterschiedliche Kriterien, die angewendet werden. Da kommt der Westen
von ganz oben mit seiner großen Wertegemeinschaft,
vom moral high ground, und wird dann wiedergefunden
in Abu Ghuraib und Guantánamo. Das sind Sachen der
Inkohärenz und der Unglaubwürdigkeit. Um da Gemeinsamkeit einzuführen, ist in dem neuen Menschenrechtsrat das universelle Staatenüberprüfungsverfahren eingeführt worden; diese Möglichkeit hatte die Kommission
noch nicht. Da gibt es die gleichen Standards für jeden.
Wir können Bemerkungen zu anderen Ländern machen;
andere Länder können Bemerkungen zu uns machen. Wir
müssen aber jede einzelne Bemerkung, die über unsere
Performance in Menschenrechtsfragen gemacht wird die sehr viel besser sein kann als woanders -, so ernst
nehmen, wie wir wollen, dass die anderen Länder die
Bemerkungen, die wir machen, ernst nehmen. Das ist die
Kunst.
({1})
Dann müssen wir zum Beispiel auch in die allgemeine Politik übernehmen, ob ein Land die Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats empfängt oder nicht.
Das Reden über Menschenrechte bei Wirtschaftsdelegationen zum Beispiel heißt nicht nur: „Ja, die Menschenrechte ...“, sondern heißt auch: Empfangen Sie die Delegationen, die Instrumente des Menschenrechtsrats, in
Saudi-Arabien, wenn wir mit Ihnen Wirtschaft treiben? Das wäre eine Aufgabe, die Brücken bauen könnte und
die auch die Kohärenz unserer Politik einfordert. Da ist
noch sehr viel zu tun. Da müssten wir zusammenarbeiten.
Ich könnte mir vorstellen, dass wir den Menschenrechtsrat auch dadurch stärken, indem wir kohärenter
sind, indem wir mehr bereit sind, Brücken zu bauen, und
indem wir die Standards, die wir an andere legen, auch an
uns anlegen und auch ertragen, dass sie an uns angelegt
werden, also dass wir das, was wir in der einen oder anderen Form predigen - Gottes Wort hat ja Herr Heinrich
verkündet eben aus der Charta -, auch selber so sehen.
Dass sich der Menschenrechtsausschuss immer wieder
blockiert, heißt, er bleibt unter seinen Möglichkeiten. Es
muss ja auch möglich sein, gemeinsame Resolutionen
zwischen CSU und den Linken zu machen, wenn wir einer Meinung sind.
({2})
Frank Heinrich ({3})
Vielen Dank. - Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zu dem
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6433, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 18/4430 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? Wer stimmt dagegen? - Enthält sich jemand? - Damit ist
diese Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposition angenommen
worden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Debatte.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 15. Januar 2016, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen, und ich wünsche Ihnen
noch einen schönen Abend.