Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Bitte bleiben Sie noch einen
Augenblick von Ihren Plätzen erhoben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Gestern ist Shimon Peres im Alter von 93 Jahren
gestorben. Wir trauern mit den Menschen in Israel um
einen bedeutenden Staatsmann und Friedensnobelpreisträger, der uns als unermüdlicher Mittler zwischen den
Völkern unvergessen bleibt.
Shimon Peres war überzeugt davon, dass sich Konflikte dauerhaft nicht mit Waffen, sondern nur mit Vereinbarungen und Verträgen lösen lassen. Dafür setzte er
sich mit ganzer Kraft ein, als Außenminister, als Ministerpräsident und als Staatsoberhaupt. Im Verhältnis zu
den Deutschen brauchte es noch mehr - das wusste gerade Shimon Peres, dessen Großvater und andere Familienmitglieder in der Shoah auf brutale Weise ermordet
worden waren.
In unserem jungen Staat
- hat Shimon Peres nach der Staatsgründung einmal gesagt überwog die Auffassung, dass der Bruch mit
Deutschland endgültig und für ewig sein müsse.
Umso dankbarer sind wir denen, die dazu beitrugen,
dass trotz der tiefen Gräben zwischen beiden Völkern
wieder Vertrauen aufgebaut und die Grundlagen dafür
gelegt wurden, was man heute die „besonderen Beziehungen“ zwischen Israel und Deutschland nennt. Shimon
Peres war einer dieser Brückenbauer über den „Abgrund
der Geschichte“, die unser Land mit Israel verbindet.
Die Shoa
- sagte Peres, als er im Januar 2010 am Gedenktag für die
Opfer des Nationalsozialismus hier im Deutschen Bundestag sprach muss dem menschlichen Gewissen stets als ewiges
Warnzeichen vor Augen stehen: als Verpflichtung
zur Heiligkeit des Lebens, zur Gleichberechtigung
aller Menschen, zur Freiheit und zum Frieden.
Diese Worte sind nicht nur der bleibende Appell an
alle, die heute und zukünftig Verantwortung dafür tragen,
gegen jede Form der Ausgrenzung und Diskriminierung
aufzustehen. Seine Worte drückten auch aus, nach welcher Maxime er selbst handelte: sich für die gleichen
Rechte aller Menschen einzusetzen - egal welcher Herkunft oder Religion.
Unvergessen ist mir und sicher vielen von Ihnen, die
damals dabei gewesen sind, vor allem ein Satz seiner
Rede, der mich tief bewegt hat:
Die Shoa darf uns aber auch nicht davon abhalten,
an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das
Leben.
Eine Botschaft von ungebrochener Zuversicht und berührender Menschlichkeit - das geistige Erbe einer bemerkenswerten Persönlichkeit.
Wir Deutsche sind Shimon Peres zu großem Dank
verpflichtet und werden ihm ein ehrendes Gedenken bewahren.
Ich danke Ihnen.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir in unsere
Tagesordnung eintreten, mache ich Sie auf die interfraktionelle Vereinbarung aufmerksam, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufgeführten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:
Konsequenzen aus Berichten über nicht tragbare Verhältnisse in Tierställen
({1})
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:
Ergebnisse zur Reform der Erbschaftsteuer
ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten SvenChristian Kindler, Tabea Rößner, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Telekomanteile veräußern - In Breitbandausbau investieren
Drucksache 18/9799
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung und Landwirtschaft ({3}) zu dem Antrag der
Abgeordneten Friedrich Ostendorff, Kordula
Schulz-Asche, Harald Ebner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Wirksamkeit von Antibiotika erhalten - Einsatz in der Tierhaltung auf vernünftiges Maß
reduzieren
Drucksachen 18/3152, 18/4704
Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.
Außerdem möchte ich Sie auf einige Umstellungen in
der Tagesordnung aufmerksam machen: Der Tagesordnungspunkt 4 e wird heute abgesetzt. Hier geht es um
eine Beschlussempfehlung zu einem Antrag über Spekulationen mit Immobilien und Land. Der Tagesordnungspunkt 12 soll ebenfalls abgesetzt werden. Stattdessen soll
der Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen werden, wobei
die vorgesehene Redezeit von 25 Minuten für diesen Tagesordnungspunkt beibehalten werden soll. Anstelle des
Tagesordnungspunktes 16 soll der Antrag mit dem Titel
„Telekomanteile veräußern - In Breitbandausbau investieren“ mit einer Redezeit von 25 Minuten debattiert werden.
Schließlich mache ich noch auf drei nachträgliche
Ausschussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunkteliste aufmerksam:
Der am 22. September 2016 ({4}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für Tourismus ({5}) zur Mitberatung
überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Fernstraßenausbaugesetzes
Drucksache 18/9523
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur ({6})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Der am 22. September 2016 ({7}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss Digitale Agenda ({8}) zur Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung des Bundesarchivrechts
Drucksache 18/9633
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien ({9})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss Digitale Agenda
Der am 22. September 2016 ({10}) überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({11}) zur
Mitberatung überwiesen werden:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2012/18/EU zur Beherrschung der Gefahren schwerer Unfälle mit
gefährlichen Stoffen, zur Änderung und anschließenden Aufhebung der Richtlinie 96/82/
EG des Rates
Drucksache 18/9417
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({12})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ich frage Sie, ob Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden sind. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann
können wir so verfahren.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
19. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
Drucksache 18/7888
Hierzu liegt ein gemeinsamer Entschließungsantrag
der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen vor.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Dazu höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
dem Bundesminister des Auswärtigen, Frank-Walter
Steinmeier.
({13})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im
Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen reden
wir in diesen Tagen täglich über Syrien, über Bombardements, über das militärische Lagebild, über die humaPräsident Dr. Norbert Lammert
nitäre Not, die humanitäre Katastrophe, die fast unvermeidbar scheint. Gleichzeitig richten wir Expertentreffen
zum Schutz syrischen Kulturerbes oder Ausstellungen
syrischer Künstler im Berliner Exil aus. Beides, meine
Damen und Herren, hat mehr mit einander zu tun, als es
auf den ersten Blick scheint.
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, über die wir
heute reden, ist nicht „nice to have“, ist nicht irgendwie
eine Schönwetterpolitik, sondern sie ist unverzichtbarer
Bestandteil von Außenpolitik, gerade dann, wenn die
Zeiten schwierig sind und die Partner noch mehr.
Klar ist auch: Innen und Außen lassen sich im 21. Jahrhundert eben nicht mehr längs der Grenzen von Nationalstaaten trennen wie noch im 19. und in großen Teilen des
20. Jahrhunderts. Wir erleben es täglich: Politische Krisen und wirtschaftliche Interessenskonflikte - das sind
die Konflikte des 21. Jahrhunderts - werden zunehmend
unterlegt durch religiöse und ethnische Konflikte, ob sie
die Ukraine nehmen oder Syrien oder die Situation rund
um die großen Seen in Ostafrika - das sind längst nicht
mehr die einzigen Beispiele dafür.
Deswegen gilt: Wenn wir Chancen zur Verständigung
in all diesen Konflikten überhaupt erhalten wollen, dann
spielt Kultur- und Bildungsarbeit, dann spielt die Zusammenarbeit mit den Zivilgesellschaften anderer Länder,
gerade auch in den Krisenregionen, eine entscheidende
Rolle.
({0})
Deshalb haben wir unsere Bemühungen um Kultur
und Bildung im Ausland an zwei entscheidenden Punkten verändert und erweitert. Ich will ganz zu Anfang Ihnen allen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ganz herzlich dafür danken, dass Sie das durch Ihre Unterstützung
möglich gemacht haben.
Erstens wollen wir den Zugang zu Kultur und Bildung
im Ausland erleichtern. Dazu gehört, dass wir helfen, kulturelles Erbe zu schützen. Die Mörder und Räuber vom
IS versuchen im Mittleren Osten, kulturelle Identitäten
radikal auszulöschen. Um dagegen anzugehen, haben wir
international und national die Gesetzgebung, insbesondere die Gesetze gegen die Zerstörung von Kulturgütern
und das Handeln mit gestohlenen Kulturgütern, deutlich
verschärft. Staatsministerin Böhmer hat sich um dieses
Thema als Vorsitzende des Welterbekomitees besonders
verdient gemacht. - Herzlichen Dank, Frau Böhmer.
({1})
Wir tun noch mehr: Mit dem „Syrian Heritage Archive Project“ des Deutschen Archäologischen Instituts und
des Berliner Museums für Islamische Kunst wird erstmalig ein digitales Register archäologischer Stätten in Syrien erstellt, und zwar in Zusammenarbeit mit deutschen,
syrischen und internationalen Wissenschaftskollegen.
Mehr als 100 000 Datensätze haben sie auf diese Weise zusammengetragen. Das wird die Grundlage für eine
spätere Restaurierung, wenn sie denn hoffentlich möglich ist, in Syrien sein.
Mit diesen Initiativen sind wir Vorbild. Aus Frankreich, den USA, Russland und der Türkei hören wir jetzt
den Wunsch nach engerer Kooperation. Ich versichere
Ihnen: Das Deutsche Archäologische Institut und die
Stiftung Preußischer Kulturbesitz arbeiten daran, wie
wir gemeinsam mit den anderen noch besser zum Erhalt
des kulturellen Erbes in dieser Krisenregion im Mittleren
Osten - nicht nur in Syrien, sondern in der gesamten Krisenregion - beitragen können.
Unsere Kulturarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen,
steht dabei nicht isoliert. Wir brüten nicht jeden Tag in
verschlossenen Zimmern über der Frage der Wiederherstellung beschädigter Tempel, während Tag für Tag
Menschen sterben. Nein, unsere Kulturarbeit ist, wie ich
gesagt habe, unverzichtbarer Bestandteil eines umfassenden politischen Ansatzes. Das Engagement - Sie merken
es, spüren es, verfolgen es - reicht vom kräftezehrenden
Ringen um eine politische Lösung des Konflikts über
akute humanitäre Hilfe bis hin zu einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen, etwa zur Aus- und Fortbildung syrischer
Flüchtlinge jenseits der Sprachausbildung. Im vergangenen Jahr haben sich zum Beispiel 20 Organisationen, von
der Deutsch-Jordanischen Universität über den UNHCR
bis zum Deutschen Archäologischen Institut, zusammengefunden. „Stunde Null“ heißt dieses Projekt. So haben
sie dieses Projekt zur Vorbereitung eines Wiederaufbaus
in Syrien genannt. Auch wenn diese „Stunde Null“ derzeit noch in weiter Ferne zu sein scheint, ist es wichtig,
einen Beitrag zu leisten, zum Beispiel durch die Aufnahme von Wissenschaftlern und Studenten hier in Deutschland, die ihre wissenschaftliche Karriere in Syrien angesichts der Kriegsereignisse unterbrechen mussten, oder
durch „Goethe-Institut Damaskus | Im Exil“, einer Veranstaltung, die dieser Tage hier in Berlin eröffnet wird. Mit
all diesen Maßnahmen zeigen wir: Kulturarbeit ist Hoffnungsarbeit, aber sie ist mit Blick auf die einbezogenen
Menschen eben auch Arbeit an ganz konkreten Chancen.
Das steht im Vordergrund der Initiativen unserer Wissenschaftsorganisationen, des DAAD, der Alexandervon-Humboldt-Stiftung, und das gilt weit über Syrien
hinaus. So bemühen sich große deutsche Stiftungen,
etwa nach dem Vorbild der Deutsch-Jordanischen Universität eine Fachhochschule in Ostafrika aufzubauen,
um die Lücke zwischen schulischer und akademischer
Ausbildung zu füllen, um stärker anwendungsbezogen
auszubilden, weil in diesen Regionen ein entsprechender
Bedarf vorhanden ist. Mit Blick auf die Flüchtlingskrise - den wir natürlich von hier aus einnehmen - werden
durch Zugang zu Bildung Perspektiven für die Menschen
in ihrer Heimat geschaffen. Zugang zu Kultur und Bildung ist in weiten Teilen Afrikas und Asiens häufig der
einzige Ausweg aus Armut und Perspektivlosigkeit.
Meine Damen und Herren, die zweite wichtige Veränderung in unserer Arbeit setzt da an, wo der Freiraum
für Kultur und Wissenschaft bedroht ist, dort, wo Unverständnis zu falschen Vorstellungen führt, wo Ideologien
Verständigung untergraben. Gegen Ideologisierung hilft
nur Differenzierung, und dafür brauchen wir kulturelle
Freiheitsräume; denn nur durch Auseinandersetzung, wo
wir sie zulassen und möglich machen, kann am Ende
auch Verstehen und Verständigung entstehen.
({2})
Diese vorpolitischen Freiheitsräume zu schützen, Zugang zu Denk- und Deutungsmustern einer Gesellschaft
zu schaffen, das genau ist unser Ziel, wenn wir zum Beispiel ein deutsch-russisches Jugendjahr veranstalten,
wenn wir Kultur- und Spracharbeit in Saudi-Arabien
leisten, wenn wir mit Kuba um ein Kulturabkommen
ringen und wenn wir gemeinsam mit Frau Grütters und
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz helfen, ein Ausstellungsprojekt mit dem Teheraner Museum für zeitgenössische Kunst auf die Beine zu stellen.
Bei diesem Austausch geht es nicht darum, die Position des anderen zu akzeptieren oder die eigene Position zu relativieren. Aber es darf auch in der Diplomatie
als Erfahrungssatz gelten, dass es unklug ist, das eigene
Handeln zu bestimmen, ohne die Wahrnehmung des Gegenübers zu kennen. Deshalb brauchen wir die kulturelle
Intelligenz, deshalb sitzen wir nicht nur in Konferenzräumen, sondern hören, wo immer es geht, auch Künstlern
und Kulturschaffenden, Angehörigen der Zivilgesellschaft zu.
Die Räume, die wir öffnen, sind durchaus auch wörtlich zu verstehen. Jedes Goethe-Institut, jede Pasch-Schule ist Teil einer kulturellen Infrastruktur, die uns mit den
Partnern in der Welt verbindet. Ich darf Ihnen sagen, das
kostet Geld, ja, aber viel weniger Geld als Verkehrsinfrastruktur, und Gedankenstau ist nicht weniger risikoreich
als Verkehrsstau.
({3})
Deshalb müssen wir diese kulturelle Infrastruktur, diese Räume erhalten, fördern und ergänzen, so wie wir es
demnächst hoffentlich mit dem Thomas-Mann-Haus in
Kalifornien tun und gemeinsam mit der Villa Aurora tun
werden können. Hier geht mein Dank an Frau Grütters
und auch an das Hohe Haus, an alle, die mitgeholfen haben, dass wir hoffentlich die drohende private Veräußerung des Thomas-Mann-Hauses verhindern konnten.
Ich glaube, jeder, der im Augenblick in die USA
schaut, weiß, dass es dringend notwendig ist, dass wir
unsere Präsenz, unsere Anwesenheit dort erhöhen. Deshalb arbeiten wir auch daran, dass wir das lange leerstehende sogenannte Goethe-Haus in New York wieder mit
Leben und mit kulturellen Angeboten aus Deutschland
füllen.
({4})
Aber es geht nicht nur um Erweiterung unserer eigenen Selbstdarstellungsmöglichkeiten, sondern es geht
auch darum, dass wir Kooperationen mit europäischen
Partnern suchen. Deshalb suchen wir gemeinsam mit
Frankreich nach Möglichkeiten - insbesondere in Ländern Afrikas, in denen nur der eine oder der andere vertreten ist -, unsere Kulturarbeit miteinander zu verabreden und dafür zu sorgen, dass der eine mit dem anderen
und gelegentlich sogar für den anderen in afrikanischen
Staaten arbeiten kann.
Genauso unerlässlich, um zum Schluss zu kommen,
ist es aber, dass wir auch hier bei uns zu Hause, auf unserem Kontinent, Raum für Auseinandersetzung über unsere Herausforderungen in Europa schaffen; dies halte ich
für dringend notwendig. Mit diesen Räumen meine ich
eben nicht nur Brüsseler Sitzungssäle und nicht nur den
Deutschen Bundestag, sondern Räume, in denen Europas
Bürger darüber streiten können, welches Europa wir wollen, Townhall-Gespräche, Bürgerwerkstätten. Gemeinsam mit der Mercator-Stiftung wollen wir solche Räume
schaffen, und mit der VW- und Robert-Bosch-Stiftung
haben wir gemeinsame Forschungsprojekte, um zu analysieren, wo der Skeptizismus gegen Europa bei den Bürgern genau liegt und wo Politik vielleicht stärker als in
der Vergangenheit ansetzen muss.
All diese Arbeit ist wichtig, meine Damen und Herren,
um dieses Europa in schwierigen Zeiten zusammenzuhalten.
Ich danke Ihnen. Ich danke dem Unterausschuss für
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für diesen wirklich wichtigen und klugen Entschließungsantrag, auf dessen Grundlage wir hier heute beraten können.
Ganz herzlichen Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Besuchertribüne möchte ich eine Delegation von Mitgliedern des
slowenischen Parlaments herzlich begrüßen. Wir freuen uns über Ihr Interesse an unserer Arbeit.
({0})
Gerade der Tagesordnungspunkt, den Sie heute Morgen
verfolgen, macht deutlich, dass uns die kulturelle Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern nicht weniger wichtig ist als die wirtschaftlichen Beziehungen. Wir
freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit zwischen unseren Parlamenten.
Nächster Redner ist der Kollege Diether Dehm für die
Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lassen Sie mich zunächst über Kultur in diesem Hause
sprechen. Unser Unterausschuss wird vielerorts als Biotop belächelt; denn die allermeisten Anträge werden von
uns fraktionsübergreifend eingebracht, egal ob es um die
Nöte von Goethe, die Besoldung der Lehrkräfte in Auslandsschulen und die entsprechenden Verdi-Forderungen,
das Haus der Kulturen der Welt oder die Gedenkstätte
Sobibor geht. Der Ton untereinander ist freundschaftlich.
Begründet wurde dieser Umgang in der Zeit, als noch
Dr. Peter Gauweiler den Ausschussvorsitz inne hatte und
Luc Jochimsen mit dabei war.
({0})
Dort durfte ich dann stellvertretender Vorsitzender des
Ausschusses werden. Mit Bernd Fabritius versuchen wir,
weiter auf diesem gemeinsamen und einvernehmlichen
Weg zu bleiben, und bleiben es auch.
({1})
Zugrunde liegt unserer Kulturarbeit ein Verständnis, wonach jeder Euro mehr für Kultur einer weniger
im Krieg ist; denn gerade wenn die Diplomatie versagt,
kann die Kultur Brücken bauen. Die letzte Reise mit
Peter Gauweiler als Ausschussvorsitzendem führte uns
gemeinsam nach Kiew und Moskau. Dort versuchten
der Rechte Gauweiler und der Linke Dehm Russen und
Ukra inern ein wenig am persönlichen Beispiel zu zeigen,
dass man über Gräben auch reden kann.
({2})
Dazu gehört, dass keiner dem anderen seine Leitkultur
von oben überzustülpen sucht, dass keiner dem anderen
seinen Lebensstil oder seinen Bildungskanon mit Gewalt
überhelfen will.
Aber es gibt gemeinsame Werte für Demokraten, die
ein offensives Eintreten verlohnen: gegen Faschisten,
gegen islamistische Terroristen, gegen Säbelrasseln und
menschenfeindliche Marktfanatiker, also für unser gutes
Grundgesetz. Es enthält zum Beispiel ein Angriffskriegsverbot, welches Krieg vom deutschen Boden als Ultima
Irratio verbietet, den Sozialstaatsgedanken, die Bindung
des Eigentums an das Gemeinwohl und die Prinzipien
der Gewaltenteilung und der Unschuldsvermutung, die
wir Aufklärung und Code Napoléon verdanken. Denn
Rechtsstaatlichkeit steht diametral gegen Scharia und
gegen Lynchjustiz, die auch im Namen anderer Religionen gepriesen wird, Stichwort „Ku-Klux-Klan“. Dieser
demokratische Konsens wird auszubauen sein, sollte tatsächlich, was mein atheistischer Gott verhindern möge,
die AfD demnächst im Bundestag sitzen.
Lassen Sie mich Ihnen verraten, dass das Kopfschütteln in unserem Unterausschuss auch fraktionsübergreifend ist, wenn namentlich von Herrn Kauder durchgeprügelt wird, dass es keine gemeinsamen Anträge mit
den Linken geben darf. Dies führt zu Skurrilitäten, wenn
wir dann zehn Änderungsanträge zum Haushalt zweimal
verabschieden müssen, einmal mit Linken, einmal ohne
Linke, aber ansonsten wortgetreu, damit der CDU-Führung nicht zugemutet wird, einen von den Linken mit
unterschriebenen Antrag einbringen zu müssen. Mein
Appell an Herrn Kauder und andere lautet: Ersparen Sie
uns bitte in Zukunft solche Kindereien!
({3})
Verschärft hat sich das, nachdem wieder über RotRot-Grün diskutiert wird. Dabei geht es in unserem
Unterausschuss kein bisschen um künftige Koalitionen,
sondern um die Gesprächs- und Handlungsbereitschaft
von Demokraten, schwarzen, grünen und roten. Denn ob
wir es wollen oder nicht: Wir alle sind Nachgeborene der
großen bürgerlichen Französischen Revolution und der
proletarischen Oktoberrevolution - ob wir wollen oder
nicht.
({4})
Der vorliegende Entschließungsantrag wurde so auch
von uns gemeinsam erarbeitet; aber die Linke als Koautor wurde wieder gestrichen. Natürlich haben wir Linke
auch unterschiedliche Akzentsetzungen, zum Beispiel in
der Bewertung der Europäischen Nachbarschaftspolitik
im vorliegenden Antrag. Meine Fraktion hat lange kritisiert, dass die ENP als Instrument zur Durchsetzung politischer, imperialer und wirtschaftlicher Interessen der
EU und ihrer Mitgliedstaaten fungiert und darum auch
spaltet. Nicht nur an den Rändern der EU brennt es.
({5})
In allen sechs Ländern der Östlichen Partnerschaft haben die Konflikte zugenommen. Wir sagen 70 Jahre nach
dem Überfall auf die Sowjetunion: Macht uns die Russen
nicht wieder zum Feind!
({6})
Zu ähnlicher Einschätzung sind auch die EU-Kommission und die Hohe Vertreterin Mogherini gekommen.
Die Überarbeitung der ENP begann selbstkritisch. Es
hieß, die EU betreibe keine wirklich konsequente Partnerschaft und dergleichen und - Zitat -:
Die Nachbarschaft ist heute weniger stabil als noch
vor zehn Jahren.
Wir finden es übereilt, die Auswärtige Bildungspolitik
mit ihrem Sechs-Augen-Prinzip bruchlos in den Dienst
der ENP als Kernstück europäischer Diplomatie zu
stellen, zumal der anfänglichen Selbstkritik keine Konsequenz folgte. Noch immer haben Assoziierungs- und
Freihandelsabkommen Priorität.
Desintegrative Tendenzen sind in der sozialen Frage
begründet. Die EU dagegen hält an der dominierenden
Monopolkonkurrenz fest, die sie dann als Wettbewerb
verklärt, die aber weitestgehend gar kein Wettbewerb
mehr ist. Dem steht keine adäquate europäische Sozialstaatlichkeit in der EU gegenüber. Desintegrierend
werden auch die Auswirkungen von CETA und später
TTIP auf die Auswärtige Kulturpolitik sein. Die Kulturschaffenden haben dagegen schon Position bezogen. Der
Deutsche Kulturrat hatte am 18. September dieses Jahres
einen offenen Brief an die Delegierten des SPD-Konvents zu CETA geschrieben - ich zitiere -:
Der europäische Kulturbereich wird schlechter
gestellt als der kanadische. Die Europäische Union unterwirft die gesamte Kulturwirtschaft ... dem
CETA-Abkommen. ... Bei den sogenannten Liberalisierungsverpflichtungen geht Kanada noch weiter
und stellt seine gesamte nationale Kulturpolitik
- und jetzt steht dort vernünftigerweise unter Schutz.
Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Kulturrates, befindet, dass die EU-Kommission die europäische Kulturwirtschaft im Stich gelassen hat.
Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas Gemeinsames aus unserem Unterausschuss erwähnen - der Bundesminister ist darauf eingegangen -: Unlängst wurde
bekannt, dass die Exilvilla von Thomas Mann in Pacific
Palisades zum Verkauf steht. Zu verhindern, dass dieser
Ort, von dem aus Thomas Mann über zehn Jahre im intellektuellen Austausch mit anderen Antifaschisten künstlerisch wirkte, an unbedarfte Hände überschrieben werden
könnte, dafür setzt sich dieser Unterausschuss vehement
ein. Ich danke dem Auswärtigen Amt hier ausdrücklich
für seine Bemühungen.
Fraktionsübergreifend bestand Einigkeit, dass das
Haus eines der großen deutschen Dichter - neben
Goethe, Hölderlin und Brecht -, der mit 25 Jahren bereits die Buddenbrooks geschrieben und damit eine präzise Innenarchitektur der deutschen kleinbürgerlichen
Seelenlandschaft gespiegelt hat, unbedingt erworben und
erhalten gehört.
({7})
Die Umstände und Umständlichkeiten in dieser Villa
hört man gleichsam heute noch knistern, wenn man sie
betritt - als Erika Mann damals ihr 20-Minuten-Grundig-Tonbandgerät aufstellte, damit ihr Vater dort aus
Joseph und seine Brüder las, als dann im Land Jakobs
und Abrahams ein Bootsmann plötzlich hanseatisches
Platt spricht. Ja, dieser Thomas Mann trug am Sehnen
nach Deutschland, auch als er unter brennenden Tränen
deutsche Städte zu bombardieren empfahl als kollektive
Bestrafung für Adolf Hitler, wofür er von Bertolt Brecht
als antideutsches Reptil geziehen wurde. Dieses Haus
der deutschen Tragik im Exil wollen wir behalten. Denn
ist es nicht die verbittert gebrochene Heimatliebe dieser
Flüchtlinge, die uns die Wirkmacht der deutschen Worte
und den Humanismus des anderen Deutschland neu lernen lässt?
Im guten Sinne des Emigranten Bert Brecht:
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir’s
Und das liebste mag’s uns scheinen
- scheinen! So wie andern Völkern ihrs.
... daß ein gutes Deutschland blühe,
wie ein andres gutes Land.
Dies gemeinsam mit dem Verfassungspatriotismus
Gustav Heinemanns sollte uns einen - in in- und auswärtiger Kultur.
Ich danke Ihnen.
Bernd Fabritius ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und
Herren! „Was wir tun“, so ist der klare und gleichzeitig
selbstbewusste und entschlossene Titel des 19. Berichts
der Bundesregierung zur Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, die selbst, wie der Titel des Berichts, klar,
selbstbewusst und entschlossen sein muss. Deswegen
entscheiden wir, lieber Kollege Dehm, stets anhand von
Sachargumenten.
Unsere Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik befindet sich - so eine Erkenntnis aus dem Bericht - in einem
Wandel. Sie muss sich verändern, weil neue außenpolitische Herausforderungen aufgetreten sind, aufgetreten in
Ländern und Regionen, die zuletzt weniger im Fokus der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik standen. Diese
Feststellung mag banal klingen. Die deutsche Außenpolitik und insbesondere die deutsche AKBP sind ständig
im Wandel. Der Bundesaußenminister hat es im Zuge des
Review-Prozesses formuliert:
Die Welt hat sich verändert, und auch das Auswärtige Amt muss sich verändern.
Sie, Herr Außenminister, haben heute sehr zutreffend die
Vielfalt aktueller Konflikte aufgezeigt.
Europa spielte und spielt in der Auswärtigen Kulturund Bildungspolitik dieser Legislaturperiode eine wichtige Rolle. Der Bundestag hat als Reaktion auf die Krise
in der Ukraine zum Beispiel mit der deutlichen Erhöhung
der Mittel für die Östliche Partnerschaft einen Schwerpunkt gesetzt.
Gerade in der Ukraine-Krise und den diplomatischen
Bemühungen zu ihrer Lösung drückte sich eine neue
Erwartung an Deutschland aus, mehr Verantwortung
zu übernehmen. Lassen Sie uns erneut gemeinsam die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik weiterdenken,
indem wir diese Verantwortung für das Weltgeschehen
anerkennen, diese aber zugleich wieder stärker auch in
Europa wahrnehmen.
Wir können und müssen heute Kultur- und Bildungsprojekte weltweit verwirklichen, ohne unsere eigene europäische Wertefamilie zu vernachlässigen. So sehe ich
es als eine nationale Aufgabe an, die Thomas-Mann-Villa in Los Angeles als nicht denkmalgeschütztes Gebäude
davor zu bewahren, an einen anderen Käufer als die Bundesrepublik veräußert zu werden, damit sie dann eventuell abgerissen wird. So weit wird es nicht kommen. Der
Bundestag und die Bundesregierung wissen um die Gefahr dieses unwiederbringlichen Verlustes.
Zugleich muss die AKBP Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in der
direkten Nachbarschaft innerhalb und außerhalb der EU
geben. Es ist erschreckend, mit welchen Mitteln und wie
effektiv Zivilgesellschaften in unserer östlichen Nachbarschaft einerseits beeinflusst, andererseits in ihrer Freiheit beschnitten werden.
Auch auf diese Herausforderungen müssen Antworten
gefunden werden, ohne dass wir uns auf einen konfrontativen Weg, den Weg einer AKBP gegen Staaten, begeben;
denn das ist es, was uns offenkundig aufgezwungen werDr. Diether Dehm
den soll: ein erneutes Denken von „Wir gegen sie“. - Da
machen wir nicht mit.
Wie dies gelingen kann, zeigt zum Beispiel die Deutsche Welle. Sie hat neue Nachrichtensendungen in russischer und ukrainischer Sprache gestartet und hilft beratend bei einer Reform des ukrainischen Fernsehens, um
den Pluralismus im Land zu stärken. Sie sorgt zudem im
Bereich der Auslandskommunikation für die Vermittlung
eines realistischen und aktuellen Deutschland-Bildes
und trägt so zur Berichtigung von Desinformationskampagnen bei. Dazu gehören neben einer Darstellung der
Willkommenskultur insbesondere die Aufklärung über
die Rechts- und Faktenlage von Einwanderung und Asyl
in Deutschland sowie die Gefahren illegaler Migration
und auch die Korrektur der von Schleppern und anderen
Kriminellen gezeichneten Scheinwirklichkeit.
Es ist ein sensibler Raum, ein vorpolitischer, am Menschen und der Gesellschaft ansetzender Bereich, in dem
sich die AKBP bewegt. Die Arbeit unserer Mittlerorganisationen, des Goethe-Instituts, des DAAD, des ifa, der
Alexander-von-Humboldt-Stiftung - um nur einige zu
nennen -, ist deshalb hoch verantwortungsvoll. Für diese
Arbeit sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an dieser Stelle ausdrücklich gedankt.
({0})
Dank gilt auch den deutschen Auslandslehrkräften.
Ich bin sehr froh, dass die Neuregelung der Besoldung
der Auslandslehrkräfte, die wir 2015 beschlossen haben,
seit diesem Monat nun endlich umgesetzt wird und die
Erhöhung rückwirkend zum 1. Januar 2016 ausgezahlt
wird.
({1})
Die AKBP kann und muss heute Hilfe in den Fluchtregionen dieser Welt leisten, um Bleibeperspektiven aufzuzeigen. Was derzeit in Syrien, in Aleppo geschieht, sind
barbarische Verbrechen. Luftangriffe, denen in hoher
Zahl Kinder zum Opfer fallen und die die letzten Krankenhäuser zum Einstellen ihrer Arbeit zwingen, sind
durch nichts zu rechtfertigen.
({2})
Die AKBP, meine Damen und Herren, kann in der
Hölle von Aleppo leider nichts tun. Sie kann aber den
Menschen, die aus ihr geflohen sind, Hilfe leisten. Die
mit kriegerischen und religiösen Konflikten verbundene Zerstörung von Kulturgütern stellt ebenfalls eine
besondere Herausforderung dar. Das Deutsche Archäologische Institut hat mit dem „Stunde Null“-Projekt, das
Sie, Herr Außenminister, bereits angesprochen haben,
für den Wiederaufbau Syriens beide Aufgabenbereiche
verbunden, indem es zum Beispiel geflüchtete Syrer in
der Konservierung und Restaurierung mittelalterlicher
Ruinenstädte ausbildet. Die zusätzliche berufliche Qualifizierung sowie die gedankliche Beschäftigung mit einem Wiederaufbau ihrer Heimat sind beste Grundlagen
für Zukunftsperspektiven und Identitätsstärkung.
Dass das Auswärtige Amt seit 2016 in Person von
Staatsministerin Professor Dr. Maria Böhmer nun eine
Sonderbeauftragte für UNESCO-Welterbe, UNESCOKulturkonventionen und UNESCO-Bildungs- und Wissenschaftsprogramme hat, unterstreicht die Verantwortung Deutschlands im Bereich des Kulturerbeschutzes.
({3})
Die von Staatsministerin Professor Monika Grütters
eingebrachte und durch den Deutschen Bundestag verabschiedete Novelle des Kulturgutschutzgesetzes formuliert neue Sorgfaltspflichten beim Erwerb und beim Verkauf von Kulturgut. Dieses erschwert unter anderem den
illegalen Handel mit aus Raubgrabungen stammenden
Kulturgütern. Zugleich - ich komme zurück auf unsere
Verantwortung für die direkte Nachbarschaft - tragen
wir nicht nur Verantwortung für das weltweite, sondern
insbesondere auch für das europäische Kulturerbe als gemeinsame, identitätsstiftende Basis. Dieses gilt es wieder
verstärkt in unseren Fokus zu rücken.
Die AKBP kann sich auch deshalb wieder stärker auf
unsere europäische Nachbarschaft konzentrieren, weil
auf EU-Ebene derzeit etwas entsteht, das als „gemeinsame europäische Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik“ bezeichnet werden kann. Mit einer starken Stellung
in den entstehenden Strukturen, zum Beispiel der „Cultural Diplomacy Platform“ und EUNIC, ist Deutschland
federführend an der Ausgestaltung der von der Hohen
Vertreterin Mogherini eingebrachten EU-Strategie für
die internationalen Kulturbeziehungen beteiligt.
Mit der Union für den Mittelmeerraum, mit dem
Westbalkan und insbesondere auch mit den Ländern der
Östlichen Partnerschaft identifizieren wir im vorliegenden Antrag jene Regionen in der EU-Nachbarschaft, in
welchen verstärktes Engagement der AKBP notwendig
ist. Das Auswärtige Amt steht dabei nicht allein. In dem
vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung jüngst veröffentlichten Positionspapier „Fokus Europa“ werden mit den Schwerpunktregionen Südosteuropa und den Ländern der Östlichen
Partnerschaft sehr ähnliche Handlungsfelder identifiziert.
Doch auch innerhalb der EU muss die AKBP wieder
mehr Wirkung entfalten. Wir sprechen in unserem Antrag
von der Notwendigkeit einer Stärkung des Zusammenhalts und des gemeinsamen Wertebezugs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Das Infragestellen der europäischen Idee erreichte einen vorläufigen Höhepunkt im Austrittsvotum Großbritanniens. Eine Ursache dieser Entscheidung und ebenso
eine Ursache für EU-Skepsis in weiteren Mitgliedstaaten ist mit Sicherheit ein eklatantes Identifikationsdefizit
mit der EU. Unser gemeinsames europäisches kulturelles
Erbe sowie eine AKBP, die die einende Wirkung dieses
Erbes betont und gleichzeitig neue gemeinsame Projekte
im Kultur- und Bildungsbereich fördert, sind wie kaum
etwas anderes dazu geeignet, dieses Identifikationsdefizit zu beheben. Die AKBP ist in den vergangenen Jahren
weit in die Welt hinausgetragen worden; das ist gut so.
Holen wir sie ergänzend auch ein Stück weit zurück nach
Europa, in unser Zuhause.
Danke.
({4})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht nun
die Kollegin Claudia Roth.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir leben in einer Welt, die in Unordnung
geraten ist, in der wir die Auflösung der postkolonialen
Staatenordnung beobachten, ohne dass wir schon klar
erkennen könnten, welche neue Ordnung entsteht. Diese
Umordnung der Welt hat ganz konkrete Auswirkungen.
65 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Fürchterliche Kriege und Konflikte sorgen für Leid und Elend,
weil der internationalen Gemeinschaft die Mittel und
Instrumenten fehlen, aber oftmals auch der Wille, konkrete Lösungen zu erreichen. Das erleben wir gerade in
Syrien, wo ein unfassbar brutaler Stellvertreterkrieg Zivilisten zu Tausenden aushungert und tötet, während sich
die Weltgemeinschaft gegenseitig blockiert. Oder wir erleben es im Jemen, dessen Horror fast überhaupt nicht
wahrgenommen wird. Staaten zerfallen. Terror gefährdet
Frieden, und in vielen Ländern wendet man sich einem
autoritären und nationalistischen Albtraum zu, als wäre
das die richtige Antwort in einer globalisierten Welt.
Einige mögen sich jetzt fragen: Was kann in einer solchen Welt die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
ausrichten? Ist das nicht Nischenpolitik für Kulturromantiker, für Träumer, ein dekoratives Sahnehäubchen, vor
allem etwas für das gute Gewissen? Nein!
({0})
Ich sage Ihnen: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik
ist Realpolitik. Wenn Kanäle der klassischen Diplomatie
verschlossen und Kontakte eingefroren sind, wenn Hoffnungslosigkeit um sich greift, wenn am Verhandlungstisch nur Blockade und in der Heimat nur Verderben
herrschen, dann braucht es neue Wege, andere Zugänge.
Dann braucht es genau diese „soft power for hard politics“.
({1})
Die „soft power“, von der wir hier sprechen, nutzt
Kunst und Kultur. Sie nutzt Bildung und Sport und zielt
damit genau auf die Menschen. Damit vermitteln wir die
Werte, die uns wichtig sind und von denen wir überzeugt
sind, dass sie die Welt zu einem besseren Ort machen. Es
sind die Werte einer toleranten, einer vielfältigen, einer
offenen Gesellschaft, die Demokratie und Menschenrechte, die Frieden und Entwicklung, die internationale
Kooperation und Solidarität in den Mittelpunkt stellt.
Damit richtet sich die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik nicht so sehr an ganze Gesellschaften oder an Regime oder an bestimmte Machtkonstellationen, sondern
sie stellt den Menschen, seine Werte und seine Entwicklung in den Mittelpunkt.
({2})
Getreu dem Motto der UNESCO entstehen Kriege im
Geist der Menschen. Deswegen muss auch der Frieden
im Geist der Menschen verankert werden.
({3})
Es geht bei der AKBP sozusagen um wertegeleitete
Außenpolitik auf individueller Ebene, weil sie Köpfe und
Herzen erreicht und damit ganze Welten verändern kann.
Durch die Brückenbauer der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik wird oftmals Vertrauen wiederhergestellt
und damit erst die Voraussetzung für die klassische Außenpolitik geschaffen. Ich sage Ihnen: Wir brauchen in
dieser Welt viel mehr Brückenbauer. Sprengmeister gibt
es nämlich schon genug.
({4})
Diese Art der zivilen Krisenprävention und der Deeskalation, diese Friedens- und Demokratiepolitik hat viele
Akteure: die Mittlerorganisationen, die vor Ort Menschen erreichen und damit Türen öffnen, die politischen
Stiftungen, die die Zivilgesellschaft stärken, Initiativen,
NGOs, Künstlerinnen und Künstler, Kreative, Pädagogen, Wissenschaftler, die alle mit viel Engagement und
mit wenig Geld Menschen zusammenbringen und immer wieder dorthin gehen, wo es wirklich wehtut, das
Auswärtige Amt, das diese dritte Säule der Außenpolitik
kontinuierlich fördert und unterstützt, und nicht zuletzt
auch unser sehr engagierter Unterausschuss hier im Bundestag.
Ich möchte an dieser Stelle die Mittlerorganisationen
einmal nennen, weil man sie für ihre Arbeit gar nicht
genug ehren kann: das Goethe-Institut, das mit 159 Instituten weltweit Schutzräume sowie Raum für kritische
Gedanken schafft und sich seit 2013 in den neu entstandenen großen Städten des Nahen Ostens, in den großen
Flüchtlingslagern mit konkreten Kultur- und Bildungsprojekten dafür engagiert, dass keine weiteren verlorenen
Generationen entstehen; die Auslandsschulen, die Menschen und Gesellschaften verbinden und Leuchttürme
für Demokratie sein können; das Institut für Auslandsbeziehungen; die Deutsche Welle mitsamt ihrer Akademie, die - etwa mit der Sendung Shababtalk oder dem
Onlineportal Qantara, das sind wichtige Plattformen
für den Austausch mit der arabischen bzw. islamischen
Welt - ein Wegbereiter für Toleranz und Meinungsfreiheit ist; das Deutsche Archäologische Institut, das
mit dem Projekt „Stunde Null“ eine, wie Frank-Walter
Steinmeier ja gesagt hat, wichtige Voraussetzung für
den hoffentlich möglichen Wiederaufbau Syriens leistet;
der DAAD mit seinen Stipendienprogrammen, die gerade für Schwellen- und Krisenländer ausgebaut werden;
die Deutsche Akademische Flüchtlingsinitiative Albert
Einstein, die Geflüchteten ein Studium ermöglicht, sowie
die Alexander-von-Humboldt-Stiftung mit ihrer Initiative zur Unterstützung gefährdeter Wissenschaftler und
Wissenschaftlerinnen.
Ihnen gebühren Anerkennung und Dank.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der zu Beginn beschriebene Zustand der Welt erschwert aber leider erheblich die Arbeit der AKBP. So schränken immer mehr
Staaten die Meinungs-, die Presse-, die Versammlungs-,
die Kunst- und die Lehrfreiheit dramatisch ein. Akteure
der Zivilgesellschaft, Künstler, Wissenschaftler, Journalisten und Blogger werden mit NGO-Gesetzen in über
60 Staaten kriminalisiert und ihrer Handlungsräume beraubt.
All das passiert jedoch längst nicht mehr nur in Diktaturen oder autoritären Regimen wie etwa in Ägypten
oder in Russland, sondern es geschieht zunehmend auch
in Demokratien, zum Beispiel in Lateinamerika oder
auch in Israel. Man könnte nun ein wenig zynisch sagen, dass die Angst der Staatschefs vor der Zivilgesellschaft ja erst zeigt, welche Kraft, welchen Einfluss und
welche Macht zivilgesellschaftliches Handeln entfalten
kann. Aber diese Entwicklung muss uns aufschrecken,
und wir müssen wirklich alle Anstrengungen verstärken,
um Zivilgesellschaft auch und gerade über die Mittel der
AKBP zu stärken.
({6})
Gleichfalls besorgniserregend sind Berichte, wonach
das kulturelle Erbe der Menschheit weltweit immer stärker in Gefahr ist. Gerade in Syrien, im Irak, im Jemen
und in Afghanistan drohen der kulturelle Ausverkauf, der
Verlust des kulturellen Gedächtnisses sowie der Verlust
und die Zerstörung der kulturellen Wurzeln. Deswegen
war es so wichtig, dass der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag vor zwei Tagen ein historisches Urteil
sprach und zum ersten Mal in seiner Geschichte einen
Angeklagten wegen der Zerstörung von Weltkulturerbestätten der Kriegsverbrechen für schuldig befunden hat.
Die Chefanklägerin Fatou Bensouda nannte die Vernichtung von neun mittelalterlichen Heiliggräbern und einer
Moschee im malischen Timbuktu einen feigen Angriff
auf die Würde und die Identität ganzer Völker.
({7})
Damit machte sie klar, was auf dem Spiel steht, wenn
Kulturgüter zerstört, geraubt und geplündert oder als bloße Geldanlage missbraucht werden. Auch dieses Urteil,
liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigt: Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist „high politics“.
({8})
Lassen Sie mich bitte zum Schluss noch eine weitere
Aufgabe nennen, die mir, die uns besonders am Herzen
liegen muss und auch liegt. Das ist die lebendige Erinnerungskultur. Wir können mit unserer Expertise, durch unsere Erfahrung mit der Aufarbeitung der Shoah und der
Verbrechen der Nationalsozialisten vielen Gesellschaften
nach der Überwindung von Diktaturen beim Aufbau einer eigenen Erinnerungskultur zur Seite stehen. Genauso
müssen aber auch wir selbst weiter an unserer deutschen
Geschichte arbeiten, die ja gerade schlimmste Verbrechen in anderen Ländern beinhaltet. Ich nenne als Stichworte den Genozid an den Herero und Nama in Namibia.
({9})
Ich nenne die Mitschuld am Völkermord an den Armeniern. Ich nenne die Verbrechen der Nationalsozialisten
und der Wehrmacht in Griechenland, in Italien
({10})
oder dieses schreckliche Massaker heute vor 75 Jahren in
Babi Jar in der Ukraine.
({11})
Auch hier kann die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik Wege aufzeigen, wie wir mit diesem schrecklichen Erbe umgehen können und umgehen müssen, wie
wir Verantwortung übernehmen und so ein Erinnern in
die Zukunft erst ermöglichen.
({12})
Wir sollten die Kraft der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gerade in diesen schwierigen, harten Zeiten
nicht unterschätzen. Deshalb muss sie uns im wahrsten
Sinne des Wortes sehr viel wert sein.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort erhält nun die Kollegin Elisabeth
Motschmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Es ist vielfach angeklungen:
Kulturpolitik wird unterschätzt. Auswärtige Kulturpolitik wird ebenfalls unterschätzt. Sie gilt als freiwillige
Aufgabe des Staates, als weicher Standortfaktor, als nicht
hoheitliche Aufgabe, als - Claudia Roth hat es gesagt „Sahnehäubchen“ oder, wie der Außenminister gesagt
hat, „nice to have“.
Nein, meine Damen und Herren, Kulturpolitik, wo immer sie stattfindet, ist ein harter Standortfaktor. Das muss
in die Köpfe auch vieler politischer Entscheider getragen
werden. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist eine
wichtige Säule unserer Außenpolitik. Gerade wenn die
Welt so durcheinandergeraten ist wie im Augenblick, ist
sie von großer Bedeutung. Vielen Dank für den Bericht
der Bundesregierung zur Auswärtigen Kulturpolitik. Es
ist gut, dass wir über einen solchen Antrag hier diskutieren.
Herr Dehm, solange Sie immer noch so rückwärtsgewandt das ganze Vokabular des Marxismus auspacken,
({0})
so lange geht es nicht mit Ihnen. - Nein, Thomas Mann
meine ich ganz bestimmt nicht. - Ich glaube, sie müssen
da noch ein bisschen lernen und von mancher ideologischen Verklemmung aus der Vergangenheit Abschied
nehmen.
({1})
Jeden Tag hören und lesen wir von den Konflikten in
der Welt, von Verfolgung, Unterdrückung, Unfreiheit,
kurz gesagt: von den fehlenden freiheitlichen Werten.
Gerade dahinein tragen wir Kultur. Das ist eine durch
und durch schöne Aufgabe und ebenso eine wichtige
Aufgabe. Diese Werte, unsere Vorstellung von Presseund Religionsfreiheit, von Rechtsstaatlichkeit, von gesellschaftlicher und kultureller Vielfalt, sind Zeichen von
Völkerverständigung, von Austausch, von Ideen und von
Brückenbauen in einer teilweise heillosen Welt.
Mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik tragen wir eben nicht nur die deutsche Sprache in die Welt.
Wir vermitteln auch kulturelle, gesellschaftliche Werte,
fördern den Austausch von Kunst und Kultur. Claudia
Roth hat aufgezählt, was alles in diesem Bereich getan
wird, und das ist unglaublich viel. Wir zeigen damit natürlich auch der Welt ein gutes, positives, authentisches,
lebendiges Bild von Deutschland und Europa.
Eine grundsätzliche Bemerkung vorweg: Auswärtige
Kulturpolitik ist nicht statisch und muss sich angesichts
einer sich schnell wandelnden Welt verändern. Deshalb
müssen neue Schwerpunkte gesetzt werden.
Das heißt, dass wir stärker auf die Krisen Osteuropas
blicken müssen. Wir müssen überlegen, was wir zu deren
Überwindung beitragen können. Die arabische Welt gibt
uns neue Aufgaben auf. Das gilt natürlich auch für Afrika. Daher begrüße ich sehr, dass das Goethe-Institut auf
die Arbeit dort einen - gar nicht so neuen - Schwerpunkt
setzt. Mit Sprache, Musik und Film macht es Angebote auf diesem großen Kontinent. Man könnte jetzt einen
Vortrag darüber halten, wie Musik Brücken baut und wie
Musik verbindet. Leider kann ich das jetzt nicht tun. Zumindest aber ein herzliches Dankeschön geht von dieser
Stelle an das Goethe-Institut.
({2})
Ich greife drei Bereiche aus unserem Entschließungsantrag heraus; schließlich kann man nicht über alles reden: erstens die Förderung von Presse- und Meinungsfreiheit, zweitens die Förderung von internationalem
Jugendaustausch und drittens die Einigungs- und Nachbarschaftspolitik.
Zum ersten Punkt: die Förderung von Presse- und
Meinungsfreiheit. Wir sehen in diesen Tagen, wie gestört
Presse- und Meinungsfreiheit in vielen Ländern unserer
Welt sind. Ich brauche mir nur zu überlegen, wie über die
Ukraine, über Aleppo oder über den Absturz der MH17
berichtet wird, um zu wissen, wie wichtig es ist, dass
wir unsere Maßstäbe von Presse- und Meinungsfreiheit
mithilfe der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik
in andere Länder tragen. Die Propaganda aus dem Osten macht uns das Leben schwer; aber sie macht in noch
höherem Maße das Leben anderer Völker schwer, die
direkt am Rande des großen russischen Reiches liegen.
Ich weiß, wie sehr sich die baltischen Länder vor dem
fürchten, was über die russische Propaganda in ihr Land
getragen wird und dafür sorgt, dass die Menschen in unterschiedlichen Medienwelten leben.
Die Deutsche Welle ist deshalb ein ganz wichtiger
Bestandteil unserer Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Sie bringt viele wichtige Berichte in die Welt.
Aber was ich fast noch wichtiger finde, ist: Sie führt
Schulungen und Beratungen von Journalisten und von
angehenden Vermittlern von Meinungen durch. Insofern
nimmt sie eine wichtige Aufgabe wahr, um Journalisten
in aller Welt auf den Weg in eine freie Medienlandschaft
zu bringen. Schwer genug, aber sie tut es, und deshalb ist
die Deutsche Welle ein wichtiger Träger der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik.
({3})
Damit bin ich beim zweiten Punkt, nämlich bei der
Förderung des internationalen Jugendaustauschs. Ich finde, auch dies ist ein ganz wichtiger Baustein für Frieden in Europa, in der Welt. Wir erinnern uns, dass zum
Beispiel der deutsch-französische Jugendaustausch ein
wichtiger Bestandteil der Aussöhnung mit Frankreich
war und ist und dass Frankreich heute zu unseren besten
Freunden zählt.
Ähnlich müssen wir natürlich auch gegenüber dem
Osten vorgehen; deshalb arbeite ich mit Freude an einer
deutsch-baltischen Jugendstiftung. Wir müssen in dieser
Region nämlich aktiv werden, um sie zu stärken, auch
in der Auseinandersetzung und in ihrem Freiheitswillen.
Das halte ich für enorm wichtig. Angesichts der Tatsache, dass die betroffenen Staaten in der unmittelbaren
Nachbarschaft von Russland große Probleme haben, ist
das, finde ich, gut angelegtes Geld. Das Gleiche gilt für
das Deutsch-Polnische Jugendwerk. Mit dieser Art von
Austauschprogrammen, die ja integraler Bestandteil unserer Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik sind, können wir viel erreichen. Die nächsten Generationen haben
es dadurch leichter.
Drittens: Einigungs- und Nachbarschaftspolitik. Wir
haben uns vielleicht ein wenig zu wenig um unsere eigene Identität, um unser eigenes Land und um Europa
gekümmert. Wir meinten, dass wir Europa nur über den
Euro definieren können. Aber es geht eben nicht nur um
Geldwerte, sondern es geht um ganz andere Werte. Hätten wir uns intensiver um unser eigenes Land und um
Europa gekümmert, dann hätten wir vielleicht manches
Problem der Desintegration oder auch des EU-Austritts
Großbritanniens nicht gehabt.
Auch die Tatsache, dass Solidarität hinsichtlich der
Aufnahme von Flüchtlingen leider nicht überall oder zu
wenig geübt wird und einige Länder dabei alleingelassen
werden, zeigt ja, dass hier ein Defizit von Werten entstanden ist. Wir müssen uns darum kümmern, dass wir sie
wieder implementieren. Deshalb ist es gut, dass übrigens
auch das Goethe-Institut sagt: Wir müssen auch im Inland, in Europa etwas tun.
Letzter Punkt. Die Berufung von Staatsministerin
Maria Böhmer zur Sonderbeauftragten für das UNESCOWelterbe halte ich für einen enorm guten Schritt, zum
einen für uns hier, zum anderen aber auch für den Erhalt
bzw. für den Wiederaufbau des Kulturguts in Syrien, im
Irak und in anderen Ländern.
({4})
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Meine Redezeit ist zu Ende - das ist mir klar -; deshalb
bringe ich die Rede auch zu Ende. - Meine Damen und
Herren, ich schließe damit: Ich hoffe, dass jeder weiß,
dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik kein
weicher Standortfaktor ist, sondern dass wir sie brauchen
zum Brückenbau und zum Frieden in dieser Welt.
Danke schön.
({0})
Nun erteile ich das Wort dem Kollegen Peer
Steinbrück, der heute zum letzten Mal für die SPD-Fraktion in diesem Hause spricht.
({0})
Sehr geehrter Präsident! Meine lieben Kolleginnen
und Kollegen! Es ist sehr begrüßenswert, dass die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik heute so prominent
auf der Tagesordnung steht und dabei hoffentlich auch
die ihr gebührende öffentliche Aufmerksamkeit erfährt.
Ich will versuchen, sie aus meinem Blickwinkel etwas
einzuordnen.
Es gibt nicht wenige, die wegen der Gleichzeitigkeit
einer Reihe von Entwicklungen seit 2014/2015 von einer Zeitenwende oder einer Zäsur sprechen. Sie beziehen
sich dabei auf die Auflösung, mindestens auf die tiefe Erschütterung der postsowjetischen Friedensordnung mit
der erstmaligen und nach wie vor andauernden territorialen Infragestellung eines Landes im Nachkriegseuropa.
Sie beziehen sich auf den Zusammenbruch staatlicher
Strukturen - das geht weit über den Nahen Osten hinaus - mit der Folge einer Flüchtlingsbewegung, die in
unserem Land korrespondierend zweierlei ausgelöst hat:
eine bewundernswürdige Willkommenskultur und auch
Überfremdungsängste. Sie beziehen sich auf die Renationalisierungstendenzen auch in Europa, die im Rückzug
in die eigene Wagenburg - Schotten runter! alles dichtmachen! - die Antwort für die Bewahrung von Status
und auch Identität sehen. Und sie beziehen sich auf den
Aufstieg von autoritären Regimen und die offenbar verbreitete Sehnsucht nach autokratischen Führungsfiguren.
Ja, wenn man so will, hat sich das normative Projekt
des Westens, von dem der Historiker Heinrich August
Winkler redet und schreibt und dem wir übrigens selber
keineswegs immer entsprochen haben und entsprechen,
nach der letzten Zeitenwende 1990/91 nicht so durchgesetzt, wie das viele von uns damals euphorisch nach der
Auflösung einer ideologischen Systemkonkurrenz angenommen haben. Im Gegenteil: Es steht unter Druck - von
innen und von außen. Es ist umgeben von einer Reihe
von gesellschaftlichen und politischen Modellen, die sich
unseren Werten - den unveräußerlichen Freiheitsrechten,
der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten, auch der Trennung von Staat und Kirche - entziehen. Und wir sind umgeben von militärisch und hybrid
geführten Konflikten, von Menschenrechtsverletzungen,
von humanitären Notlagen, ja vielleicht sogar von humanitären Katastrophen.
In diesen Zeiten über die klassische Außen- und Sicherheitspolitik, über die Kunst, aber auch den Frust der
Diplomatie und über die Entwicklungspolitik und humanitäre Hilfe hinaus den Stellenwert der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik herauszustreichen, ist in der
Tat des Schweißes der Edlen wert ({0})
wenn dem Schweiß dann auch die entsprechenden Mittel
folgen.
({1})
Worum handelt es sich, wenn wir über die Bedeutung und die Ausstattung der Auswärtigen Kultur- und
Bildungspolitik reden und auch entscheiden? Es geht darum, mithilfe von Sprache, von kulturellem und wissenschaftlichem Austausch die Verständigung und Zusammenarbeit zu ermöglichen und darüber hinaus auch die
Kraft von Zivilgesellschaften gegenüber dem Zynismus
autoritärer Herrscher und Regime zu stärken, indem wir
Jugendliche, indem wir beruflich und akademisch Auszubildende, indem wir Wissenschaftler, Künstler, Intellektuelle zu erreichen und zu fördern suchen. Was wir mit
unserer Sprache, unserer Kultur, unserer Wissenschaft
und auch unseren zivilen Konfliktlösungsmöglichkeiten
anbieten können - nicht in deutscher Besserwisserei aufdrängen, sondern anbieten können -, kann man im Gegensatz zu militärischen Mitteln als - das ist inzwischen
ein gängiger Begriff - unsere Soft Power bezeichnen.
Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik kann
auch der zivilen Krisenprävention dienen. Dabei spielt
das Netzwerk der Mittlerorganisationen eine unverzichtbare Rolle. Ich bin Frau Roth dankbar, dass sie in ihrer
breiten Aufzählung viele davon genannt hat. Denn ihrer
hervorragenden Arbeit - nicht nur Ihrer, sondern auch
der der Mittlerorganisationen -,
({2})
gehört unabweisbar unser Dank.
Aber in dieser Reihenfolge.
({0})
Das wird Frau Roth nicht ablehnen, wie ich glaube.
({0})
Aber dieser Dank ist umso aufrichtiger, je stärker wir sie
in dieser Arbeit unterstützen.
Auf die Vielzahl gelungener Projekte der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik und auch auf die Erwartungen an weitere Projekte, siehe die Thomas-Mann-Villa
oder auch das Stadthaus an der Fifth Avenue in New York,
will ich nun aus Zeitgründen nicht eingehen. Das steht
alles und lesenswert in dem gemeinsamen Antrag von
CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen. Vielmehr
sei mir erlaubt, die restliche Zeit zu nutzen, um mich von
Ihnen als ein aktiver Politiker und Parlamentarier zu verabschieden. Das lädt nun zu einem längeren, hoffentlich
nicht langatmigen Resümee ein, das der Präsident aber in
genau 4 Minuten und 57 Sekunden unterbrechen würde.
({1})
Deshalb nur so viel:
Ich deutete mit der Wahrnehmung einer Zeitenwende
oder einer Zäsur an, dass wir in fragilen Zeiten leben auch in Europa. Gemessen allerdings am Zustand Europas vor nur zwei Generationen relativiert sich das; man
möge zurückdenken. Ich gehöre nach der Generation
meines Urgroßvaters und meines Großvaters und meines
Vaters als jemand, der 1947 geboren ist, zu der ersten
Generation, die nicht auf den Schlachtfeldern Europas
geopfert worden ist. Dieses europäische Einigungswerk,
das mir und meiner Generation das ermöglicht hat, ist
ein Glücksfall, der jeden Einsatz dafür rechtfertigt, dass
es so bleibt.
({2})
Das bedeutet aber, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass
wir dafür sorgen müssen, dass dieser wunderbare Kontinent nicht auf den Euro, nicht auf die EZB-Zinspolitik,
nicht auf nächtliche Sitzungen des Europäischen Rates,
nicht einmal auf den Brexit und schon gar nicht auf den
Krümmungsgrad der Salatgurke reduziert wird.
({3})
Nun ist dieses Europa nicht nur die Antwort auf die
Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts - vor dem Hintergrund einer ungeheuren Dynamik
im Muster globaler, ökonomischer, politischer und militärischer Kräfte, von denen ich manchmal den Eindruck
habe, dass sie sich unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit entziehen in ihren Rückwirkungen auf unsere
Gesellschaft und auf unsere Lage in Europa.
Deutschland - übrigens das Land mit den meisten
direkten europäischen Nachbarn; nach meiner Zählung
neun - hat in dieser zentraleuropäischen Geografie für
den europäischen Zusammenhalt - ja, ich versteige mich
zu der Bemerkung: für die Selbstbehauptung Europas einen besonderen Beitrag zu leisten und auch einen Preis
dafür zu bezahlen, im ureigenen Interesse.
({4})
Dies, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss den Bürgern
mit Verstand, aber offenbar mit noch sehr viel mehr Herz
erklärt werden - gegen alle Angebote des Rückzuges
in die eigene Wagenburg aus populistischen oder sogar
chauvinistischen Lagern.
Angesichts der spürbaren Desorientierung und Verunsicherung in nicht zu vernachlässigenden Teilen unserer
Gesellschaft müssen wir in unseren Parteien und in diesem Parlament, nicht nur bezogen auf Europa, der Ort
sein, die Bühne liefern, auf der die zentralen Zukunftsfragen debattiert werden, und zwar kontrovers, spannend,
laut, leidenschaftlich, repolitisierend, nicht alternativlos.
({5})
Die Debatten müssen so geführt werden, weil damit die
Neugier an Politik wieder wächst, weil es darüber Kommunikation gibt, weil es Engagement provoziert - auch
über ganz gegensätzliche Positionen, die ausgetragen
werden. Tun wir das nicht, übernehmen diese Debatte
sehr dumpfbackige Kräfte in unserer Gesellschaft.
({6})
An diesen Zukunftsthemen besteht in meinen Augen
kein Mangel, über eine notwendige, gelegentlich auch
tagespolitisch orientierte Tagesordnung hinaus. Einige
dieser Zukunftsthemen in meinen Augen sind:
Was ist mit Freiheit und individueller Selbstbestimmung in Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung?
Wie steht es um die Rückgewinnung des Primats demokratisch legitimierter Institutionen gegenüber einem
entgrenzten digitalen Finanzkapitalismus?
({7})
Was ist mit der Zukunft Europas - ich deutete es an oder des Generationsvertrags vor dem Hintergrund der
Demografie? Es sagt sich leicht: „Das Rentenniveau
muss gesteigert werden“, aber ich müsste der Generation
meiner Kinder und jetzt auch meiner vier Enkelkinder
erzählen, wer das denn eines Tages wie mit Steuern und
Rentenversicherungsbeiträgen bezahlen soll.
({8})
Ein anderes Thema ist der Zusammenhalt unserer
Gesellschaft vor dem Hintergrund unabweisbarer interner Spaltungstendenzen, aber auch der Jahrzehntaufgabe, Zuwanderer und Flüchtlinge zu integrieren, wofür
wahrscheinlich Bildung, Jobs und vor allen Dingen auch
Wohnungen der Schlüssel sind.
Ein weiteres Thema - vielleicht etwas unterbeleuchtet - ist in meinen Augen zunehmend die Frage nach dem
Zusammenleben der großen Weltreligionen.
Ich wünsche Ihnen und mir, dass die politischen Parteien diesseits der Ausfransungen an den politischen
Rändern in ihrer Unterschiedlichkeit und ihrer Unterscheidbarkeit und dieses Haus der Ort sind, wo diese
Auseinandersetzungen in Zukunft stärker stattfinden.
Wir dürfen von den Bürgern nicht als ein Politikkartell
verstanden werden, das ihre Befindlichkeiten wegfiltert.
Und dieses Risiko besteht.
Ich möchte gerne abschließen mit zwei eher banalen
Erkenntnissen.
Als ich vor 47 Jahren in die SPD eintrat, dachte ich,
dass die Verteilung, sagen wir einmal, von Sumpfhühnern und Schlaubergern ziemlich einseitig auf die Parteien verteilt ist.
({9})
Ich gehörte natürlich zur Partei der Schlauberger.
({10})
Inzwischen weiß ich nach einer, wie ich zugebe, längeren
Lernkurve, Herr Kauder,
({11})
dass die Verteilung solcher Sumpfhühner und Schlauberger in und zwischen den Parteien der Normalverteilung
der Bevölkerung folgt.
({12})
Diese Erkenntnis hat mir die fraktions- und parteiübergreifende Zusammenarbeit erleichtert, wofür ich mich
sehr herzlich bedanken möchte.
({13})
Die zweite Erkenntnis ist vielleicht gar nicht so banal.
Ich lernte sehr spät, dass es in der Politik nicht nur darauf
ankommt, was man sagt und was man macht, sondern
auch darauf, wie man dabei guckt.
({14})
Dies habe ich in einer Laudation vor wenigen Wochen
auch dem Kollegen Schäuble noch einmal gesagt.
({15})
Dies, Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und
Herren, war der letzte Ton aus meinem Jagdhorn.
Vielen Dank.
({16})
Lieber Kollege Steinbrück, Sie gehören dem Deutschen Bundestag, aus dem Sie durch eigenen Entschluss
zum Ende dieses Monats ausscheiden, seit 2009 an - viel
weniger lang, als die allermeisten innerhalb und außerhalb des Parlaments vermuten werden. Aber als Staatssekretär, als Landesminister, als Ministerpräsident und als
Bundesfinanzminister waren Sie mehr als 25 Jahre sowohl im Bundestag wie auch im Bundesrat präsent und
haben das politische Leben in Deutschland über ein gutes
Vierteljahrhundert maßgeblich mitbestimmt.
Die Art und Weise Ihrer Arbeit, Ihrer Reden und Ihrer
Schriften über Ihre Arbeit haben breite Beachtung gefunden,
({0})
wenn auch nicht immer nur schiere Zustimmung. Das hat
Sie erkennbar weder überrascht noch wirklich erschüttert.
({1})
Sie haben sich den Widerspruch, gelegentlich vielleicht
auch das Misstrauen Ihrer eigenen Parteifreunde ebenso
hart erarbeitet wie den Respekt Ihrer politischen Gegner.
({2})
Ihre scheinbar ironische Bemerkung vorhin in Ihren
Schlussbemerkungen hat die Repräsentativität dieses
Parlaments für das deutsche Volk noch einmal in unnachahmlicher Weise unterstrichen.
({3})
Als Bundesfinanzminister haben Sie auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise an entscheidender Stelle zusammen mit der Bundeskanzlerin einen wesentlichen
Beitrag zur Bewältigung der Krise und zur Beruhigung
der Öffentlichkeit geleistet.
({4})
Wir verabschieden Sie heute mit Dank und Respekt
aus dem Bundestag in Ihr drittes Leben nach der Politik.
Und falls Sie weiterhin Reden halten und/oder Bücher
schreiben: Reden bzw. schreiben Sie gut über uns!
({5})
Wir haben es verdient. Sie aber auch. Alles, alles Gute!
({6})
Thomas Feist ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({7})
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Peer
Steinbrück hat gerade über die neue Neugier an der Politik gesprochen. Und dort oben auf den Tribünen sitzen
junge Menschen - neugierig, gespannt, bereit, sich in einer repolitisierten Gesellschaft einzubringen.
Genau für diese jungen Leute machen wir das, worüber wir heute sprechen, nämlich Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Und wir als Parlament, Herr
Minister, haben uns ja fraktionsübergreifend darauf verständigt, einen Entschließungsantrag zu dem Bericht der
Bundesregierung einzubringen, um auch von unserer
Seite zu zeigen: Dies ist für uns, und zwar nicht nur für
den Unterausschuss, sondern für das gesamte Haus, ein
wichtiges Thema.
Wenn es die eigene Fraktion schon nicht macht, dann
mache ich es mal: Ich bedanke mich bei den Co-Autorinnen dieses Antrags, bei Frau Schmidt und Frau
Müntefering. So sind wir Kultur- und Bildungspolitikleute eben: Wir schauen über den Tellerrand hinaus. Vielen Dank!
({0})
- Bei Diether Dehm kann ich mich leider nicht bedanken, Stichwort „marxistisches Gedankengut“. Mein lieber Diether, ich kann dir nur sagen: Ich habe 25 Jahre
meines Lebens in einem Land verbracht, das es zum
Glück nicht mehr gibt. Und heute sind einige Worte gefallen, gegen die ich so eine innere Abscheu habe. Also
an diesen Punkten kann ich nicht mitgehen. Wenn dein
proletarisches Selbstbewusstsein es erlaubt, über deinen
eigenen Schatten zu springen und ohne dieses Kampfvokabular auszukommen, dann können wir vielleicht auch
mal weitersehen.
({1})
Ich will jetzt mal versuchen, über Auswärtige Kulturund Bildungspolitik nicht so zu reden, wie es sonst üblich
ist - mit wichtigen und gestelzten Worten -, sondern sie
so zu erklären, wie man es einem Bürger oder einer Bürgerin im Wahlkreis erklärt; denn für sie hat Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik - ich würde es mal so sagen - nicht oberste Priorität. Ich will das anhand einiger
verschiedener Punkte machen, gerade auch im Hinblick
darauf, dass die jungen Leute auf der Tribüne zu einer
politischen Bildungsfahrt nach Berlin gekommen sind
und somit auch etwas mitnehmen sollen. Deswegen will
ich versuchen, es so zu erklären, dass es jeder verstehen
kann.
Wir haben schon mehrere Beispiele aus dem Bereich
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik gehört.
Ein Beispiel ist die Östliche Partnerschaft. In der Östlichen Partnerschaft beschäftigen wir uns mit Staaten, die
im Bereich der ehemaligen Sowjetunion liegen; Ukraine, Moldau, Georgien und andere gehören dazu. Was
wir dort tun, ist etwas, was sich Stärkung der Zivilgesellschaft nennt. Das ist nun auch ein Begriff, den man
wahrscheinlich erklären müsste. Aber Stärkung der Zivilgesellschaft meint, dass wir jungen Leuten, die sich für
ihre Länder engagieren, die ihre Länder aufbauen wollen, die ihre Länder beispielsweise von Vetternwirtschaft
und Korruption wegführen wollen, aber auch denjenigen,
die sich darum kümmern, ein gutes Bildungs- und Wissenschaftssystem einzuführen, eine Möglichkeit geben,
beispielsweise über Stipendien, auch hier in Deutschland
zu studieren. Genau darum kümmert sich die Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik. Der Deutsche Akademische
Austauschdienst ist ganz vorne dabei, aber auch die politischen Stiftungen will ich nicht unerwähnt lassen. Sie
leisten einen Beitrag dazu, dass wir es nicht mit den jeweils Regierenden zu tun haben. Vielmehr entscheiden
wir im Parlament: Wir brauchen Programme für die
Menschen.
Die Östliche Partnerschaft ist nur ein Beispiel. Wir
haben andere Beispiele. Das Goethe-Institut ist genannt
worden. Es hat verschiedene Sachen für das Handy
entwickelt. Ihr könnt ja nachher mal - ich glaube, ihr
musstet eure Handys abgeben oder zumindest leise stellen - draußen schauen, welche Apps das Goethe-Institut zum Beispiel entwickelt hat. Damit kann man nicht
nur Deutsch lernen, sondern es so lernen, dass es ganz
anwendungspraktisch ist. Anwendungspraktisch heißt,
dass man beispielsweise jungen Leuten, die aus anderen
Ländern nach Deutschland geflüchtet sind, Angebote
macht, die es erleichtern, sich im Bereich der beruflichen
Bildung oder auch in der Alltagspraxis zu verständigen.
Das Goethe-Institut will unter dem Stichwort „Digitalisierung“ noch mehr; es will entsprechende Beiträge noch
Präsident Dr. Norbert Lammert
ausbauen. Ich denke, das ist das richtige Signal, gerade
für die jungen Leute.
({2})
Wie wird Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik auch
vor Ort in Deutschland erlebbar? Wir haben beispielsweise eine internationale Sportförderung. Ja, warum nun
Sport? Das machen doch andere auch. Sport deswegen,
weil man für Sport erst mal keine Worte braucht, weil
beim Sport ein Teamgeist dahintersteht. Und natürlich
darf es auch Spaß machen; das ist ja nicht verboten. Insofern geht es um Außenpolitik, die auch Spaß machen
darf. Was wir dort tun, ist, dass wir beispielsweise jungen Trainern aus aller Welt die Möglichkeit geben, sich
gemeinsam fortzubilden und in den Fortbildungslehrgängen nicht nur etwas über Sport zu lernen, sondern auch
über unser Land und unsere Kultur.
Nun komme ich aus Leipzig; das liegt in Sachsen.
Wenn man sich mal anschaut, was die internationale
Presse über Sachsen schreibt, dann stellt man fest: Das ist
nicht unbedingt nur das, was ich wahrnehme. Insofern ist
es wichtig, dass wir jungen Leuten in diesem Bereich die
Möglichkeit geben, zu uns zu kommen und sich mal vor
Ort anzuschauen, was es da für Menschen gibt. Dass wir
diese Möglichkeit bieten, ist eine gute Sache. Da sollten
wir in Zukunft noch etwas stärker investieren.
({3})
Ein letzter Punkt, den ich ansprechen möchte, hat nun
wirklich ganz speziell mit euch zu tun. Es gibt ja viele
Jugendfreiwilligendienste. Das heißt, man kann nach der
Schule ein Freiwilliges Soziales Jahr im Bereich der Kultur oder in der Politik machen; auch ein Freiwilliges Ökologisches Jahr gibt es. Wir haben seit einiger Zeit auch
beim Auswärtigen Amt so ein Freiwilligenprogramm; es
heißt „kulturweit“. Dieses Programm „kulturweit“ gibt
jährlich ungefähr 500 jungen Menschen die Möglichkeit, nicht nur ins Ausland zu gehen, sondern auch dort
zu arbeiten, unterstützend tätig zu sein, wo Auswärtige
Kultur- und Bildungspolitik geschieht. Sie werden zum
Beispiel im großen Netzwerk der PASCH-Schulen eingesetzt; das sind Schulpartnerschaften zwischen Schulen im Inland und solchen im Ausland, in denen es ein
besonderes Angebot für das Unterrichten der deutschen
Sprache gibt. Es ist natürlich richtig, dass die Motivation
von jungen Menschen, die deutsche Sprache zu erlernen,
dann, wenn sie als Schüler dort auf Gleichaltrige treffen,
wesentlich größer ist, als wenn wir Berufspolitiker oder
Lehrer erzählen, wie wichtig das ist. Es ist eine gute Sache, dass wir in diesem Bereich initiativ geworden sind.
Man kann zum Beispiel auch beim Goethe-Institut
arbeiten oder bei der Deutschen UNESCO-Kommission, die für das Programm selbst verantwortlich ist. Die
Deutsche UNESCO-Kommission - es ist angesprochen
worden - setzt sich für das Weltkulturerbe ein; aber das
Weltkulturerbe ist nicht nur in Stein gehauen, das sind
auch wir. Wir selbst sind doch Teil unserer Kultur.
Mit dem „kulturweit“-Programm sorgen wir nun dafür - das ist fast eine Werbeveranstaltung, aber es lohnt
sich -, dass junge Menschen für ein halbes Jahr oder ein
Jahr ins Ausland geschickt werden. Und wenn sie zurückkommen, sind sie völlig ausgewechselt. Ich selber habe
lange Jahre Jugendaustauschprogramme organisiert. Das
Schönste ist erstens, die jungen Menschen wachsen zu
sehen, und zweitens, ihre Gesichter zu sehen, wenn sie
wiederkommen.
Ich teile mit dem Bundesaußenminister einen Lieblingssatz. Er stammt von Alexander von Humboldt und
lautet:
Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.
Uns geht es mit der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik also darum, dass wir jungen Menschen
die Möglichkeit geben, sich selbst vor Ort ein Bild zu
machen und mit anderen Eindrücken zurückzukommen,
aber auch darum, im Ausland ein anderes, ein differenzierteres Deutschlandbild vermitteln. Wir zeigen mit
unserem fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag,
dass wir gewillt sind, hier noch mehr zu tun. Ich denke,
das sollte, nachdem wir, wie gesagt, schon einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag vorgelegt haben, ein Anliegen aller Parlamentarier hier im Deutschen
Bundestag sein.
({4})
Zum Abschluss dieser Aussprache hat das Wort der
Kollege Dr. Christoph Bergner für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
letzter Redner einer breiten, facettenreichen Debatte im
Schatten der beeindruckenden Abschiedsrede von Peer
Steinbrück ist es natürlich nicht so ganz leicht, sich thematisch auf etwas zu konzentrieren, was vielleicht einen
Schlussakzent setzen kann. Ich habe mich entschlossen,
ein Thema aufzugreifen, das bei der Erarbeitung unseres
Antrags durchaus kontrovers diskutiert wurde, und das
ist die Frage des europäischen Zusammenhalts als eine
kulturpolitische Herausforderung.
Wir haben uns daran gewöhnt, zu sagen, dass der Brexit gewissermaßen einen Wendepunkt markiert, dass er
ein Weckruf für Europa ist und dass die europäische Politik auf diesen Weckruf reagieren muss. Die inzwischen
stattgefundenen Treffen und Gipfel - Bratislava, um nur
ein Beispiel zu nennen - zeigen, wie man - im Bereich
der Wirtschaftsmarktpolitik, wie man im Bereich der
Freizügigkeit und wie man im Bereich der Währungspolitik sowie der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik
versucht - auf diesen Weckruf reagieren kann.
({0})
Meine Fragen in dieser Debatte sind: Ist der Brexit
auch ein Weckruf für die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, und wie sollen wir dann, wenn wir dies bejahen, diesen Weckruf aufnehmen?
Die Antwort auf die erste Frage scheint mir relativ
naheliegend zu sein. Wir tun gut daran, diesen Weckruf
auch als einen kulturpolitischen Weckruf zu betrachten;
denn - das ist deutlich geworden, und Peer Steinbrück
hat es ja auch gesagt - allein die Bindekräfte des gemeinsamen Marktes, allein die Bindekräfte der gemeinsamen
Währung, allein die Bindekräfte der Freizügigkeit reichen erkennbar nicht aus, um das Gemeinschaftsgefühl
zu festigen, das wir in Form von europäischer Solidarität,
geschlossener Außenpolitik und wechselseitigem Verständnis bei Herausforderungen wie der Flüchtlingskrise
brauchen.
({1})
Deshalb würde ich die erste Frage uneingeschränkt bejahen und sagen: Ja, wir sind gut beraten, auch in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik Handlungsbedarf
zu sehen und diesen Handlungsbedarf aufzugreifen. Dies
ist Gegenstand unseres Entschließungsantrags geworden.
Damit stellt sich natürlich die zweite Frage: In welcher
Weise soll der Handlungsbedarf aufgegriffen werden?
Ich möchte es riskieren, zu sagen: Wir müssen um eine
gemeinsame europäische Identität ringen, die wir nicht
in ausreichendem Maße haben. Wenn wir dies als eine
Aufgabe der Kulturmittler betrachten, dann stellt sich natürlich die Frage: Wie sollen wir zu den angemessenen
Antworten kommen? Diese Diskussion ist nicht einfach;
denn sie fällt in eine Zeit, in der identitäre Bewegungen
und Ideologien sich mal nationalistisch, mal ausschließlich europäisch-abendländisch, mal islamophob abzugrenzen und so Identitätsmuster aufzubauen versuchen;
jedenfalls suchen diese Ideologien bewusst den Konflikt
mit der Grundwertecharta der Europäischen Union.
Die Antwort ist auch deshalb schwer, weil wir - davon
bin ich überzeugt - Identität nicht in der Grenzenlosigkeit
finden, weil wir, wenn wir Identität suchen, die Grenzen
unserer Identitätsbezüge suchen müssen, Grenzen, die
Peer Steinbrück das „normative Projekt des Westens“
genannt hat. Viele wohlmeinende Akteure, auch in der
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, flüchten sich
geradezu in die Grenzenlosigkeit und weichen der Frage:
„Was ist typisch europäisch?“ in einer Weise aus, die ich
nicht nachvollziehen kann.
Die Debatte über die europäische Identität fällt in eine
Zeit, in der nationalstaatliche Leitbilder im Sinne einer
antieuropäischen Zielstellung in den Parteienlandschaften Europas revitalisiert werden. Die Lehre, die wir daraus ziehen können, ist, dass europäische Identität immer
nur als Konglomerat nationaler und regionaler Identifikationen verstanden werden kann. Es wäre unklug, weil wir
eine europäische Identität pflegen wollen, die nationalen
Identitäten zu verteufeln. Wir müssen die Bindekräfte
dieses Konglomerats suchen. Dies halte ich für eine sehr
wichtige Herausforderung.
({2})
Die Suche nach der europäischen Identifikation fällt
in eine Zeit, in der die östlichen EU-Mitgliedstaaten in
der Flüchtlingsfrage Identitätskriterien geltend machen keine muslimischen Zuwanderer -, die im westlichen
Europa längst zur Disposition gestellt wurden. Auch hier
empfehle ich uns sehr, gegenüber den Osteuropäern nicht
die Schulmeister zu spielen, sondern diese Identitätsfragen, die mit den osteuropäischen Kulturkonzepten verbunden sind, zum Gegenstand eines ehrlichen Dialogs zu
machen.
All diese Probleme und Schwierigkeiten unterstreichen aus meiner Sicht, dass europäische Identifikation als
ein Arbeitsgebiet der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik ernst genommen werden muss. Hier sind einige
Ansätze schon genannt worden: Netzwerke wie EUNIC,
Kulturhauptstädte Europas. In der letzten Sitzung des
Unterausschusses wurde das Projekt „Europäisches Kulturerbejahr 2018“ vorgestellt. Ich muss zugeben, dass ich
von den Darstellungen der brandenburgischen Wissenschaftsministerin und des zuständigen Geschäftsführers
etwas enttäuscht war. Ich hätte mir gewünscht, dass sie
konkreter und programmatischer gewesen wären. Der
Grundsatz des Europäischen Kulturerbejahres „Europas
kulturelles Erbe“ ist aber ein maßgeblicher und unverzichtbarer Bestandteil unserer gemeinsamen europäischen wie auch lokalen Identität. Dieser Grundsatz ist
im Sinne des Anliegens nur zu unterstreichen. Ich appelliere, dass wir aus diesem Europäischen Kulturerbejahr
etwas machen.
Es lassen sich weitere Beispiele nennen. Ein beliebtes
Beispiel von mir sind die deutschen Minderheiten, die
nicht als Außenstellen nationaler deutscher Selbstdarstellung, sondern als Zeugen der Vielfalt europäischer Siedlungsgeschichte betrachtet werden können. Ich will nur
beispielhaft erwähnen, dass die „Stiftung Kirchenburgen“ in Rumänien - wie ich gerade in diesen Tagen gehört habe - unter der Schirmherrschaft des rumänischen
Staatspräsidenten und des deutschen Bundespräsidenten
steht. Dies begrüße ich sehr und betrachte ich auch als
eine besondere Verpflichtung.
Ich will weiterhin, um auf die Polemik von Herrn
Dehm zu reagieren, die östliche Nachbarschaftspolitik
erwähnen; für die Aufstockung der entsprechenden Mittel haben wir uns eingesetzt. Die Frage, wie wir zu unseren östlichen Nachbarn die Hand ausstrecken und wie
wir gesellschaftspolitische Konzepte mit ihnen diskutieren, ist eine entscheidende Frage für das europäische
Selbstverständnis und eine große Bewährungsprobe für
die europäische Identitätssuche.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. Danke
schön.
({3})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die
Grünen sowie zum 19. Bericht der Bundesregierung zur
Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auf der Drucksache 18/7888. Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und
Bündnis 90/Die Grünen wünschen Kenntnisnahme des
Berichtes in Verbindung mit der Abstimmung über ihren
Entschließungsantrag. Die Fraktion Die Linke wünscht
Überweisung des Berichts an die in der verteilten Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse. Deshalb stimmen wir
nach ständiger Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberweisung ab.
Wer für die von der Fraktion Die Linke beantragte Überweisung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich sehe
keine Enthaltungen. Dann ist diese Überweisung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD sowie Bündnis 90/Die
Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Deshalb kommen wir jetzt zum nächsten Schritt.
Wer in Kenntnis des genannten Berichts, den wir gerade diskutiert haben, für den Entschließungsantrag auf
der Drucksache 18/9796 stimmt, den bitte ich um das
Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den
Stimmen des gesamten Hohen Hauses angenommen.
({0})
Das kommt nicht so häufig vor und ist auch nicht selbst-
verständlich; es zeugt von einem hohen Maß an Ge-
schlossenheit.
Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Halina Wawzyniak, Frank Tempel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Mietpreisbremse wirkungsvoll ausgestalten
Drucksache 18/9123
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({1})
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Caren
Lay, Dr. Gesine Lötzsch, Halina Wawzyniak,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Dragoner-Areal dem Land Berlin zum Kauf
anbieten
Drucksache 18/9790
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz ({3}) zu dem Antrag der Ab-
geordneten Caren Lay, Herbert Behrens, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Mieterinnen und Mieter besser schützen -
Zweite Mietrechtsnovelle vorlegen
Drucksachen 18/8863, 18/9696
d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({4})
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Gesine
Lötzsch, Heidrun Bluhm, Caren Lay, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Privatisierung von Bundesliegenschaften
stoppen - Liegenschaftspolitik des Bundes
nachhaltig reformieren
Drucksachen 18/4419, 18/6686
Über zwei Beschlussempfehlungen zu den Anträgen
der Fraktion Die Linke werden wir am Ende dieser Aussprache namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 77 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
dagegen erhebt sich nicht; somit ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin der Kollegin Caren Lay für die Fraktion Die Linke
das Wort.
({5})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Mieten in den Großstädten explodieren. Sie stiegen in den letzten Jahren in manchen Städten um 30, 40,
in Berlin mancherorts sogar um 50 Prozent. Da dürfen
wir als Politik nicht länger zusehen. Diesen Mietenanstieg müssen wir bremsen. Dieser Mietenanstieg muss
endlich gedeckelt werden.
({0})
Die Mietpreisbremse, die genau das eigentlich tun
sollte, entpuppt sich leider immer mehr als ein Flop.
Hier in Berlin zum Beispiel sind trotz Einführung der
Mietpreisbremse im selben Jahr die Mieten um bis zu
17 Prozent gestiegen. Drei Studien infolge, zuletzt die
des Deutschen Mieterbundes, kommen zu dem Ergebnis:
Die Mietpreisbremse ist größtenteils wirkungslos. - Ich
freue mich natürlich, dass es jetzt aus der SPD hieß, die
Mietpreisbremse müsse nachgebessert werden. Auch von
der CDU, von Herrn Luczak, hieß es, er würde sich dem
nicht verweigern. Da bin ich tatsächlich gespannt.
({1})
Ich hoffe, dass diese späte Einsicht ernst gemeint ist
und nicht zufällig der Tatsache geschuldet war, dass in
Berlin zwei Wochen später gewählt wurde. Wir müssen
einfach feststellen: An diesem Gesetz stimmt nur die
Überschrift. Das muss sich endlich ändern.
({2})
Dem Vorschlag, der im Raum steht, nämlich mehr
Transparenz über die Höhe der Vormiete zu schaffen,
würden wir uns als Linke nicht verweigern. Ich muss
aber auch ganz klar sagen: Das würde die Verantwortung
natürlich immer noch beim Mieter belassen. Deswegen
wäre es aus unserer Sicht viel zielführender, wenn wir
endlich die ganzen Ausnahmen streichen. Egal ob bei
Neubau, ob bei Modernisierung oder bei möblierten
Wohnungen, streichen Sie diese Ausnahmen. Das wäre
der richtige Weg.
({3})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Es kann natürlich auch nicht sein, dass ein Vermieter,
der die Mietpreisbremse ganz bewusst unterläuft, nicht
mit Strafen rechnen muss. Deswegen sagen wir als Linke: Wir brauchen hier empfindliche Sanktionen. Das sind
wir den Mieterinnen und Mietern schuldig.
({4})
Wir dürfen sehr gespannt sein, ob in dieser Legislaturperiode von der Koalition noch etwas zu diesem Thema
kommt. Unser Antrag liegt auf dem Tisch. Ich bin gespannt, wie Sie sich dazu verhalten.
Ein nächster Punkt. Seit November letzten Jahres
verspricht uns Heiko Maas einen besseren Schutz von
Mieterinnen und Mietern, zum Beispiel vor zu hohen
Modernisierungskosten. Dieser Vorschlag - er nennt sich
im Fachjargon zweite Mietrechtsnovelle - dümpelt seit
einem Dreivierteljahr in den Ministerien vor sich hin. Die
CDU/CSU läuft dagegen Sturm und blockt diesen Gesetzentwurf ab. Das kann einfach nicht sein.
Es gibt einen wirklich sehr guten Film. Diesen möchte
ich Ihnen, der CDU/CSU-Fraktion, und auch Ihnen, Herr
Luczak, ganz persönlich als eine Art kollektive Weiterbildungsmaßnahme empfehlen.
({5})
Denn ich habe nicht das Gefühl, dass Sie wirklich wissen, was in unseren Städten eigentlich los ist.
({6})
Schauen Sie sich diesen Dokumentarfilm bitte an.
Er heißt Die Stadt als Beute . Er ist vom Filmemacher
Andreas Wilcke und läuft im Moment in den Kinos. Der
Film dokumentiert die Gier der Spekulanten und das
Versagen der Politik. Er zeigt auch auf, wo das Problem
bei der Modernisierungsumlage liegt. Ein Makler sagt
völlig unverblümt zu Investoren: Nehmen Sie ein bisschen Geld in die Hand, machen Sie die Wohnung schön.
Modernisierung ist die beste Kapitalanlage. - Leider hat
er da völlig recht. 11 Prozent der Modernisierungskosten
kann der Vermieter Jahr für Jahr auf die Miete umlegen.
Wo sonst gibt es solch eine hohe Rendite und dann auch
noch staatlich garantiert? Das muss sich endlich ändern.
({7})
Im Ergebnis heißt das doch - das wissen auch Sie -,
dass der Mieter für einen neuen Balkon, den er gar nicht
haben will und gegen den er sich aber nicht wehren kann,
im Laufe der Zeit einmal, zweimal, dreimal und viermal
an den Vermieter zahlen muss. Das hat doch mit sozialer
Gerechtigkeit nichts zu tun. Das ist einfach nur Ausbeutung.
({8})
Wissen Sie, ich bin der festen Überzeugung, dass wir
diese Modernisierungsumlage abschaffen müssen. Wir
haben das hier schon beantragt. Das haben Sie leider abgelehnt. Wir haben heute einen neuen Antrag vorgelegt,
in dem wir versuchen, das festzuhalten, was eigentlich
Konsens sein müsste, nämlich zum Beispiel dass man
diese Modernisierungsumlage zumindest absenkt und
dass man den Mietspiegel neu berechnet; denn so, wie er
bis jetzt berechnet wird, macht er Mieterhöhungen zum
Gesetz. Das darf doch nicht wahr sein.
({9})
- Natürlich ist es so. Wenn man die Mieten der letzten
vier Jahre in die Berechnung hineinnimmt und die Mieten in diesen vier Jahren um 30 oder 40 Prozent steigen,
dann macht man Mieterhöhungen zum Gesetz. Das können Sie nicht abstreiten. So ist es einfach. Das muss sich
ändern.
({10})
Das ist genau der Grund, warum wir hier eine Formulierung gewählt haben, wie sie auch die SPD wählen
würde, wie sie auch im Gesetzentwurf von Herrn Maas
steht. Wissen Sie, diesen Widerspruch wie gerade aus der
SPD-Fraktion brauche ich jetzt wirklich nicht. Wir sagen
ganz klar: Warten Sie nicht auf Ihren Koalitionspartner.
Wenn Sie warten, bis die Union irgendeine Verbesserung
für die Mieterinnen und Mieter vorlegt, dann wird es in
dieser Legislatur nichts mehr. Ich glaube, wir können
feststellen: Wenn dieses Gesetz zum besseren Schutz
der Mieterinnen und Mieter nicht bald eingebracht wird,
dann wird es in dieser Legislatur nichts mehr. Dann müssen die Mieterinnen und Mieter bis 2018 warten, bis sich
irgendetwas verbessert. Das kann einfach nicht sein.
({11})
Wir geben Ihnen die Chance, unserem Antrag - der so
formuliert ist, dass er nicht nur für uns, sondern auch für
SPD und Grünen zustimmungsfähig ist - zuzustimmen,
sodass er hier eine Mehrheit findet.
({12})
Da muss sich natürlich auch die Union Gedanken machen. Auch Sie müssen sich langsam einmal die Frage
stellen: Machen Sie hier weiter Politik für die Kapitalanleger oder endlich einmal für die Mieterinnen und Mieter?
({13})
Das tun Sie aber nicht; das ist das zentrale Problem.
({14})
Aber auch die SPD möchte ich daran erinnern, dass
für die Vorschläge, die wir gemeinsam teilen, in diesem
Hohen Hause eine Mehrheit da wäre. Wir hätten ja zusammen eine Mehrheit für diesen Antrag.
({15})
Ich weiß, dass es ungewöhnlich ist, Anträgen der Opposition zuzustimmen. Sie könnten hier und heute für einen
besseren Schutz der Mieterinnen und Mieter stimmen,
aber aus Gründen der Koalitionsdisziplin tun sie es nicht.
Erklären Sie das bitte einmal den Leuten. Das versteht,
ehrlich gesagt, wirklich kein Mensch. Deswegen muss
ich an die Adresse der SPD sagen: Haben Sie ein bisschen Mut, und stimmen Sie unseren Anträgen zu!
({16})
Die Mieterinnen und Mieter würden es Ihnen danken, die
Wählerinnen und Wähler übrigens auch.
Vielen Dank.
({17})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. JanMarco Luczak.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir haben in Deutschland etwa 42 Millionen
Wohnungen. Etwa die Hälfte davon sind Mietwohnungen. Klar ist: Eine Wohnung ist weit mehr als nur ein
Dach über dem Kopf; sie ist auch Rückzugsraum und
Stätte persönlicher Entfaltung. Deswegen ist für uns als
Union völlig klar: Wir wollen nicht, dass Menschen aus
ihren angestammten Wohnvierteln verdrängt werden,
weil sie sich - gerade in großen Städten und Ballungszentren - ihre Miete nicht mehr leisten können. Wir wollen auch nicht, dass junge Familien aus ihren Wohnungen
„herausmodernisiert“ werden. Was wir wollen, ist, dass
wir in den angestammten Wohnvierteln sozial ausgewogene Mischungen haben. Das ist für uns als Union eine
Selbstverständlichkeit.
({0})
Dazu brauchen wir die Anträge der Opposition an dieser
Stelle nicht.
Was das Ziel betrifft, besteht zwischen allen Fraktionen im Hohen Haus Einigkeit, dass wir in Deutschland
mehr bezahlbaren Wohnraum brauchen. Nur, die Frage
ist: Wie erreichen wir denn dieses Ziel? Klar ist: Hier gibt
es keine einfachen Lösungen. Es gäbe auch keine Lösungen, wenn wir den populistischen Forderungen, die uns
die Linke hier präsentiert, folgen würden.
({1})
Es gibt deswegen keine einfachen Lösungen, weil wir
unterschiedliche Zielsetzungen haben, die allesamt wichtig sind und die wir zusammenführen müssen. Natürlich
geht es um bezahlbaren Wohnraum. Aber es geht in gleicher Weise auch um die energetische Sanierung unseres
Wohnungsbestandes; denn wir haben wichtige Klimaziele, die wir alle miteinander erreichen wollen. Es geht
auch um den altersgerechten Umbau. Unsere Gesellschaft wird älter. Wir müssen auf diesen demografischen
Wandel reagieren. Deswegen müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass altersgerechter Umbau möglich ist. Welche Maßnahmen zielführend und richtig sind
und welche nicht, darüber diskutieren wir gerade innerhalb der Koalition.
Ich fange beim bezahlbaren Wohnraum an. Da haben
wir als Koalition bereits reagiert. Wir haben im letzten
Jahr die Mietpreisbremse eingeführt, um die Mieter
kurzfristig vor steigenden Mieten zu schützen. Linke und
auch Grüne fordern jetzt, die Mietpreisbremse zu verschärfen und die Ausnahmen zu streichen.
({2})
Richtig ist: Die Wirkung der Mietpreisbremse - das sagen uns verschiedene Studien - ist umstritten.
({3})
Aber ich will mich jetzt gar nicht so sehr bei den einzelnen Studien aufhalten. Man könnte nämlich bei jeder
Studie sehr viel zur Methodik sagen, die in Teilbereichen
sehr angreifbar ist. Deswegen finde ich es richtig, dass
das Justizministerium eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben hat, um die Wirksamkeit der Mietpreisbremse zu hinterfragen. Klar ist jedenfalls für uns als
Union: Die Mietpreisbremse muss in der Praxis funktionieren; deswegen schauen wir da auch sehr genau hin.
({4})
Wir als Gesetzgeber haben an Vermieter die klare
Erwartung, dass sie sich an die Mietpreisbremse halten. Deswegen haben wir den Mietern auch Rechte an
die Hand gegeben. Sie können gegen überhöhte Miete
vorgehen und dann die zu viel gezahlte Miete zurückverlangen. Das ist auch gut und richtig. Ich kann nur alle
Mieter auffordern: Nehmt die Rechte, die wir euch gegeben haben, wahr!
({5})
Klar ist auch - das wird hier immer falsch dargestellt -: Wenn ein Vermieter falsche Angaben zur Vormiete macht, dann ist das strafbar. Das ist glasklar als
Betrug strafbar. Deswegen stimmt es einfach nicht, wenn
hier immer behauptet wird, es gebe keine Sanktionen bei
der Mietpreisbremse. Wir haben hier das Strafrecht als
Instrument. Das ist sogar die schärfste Sanktionsmöglichkeit, die wir als Gesetzgeber vorsehen können.
({6})
Die Linke fordert hier trotzdem eine Verschärfung der
Mietpreisbremse, nämlich die Abschaffung aller Ausnahmen.
({7})
Richtig ist: Natürlich gibt es bei der Mietpreisbremse
Ausnahmen. Jede dieser Ausnahmen ist aber berechtigt
und hat auch gute Gründe.
Ich komme zum Neubau. Ein Neubau ist heutzutage
teuer. Sie können einfach nicht neue Wohnungen bauen,
die zu einer Miete in Höhe von 10 Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete angeboten werden. Das schaffen Sie einfach nicht. Wenn wir keine Ausnahme für den
Neubau hätten, dann hätte das zur Folge, dass niemand
mehr neue Wohnungen bauen würde. Wir hätten weniger Angebot auf dem Markt, und deswegen würden die
Mieten weiter steigen. Deshalb ist die Ausnahme für den
Neubau, die wir hineinverhandelt haben, genau richtig.
({8})
Genauso richtig ist es im Übrigen, dass es eine Ausnahme bei bestehender Vormiete gibt. Wir müssen den
Bestandsschutz gewährleisten, weil das eine Frage der
Rechts- und Finanzierungssicherheit ist. Wir können hier
nicht auf laufende Vertragsverhältnisse einwirken. Das
ist auch mit Blick auf Artikel 14 unseres Grundgesetzes
eine zwingende verfassungsrechtliche Voraussetzung.
Ebenso richtig ist schließlich auch die Ausnahme bei
umfassenden Modernisierungen. Ich habe es gerade gesagt: Wir wollen doch alle miteinander, dass die Wohnungen modernisiert werden. Wir wollen den altersgerechten Umbau und die energetische Sanierung. Das ist
aber teuer. Wenn wir den Vermietern sagen: „Ja, du sollst
modernisieren“, während er die Modernisierung in keiner Weise finanzieren und wirtschaftlich tragfähig darstellen kann, dann wird doch hinterher die Folge sein,
dass niemand mehr modernisiert, und das kann doch
nicht das Ziel sein.
Frau Lay, an dieser Stelle sage ich Ihnen: Sie streuen hier den Leuten Sand in die Augen, indem Sie sagen,
man könne jetzt 11 Prozent auf die Miete umlegen, was
gleichzusetzen sei mit der Rendite. Ich glaube, Sie wissen es besser, dass das natürlich überhaupt nichts miteinander zu tun hat.
({9})
Es geht darum, die Kosten umzulegen. Hier müssen wir
natürlich ran. Es gibt ein niedriges Zinsniveau, und wir
sind auch gesprächsbereit, wenn es darum geht, diese
Modernisierungsumlage zu senken.
({10})
Streuen Sie den Menschen hier aber nicht Sand in die
Augen, indem Sie sagen, dass eine Modernisierungsumlage von 11 Prozent gleichzeitig die Rendite ist, die die
Vermieter erzielen. Das, was Sie hier machen, ist einfach
nicht redlich, und das könnten Sie einmal korrigieren und
zurücknehmen.
({11})
Noch einmal: Jede dieser Ausnahmen - es geht um
den Neubau, die Vormiete und die umfassende Modernisierung - hat ihre Berechtigung. Deswegen sagen wir als
Union an dieser Stelle auch ganz klar: Mit uns wird es
keine Streichung dieser Ausnahmen und auch keine andere Verschärfung der Mietpreisbremse geben, weil wir
nicht wollen, dass die Mietpreisbremse zu einer Investitionsbremse wird.
Ich will trotzdem sagen: Wir geben unser Ziel, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, hier nicht auf. Klar muss
aber auch sein: Die Mietpreisbremse ist kein Allheilmittel gegen steigende Mieten. Das war uns doch allen miteinander klar. Wir müssen nicht nur an den Symptomen
ansetzen, sondern auch die Ursachen von steigenden
Mieten bekämpfen. Das Mietrecht im Allgemeinen und
die Mietpreisbremse im Speziellen können dazu aber nur
einen ganz kleinen Beitrag leisten. Sie sind zwei Bausteine in einem ganzen Bündel von Maßnahmen, die wir
durchführen müssen.
Im Kern geht es doch darum: Wir haben in unserem
Land zu wenig Wohnungsbau. Deswegen hilft nur eines,
wenn wir steigende Mieten nachhaltig bekämpfen wollen: Wir müssen bauen, bauen, bauen, und zwar mehr
und schneller.
({12})
Hier sind vor allen Dingen auch die Länder und Kommunen in der Pflicht. Wir haben bei der Einführung der
Mietpreisbremse gesagt: Die Länder, die das einführen,
müssen ein Maßnahmenpaket beschließen und sagen,
wie sie mehr Wohnungsneubau schaffen wollen. Wenn
ich mir die einzelnen Länder einmal anschaue, muss ich
sagen: Da ist relativ wenig passiert. - Ich gucke hier
auch einmal auf meine eigene Stadt, Berlin: Berlin baut
im Verhältnis zu Hamburg nur halb so viele Wohnungen.
Dann muss man sich auch nicht wundern, dass die Mieten hier ansteigen.
({13})
Wir müssen mehr für den Wohnungsbau tun. Wir als
Bund nehmen hier auch unsere Verantwortung wahr. Wir
haben die Mittel für die soziale Wohnraumförderung in
den letzten Jahren massiv erhöht. Ab 2017 werden jedes
Jahr 1,5 Milliarden Euro dafür zur Verfügung stehen.
({14})
Wir geben den Ländern diese Mittel, damit sie dafür sozialen Wohnungsbau betreiben. Und was tun die Länder?
Sie machen damit alles Mögliche, aber sie bauen keine neuen Wohnungen. Deswegen sage ich: Das geht so
nicht. Wir brauchen eine klare Zweckbindung für diese
Mittel, damit sie auch da ankommen, wo sie ankommen
sollen. Das müssen wir als Bund auch kontrollieren.
({15})
Es gibt noch ganz viele Punkte, bei denen die Länder
in der Verantwortung sind. Es geht darum, mehr Bauland auszuweisen und die bauordnungsrechtlichen Vorschriften zu entschlacken, sodass man im urbanen Raum
nachverdichten und auf den Dächern die Potenziale für
Wohnungen heben kann. Es muss einfacher werden,
und wir müssen schneller werden. Wir müssen an den
Standards ansetzen. Wir können es daran sehen: Nur die
EnEV 2016 verteuert das Bauen um bis zu 8 Prozent.
({16})
Meine Damen und Herren, natürlich ist es so, dass
diese Verteuerung hinterher bei den Mietern ankommt.
Wenn ich das Bauen teurer mache, dann werden hinterher
auch die Mieten höher sein. So einfach ist die Rechnung.
({17})
Deswegen müssen wir alles tun, damit sich das Investitionsklima für Wohnungsneubau nicht verschlechtert,
sondern es muss sich verbessern.
({18})
Da müssen wir dann auch über steuerliche Förderung
nachdenken.
Es gab ein Projekt, das wir in der Koalition fast schon
bis zum Abschluss gebracht haben. Das ist leider auf den
letzten Metern, auf der Zielgeraden, an der SPD gescheitert. Ich bedaure es sehr, dass wir keine Einigung mit dem
Koalitionspartner hinbekommen haben.
({19})
Da kann ich nur hoffen, dass die SPD zur Einsicht
kommt. Wir brauchen mehr steuerliche Förderung, damit wir mehr Wohnungen neu bauen können. Das ist zum
Wohle der Mieterinnen und Mieter in unserem Land,
meine Damen und Herren.
({20})
Natürlich müssen sich auch die Länder an die eigene Nase fassen und sehen, was sie sonst alles machen.
Ich denke zum Beispiel an die Grunderwerbsteuer. Das
Aufkommen aus dieser Steuer ist in den letzten Jahren
massiv angestiegen, weil fast alle Länder, bis auf Sachsen und Bayern - da liegt die Grunderwerbsteuer immer
noch bei 3 Prozent -, die Grunderwerbsteuer massiv
erhöht haben. Die Linke in Thüringen plant gerade, die
Grunderwerbsteuer zum Anfang nächsten Jahres zu erhöhen. Das rot-rot-grüne Bündnis, das sich hier in Berlin
anschickt, die Macht zu ergreifen
({21})
- das war eine schlechte Formulierung, das gebe ich gerne zu -, plant ebenfalls, die Grunderwerbsteuer zu erhöhen.
({22})
Da muss man schon einmal, liebe Kollegen von den
Linken, Ihrem thüringischen Ministerpräsidenten sagen:
Wenn Sie das Bauen so teuer machen, dann werden auch
die Mieten steigen.
Das ist das Gegenteil dessen, was wir brauchen. Wir
brauchen stattdessen ein ausgewogenes Paket, von dem
wir sagen können: Natürlich nehmen wir den Anspruch
auf bezahlbaren Wohnraum ernst. Wir wollen den Mieterinnen und Mietern helfen, damit sie nicht verdrängt
werden. Aber wir brauchen Investitionsbedingungen, mit
denen Neubau ermöglicht wird. Dafür brauchen wir ein
ausgewogenes Paket.
In dem Paket, das uns als Mietrechtspaket II vorliegt,
ist nicht alles falsch.
({23})
Aber in der Summe führt es dazu, dass sich die Investitionsbedingungen massiv verschlechtern werden. Deswegen rufe ich die SPD auf: Setzen wir uns zusammen,
um ein vernünftiges Paket zu schnüren, mit dem wir die
unterschiedlichen Interessen - bezahlbarer Wohnraum,
altersgerechter Umbau und energetische Sanierung - zusammenbringen können.
({24})
Dann können wir auch wirklich etwas für die Menschen
in unserem Land tun.
Vielen Dank.
({25})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege
Christian Kühn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher auf der Tribüne! Werte Kolleginnen
und Kollegen! Herr Luczak, ich lade Sie ein, im Internet
die Seite von Immobilienscout aufzurufen.
({0})
Das können wir auch gemeinsam machen.
({1})
Schauen wir uns einfach einmal an, was in Berlin, Ihrer Stadt, beispielsweise in Kreuzberg, angeboten wird:
10 Quadratmeter kosten 590 Euro, 59 Euro der Quadratmeter. Skandalös, oder?
({2})
Ich sage Ihnen eins: Dieser Preis gilt für eine Wohnung in einem Gebiet mit Mietpreisbremse. Wie ist das
möglich? Weil diese Wohnung möbliert ist. Das ist nur
ein Beispiel für die vielen Schlupflöcher und Ausnahmen, die Sie in dieses Gesetz hineingeschrieben haben.
({3})
Deswegen funktioniert die Mietpreisbremse nicht.
({4})
Die Schlupflöcher sind: umfassende Modernisierung,
Neubau, Rügepflicht, fehlende Transparenz; das haben
Sie alles beschrieben. Diese Schlupflöcher müssen Sie
stopfen, sonst wird diese Bremse nicht bremsen.
({5})
Die Menschen auf den 300 angespannten Wohnungsmärkten, auf denen die Mietpreisbremse gilt, warten darauf, dass Sie von der Union Ihr Versprechen aus dem
letzten Bundestagswahlkampf, die Mieten in Deutschland zu begrenzen, endlich wahrmachen. Ansonsten produzieren Sie Politikverdrossenheit und schützen eben
nicht Mieterinnen und Mieter, sondern stellen sich vor
diejenigen, die in Deutschland die asoziale Praxis des
Heraussanierens betreiben und die Menschen übervorteilen.
({6})
Herr Luczak, nach Ihrer Rede ist mir eins klar geworden: Sie wollen einfach nicht, dass die Mietpreisbremse
funktioniert. Das ist die Position der Union. Ich finde, das
ist heute sehr deutlich geworden.
({7})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle, die Mietenpolitik machen - ich meine die vielen Kolleginnen und
Kollegen aus der Linkspartei und der SPD und andere -,
bekommen Briefe von verzweifelten Mieterinnen und
Mietern in Deutschland, weil sie Ankündigungen für eine
Modernisierung, verbunden mit einer Mietpreissteigerung von bis zu 200 Prozent, erhalten haben. Sie wissen
nicht, ob sie in den nächsten Monaten noch in ihrer Wohnung, in der sie 10 oder 15 Jahre gewohnt haben, bleiben
können. Diese Mieterinnen und Mieter wissen, dass sie
aus ihrem Quartier, ihrem Stadtteil oder manchmal sogar
aus ihrer Stadt wegziehen müssen und dass sie dann ihre
Kinder in eine andere Schule oder in eine andere Kita
schicken müssen. Diese Menschen müssen ihr vertrautes
Umfeld verlassen. Das liegt an der im Mietrecht verankerten Modernisierungsumlage. Dieser Paragraf führt
dazu, dass Mieterinnen und Mieter heraussaniert werden.
Diese asoziale Geschäftspraxis muss beendet werden.
({8})
Herr Luczak, Sie haben nicht mehr viel Zeit, in der
Großen Koalition zu verhandeln. Sie haben gesagt: Wir
reden darüber. - Wie lange wollen Sie denn noch darüber
reden? Die Legislaturperiode ist bald zu Ende. Wenn Sie
sich nicht beeilen, dann wird in diesem Punkt gar nichts
mehr passieren. Dann schauen die Mieterinnen und Mieter auf den 300 angespannten Wohnungsmärkten am
Ende in die Röhre.
Das Mietrecht ist in eine Schieflage geraten, weil
das Mietrecht kein Schutzrecht ist, wie die Mieterinnen
und Mieter glauben, sondern ein Ausgleichsrecht. Aber
auf angespannten Wohnungsmärkten funktioniert dieses
Recht nicht mehr. Deswegen müssen wir es grundsätzlich ändern. Wir müssen die Ursachen bekämpfen, die zu
steigenden Mieten in unseren Metropolen führen.
({9})
Eine der Ursachen ist Spekulation. Dazu haben Sie gar
kein Wort verloren; das ist peinlich.
({10})
Gegen diese Spekulation müssen wir vorgehen. Deswegen ist es umso peinlicher, dass einer der größten Spekulanten in dieser Republik hier auf der Regierungsbank
sitzt. Das ist Herr Schäuble, der mit der Bundesanstalt für
Immobilienaufgaben nichts anderes macht, als Grundstücke spekulativ zu verwerten.
({11})
Das ist offenkundig geworden, weil wir seit drei Jahren
eine Debatte darüber führen. Es gibt zwar eine Verbilligungsrichtlinie betreffend die verbilligte Abgabe von
Liegenschaften an Kommunen. Aber leider profitieren
bislang nur sechs Kommunen davon, weil die Umsetzung durch die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
skandalös ist. Sie umgeht eigentlich den entsprechenden
Haushaltsbeschluss und setzt ihn nicht um. Damit muss
endlich Schluss ein.
({12})
Wir brauchen dringend eine Gesetzesreform bei der
BImA. Wir brauchen ein neues BImA-Gesetz. Wir brauchen eine andere Liegenschaftspolitik des Bundes.
({13})
In Zeiten, in denen wir hohe Steuereinnahmen haben,
müssen wir Geld für den sozialen Zusammenhalt ausgeben. Das heißt, wir geben den Kommunen verbilligt unsere Liegenschaften für sozialen Wohnungsbau, Flüchtlingsunterbringung und bezahlbares Wohnen, damit sie
auf diesen Grundstücken günstig bauen können, Herr
Luczak.
({14})
Christian Kühn ({15})
Herr Schäuble tut nichts gegen die Spekulation auf unseren Wohnungsmärkten. Er schließt nicht die Schlupflöcher beispielsweise bei den Share Deals, bei denen die
Grunderwerbsteuer umgangen wird. Damit heizt er weiterhin die Spekulation in Deutschland an und schadet den
Mieterinnen und Mietern in Deutschland.
({16})
Wenn wir Familien mit kleinen Einkommen schützen
und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft nicht gefährden wollen, dann müssen wir jetzt in den sozialen
Zusammenhalt investieren. Dann müssen wir Wohnen
als Daseinsvorsorge begreifen und nicht als einen Markt,
auf dem Wohnungen wie Waren gehandelt und Menschen
hin und her geschoben werden. Wenn wir darauf keine
Antwort finden, Herr Luczak - ich meine die Union generell -, dann schüren wir damit Ängste. Die Menschen,
die mir Briefe schreiben, haben konkrete Ängste, insbesondere die Menschen, die in den abgehängten Stadtteilen am Stadtrand leben. Wir sollten ihre Ängste nicht
schüren, indem wir uns im politischen Hickhack verlieren und am Ende keine Lösungen präsentieren. Wir müssen Antworten auf die Ängste geben, die diese Menschen
haben, und damit den Rechtspopulisten in Deutschland
den Nährboden entziehen.
({17})
Wohnen ist ein soziales Grundrecht. Wir in der Politik, insbesondere im Deutschen Bundestag, tragen Verantwortung dafür, dass die Wohnungsmärkte nicht weiter
aus dem Ruder geraten. Deswegen brauchen wir eine
Mietpreisbremse, die tatsächlich bremst. Wir brauchen
ein Mietrechtspaket II, das die asoziale Praxis des Heraussanierens beendet. Wir brauchen eine Wohnungswirtschaft, die sich am Gemeinwohl orientiert. Deswegen
haben wir Grüne gemeinsam mit der Linken die Debatte
über Wohnungsgemeinnützigkeit angestoßen. Da werden
wir Sie weiterhin vor uns hertreiben; denn wir brauchen
Wohnungsmärkte, die nicht mehr Spekulanten dienen,
sondern sich am Gemeinwohl orientieren.
Danke schön.
({18})
Für die Bundesregierung hat jetzt das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Ulrich Kelber.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In den Regionen Deutschlands mit Bevölkerungswachstum erleben wir jetzt seit einigen Jahren stark steigende Mieten und stark steigende Kaufpreise für die, die
sich Wohneigentum schaffen wollen. Das hat sich längst
zu sozialem Sprengstoff entwickelt - zuallererst für die
Menschen mit niedrigem Einkommen. Es hat aber auch
längst die Mittelschicht erfasst. Nachhaltig werden wir
das nur ändern können, wenn wir sehr viel mehr bezahlbare Wohnungen bauen.
Aus diesem Grund hat die Koalition seit 2013, also seit
dem Regierungswechsel, die Mittel für den Wohnungsbau verdreifacht. Wir sehen natürlich erste Wirkungen.
Die Zahl der fertiggestellten Wohnungen hat sich seitdem
schon fast verdoppelt. Der Trend geht übrigens weiter.
In den ersten sieben Monaten des Jahres 2016, also von
Januar bis Juli, ist die Zahl der genehmigten Wohnungen
gegenüber dem Vorjahr noch einmal um 26 Prozent auf
215 000 Wohnungen gestiegen.
Den Auswirkungen dieser Wohnungsnot wollen wir
aber auch mit sozialem Mietrecht begegnen.
({0})
Der Entwurf des Justiz- und Verbraucherschutzministeriums wurde ja von dritter Seite veröffentlicht. Von
daher kann jeder sehen, wofür wir uns einsetzen. Dafür
brauchen wir dann auch keinen zusätzlichen Bundestagsbeschluss, sondern jeder kann sehen, mit welchen Vorschlägen wir innerhalb der Regierung bzw. innerhalb der
Koalition werben.
({1})
Ich will das an Beispielen aus meiner Heimatstadt
Bonn deutlich machen. Es kommen Menschen zu mir
in die Bürgersprechstunde, die mit ihrer Mietzahlung
in Verzug geraten sind, zum Beispiel, weil sie arbeitslos geworden sind und es gedauert hat, bis das Jobcenter die Zahlung in die Wege geleitet hat. Wenn das Geld
dann wieder verlässlich fließt, wird die fristlose Kündigung zurückgenommen. Die hilfsweise ausgesprochene
ordentliche Kündigung läuft aber weiter. Das heißt, die
Menschen haben nicht nur ihren Job verloren, sondern
auch die Wohnung, obwohl sie sie bezahlen könnten.
Deswegen wollen wir das Kündigungsrecht angleichen
und auch hier helfen, dass in solchen Fällen nicht gekündigt werden kann.
({2})
Wenn ich in den Außenbezirken meiner Stadt - wo es
die Hochhäuser gibt - unterwegs bin, treffe ich immer
häufiger auf Rentnerinnen und Rentner, die mir erzählen,
dass sie früher innenstadtnäher gewohnt haben, sich aber
den Umzug in eine kleinere Wohnung dort nicht leisten
konnten, weil eben beim Mieterwechsel Aufschläge von
20, 30 oder 40 Prozent genommen werden. Deswegen
brauchen wir eine Mietpreisbremse, die so etwas verhindert. Wir wollen nicht, dass die Menschen aus ihren Vierteln wegziehen müssen, sondern wir wollen, dass es dort
gute Nachbarschaft gibt.
({3})
Gerade habe ich gesagt, dass das Problem längst auch
die Mittelschicht erfasst hat. Ich unterstütze AnwohneChristian Kühn ({4})
rinitiativen, die erleben, dass modernisiert werden soll,
aufgrund dessen ihre Kaltmiete von 8 Euro auf 15 Euro
pro Quadratmeter erhöht werden soll. Jedem ist klar: Da
soll nicht modernisiert werden, sondern die Leute sollen
kündigen, damit dieses Haus danach von dem Eigentümer - in diesem Fall eine Kapitalgesellschaft - verkauft
werden kann. Damit wollen die ihren Gewinn machen.
Deswegen brauchen wir eine Kappungsgrenze für solche Verdrängungsmodernisierungen. Das ist unser Vorschlag, den wir gemacht haben.
({5})
In der gemeinsamen Heimatzeitung meiner CDU-Kollegin Frau Winkelmeier-Becker und mir stand vor zwei
Tagen ein interessanter Bericht über eine Familie mit
zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Es handelt sich bei
den Erwachsenen um durchaus schon gut verdienende
Akademiker. Die haben berichtet, warum sie jetzt finanziell überfordert sind. Sie müssen einen Studienkredit für
ihre Studiengebühren - die wir als SPD jetzt in Nordrhein-Westfalen Gott sei Dank abgeschafft haben ({6})
in Höhe von 15 000 Euro zurückzahlen. Weil sie in unserer Heimatstadt Bonn - übrigens schwarz-grün regiert keinen Platz in einem öffentlichen Kindergarten gefunden haben,
({7})
zahlen sie jetzt 460 Euro allein für die Betreuung eines
Kindes. Und weil es eine leichte Lohnerhöhung gegeben hat, werden sie jetzt noch einmal nachzahlen müssen, weil sie in die nächsthöhere Beitragsklasse gekommen sind. Obwohl sie sich bescheiden und zu viert auf
73 Quadratmeter wohnen, haben sie eine Warmmiete von
1 033 Euro zu bezahlen. Deswegen sind längst auch solche Mittelschichtfamilien überfordert.
Das sind die Menschen, denen wir mit den Vorschlägen, die wir vorgelegt haben, helfen wollen. Dafür werben wir in der Regierung bzw. in der Koalition. Bitte unterstützen Sie uns.
({8})
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Lay?
({0})
Aber selbstverständlich.
Verehrter Herr Kollege Kelber, in Bezug auf die Forderungen, die Sie hier präsentieren, kann ich fast alles
unterschreiben. Da kann ich, glaube ich, auch für die
Fraktion Die Linke sprechen. Das entspricht ja auch in
etwa dem, was wir heute als Antrag vorgelegt haben.
Nun haben Sie ja vorhin von Ihrem Koalitionspartner,
von Herrn Luczak, gehört, dass es mit ihm eine Nachbesserung der Mietpreisbremse nicht geben wird. Deswegen
meine Frage: Glauben Sie allen Ernstes, dass Sie auch
nur eine dieser richtigen Forderungen, die Sie hier heute
vorgetragen haben, mit diesem Koalitionspartner in dieser Legislaturperiode noch beschließen können? Oder
denken Sie, dass das mit diesem Koalitionspartner wohl
nicht zu machen und das wirklich ein Jammer ist?
({0})
Frau Lay, Sie legen heute einen Antrag vor, mit dem
Sie die Regierung auffordern, etwas vorzulegen. Genau
das hat das Justiz- und Verbraucherschutzministerium
gemacht. Es hat einen Vorschlag vorgelegt.
({0})
Selbstverständlich bin ich als Sozialdemokrat immer
davon überzeugt, dass ich Menschen mit guten Argumenten zu den richtigen Taten überzeugen kann.
({1})
Das heißt, ich diskutiere mit Herrn Luczak nicht nur im
Deutschen Bundestag, sondern ich treffe mich mit ihm
auch in anderen Räumen und versuche, ihn davon zu
überzeugen.
({2})
Ich bin mir sicher: Wir werden auch noch beim Mietrechtspaket II etwas bewegen können.
({3})
Herr Präsident, Sie hatten mich gefragt, ob ich eine
Zwischenfrage zulasse. Mit meinem Appell, uns zu unterstützen und unsere Vorschläge umzusetzen, war ich
allerdings am Ende meines Redebeitrags angekommen.
Daher war das sozusagen eine Nachfrage.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Bitte unterstützen Sie uns, öffnen Sie sich für die richtigen Vorschläge.
Die Menschen draußen haben es verdient.
({4})
Herr Staatssekretär, vielen Dank für die präzise Einhaltung der Redezeit. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Hans Michelbach für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Anträge der Linken und auch der Grünen zulasten des
privaten Wohnungsbaus entlarven, dass sie unsere freie
soziale Marktwirtschaft
({0})
aus reiner Ideologie ablehnen.
({1})
Für die CDU/CSU-Fraktion steht fest: Privatwirtschaft geht vor Staatswirtschaft. Das sollten Sie sich einmal merken, weil dieses Prinzip die besseren Lösungen
für die Menschen und auch für die Mieter entfaltet, es
dienlicher für die Menschen und auch für die Mieter ist.
({2})
Stattdessen hängen Sie immer wieder einer Art sozialistischer Voodooökonomie und Staatswirtschaft an.
({3})
Das beste Beispiel dafür ist die von Ihnen gewünschte
Grundstückspolitik gegen Bundeseigentum.
({4})
Die ist an Doppelzüngigkeit nicht mehr zu überbieten:
einerseits beim Bund billig einkaufen, andererseits eigene Grundstücke teuer verkaufen und Bauherren mit einer
höheren Grunderwerbsteuer gleichzeitig noch abkassieren. Das ist die Wahrheit über Sie, Frau Künast, und über
Sie von den Linken.
({5})
Das ist eine Politik zulasten der Mieter. Warum wird
denn in Bayern mehr in Wohnungen investiert? Weil
wir die Bauherren nur mit einer Grunderwerbsteuer von
3,5 Prozent besteuern, in anderen Ländern beträgt diese
6 Prozent und mehr.
({6})
Sie wollen weitere Steuererhöhungen. Das trifft die Mieter. Weil Sie das Steuerkarussell immer weiter antreiben,
haben die Mieter die Zeche zu zahlen. Das ist die Wahrheit in unserem Land.
({7})
Berlin hat genug eigene Flächen und erhält eine ausreichende Bundesförderung für den Wohnungsbau, um
den dringend notwendigen Bau bezahlbarer Wohnungen
voranzubringen.
Nun - das möchte ich besonders in meiner Rede ansprechen - zur Veräußerungspraxis der BImA. Das Gesetz ist hier eindeutig. Die BImA ist dazu verpflichtet,
die benötigte Bundesliegenschaft zum vollen Wert zu
veräußern.
({8})
Dies gilt für alle Bundesliegenschaften, auch für das
sogenannte Dragoner-Areal in Berlin, für das es einen
gültigen Kaufvertrag gibt. Es geht hier für den Bundeshaushalt um 36 Millionen Euro, also um bedeutende
Haushaltsmittel. Das Geld können Sie doch dem Bund
nicht einfach abnehmen. Die BImA ist dazu verpflichtet,
diese Mittel und diese Liegenschaften treuhänderisch zu
verwalten, darf aber keine Untreue begehen. Ihre Vorschläge sind doch nichts anderes als eine Aufforderung
zur Untreue gegenüber dem deutschen Steuerzahler. Das
ist doch die Wahrheit.
({9})
Eine Rückabwicklung und ein Verkaufsmoratorium,
was Sie fordern, sind für mich ausgeschlossen, weil dies
eine nicht hinnehmbare Bevorteilung der öffentlichen
Hand zulasten der Privatwirtschaft wäre.
({10})
Bundesminister Schäuble ist allein den gültigen Gesetzen verpflichtet. Wir können doch nicht Verträge revidieren, nur weil ein Land damit nicht einverstanden ist.
Warum der Bund sein Eigentum dem Land Berlin unter
Wert geben soll, obwohl in unmittelbarer Nähe landeseigene Grundstücke vorhanden sind, erschließt sich mir
nicht. Wer es nicht fertigbringt, das Tempelhofer Feld für
die notwendige Stadtentwicklung zu generieren, sollte
zunächst vor der eigenen Tür kehren. Das ist doch die
Wahrheit. Sie können doch nicht stattdessen dem Bund
in die Tasche greifen.
({11})
Eindeutig ist natürlich, dass wir in Deutschland einen
Mangel an Mietwohnraum haben. Doch sollten wir uns
einmal genau anschauen, wer dafür verantwortlich ist.
({12})
In erster Linie haben die Länder und Kommunen dafür
zu sorgen, dass es ausreichend bezahlbaren Wohnraum
gibt, natürlich auch die richtige Bebauungsplanung und
letzten Endes auch die nötige Anzahl an Grundstücken.
({13})
Sie erhalten dafür vom Bund erhebliche Mittel. Leider
nutzen einige Länder den Geldsegen des Bundes für anDr. h. c. Hans Michelbach
dere Belange. Das heißt, sie machen eine Art Verschiebebahnhof: Sie machen Schulden auf anderen Feldern
und wollen zum Tilgen dieser Schulden Bundesgelder
benutzen.
Meine Damen und Herren, die Verschärfung der Mietpreisbremse bedeutet nach meiner Ansicht eher eine
Strangulierung des Mietwohnungsbaus durch Überregulierungen. Sie kriminalisieren mit Ihren Vorschlägen
zur Einführung von Sanktionen und zur Streichung der
Ausnahmen im Wirtschaftsstrafgesetz die Vermieter. Die
Mietpreisbremse ist gerade für Investitionen in Neubauwohnungen absolut kontraproduktiv.
Herr Kollege Michelbach, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Liebich?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege Michelbach. - Ich habe
jetzt Ihrer Rede aufmerksam zugehört und davor der
Rede des Vertreters der Bundesregierung. Das, was hier
gesagt worden ist, war nicht so ganz deckungsgleich.
({0})
Der Staatssekretär hat auf die Frage meiner Kollegin Lay geantwortet, dass er davon ausgeht, dass er
die CDU/CSU-Fraktion mit guten Argumenten von der
Richtigkeit seiner Position überzeugen wird. Wie sehen
Sie das denn?
({1})
Wir haben Gesetze verabschiedet, zu denen wir gemeinsam stehen. Nur, Sie müssen doch einmal die Ursache für die heutige Debatte zur Kenntnis nehmen. Sie
wollen Verschärfungen. Sie wollen dem Bund in die Tasche greifen. Sie wollen Steuererhöhungen. Sie wollen
keine steuerlichen Anreize für den Mietwohnungsbau.
({0})
Sie wollen eine Politik, die in die falsche Richtung geht.
Wir haben geliefert. Dazu stehen wir, und letzten Endes
betreiben Sie hier nichts anderes als reinen Mieterpopulismus.
({1})
Einzelne Fälle von Wildwuchs wie die von Ihnen dargestellten Beispiele bekämpfen wir natürlich; aber wir
ziehen nicht die falschen Schlussfolgerungen.
Ich glaube, es ist zu erkennen, dass Sie am liebsten
der privaten Immobilienwirtschaft weitere Zumutungen,
weitere Folterwerkzeuge androhen.
({2})
Deswegen kann ich Ihnen nur sagen: Damit sind Sie den
Mietern in keiner Stadt wirklich dienlich. Sie bewirken
nichts, außer dass Sie hier Ihre politischen Ziele verkünden. Auch alles Weitere, was Sie hier an Staatsdirigismus
verkünden, ist ein falscher Ansatz.
({3})
Ich bin der Auffassung, dass es für mehr Mietwohnungsbau Anreize in Form steuerlicher Abschreibungen
geben muss. Hier muss geliefert werden. Wir haben dies
im Finanzausschuss intensiv beraten. Wir waren der Auffassung, dass das Ganze dringlich ist und dass dies auch
Wirkungen zeigen wird.
({4})
Deswegen bitte ich noch einmal, in sich zu gehen und
dem steuerlichen Anreiz für mehr Mietwohnungsbau zuzustimmen, weil so die absolut notwendigen Ergebnisse
erzielt werden.
Hingegen sollten wir dagegen eintreten, dass die Länder die Grunderwerbsteuer weiter erhöhen.
({5})
In Berlin hat man angekündigt, dass die Grunderwerbsteuer auf 6,5 Prozent steigen soll. Ich kann nur sagen:
Das ist der falsche Weg. Es ist ein Bärendienst für die
Mieter, wenn eine solche Steuererhöhung in Kraft tritt.
Wir müssen alles dafür tun, dass es in der Zukunft
auch bei der Wohnimmobilienkreditrichtlinie Veränderungen gibt. Wir haben es hier mit der Umsetzung einer
EU-Richtlinie zu tun, wodurch die Eigentumsschaffung,
wodurch Mietwohnungen frei werden, letzten Endes
erschwert wird. Das Gesetz zur Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie muss noch einmal verändert
werden. Andere Länder haben dies besser gelöst.
({6})
Es kann nicht sein, dass junge Familien und ältere
Menschen von ihrer Sparkasse oder von ihrer VR-Bank
keine Kredite bekommen,
({7})
nur weil die Begründung zu diesem Gesetz unbestimmte
Rechtsbegriffe enthält, weil wir hier die Dinge nicht so
umgesetzt haben, wie andere Länder in Europa das getan
haben.
({8})
Unsere Bürger haben nichts mit der Immobilienblase in Spanien zu tun. Bei uns war die Unterlegung des
Immobilienwerts bei den Krediten immer wichtig und
richtig. Das ist das Prinzip. Warum sollte der Wert einer
Immobilie bei der Kreditierung keine Rolle mehr spielen? Das muss in das Gesetz hinein, und das muss letzten
Endes revidiert werden. Das ist ein wichtiger Punkt, damit wir bei der Umsetzung der Wohnimmobilienkreditrichtlinie die Schaffung von Wohneigentum begünstigen
({9})
und damit auch Freiräume für den Mietwohnungsbau
schaffen.
Ich glaube, es gibt eine ganze Menge zu tun - aber
dies nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen,
({10})
weil das den Menschen, den Mietern mehr dienlich ist.
Vielen Dank.
({11})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Gesine Lötzsch,
Fraktion Die Linke.
({0})
Herzlichen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Kelber und alle
anderen Kollegen von der SPD, Sie haben es eben von
Ihrem Koalitionspartner sehr deutlich gesagt bekommen.
Er teilt Ihre Position überhaupt nicht. Ich kann Ihnen nur
sagen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Ziehen Sie daraus endlich die richtigen Schlussfolgerungen!
({0})
Lange ist dafür gekämpft worden, auch in der Öffentlichkeit ist es unterstützt worden, und es ist ein kleiner
Erfolg erzielt worden: Der Haushaltsausschuss - Kollege
Kühn von den Grünen ist schon darauf eingegangen hat eine sogenannte Verbilligungsrichtlinie beschlossen.
Das bedeutet, dass Grundstücke des Bundes verbilligt an
Städte und Gemeinden abgegeben werden können, um
den sozialen Wohnungsbau dort zu ermöglichen.
Der Finanzminister hat sich lange dagegen gesperrt.
Er sah die Grundstücke nur als reine Geldquelle. Wer
den höchsten Preis bot, bekam den Zuschlag. Das ist das
Denken von Spekulanten und nicht von verantwortungsvollen Politikern. Ein Finanzminister muss ein verantwortungsvoller Politiker sein, meine Damen und Herren.
({1})
Wir brauchen vor allen Dingen in den Großstädten
preiswerte Wohnungen; da fehlen sie nämlich. Im Bundestag, mehr oder weniger deutlich auch in dieser Debatte, aber auch in den Medien ist viel über eine rechtsextreme Partei gesprochen worden, die in vielen Ländern,
leider auch in Berlin, Zulauf hat. Wir sollten vor allen
Dingen über die Ursachen der Wahlerfolge dieser Partei
nachdenken.
Dabei ist auch der Wohnungsmangel ein großes Thema. Viele Menschen finden keine preiswerte Wohnung,
und manche fürchten, dass geflüchtete Menschen bevorzugt Wohnungen erhalten. Wir alle wissen, dass das nicht
der Fall ist. Aber der Wohnungsmangel ist real, und zwar
für alle Menschen in Deutschland, die wenig Geld haben - für die, die schon lange hier wohnen, und für die
Geflüchteten. Wir wollen, dass alle in vernünftigen Wohnungen wohnen, meine Damen und Herren.
({2})
Grundlage für preiswerte Wohnungen sind preiswerte
Grundstücke. Der Verkauf von Grundstücken zu Marktpreisen führt automatisch zu Eigentumswohnungen und
zu teuren Wohnungen. Auch wenn die mögliche verbilligte Abgabe - es ist schon geschildert worden, dass es
in den vergangenen Monaten zu ganz wenigen Übertragungen kam - ein richtiger Schritt ist: Dieser Schritt ist
in Anbetracht des existierenden Wohnungsmangels viel
zu klein.
Wir brauchen grundlegende Veränderungen, und darum wollen wir auch das BImA-Gesetz ändern. Wer
wenn nicht die Abgeordneten des Deutschen Bundestages können es ändern? Manche Abgeordnete tun immer
so, als hätten sie mit Gesetzen nichts zu tun. Ich kann
dem Publikum sagen: Gesetze werden hier im Bundestag
beschlossen.
({3})
Da kann sich kein Abgeordneter rausreden.
({4})
In wenigen Tagen, am 3. Oktober, werden wir wieder
den Tag der Deutschen Einheit begehen. Ich will einmal
in die Geschichte zurückgehen und daran erinnern, dass
der Bund Liegenschaften, die der damaligen DDR gehörten, zu 1 Euro an Betriebe abgeben konnte, wenn dadurch Arbeitsplätze gesichert werden konnten. Das war
zwar nicht immer der Fall, aber an dieser Position kann
man sich ja einmal orientieren.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von vielen hier wurde gesagt, auch von Herrn Michelbach wieder: Berlin
macht es auch nicht richtig. Der Berliner Senat aus CDU
und SPD - die CSU ist am Berliner Senat natürlich nicht
beteiligt gewesen; das wissen wir ({5})
verkauft zum Höchstpreis. Das ist natürlich kritikwürdig.
Dieser Senat, der jetzt abgewählt wurde, hat die Interessen der Mieterinnen und Mieter nicht adäquat vertreten.
Aber das wird sich in Berlin jetzt ändern, meine Damen
und Herren.
({6})
Ich kann Ihnen nur sagen: Unabhängig von falschen
politischen Entscheidungen in den Ländern sollte der
Bund die richtigen Entscheidungen treffen. Damit komme ich zu unserem Antrag zum Dragoner-Areal in Berlin-Kreuzberg.
Frau Kollegin Lötzsch, gestatten Sie zuvor eine Zwischenfrage des Kollegen Luczak?
Ich kann sie fast voraussehen. Aber trotzdem können
Sie das gerne tun.
Frau Kollegin Lötzsch, nachdem Sie hier gerade den
Senat aus CDU und SPD angegriffen haben, will ich Sie
schon fragen, wie Sie denn eigentlich Ihre Verantwortung einschätzen. Ihre Partei war ja von 2001 bis 2011 im
Senat in Verantwortung. In dieser Zeit haben Sie massiv
landeseigene Wohnungen verkauft - über 60 000 Wohnungen -,
({0})
weil Sie gesagt haben: Wir brauchen die alle nicht mehr. Das war eine absolut kurzsichtige Sichtweise. Selber zu
sagen: „Wir haben überhaupt kein Problem mit steigenden Mieten“, und uns hinterher vorzuwerfen, dass wir
nichts für den Wohnungsmarkt getan hätten, obwohl wir
die Wende eingeleitet haben und jetzt mehr gebaut wird,
finde ich schon einigermaßen erstaunlich. Darauf hätte
ich gerne einmal eine Antwort von Ihnen, Frau Lötzsch.
({1})
Ich kann Ihnen darauf gerne eine Antwort geben.
Erstens. Der Verkauf der GSW war ein schwerer Fehler.
({0})
Zweitens. Ihre Fraktion - die CDU war damals die
größte Oppositionsfraktion - hat vor dem Verfassungsgericht den Berliner Senat verklagt und gefordert, Privatisierungen durchzusetzen.
({1})
Drittens. Berlin hat ja vor dem Bundesverfassungsgericht versucht, sich entschulden zu lassen. Das ist
gescheitert. Das war eine Entscheidung, die dem Land
Berlin sehr wehgetan hat, und zwar nicht der Regierung,
sondern vor allen Dingen den Bürgerinnen und Bürgern
dieses Landes. Ich kann mich noch gut erinnern: Ich habe
damals als Berliner Abgeordnete im Haushaltsausschuss
gesessen, als diese Entscheidung verkündet wurde. Ihre
Kolleginnen und Kollegen haben da gejubelt. Das war
eine Schande; das kann ich Ihnen sagen.
({2})
Ich sage noch einmal: Das Entscheidende, damit man
preiswert Wohnungen bauen kann, ist eine vernünftige
Bodenpolitik. Und wenn man weiter Spekulationen zulässt und zulässt, dass die Preise in die Höhe gehen, dann
ist man auf dem falschen Dampfer. Und wenn man sagt,
wir würden die Privatwirtschaft schädigen wollen, dann
ist man auch auf dem falschen Dampfer.
({3})
Wir wollen ein soziales Gemeinwesen, und wir wollen,
dass das Recht auf Wohnen ins Grundgesetz kommt und
dass alle Menschen etwas davon haben und nicht nur die
Lobbygruppen, die Sie vertreten, Kollege Michelbach.
({4})
Zurück zum Dragoner-Areal in Berlin-Kreuzberg.
Der Bund hat das Grundstück an einen Finanzinvestor
verkauft. Der Bundesrat hat die Zustimmung verweigert.
Eine sehr gute Entscheidung!
({5})
Aber seit einem Jahr ist das Verfahren in der Schwebe.
Das grenzt an Arbeitsverweigerung. Das können wir
nicht länger hinnehmen, meine Damen und Herren.
({6})
Wir müssen erreichen, dass der Kaufvertrag rückabgewickelt wird. Berlin braucht das Grundstück,
({7})
um preiswerten Wohnraum vorzuhalten. Der Kollege und
Vorsitzende der SPD-Fraktion, Herr Oppermann, war ja
im Wahlkampf vor Ort. Darum ist nichts logischer und
sinnvoller, meine lieben Kolleginnen und Kollegen auf
der rechten Seite des Hauses, endlich unseren Anträgen
zuzustimmen. Denn Sie haben ja gehört: Der Koalitionspartner trägt Ihre Position, wie Herr Kelber vorgetragen
hat, nicht mit.
Herzlichen Dank.
({8})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Ulli Nissen.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Grüße an meine Frankfurter Besuchergruppe. Ich freue mich sehr, dass diesmal
auch Flüchtlinge dabei sind, und ich freue mich, euch
bzw. Sie später zu treffen.
Die Entwicklung der Mietpreise ist ein Thema, das
uns zu Recht durchgängig beschäftigt. Wer wie ich aus
einem Ballungsraum kommt, weiß, welche Priorität bezahlbares Wohnen vor Ort hat. In Frankfurt fehlen schon
jetzt mehr als 30 000 Wohnungen. Hochrechnungen gehen davon aus, dass bis 2030 die Bevölkerung noch einmal um 100 000 Personen steigt. Dann würden bei uns
90 000 Wohnungen fehlen. In diesen Berechnungen sind
noch nicht einmal die Folgen des Zuzugs aufgrund des
Brexits enthalten.
Der Druck auf den sowieso schon engen und teuren
Wohnungsmarkt steigt weiter. Das sieht in vielen anderen
Ballungsgebieten nicht anders aus. Zum Glück hat die
Bundesregierung reagiert. Wir reden nicht nur, wir handeln auch. Wir haben in dieser Legislaturperiode schon
einiges auf den Weg gebracht. Wohnungsbau ist leider
gemäß Föderalismus Aufgabe der Länder. Deshalb ist der
Bund in seinem Handeln eingeschränkt. Dennoch unterstützen wir den sozialen Wohnungsbau mit 1,5 Milliarden Euro und hoffen, dass die Länder das Geld zweckgebunden dafür nutzen.
({0})
Es wäre gut, wenn der Bund wieder die Zuständigkeit für
den Wohnungsbau bekäme.
Neben direktem Ankurbeln haben wir auch einiges
im Mietrecht geändert. Zum 1. Juni 2015 haben wir die
Mietpreisbremse auf den Weg gebracht. Dass diese nicht
richtig greift, liegt auch daran, dass es an der Umsetzung
mangelt. Zum Beispiel wurde in Frankfurt die Mietpreisbremse durch die schwarz-grüne Landesregierung erst
Ende 2015 eingeführt. Sie gilt aber nicht in ganz Frankfurt. Wichtige Stadtteile sind von der Mietpreisbremse
ausgenommen. Warum darf im Stadtteil Eckenheim die
Miete um mehr als 10 Prozent über die Vergleichsmiete
steigen? Das hat mir noch niemand erklären können. Außerdem sind viele Menschen nicht über die Regelungen
der Mietpreisbremse informiert. Dies merke ich, wenn
ich mit den Bürgerinnen und Bürgern rede. Viele wissen
nicht, dass sie auch nach Vertragsabschluss gegen den erhöhten Mietpreis vorgehen können. Mein Vorschlag: Zu
jedem neuen Mietvertrag im Geltungsbereich der Mietpreisbremse muss ein Informationsblatt darüber ausgehändigt werden. Das fände ich eine tolle Idee.
({1})
Die SPD-Bundestagsfraktion will die Mietpreisbremse weiterentwickeln. Wir wollen Vermieter dazu
verpflichten, die Vormiete offenzulegen. Das ist schon
angesprochen worden. Außerdem wollen wir, dass der
Rückzahlungsanspruch, Herr Luczak, ab Vertragsabschluss gilt und nicht erst, wie derzeit, ab dem Zeitpunkt
des Widerspruchs. Ganz klar. Dann müsste der Vermieter
eigentlich ab erster überhöhter Mietzahlung Rücklagen
bilden, damit er die Rückzahlung leisten kann.
Wir wollen die bestehende Härtefallklausel konkretisieren. Diese Maßnahmen werden eine deutliche Verbesserung für die Mieterschaft bringen.
Wir müssen die Sorgen der Menschen in angespannten
Wohnungsmärkten ernst nehmen, Herr Luczak. Anfang
des Jahres ergab eine Umfrage in Frankfurt, dass dies die
größte Sorge von 40 Prozent der Bevölkerung ist. Das hat
die schwarz-grüne Stadtregierung nicht ernstgenommen.
({2})
Schon 2012 hatte der SPD-Oberbürgermeister Peter
Feldmann mit dem Ernstnehmen dieses Themas die
Wahl gegen den hoch favorisierten CDU-Kandidaten
gewonnen. Bei der Kommunalwahl 2016 wurde die
schwarz-grüne Stadtregierung abgewählt. Dies sollte
eine Warnung an die sein, die die Sorgen und Ängste der
Mieter nicht ernstnehmen. Herr Luczak, das gilt ganz besonders für Sie.
({3})
Jetzt stellt die SPD unter anderem mit Mike Josef den
Planungsdezernenten. Wir haben bei der städtischen
Wohnungsbaugesellschaft ABG Frankfurt Holding
eine eigene Mietpreisbremse eingeführt. Das bedeutet,
dass für etwa 25 Prozent der Frankfurter Mietwohnungen die Miete in den nächsten fünf Jahren um maximal
1 Prozent jährlich angehoben wird. Das wirkt sich auch
auf den Mietspiegel aus. Außerdem wird die ABG bis
2020 1,2 Milliarden Euro in die Hand nehmen und gut
6 600 Wohnungen bauen, davon 40 Prozent im öffentlich
geförderten Wohnungsbau. Das ist sozialdemokratische
Wohnungspolitik, vielleicht ein Vorbild für andere Städte.
({4})
Wir brauchen nicht nur mehr bezahlbare Wohnungen,
wir wollen auch, dass Menschen keine Sorgen haben,
dass sie aus ihren Wohnungen verdrängt werden. Das
versucht beispielsweise ein Miethai in der Wingertstraße 21. Die Mietergemeinschaft wehrt sich weiter. Sie hat
meine große Hochachtung. Ich bin nach wie vor auf ihrer
Seite.
Unsere wachsenden Städte stehen, unter anderem
durch die Integrationsaufgabe, vor großen Herausforderungen. Für alle gilt die Aufforderung, Wohnen bezahlbar
zu machen, aber auch altersgerechten und energetischen
Umbau zu unterstützen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch aus den Ländern: Lassen Sie uns diese gewaltige Aufgabe im Interesse der Bürgerinnen und Bürger gemeinsam anpacken.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({5})
Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt die Kollegin
Renate Künast.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Fraktion der CDU/CSU! Ich
finde, Sie haben hier ein sehr doppelbödiges Stück abgeliefert. Ich habe ein bisschen das Gefühl, Sie haben versucht, die Mieterinnen und Mieter in diesem Land hinter
die Fichte zu führen. Sie erzählen mit Verve: Wir wollen
etwas für die Mieterinnen und Mieter tun,
({0})
und wir müssen bauen, bauen, bauen, neu bauen, dann
wird alles wunderbar. Gleichzeitig nehmen Sie aber den
Neubau aus einer - wenn auch unzureichenden - Mietpreisbremse komplett heraus, und zwar nicht nur bei der
Neuvermietung, sondern immer. Das organisiert auch
eine Schieflage in den Städten, die Druck bei den Mieten
haben.
({1})
Sie machen doch hier eine totale Double-Bind-Nummer. Und Herr Michelbach bringt dann noch das Beispiel
Tempelhofer Feld. Tja, Herr Michelbach: Dumm gelaufen! Auch die CDU war in Berlin in der Regierung.
({2})
Ich kann Ihnen sagen: Ich habe nachher dafür gekämpft,
dass gar nicht gebaut wird. Und ich will Ihnen auch sagen, warum: Weil ich die Nase voll hatte, und viele Mieterinnen und Mieter hatten das auch. Vor dem Hintergrund dieser verlogenen Angebote ist der Volksentscheid
ja durchgegangen. Auch Sie haben von 5 000 Wohnungen am Rande des Tempelhofer Feldes gesprochen. Das
wäre eine total dichte Bebauung.
({3})
Sie haben behauptet, da würde bezahlbarer Wohnraum
entstehen. Aber Sie haben in diesen Gesetzentwurf nicht
reingeschrieben - keinen Prozentsatz! -, dass ein Minimum an bezahlbarem Wohnraum gebaut werden muss.
Warum sollte Ihnen das dann irgendein Bürger in der
Stadt Berlin glauben?
({4})
Das haben sie auch zu Recht nicht geglaubt.
Sie tun immer erst so, als wollten Sie das, und danach
wollen Sie ohne eine Bindung an den Bau von bezahlbarem Wohnraum bauen lassen, oder Sie machen Ausnahmen ohne Ende - beim Neubau, bei umfassender Modernisierung usw.
Und die Sozialdemokraten - sorry, aber ich kann Sie
da nicht auslassen - weisen dann immer großartig darauf
hin, dass es Eckpunkte hier und Referentenentwürfe da
gibt. Liebe Sozialdemokraten, ich sehe, Sie mühen sich.
Ich sehe auch, dass Herr Maas sich müht. Ich würde aber
auch einmal gerne sehen, dass diese Dinge in der Originalfassung das Bundesgesetzblatt erblicken.
({5})
- Ich weiß, wie schwierig es ist. Aber man muss in Koalitionen am Ende auch einmal Druck ausüben. Ich glaube,
das ist bei der CDU/CSU an dieser Stelle nötig. Denn
man darf es nicht nur gut meinen, sondern am Ende muss
auch etwas Gutes dabei herauskommen.
Ich sage Ihnen - und das ist doch nicht nur beim Bauen, sondern grundsätzlich so -: Wir loben uns für unser
Mietrecht und die Situation der Mieter in Deutschland,
aber Tatsache ist, dass über Jahre und Jahrzehnte durch
Gesetze und Rechtsprechung die Situation für die Mieterinnen und Mieter systematisch immer schwieriger geworden ist.
({6})
- Nein, nicht das Gegenteil ist der Fall. Das behaupten
Sie immer, aber denken Sie doch an die Ausnahmen und
Schlupflöcher, zum Beispiel bei der Wohnflächenberechnung. Und unter dem Deckmantel des Themas Mietnomaden wurde gleich die Zwangsvollstreckung gegenüber
allen Mieterinnen und Mietern erleichtert.
({7})
Eine Vielzahl von kleinen Nadelstichen und Ausnahmen hier und da führt dazu, dass es den Mieterinnen und
Mietern heute nicht besser geht. Man kann auch bei Zahlungsverzug, wenn zum Beispiel das Jobcenter einmal
einen Fehler macht und zu spät zahlt, eine Kündigung
nicht durch Nachzahlung einfach wieder rückgängig
machen, wie es früher möglich war. Man hat die Mieter,
auch wenn sie in Notsituationen sind, schon richtig eingezingelt, meine Damen und Herren. Das ist nicht sozial.
Ich sage Ihnen an der Stelle auch: Gucken Sie mal ins
Grundgesetz! Da gibt es außer Artikel 14 noch andere
Artikel, in denen davon die Rede ist, dass wir ein Sozialstaat sind und deshalb soziale Grundstrukturen schaffen
müssen, zum Beispiel beim Wohnen. Man darf das Dach
über dem Kopf nicht sofort verlieren.
({8})
Wir brauchen an dieser Stelle massive Gesetzesänderungen. Bei dem sogenannten ersten Mietrechtspaket
muss es bei der sogenannten Mietpreisbremse Korrekturen geben. Die Ausnahme bei der umfassenden Modernisierung muss abgeschafft werden. Es muss eine
Auskunftspflicht des Vermieters geben; denn Ihre Rügepflicht funktioniert doch gar nicht, wenn der Vermieter
keine Auskunft darüber gibt, wie hoch die Vormiete war.
({9})
Deshalb sage ich ja: Sie versuchen, uns hinter die
Fichte zu führen. Was bringt eine Rügepflicht, wenn man
keine materiellen Informationen hat, um die Möglichkeit
der Rüge überhaupt nutzen zu können?
Wir brauchen eine niedrigere Kappungsgrenze von
15 Prozent; wir brauchen Änderungen bei der Duldung
von Modernisierungsmaßnahmen, meine Damen und
Herren.
({10})
Dann bleibt immer noch genug Gewinn für die Investoren.
Wir wollen vor allem auch sehen, dass das zweite
Mietrechtspaket jetzt endlich kommt. Ich fordere an der
Stelle auch die CDU/CSU und das Kanzleramt sowie
Frau Merkel auf, nicht weiter zu blockieren. Meine Damen und Herren, bezahlbares Wohnen ist eine der zentralen Fragen des Sozialen. Und gerade in diesen Zeiten, in
denen der Verdruss in dieser Gesellschaft so anwächst,
müssen wir zeigen, dass wir die sozialen und Alltagsfragen der Menschen wahrnehmen, endlich darauf reagieren
und nicht nur an die reichen Investoren denken, meine
Damen und Herren.
({11})
Ich bin überzeugt: Wer bei den Reden hier nur Artikel 14 des Grundgesetzes zitiert, der ist nicht wirklich
mieterfreundlich und hat das Problem nicht verstanden.
({12})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Dr. Volker
Ullrich.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Wohnungsmarkt in Deutschland ist zu Recht
von sozialen Gesichtspunkten geprägt.
({0})
Aber dennoch, Frau Lay, Frau Künast, können Sie grundlegende Aspekte von Angebot und Nachfrage, des Funktionierens unserer Ökonomie, nicht völlig von Ihrer Argumentation entkoppeln.
({1})
In vielen Regionen sind Leerstände mit einem deutlichen
Angebotsüberhang zu verzeichnen. In den großen Ballungsgebieten dagegen, insbesondere in den Unistädten,
ist bezahlbarer Wohnraum ein knappes und begehrtes
Gut. Mit ihren Angeboten in den Bereichen Bildung,
Arbeitsplätze und Kultur sind viele Städte hochattraktiv, und ihre Einwohnerzahlen sind in den letzten Jahren
sprunghaft angestiegen. Das bleibt natürlich nicht ohne
Folgen für den Wohnungsmarkt.
Wir stehen an der Seite etwa der Erzieher, der Polizisten, der Handwerker, der Angestellten, der Studenten, der
Krankenschwestern,
({2})
also der Menschen, die für das Funktionieren einer Stadtgesellschaft verantwortlich sind und sich, wie andere
Menschen mit normalem Einkommen, zunehmend die
Frage stellen, wie sie in den Städten eine Wohnung finden oder finanzieren können.
({3})
Die Städte sind für alle da.
Wir haben als Gesetzgeber die Aufgabe, die schwierigen und komplexen Herausforderungen zu lösen. Das
wird nicht allein durch Schwarz-Weiß-Denken gehen,
durch Gegensätze wie: der böse Spekulant und der gute
Mieter. Das geht durch kluges Mietrecht, das geht durch
Neubau, das geht durch eine angemessene Anwendung
der Mietpreisbremse. Das geht aber nicht durch falsche
und vorschnelle Antworten auf komplexe Fragestellungen. Das ist schlichtweg Populismus.
({4})
Die Mietpreisbremse begrenzt den Anstieg der Miete
bei Neuvermietungen gegenüber der ortsüblichen VerRenate Künast
gleichsmiete auf 10 Prozent. Aber ich bitte Sie, auch zur
Kenntnis zu nehmen, dass eine Preisregulierung allein
nichts an dem Umstand ändert, dass die Nachfrage das
Angebot weit übersteigt. Der erhöhte Preis ergibt sich
aus der Knappheit des Wohnraums. Wer die Knappheit
also nicht beseitigt, der wird nicht dauerhaft erfolgreich
gegen steigende Mieten kämpfen können. Die Regulierung der Miethöhe alleine ist ein wichtiges Signal, aber
sie schafft dauerhaft keinen neuen Wohnraum.
({5})
Deswegen warnen wir auch davor, dass Sie zukünftig
weiter Investitionen blockieren.
({6})
Wir sollten nicht den Fehler machen, dass die Schaffung
von neuem oder die Sanierung von bestehendem Wohnraum zukünftig gehemmt wird. Das wäre das Ergebnis
Ihrer Politik.
({7})
Wir brauchen ordnungspolitische Maßnahmen, die einen
deutlich spürbaren Effekt auf die Bautätigkeit in diesem
Land haben.
({8})
Eine wirksame Maßnahme ist die soziale Wohnraumförderung. Im Gegensatz zum Wohngeld, das Zuschüsse
zur Miete leistet und in dieser Legislaturperiode übrigens
erhöht wurde, schafft der soziale Wohnungsbau einen effektiven Mehrbestand an Wohnungen. Es ist daher richtig - ich bitte Sie, das zur Kenntnis zu nehmen -, dass der
Bund in den nächsten Jahren die Mittel für den sozialen
Wohnungsbau der Länder mit 1,5 Milliarden Euro jährlich fördert und damit die Zuwendungen verdreifacht hat.
Wichtig ist aber auch, dass dieses Geld für Zwecke des
Wohnungsbaus ausgegeben wird. Manche Länder haben
bislang Fördergelder des Bundes für den sozialen Wohnungsbau gerne entgegengenommen, ohne aber die Wohnungen zu errichten, für die das Geld eigentlich gedacht
war. Das darf zukünftig nicht mehr der Fall sein.
Wir müssen auch darüber sprechen, wie die soziale
Wohnraumförderung auch nach 2019 garantiert werden
kann,
({9})
wenn nach dem Grundgesetz diese Aufgabe komplett auf
die Länder übergeht. Das ist eine Frage, bei der wir eine
Grundgesetzänderung brauchen, und die sollten wir sehr
besonnen und bald angehen.
Wir müssen, meine Damen und Herren, auch einen
Blick auf die Baukosten werfen. In den letzten Jahren
sind die Baustandards erheblich gestiegen: Umweltverträglichkeitsprüfung, Stellplatznachweis, Vorschriften
der Energieeinsparverordnung. Das alles sind nachvollziehbare und politisch ehrbare Motive, die sich eine
Gesellschaft aus guten Gründen leisten muss, aber das
kostet und hat nicht unerheblich zu höheren Baukosten
beigetragen. Wir brauchen also Antworten auf die Frage,
wie wir durch kluge Überarbeitung der Standards zu einer Senkung der Baukosten kommen.
Im Zusammenhang mit den Baukosten darf nicht
verschwiegen werden, dass zahlreiche Länder seit der
Föderalismusreform die in ihrer eigenen Zuständigkeit
liegende Grunderwerbsteuer deutlich erhöht haben. Nur
noch in Bayern und in Sachsen verharrt die Grunderwerbsteuer mit einem Steuersatz von 3,5 Prozent auf
dem Niveau des Jahres 2006. Alle anderen Bundesländer
haben diese Sätze seitdem kräftig erhöht, manche haben
sie nahezu verdoppelt.
Beim Kauf einer Eigentumswohnung beispielsweise,
die mit einem Kaufpreis von 250 000 Euro zu Buche
schlägt, werden bei einem Grunderwerbsteuersatz von
6,5 Prozent 16 250 Euro Grunderwerbsteuer fällig.
({10})
Das sind 7 500 Euro mehr, als wenn ein Grunderwerbsteuersatz von nur 3,5 Prozent gelten würde.
({11})
Es ist nicht akzeptabel, dass diese höheren Kosten dann
auf die Mieten umgelegt werden. Deswegen müssen wir
klar und deutlich formulieren: Die Länder sollten die
Grunderwerbsteuer nicht nur als Einnahmequelle sehen,
sondern verstehen, dass sie durch eine kluge Senkung der
Steuersätze ein weiteres wirksames Instrument zur Senkung der Baukosten in den Händen halten. Das müssen
die Länder zur Kenntnis nehmen und auch umsetzen.
Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kühn?
Ja, bitte.
Danke, Herr Kollege, für die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen. Sie haben gerade die Grunderwerbsteuer angesprochen. Wenn man heute eine Eigentumswohnung oder ein kleines Häuschen erwirbt, dann
zahlt man Grunderwerbsteuer. Wenn ich heute aber als
Investor in Deutschland unterwegs bin und größere
Wohnanlagen kaufe, ein Hochhaus in Frankfurt oder größere Einkaufszentren in Deutschland und das Instrument
des Share Deals benutze, also den Tausch von Aktien,
dann zahle ich keine Grunderwerbsteuer, wenn die entsprechenden Prozentzahlen erfüllt sind.
({0})
Ich glaube, wir haben hier eine massive Gerechtigkeitslücke. Dadurch entgeht den Ländern eine halbe Milliarde
Euro. Ich frage mich, warum Sie als CDU sich dieser Gerechtigkeitsfrage nicht stellen
({1})
und dafür sorgen, dass die Besitzer kleiner Eigentumswohnungen nicht die Gelackmeierten sind.
({2})
Vielmehr sollten alle in Deutschland, die Grund erwerben, Grunderwerbsteuer zahlen. Dann können die Sätze
auch wieder gesenkt werden.
({3})
Denn dann haben die Länder auch entsprechende Einnahmen.
({4})
Herr Kollege Kühn, die Ausnahme, die Sie genannt
haben, der Share Deal, bezieht sich auf die Übereignung
von Aktienanteilen und hat damit rein rechtlich nichts
mit dem Erwerb von Grundstücken zu tun. Sie sollten
nicht Dinge vermischen, die nicht zusammengehören.
({0})
Das ändert nichts an der Tatsache, dass es kein Land in
der Bundesrepublik Deutschland gibt, in dem die Grünen
an der Regierung sind und in dem in den letzten Jahren
die Grunderwerbsteuer nicht teilweise massiv erhöht
worden wäre.
({1})
In Nordrhein-Westfalen liegt der Satz für die Grunderwerbsteuer mittlerweile bei 6,5 Prozent. Gehen Sie mit
gutem Beispiel voran und senken Sie die Grunderwerbsteuer. Die Mieterinnen und Mieter werden es Ihnen danken.
({2})
Die Länder und die Kommunen sind übrigens auch
in der Pflicht, im Bereich des Baurechts bei Fragen der
Nachverdichtung und der Bebauungspläne dafür zu sorgen, dass neue Wohnungen in den Zentren unserer Städte
entstehen können.
Meine Damen und Herren, für viele Millionen Deutsche ist der Kauf eines Eigenheims mehr als nur der Erwerb von vier Wänden. Es ist für sie ein Zeichen von
Sicherheit, eine Investition in eine gute, beständige
Nachbarschaft und in die eigene Zukunft. Ein Eigenheim
stellt auch die beste Form der eigenen Altersvorsorge dar.
({3})
Damit der Traum vom eigenen Zuhause nicht unerreicht bleibt, haben wir die Menschen dabei zu unterstützen. Das ist Kern unserer Politik. Dazu brauchen wir eine
Wiedereinführung der Eigenheimzulage und des Baukindergeldes, damit der Staat denjenigen helfen kann, die
Verantwortung für sich und ihre Familien übernehmen.
Weiterhin brauchen wir eine gute wirtschaftliche Entwicklung, wie wir sie derzeit verzeichnen, mit einer ordentlichen Beschäftigungslage und guten Löhnen, damit
die Menschen sich das Eigenheim leisten können bzw.
die Mieten aus ihren Einkommen bestreitbar sind.
Wir werden die Herausforderungen des Wohnungsmarktes nicht durch Schwarz-Weiß-Denken lösen, sondern durch kluges Handeln, durch Verantwortung, gemeinsam getragen von Bund und Ländern. Dafür stehen
wir.
Vielen Dank.
({4})
Für die SPD spricht jetzt die Kollegin Cansel Kiziltepe.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Luczak, ich
meine, ich hätte seit langem nicht so viel widersprüchlichen Unfug gehört, wie von Ihnen vorhin.
({0})
Wenn man Ihrer Analyse folgt, könnte man meinen, Sie
hätten die Alarmsignale gehört. Aber Pustekuchen! Sie
wollen nichts tun gegen die soziale Verdrängung infolge
von Mietsteigerungen. Sie tun nichts gegen das Herausmodernisieren, und Sie tun auch nichts gegen die exorbitanten Mietsteigerungen. Der eigentliche Populist und
Gauner sind Sie, Herr Luczak.
({1})
Frau Kollegin, bei der Wortwahl „Gauner“ bitte ich,
sehr zurückhaltend zu sein. Ich halte sie nicht für parlamentarisch.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zu einem konkreten Beispiel kommen, zum Dragoner-Areal
in meinem Wahlkreis, in Kreuzberg. Es gibt eine Entscheidung des Finanzausschusses des Bundesrats, und
zwar seit dem 10. September 2015, den Verkauf des
Dragoner-Areals zu stoppen. Doch vonseiten des Bundes
ist nichts passiert. Es heißt, die Willensbildung sei noch
nicht abgeschlossen. Für mich als Kreuzberger Abgeordnete drängt sich die Frage auf: Wie lange dauert es denn,
bis sich eine Meinung gebildet hat?
({0})
Nach einem Jahr sollte das Finanzministerium doch zu
der Erkenntnis gekommen sein, dass die Entscheidung
des Bundesrates eine bindende ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Forderung ist
die logische Konsequenz daraus: Ich fordere die Rückabwicklung der Verträge.
({1})
Wir alle wissen, nicht nur in Kreuzberg, nicht nur in Berlin haben wir einen angespannten Mietwohnungsmarkt.
Viele Menschen sind nach unnötigen Sanierungen gezwungen, ihre Wohnungen zu verlassen. Wir haben einen
riesigen Missstand. Es gibt nicht genügend bezahlbare
Wohnungen, und zwar in unserem ganzen Land. Der
Bund ist gefordert, die Voraussetzungen für eine soziale
Stadtentwicklungspolitik zu schaffen.
({2})
- Der Bund, Herr Michelbach.
({3})
Das Dragoner-Areal muss der Wegweiser für eine Liegenschafts- und Stadtentwicklungspolitik sein, die nicht
auf den Mammon setzt, sondern auf eine Politik, die erstens und letztens das Wohlergehen der Bevölkerung zum
Ziel hat.
Für uns als SPD-Fraktion steht fest: Das BImA-Gesetz und die Bundeshaushaltsordnung müssen geändert
werden.
({4})
Erstens. Bundeseigentum darf nicht länger zum Höchstpreis verkauft werden; denn nur so ist es möglich, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Und da wir von finanzstarken Spekulanten nicht wirklich ein soziales Konzept
erwarten, fordere ich zweitens für die Kommunen ein
Erstzugriffsrecht zum Wohle einer gut durchdachten
Stadtentwicklungspolitik.
({5})
So müssen wir drittens auch die Zustimmungspflicht
des Bundesrates bei BImA-Verkäufen mit einem Umfang
von über 15 Millionen Euro selbstverständlich beibehalten. An eine Abschaffung wage ich nicht zu denken. Herr
Schäuble dachte daran; aber jetzt, nach meinen Ausführungen, denke ich, dass Herr Schäuble mir auch zustimmen wird.
({6})
- Ich habe ihn im Finanzausschuss in der letzten Woche
getroffen, und ich denke, er wird zur Vernunft kommen,
Herr Luczak. - Erst durch das Mitspracherecht des Bundesrates bei den BImA-Verkaufsentscheidungen ist ein
Verkaufsstopp überhaupt möglich gewesen. An dieser
Stelle möchte ich auch unserem Finanzsenator Matthias
Kollatz-Ahnen für seinen Einsatz im Bundesrat ganz
herzlich danken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Dragoner-Areal zum Sanierungsgebiet zu erklären, ist die bisher beste
Entscheidung. Das ist SPD-Politik. Die Auflagen hierzu zielen nämlich auf die Schaffung sozialverträglicher
Mieten. Bei einem anvisierten Höchstpreis von 36 Millionen Euro sind dies keine realisierbaren Auflagen.
Deshalb möchte ich die Rückabwicklung. Es ist zwar
entschuldbar, wenn Fehler gemacht werden; aber wenn
wir jetzt erkennen, dass wir Fehler gemacht haben, ist es
unverzeihlich, diese fortzuführen.
({7})
Deshalb wollen wir das BImA-Gesetz ändern; wir wollen
nicht, dass Tafelsilber verscherbelt wird.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihr Antrag ist überflüssig; denn die darin enthaltenen Inhalte
sind schon längst in unserer Politik auf Landesebene,
({9})
aber auch auf Bundesebene festgelegt, und dafür setzen
wir uns auch ein.
Vielen Dank.
({10})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Christian
Haase.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! In
den Städten fehlen bezahlbare Wohnungen; darüber sind
wir uns meines Erachtens nach einer so langen Debatte
einig. Ich hoffe, wir sind uns auch über den Grund dafür
einig: Es wurde in den vergangenen Jahren viel zu wenig gebaut. So sieht das auch der Direktor des Deutschen
Mieterbundes, Lukas Siebenkotten. Ich zitiere:
Steigende Nachfrage und ein nicht ausreichend
wachsendes Angebot führen in der Regel zu steigenden Mieten.
Hier helfen die Anträge der Opposition keinen Millimeter weiter. Weder sinken die Grundstückspreise, wenn
wir die Mietpreisbremse anpassen, noch sinken die Baukosten, wenn der Bund seine Liegenschaftspolitik ändert.
Die Zauberwörter heißen nicht BImA und Bremse, sondern Bauen, Bauen, Bauen.
({0})
Stattdessen wird munter die Arbeit der BImA kritisiert. Das ist aber gar nicht nötig; denn erstens müssen
Grundstücke zu ihrem Wert verkauft werden. Meine
Damen und Herren, wir müssen uns doch einmal klarmachen, wessen Eigentum wir hier verwalten. Es ist das
Eigentum der deutschen Bürger, und damit haben wir
verantwortungsvoll umzugehen.
({1})
Herr Haase, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Lay?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Kollege, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie haben ja gerade das beliebte Mantra der
CDU wiederholt, dass Bauen, Bauen, Bauen die einzige
Lösung für eine soziale Wohnungspolitik sei.
({0})
Wie sehen Sie es denn vor diesem Hintergrund, dass erst
kürzlich eine Studie festgestellt hat, dass nur bei 5 Prozent der Neubauten, die in den deutschen Großstädten
errichtet wurden, Wohnraum zu bezahlbaren Mieten entstanden ist, bezahlbar gemessen am Durchschnittsverdienst? In Berlin sind nur 2,5 Prozent aller Neubauten für
die Durchschnittsverdiener erschwinglich. Meinen Sie
nicht, dass Sie vor diesem Hintergrund Ihr Mantra „Bauen, Bauen, Bauen“ dringend überdenken müssen,
({1})
weil es in der Praxis Traumhäuser und Luxuswohnungen
bedeutet, mit denen weder den sozial schwachen Menschen noch irgendeinem Durchschnittsverdiener gedient
ist?
({2})
Frau Kollegin Lay, ich weiß nicht, welche Studien Sie
lesen. Wir könnten ja einmal Quartett spielen: Sie legen
Ihre Studie vor, ich lege Ihnen 20 andere Studien vor. Ich
glaube, dass nach wie vor richtig ist: Nur dann, wenn wir
den Bestand an Wohnungen erhöhen, werden wir auch
wieder bezahlbaren Wohnraum bekommen.
({0})
Wenn wir das Angebot nicht erhöhen, wird das knappe
Gut noch stärker nachgefragt. Das ist ein marktwirtschaftliches Prinzip;
({1})
dass Sie damit Ihre Schwierigkeiten haben, ist mir klar.
Kommen wir zurück zur BImA. Ich glaube, es geht
an den eigentlichen Problemlagen vorbei, wenn man
glaubt, mit der BImA Wohnungsbaupolitik betreiben zu
können. Gucken wir nach Berlin: Die BImA unterhält
hier 0,3 Prozent des Wohnungsbestandes. Ich glaube, das
können wir doch nicht ernsthaft in den Blick nehmen.
Die BImA leistet bereits hervorragende Arbeit; das will
ich ausdrücklich loben: Die energetische Sanierung der
Bundesimmobilien kommt gut voran. Die BImA hat auch
die Vorgaben der Bundespolitik schnell umgesetzt. Seit
2015 können Länder und Kommunen zum Zwecke des
sozialen Wohnungsbaus Grundstücke und Immobilien zu
günstigen Preisen erwerben, oder ihnen werden mietzinsfrei Immobilien zur Unterbringung von Asylbewerbern
zur Verfügung gestellt.
({2})
Für 2016, Herr Kühn, rechnet die BImA damit, dass die
Länder und Kommunen dadurch 500 Millionen Euro
sparen. Da sagen Sie: Das ist nichts.
Bei der Mietpreisbremse werden wir überprüfen, ob
sie in der Praxis so umgesetzt wird, wie wir das geplant
haben. Kollege Luczak - Frau Kiziltepe, ich würde ihn
anders bezeichnen als Sie; für mich ist das ein kluger
Kopf unserer Fraktion ({3})
hat bereits klargestellt, dass es hier nicht um Verschärfungen gehen darf. Unser Ziel ist es, dass die Mietpreisbremse erst einmal so gelten soll, wie wir sie im Gesetz
festgeschrieben haben. Um das festzustellen, brauchen
wir Evaluationen; wir haben bisher noch gar nicht genug Erfahrung dazu gesammelt. Das sagt uns im Übrigen
auch unser eigenes Institut, das BBSR.
Wenn wir uns die Probleme in den Städten anschauen,
stelle ich mir schon die Frage, ob wir mit der Mietpreisbremse nicht eine verfehlte Wohnungsbaupolitik und
-planungspolitik von Ländern und Kommunen kaschieren. Wir sollten uns hier nicht hinter die Fichte führen
lassen. Anstatt an den Symptomen herumzuwerkeln,
lassen Sie uns das Problem doch einmal an der Wurzel
anpacken. Wie schaffen wir bezahlbaren Wohnraum in
Deutschland? Hier liegen doch die wahren Baustellen in
unserem Land. Eine der größten Baustellen ist ohne jeden
Zweifel die soziale Wohnraumförderung. Die Zahl der
Sozialwohnungen in Deutschland ist gesunken. Das liegt
sicherlich nicht an der Liegenschaftspolitik des Bundes,
wie es uns der Antrag der Linkspartei weismachen will.
Wofür zahlen wir den Ländern seit fast zehn Jahren
Kompensationsmittel von jährlich 518 Millionen Euro?
({4})
Das macht seit 2007 insgesamt 4,7 Milliarden Euro.
({5})
In diesen zehn Jahren haben die Länder insgesamt
100 000 Wohnungen gebaut. Wir brauchen aber
400 000 Wohnungen - und das jährlich. Mehrere Länder haben es sogar geschafft, in diesem Zeitraum gar
keine Wohnungen zu bauen. Da brauchen wir uns am
Ende nicht zu wundern, wenn bezahlbarer Wohnraum in
Deutschland fehlt.
({6})
Gemäß dem Prinzip Hoffnung geben wir den Ländern
in diesem Jahr noch eine halbe Milliarde Euro obendrauf.
Vielleicht geben sie dann das Geld so aus, wie wir uns
das vorstellen. Das müsste ich mal zu Hause machen:
Ich gebe meiner Tochter 100 Euro für Klavierstunden,
sie kauft sich davon irgendeinen Blödsinn, und ich gebe
ihr dann 200 Euro in der Hoffnung, dass irgendwas für
Klavierstunden übrig bleibt. Und wenn das immer noch
nicht klappt, dann gebe ich ihr 300 Euro. - So machen
wir das nämlich im Bundeshaushalt 2017, in dem wir
noch einmal eine halbe Milliarde Euro obendrauf legen.
({7})
Das ist ein riesiger Vertrauensvorschuss, den wir den
Ländern geben. Frau Hendricks - sie ist leider abwesend;
sie ist im Ausland -, Sie müssten einmal die Länderminister an einen Tisch bringen, damit wir detailliert hören,
was mit unserem Geld in den Ländern passiert.
({8})
Wenn die Länder es schon nicht schaffen, mit unserem
Geld Sozialwohnungen zu bauen, dann hätten sie in der
Vergangenheit dieses Geld nehmen sollen, um auf die Erhöhung der Grunderwerbsteuer zu verzichten.
({9})
Das wäre auch jetzt noch eine kluge Möglichkeit, sofort
etwas zu unternehmen, um die Baukonjunktur in unserem Land anzukurbeln.
({10})
Es gibt auch viele andere vernünftige Vorschläge, die
man jetzt einfach nur umsetzen müsste. Das Zehn-Punkte-Programm der Wohnungsbau-Offensive hat viel bessere Ideen als Mietpreisbremse oder BImA-Bashing: Baulandausweisung, Nachverdichtung, Vereinfachung des
Baurechts und nicht zuletzt - es ist schon angesprochen
worden - eine steuerliche Förderung. Sonderabschreibungen für den Bau neuer Wohnungen in Ballungszentren wurden in den letzten Jahren immer mal wieder
diskutiert. Jetzt stellen Sie sich einmal vor: Sie wollen
investieren und bekommen die Diskussion mit. Ja, dann
warten Sie doch erst einmal ab, ob irgendwann einmal
entschieden wird oder ob der Vorschlag wieder auf das
Abstellgleis geschoben wird. Deshalb kann ich das ganze
Haus nur auffordern: Lassen Sie uns gemeinsam darüber
nachdenken und den Knoten durchschlagen! Wir brauchen eine steuerliche Förderung, um mehr bezahlbare
Wohnungen in Deutschland entstehen zu lassen.
({11})
Ein anderer Aspekt - ich will auch ein wenig für die
kommunale Seite sprechen -: Ich war selbst als Bürgermeister Aufsichtsrat in einer kommunalen Baugenossenschaft. Dort wird hervorragende Arbeit geleistet. Ich
finde es richtig, dass die eine oder andere Stadt darüber
nachdenkt, ob sie wieder mit so etwas beginnt. Was wir
nicht brauchen, sind die großen Kraken. Das ist für die
Kommunen viel zu groß. Das kann die Privatwirtschaft
wirklich besser. Aber wenn lokal, vor Ort, kleine Wohnungsbaugenossenschaften existieren, macht das in meinen Augen Sinn.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch auf
einen Aspekt eingehen, der mir in der ganzen Debatte um
Wohnungsnot in den Großstädten zu kurz kommt. Als
Bundespolitiker müssen wir die Entwicklung aller Regionen voranbringen, des städtischen Raums, aber auch
des ländlichen Raums. Wenn ich die Debatte über dieses
Thema hier verfolge, stelle ich fest: Es wird schnell der
Eindruck erweckt - er ist falsch -, als gäbe es ein Menschenrecht auf ein Leben in der Stadt. Ich persönlich bin
vom Gegenteil überzeugt: Es ist ein Privileg, im ländlichen Raum zu leben.
({12})
Deshalb steigen die Mieten nach den neuesten Studien
im Augenblick gerade in den ländlichen Räumen, und in
den städtischen Ballungszentren sehen wir ein Abflachen
der Mietsteigerungskurve.
Viele Menschen suchen aber immer noch den Weg in
die Stadt, weil dort das Arbeitsplatzangebot vermeintlich besser sei. Mit Blick auf mein Bundesland Nordrhein-Westfalen kann ich das nicht bestätigen. Leider
bilden wir mit einem Nullwachstum bei der Wirtschaftsentwicklung das Schlusslicht in Deutschland. Das gilt
aber nicht für das ganze Bundesland. Während die Kommunen im Ruhrgebiet mit einer hohen Arbeitslosigkeit
kämpfen, suchen Unternehmen in den ländlichen Räumen, in Südwestfalen oder in Ostwestfalen-Lippe, Arbeitskräfte.
Meine Damen und Herren, dieses Beispiel zeigt, dass
es viel zu einseitig ist, über Großstädte zu diskutieren,
ohne dabei auch die Folgen für den ländlichen Raum
zu berücksichtigen. Selbstverständlich ist die anhaltende Urbanisierung ein Trend, auf den die Politik reagieren muss. Aber anstatt diesen Trend zu fördern, könnte
man dem Ganzen ja auch einmal etwas entgegensetzen
und die ländlichen Räume fördern. Wenn noch mehr
Menschen vom Land in die Städte ziehen, weil in ihrer
Heimat Leistungen wegzubrechen drohen - ich denke an
Busverbindungen, Kulturangebote oder den Dorfarzt -,
dann verschärft das die Probleme sowohl auf dem Land
als auch in der Stadt. Denn wenn in den Städten immer
mehr Menschen auf engstem Raum zusammenleben,
bringt das auch viele Probleme mit sich.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Zeit?
Mehr Menschen bedeuten mehr Verkehr, mehr Lärm
und mehr Konflikte.
Schließen will ich mit dem Zitat einer jungen Frau, die
aus Hamburg in meine Region, in ein 400-Seelen-Dorf,
zurückgekehrt ist:
In der Stadt habe ich auch nicht alles vor der Haustür, und in den Großstädten ist das Leben unglaublich teuer. Wir mussten beide arbeiten, um die hohe
Miete und die anderen Kosten überhaupt tragen zu
können. In der Stadt glitzert auch nicht alles. Und
wenn man eine Gesamtbilanz zieht, stellt man fest,
dass das Land durchaus etwas zu bieten hat.
Diese Botschaft dürfen wir ruhig etwas offensiver vertreten, meine Damen und Herren.
Danke.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächstes spricht für die SPD-Fraktion der Kollege Dennis Rohde.
({0})
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir sprechen erneut über die Situation auf
dem Mietwohnungsmarkt in Deutschland, über die Mietpreisbremse, über Wohnungsneubau, über die Modernisierungsumlage, über Bezugszeiträume für Mietspiegel
und viele weitere mietrechtliche Dinge. Das alles sind
Dinge, über die wir hier schon oft debattiert haben. Ich
möchte vorab betonen, dass ich sie, dass die SPD-Fraktion sie unglaublich wichtig findet.
({0})
Ich habe mich gefragt, ob ich direkt etwas zum Inhalt
der Anträge der Linksfraktion bemerken soll oder ob ich
einen Ausblick auf die Aspekte geben soll, bei denen wir
Sozialdemokraten noch Handlungsbedarf im Hinblick
auf den Schutz der Mieterinnen und Mieter sehen und
die sich zum Beispiel in dem aktuellen Referentenentwurf des Justizministeriums befinden. Dazu ist in dieser
Debatte von meinen Vorrednern schon viel Richtiges gesagt worden. Ich finde allerdings, man muss auch etwas
zur Systematik dieser Debatte und zur gleich folgenden
namentlichen Abstimmung sagen, insbesondere für die
interessierten Zuschauerinnen und Zuschauer.
Was erleben wir gerade? Die Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei haben die richtigen und wichtigen Forderungen der SPD aufgegriffen,
({1})
die Justizminister Heiko Maas als Referentenentwurf auf
Grundlage des Koalitionsvertrages vorgelegt hat. Dabei
haben sie, um das eigene Gesicht nicht zu verlieren, die
konkreten Zahlen herausgestrichen, den Inhalt ein bisschen umgeschrieben und dann „Antrag der Linken“ oben
drübergeschrieben. Das ist ein klassischer Schaufensterantrag. Dagegen zu argumentieren, so jedenfalls das Kalkül, ist ja auch schwer; denn der Antrag besteht ja eigentlich nur aus unseren längst bekannten Forderungen, und
er befasst sich mit Umständen, die wir selbst kritisieren.
({2})
Sinn und Zweck dieser Debatte und insbesondere der folgenden Abstimmung ist es daher, es möglichst so aussehen zu lassen, als hätten wir Sozialdemokraten die eigene
Position geräumt
({3})
und als wollten wir nichts mehr vom Schutz der Mieterinnen und Mieter wissen, weil wir Ihren Antrag heute
ablehnen werden. Genau das werden Sie den Medien
gleich erzählen. - Um es an dieser Stelle deutlich zu sagen: Das ist natürlich totaler Quatsch. Der Schutz von
Mieterinnen und Mietern ist für uns eines der wichtigsten
Themen, und das wissen Sie auch.
({4})
Ich frage mich: Wo ist dabei die Politik? Ich habe bisher immer gedacht, Opposition bedeutet, eigene, alternative Positionen zu formulieren, eine andere Perspektive einzunehmen und zur Vielfalt der Meinungen und
Ansichten in unserer Demokratie beizutragen.
({5})
Das, was die Kolleginnen und Kollegen von der Linkspartei hier seit Beginn der Legislaturperiode immer wieder tun, ist aber oftmals eben nicht mehr, als sich der
eben beschriebenen Systematik zu bedienen.
Alle wissen doch, dass Sie gar nicht den Zweck verfolgen, heute inhaltlich etwas zu erreichen.
({6})
Keiner von Ihnen hat doch beim Verfassen des Antrags
auch nur ansatzweise daran geglaubt, dass eine Regierungsfraktion dem zustimmen wird.
({7})
Ich möchte noch einmal deutlich betonen: Hier gibt es
auch nichts zu skandalisieren. Man muss sich nicht darüber aufregen. Die Ablehnung Ihres Antrages hat nichts
mit der Haltung der Sozialdemokraten zum Schutz von
Mieterinnen und Mietern zu tun.
({8})
Dass Koalitionen gemeinsam abstimmen, ist wahrlich
keine Erfindung dieser Großen Koalition. Dass Koalitionen gemeinsam abstimmen, auch wenn der eine oder
der andere Koalitionspartner inhaltlich einmal anderer
Auffassung ist, ist in jedem Parlament in diesem Land
Normalität, und das ist ja auch gewollt, weil Koalitionen
ansonsten nicht funktionieren würden.
({9})
Ich sage: Man kann das auch nachlesen. Dort, wo Sie
in den Ländern mitregieren, machen Sie es keinen Deut
anders, sondern ganz genau so.
({10})
Noch einmal: Mit diesem Antrag wird Bezug auf den
Gesetzentwurf unseres Justizministers genommen, und
der Gesetzentwurf von Heiko Maas wird von der Fraktion der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ausdrücklich unterstützt.
({11})
Eines billige ich Ihnen abschließend aber doch zu: Die
Frage, warum das gerade so lange dauert, ist in der Tat
berechtigt. Diese Frage stellen wir uns in der SPD-Bundestagsfraktion auch, und zigtausend betroffene Mieterinnen und Mieter in unserem Land stellen sich dieselbe
Frage.
Deshalb bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von
der CDU: Der gute Gesetzentwurf von Bundesminister
Heiko Maas liegt seit Ewigkeiten im Bundeskanzleramt.
Verwenden Sie sich endlich für die Mieterinnen und Mieter in unserem Land,
({12})
und sorgen Sie bei Ihrem Parteifreund Peter Altmaier dafür, dass der Gesetzentwurf endlich zur Beteiligung an
die Länder und die entsprechenden Verbände übersandt
wird!
({13})
Lassen Sie uns endlich dafür Sorge tragen, dass aus
einem guten Gesetzentwurf auch ein gutes Gesetz wird!
Die Mieterinnen und Mieter in Deutschland warten darauf.
Vielen Dank.
({14})
Vielen Dank. - Bevor ich jetzt dem Kollegen Michael
Groß als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt
das Wort erteile, bitte ich Sie alle noch einmal um drei
Minuten Aufmerksamkeit.
({0})
Ich weiß, dass jeder Einzelne von Ihnen glaubt, dass sein
Gespräch besonders leise ist, aber in der Gesamtheit ist
das sehr laut. Also: Drei Minuten Aufmerksamkeit! Danke schön.
Bitte, Herr Kollege Groß.
({1})
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich weiß, dass Sie alle
zur Abstimmung schreiten wollen. Deswegen brauche
ich die drei Minuten vielleicht gar nicht.
Es war interessant, der Debatte heute Morgen zuzuhören. Herr Haase macht schon Wahlkampf in NRW und
behauptet Tatsachen, die einfach falsch sind.
({0})
Das Wirtschaftswachstum in NRW betrug im ersten
Halbjahr 2016 2,1 Prozent, wir haben 650 000 Arbeitsplätze mehr als vor 15 Jahren, nämlich über 6 Millionen, und ich kann Ihnen versichern: NRW ist deutscher
Meister beim sozialen Wohnungsbau.
({1})
Wir haben jetzt einen Aufwuchs von 40 Prozent erreicht
und insgesamt 30 Prozent mehr Wohnungsbau in NRW.
NRW ist übrigens eines der Bundesländer, die die
Bundesmittel noch aufstocken. NRW gibt jetzt 1,1 Milliarden Euro für den Wohnungsbau aus.
({2})
Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Zahlen haben.
Herr Luczak, nachdem ich Herrn Dr. Michelbach gehört habe, bin ich sozusagen begeistert, dass Sie jetzt
mein neuer Hoffnungsträger sind.
({3})
Ich setze also sehr auf Sie, dass Sie sich dafür einsetzen,
dass wir die soziale Funktion des Mietrechts wieder einführen und stärken, sodass die Mieter davon profitieren.
Lassen Sie uns zusammenarbeiten und die Mietrechtspakete I und II auf den Weg bringen. Das dient den Menschen und den Bürgern und sorgt dafür, dass niemand
vertrieben wird. Morgen können wir anfangen, Herr
Luczak!
({4})
Herr Michelbach, noch ein paar Sätze zu Ihnen: Sie
haben in Ihrer ganzen Rede überhaupt nicht über die soziale Marktwirtschaft, sondern nur über die Marktwirtschaft gesprochen. Ich weiß nicht, was Ludwig Erhard
dazu sagen würde.
({5})
Eine Errungenschaft dieses Landes ist es doch, dass wir
beides zusammenbringen wollen: Eigentum verpflichtet,
und Eigentum ist zu schützen. Nur beides zusammen ergibt Sinn, und wir müssen die Leitplanken so setzen, dass
alle Menschen davon profitieren. Ich verstehe Sie nicht.
In der nächsten Rede sagt Herr Dr. Ullrich: Wir wollen
die Erzieherinnen und Kindergärtnerinnen schützen. Wie wollen Sie das mit Ihrer Auffassung von Marktwirtschaft in Einklang bringen? Das müssen Sie mir einmal
erklären.
({6})
Ich will auf zwei Punkte eingehen, die neben Wohnungsbau und der sozialen Funktion des Mietrechts
wichtig sind. Der erste Punkt: Ich glaube, dass wir den
kommunalen Wohnungsbau wieder stärken müssen.
Es gibt 700 kommunale Wohnungsgesellschaften, die
2,6 Millionen Wohnungen verwalten. 60 Prozent der gebundenen Wohnungen sind in der Hand der kommunalen
Wohnungsunternehmen. Sie müssen wir unterstützen.
Die Studie, die hier immer zitiert wird, besagt eindeutig,
dass sich die kommunalen Wohnungsgesellschaften an
die Vorschriften der Mietrechtsreform und damit an die
Mietpreisbremse halten. Diese Gesellschaften müssen
wir unterstützen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Der zweite Punkt: die Baukosten. Die Baukosten sind
ein wesentlicher Treiber bei der aktuellen Entwicklung.
Seit circa 15 Jahren steigen die Baukosten immens: um
bis zu 70 Prozent bei Neubauwohnungen. Die Steigerung
beim mittleren Einkommensniveau über diesen Zeitraum
liegt dagegen bei 15 Prozent. Es ist wichtig, dass wir uns
den Fakten zuwenden und sehr genau betrachten, was
wichtig ist: Das Erste ist die Energieeinsparverordnung,
die EnEV, die deutlich dazu beiträgt, dass die Mietkosten
steigen. Das Zweite sind die Bodenpreise. Wir müssen
dafür sorgen, dass die Städte wieder in die Lage versetzt
werden, Flächenmanagement und Bodenvorratspolitik
zu betreiben.
({8})
Wir als Bundesregierung haben die Städte entlastet.
Das müssen wir weiter tun, damit eine vernünftige Politik vor Ort möglich ist. Wir dürfen Menschen nicht
vertreiben. Bezahlbare Mietpreise sind eine Grundlage
für gutes Wohnen in sozialen Quartieren. Dafür lasst uns
schnell arbeiten! Herr Luczak ist leider nicht mehr da.
Aber ich hoffe, dass er in den nächsten Tagen ein Gespräch führt, das Ergebnisse bringt.
Herzlichen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Tagesordnungspunkte 4 a und 4 b. Interfraktionell
wird die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 18/9123 und 18/9790 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? - Ich sehe, das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 4 c. Zu dieser und der folgenden
namentlichen Abstimmung liegen eine Reihe von Erklä-
rungen gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung vor.1)
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Recht und Verbraucherschutz zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Mieterinnen
und Mieter besser schützen - Zweite Mietrechtsnovelle
vorlegen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 18/9696, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/8863 abzulehnen.
Wir stimmen nun über diese Beschlussempfehlung auf
Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich ab. Eine
weitere namentliche Abstimmung folgt unmittelbar da-
nach.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, ihre
Plätze einzunehmen. - Sind jetzt die Plätze an den Urnen
besetzt? - Alle Plätze sind besetzt. Ich eröffne die Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung.
1) Anlage 2
Gibt es noch ein Mitglied des Hauses, das seine
Stimmkarte nicht abgegeben hat? - Das ist nicht der Fall.
Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu be-
ginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.1)
Tagesordnungspunkt 4 d. Beschlussempfehlung des
Haushaltsausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Privatisierung von Bundesliegen-
schaften stoppen - Liegenschaftspolitik des Bundes
nachhaltig reformieren“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/6686, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/4419
abzulehnen. Wir stimmen über diese Beschlussempfeh-
lung auf Verlangen der Fraktion Die Linke namentlich
ab.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze be-
setzt? - Ich sehe, dass das der Fall ist, und eröffne die
zweite namentliche Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung.
Haben alle ihre Stimmkarte abgegeben? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung
wird Ihnen später bekannt gegeben.2)
Ich bitte, jetzt wieder die Plätze einzunehmen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Flexibilisierung des Übergangs vom
Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von Prävention und Rehabilitation im
Erwerbsleben ({0})
Drucksache 18/9787
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 der GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich bitte Sie, die Plätze einzunehmen und die dringenden Gespräche außerhalb des Plenarsaals weiterzuführen. - Danke schön.
Dann eröffne ich die Aussprache, und das Wort hat die
Kollegin Katja Mast, SPD-Fraktion.
({2})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Rente und Erwerbsleben sind eng mitei-
nander verzahnt; denn wir wissen: Rente ist der Spiegel
1) Ergebnis Seite 19177 D
2) Ergebnis Seite 19180 C
gelebten Lebens, genauer: gelebten Arbeitens. Beide Bereiche haben wir in dieser Legislatur - beispielsweise mit
dem Rentenpaket I sowie mit dem Mindestlohngesetz gestaltet. Es kommt aber auch noch die Regulierung von
Werkverträgen und Leiharbeit hinzu.
Heute diskutieren wir, wie wir Arbeit und Rente besser miteinander verzahnen können, also wie wir einen
gleitenden, ja sogar einen fließenden Übergang zwischen
Arbeit und Rente, zwischen beiden Lebensphasen ermöglichen können. Für uns von der SPD ist dabei besonders wichtig, wie man gesund und fit, aber auch vor allem
selbstbestimmt das Rentenalter erreicht.
({0})
Das ist für uns eine Frage sozialer Gerechtigkeit.
Drei Punkte will ich nennen, wieso unser Gesetz jetzt nenne ich für alle nach mir folgenden Rednerinnen
und Redner noch einmal den vollständigen Titel; es ist
das „Gesetz zur Flexibilisierung des Übergangs vom
Erwerbsleben in den Ruhestand und zur Stärkung von
Prävention und Rehabilitation im Erwerbsleben“ - mehr
Selbstbestimmtheit möglich macht.
Erstens. Selbstbestimmter Übergang in Rente ist nur
möglich, wenn ich mein Renteneintrittsalter gesund erreiche und nicht durch Krankheit gezwungen werde, aus
dem Erwerbsleben auszuscheiden. Denn heute ist es ja oft
so, dass zwischen Erwerbsleben und Rente noch Phasen
von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Erwerbsminderung
liegen. Deshalb gibt es heute schon den Grundsatz: Reha
vor Rente. Diesen Ansatz stärken wir mit diesem Gesetz,
indem wir dafür sorgen, dass die Rehabedarfe früher festgestellt werden und mehr Personen von Reha profitieren
können, und wir stärken die Rolle der Selbstverwaltung.
({1})
Wir gehen mit diesem Gesetz aber noch einen Schritt
weiter. Vorsorgende Sozialpolitik bedeutet, vor der Reha
anzusetzen, nämlich Prävention zu stärken. Deshalb sagen wir: Prävention vor Reha und Reha vor Rente.
({2})
Wir werden dafür sorgen, dass mehr Menschen von den
Präventionsleistungen der Rentenversicherung profitieren können. Wir führen einen Ü-45-Check-up ein, ein
freiwilliges Angebot, um sich berufsbezogen durchchecken zu lassen, und zwar sowohl gesundheitlich als auch,
was die Qualifikation betrifft. Denn wann entscheidet
sich im Leben, ob man bis zur Rente fit und qualifiziert
ist? Meistens in der Mitte des Lebens, ungefähr mit
45 Jahren. Deshalb der Ü-45-Check-up. Wir unterstützen
damit die Menschen, ihre Erwerbsfähigkeit zu erhalten und das selbstbestimmt.
({3})
Zweiter Punkt. Selbstbestimmt bedeutet auch, selbst
entscheiden zu können, wann ich in Rente gehe und wie
ich in Rente gehe. Nicht jeder und jede will gleich in Rente gehen; manche wollen vielleicht teilweise arbeiten, 40,
50, 60 oder 70 Prozent. Das Instrument dafür heißt Teilrente. Diese machen wir endlich transparenter, flexibler
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
und damit attraktiver; denn die bisherigen Teilrentenregelungen bestrafen meist die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn diese hinzuverdienen, manchmal sogar
dann, wenn sie nur 1 Euro hinzuverdienen. Deshalb ist
es kein Wunder, dass die Teilrente heute kaum genutzt
wird. Wir wollen die seit vielen Jahren andauernde Debatte über die Reform der Teilrente mit unserem Gesetz
und unserem tragfähigen Konzept endlich beenden. Ich
will an dieser Stelle nicht verhehlen: Die SPD hätte sich
gut vorstellen können, dass die Teilrente nicht erst mit
63, sondern mit 60 Jahren beginnt. Aber das können wir
in Zukunft in die Hand nehmen.
Wenn ich über die Verzahnung rede, geht es auch darum, wie man nach dem Eintritt in das Rentenalter weiterarbeiten kann. Da wird es künftig so sein, dass man
von der Rente profitieren kann, wenn man seine eigenen
Arbeitnehmerbeiträge in die Rentenversicherung einzahlt. Auch das ist Selbstbestimmtheit.
({4})
Drittens bedeutet für uns selbstbestimmt, dass wir bei
dem Problem der sogenannten Zwangsverrentung - das
war uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
besonders wichtig - endlich eine Verbesserung für die
Menschen erreicht haben. Künftig kann niemand mehr
gezwungen werden, aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug
in Rente mit Abschlägen geschickt zu werden, wenn dadurch dauerhafte Altersarmut droht.
({5})
Sie sehen: Das ist ein großes und auch ein komplexes
Paket. Es war kein einfacher Prozess. Es gab intensive
Beratungen mit dem Bundesarbeitsministerium, mit unserer Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, vor allem
mit der zuständigen Staatssekretärin Gabriele LösekrugMöller, aber auch mit allen anderen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern im Bundesarbeitsministerium, mit Experten
der Rentenversicherung, mit der Bundesagentur für Arbeit und den Gewerkschaften. All denen will ich an dieser Stelle ausdrücklich für ihre kompetente Beratung in
diesem Prozess danken.
({6})
Bedanken will ich mich natürlich auch bei den Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bei den Kolleginnen und Kollegen der Union ebenso wie bei denen
meiner Fraktion, aber auch bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern, die daran mitgearbeitet haben; denn auch
sie haben diesen Prozess mit uns gemeinsam gestaltet.
Ich bin froh, dass wir diesen Gesetzentwurf heute
vorlegen und beraten können; denn beide Bereiche müssen gestaltet werden: die Rentenpolitik und die Arbeitsmarktpolitik. Nur dann können wir verzahnen, und nur so
schaffen wir Gerechtigkeit.
({7})
Vielen Dank. - Ich gebe Ihnen jetzt die von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelten Ergebnisse der namentlichen Abstimmungen bekannt.
Ergebnis der Abstimmung über den Antrag mit dem
Titel „Mieterinnen und Mieter besser schützen - Zweite
Mietrechtsnovelle vorlegen“: abgegebene Stimmen 580.
Mit Ja haben gestimmt 466, mit Nein haben gestimmt
114. Damit ist dieser Antrag angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 581;
davon
ja: 467
nein: 114
enthalten: 0
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer
({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({5})
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({12})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({14})
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr. h.c. Albert Weiler
Marcus Weinberg ({15})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({16})
Sabine Weiss ({17})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({18})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({19})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Jürgen Coße
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({20})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({21})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({22})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Detlef Müller ({23})
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({24})
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({25})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({27})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({28})
Matthias Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Carsten Schneider ({31})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({32})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({33})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({34})
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({35})
Martina Renner
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({36})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Volker Beck ({37})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({38})
Christian Kühn ({39})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({40})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Ergebnis der Abstimmung über den Antrag „Privatisierung von Bundesliegenschaften stoppen - Liegenschaftspolitik des Bundes nachhaltig reformieren“: abgegebene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 467, mit
Nein haben gestimmt 57, Enthaltungen 57. Damit ist dieser Antrag angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 580;
davon
ja: 466
nein: 57
enthalten: 57
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({41})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({42})
Axel E. Fischer
({43})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({44})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({45})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({46})
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({47})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({48})
Stefan Müller ({49})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({50})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({51})
Gabriele Schmidt ({52})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({53})
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({54})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({55})
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr. h.c. Albert Weiler
Marcus Weinberg ({56})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({57})
Sabine Weiss ({58})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({59})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({60})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Marco Bülow
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Jürgen Coße
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Dr. Ute Finckh-Krämer
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({61})
Dirk Heidenblut
Hubertus Heil ({62})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Dr. Eva Högl
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Arno Klare
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Anette Kramme
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({63})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Detlef Müller ({64})
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({65})
Markus Paschke
Christian Petry
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({66})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({67})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Axel Schäfer ({68})
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({69})
Matthias Schmidt ({70})
Dagmar Schmidt ({71})
Carsten Schneider ({72})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({73})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Waltraud Wolff
({74})
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
Nein
DIE LINKE
Jan van Aken
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Katja Kipping
Jan Korte
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Norbert Müller ({75})
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({76})
Martina Renner
Kersten Steinke
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({77})
Enthalten
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Volker Beck ({78})
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({79})
Christian Kühn ({80})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Özcan Mutlu
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({81})
Corinna Rüffer
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Dr. Julia Verlinden
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Als Nächstes hat jetzt der Kollege Matthias W.
Birkwald, Fraktion Die Linke, das Wort.
({82})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Ab dem kommenden Jahr wird es für ab 1952
Geborene erstens die Altersrente wegen Arbeitslosigkeit
nicht mehr geben, zweitens die Altersrente wegen Altersteilzeit nicht mehr geben, und drittens wird es auch die
abschlagsfreie Altersrente für Frauen ab 65 nicht mehr
geben. All diese flexiblen Übergänge wurden von Union, SPD und Grünen abgeschafft. Sie alle haben damit
den flexiblen Übergang aus dem Erwerbsleben für viele
verbaut.
({0})
Schlimmer noch: Sie haben die gute Berufsunfähigkeitsrente abgeschafft und durch eine schlechtere
Erwerbsminderungsrente mit Abschlägen ersetzt. Sie
alle - außer der Linken natürlich - haben das Rentenniveau Anfang des Jahrtausends in den Sinkflug geschickt.
Seit gestern wissen wir: Das Rentenniveau wird bis
zum Jahr 2035 sogar von einstmals 53 Prozent auf unter 43 Prozent absinken. Ich sage Ihnen: Viele Menschen
mit durchschnittlichen Einkommen werden künftig keine
auskömmliche Rente mehr erreichen.
Damit immer noch nicht genug: Viele Menschen werden trotz hoher Belastungen und gesundheitlicher Probleme - dank Franz Müntefering, dank SPD und CDU erst ab 67 in Rente gehen dürfen.
Das alles ist doch ein sozialpolitischer Dauerskandal.
({1})
Daran, liebe Koalition, wird Ihre Flexirente nur eines ändern: Für die Älteren soll es leichter werden, all die Rentenkürzungen der vergangenen Jahre durch Dazuverdienen bis ins hohe Alter etwas abzumildern. Zu Deutsch:
noch mehr und noch länger arbeiten. Diese zynische Politik lehnt die Linksfraktion ab.
({2})
Ich frage Sie: Was ist mit dem Bauarbeiter, der im Durchschnitt mit knapp 58 Jahren, liebe Katja Mast, seinen
Beruf aufgeben muss? Was ist denn mit der Krankenschwester, die durchschnittlich im Alter von 61 Jahren
nicht mehr kann? Die beiden gucken in die Röhre. Ihnen
drohen auf den letzten Metern ihres Berufslebens Arbeitslosigkeit, Hartz IV und ab 63 dann die Zwangsverrentung.
({3})
Die wollen Sie nämlich nur einschränken, und da sage ich:
Das reicht nicht. Die Zwangsverrentung Hartz-IV-Betroffener gehört abgeschafft, voll und ganz.
({4})
Meine Damen und Herren, das Heer der älteren Arbeitslosen von 60 bis 64 Jahren ist von 2010 bis 2015
von 137 000 auf 228 000 angestiegen. Das sind sage und
schreibe 66 Prozent, und die Hälfte davon ist langzeitarbeitslos. Warum habe ich diese Zahlen herausgesucht?
Weil die IG BAU in ihrer Stellungnahme zum Entwurf
des Flexi-Rentengesetzes schreibt - Zitat -:
Eine Ursache für die eingeschränkte Realitätstauglichkeit der Reformvorschläge des Gesetzentwurfs
ist, dass die zugrundeliegende Problemanalyse wenig differenziert ist. Langzeitarbeitslosigkeit und
SGB-II-Bedürftigkeit kurz vor der Altersrente als
Folge gesundheitlicher Einschränkungen werden
nicht ausreichend in den Blick genommen.
Eingeschränkte Realitätstauglichkeit, was ist das denn
in Schulnoten? Drei minus, Vier, Fünf plus? Suchen Sie
sich etwas aus.
({5})
Aber hören Sie bitte auf, so zu tun, als hätten Sie für Ihren Gesetzentwurf eine glatte Eins verdient. Nein, sehr
viele Menschen werden von Ihrem Gesetz nicht erreicht
werden.
Liebe SPD, ich zitiere einmal die Arbeiterwohlfahrt:
Die Teilrenten stehen damit als Instrument nur denjenigen Versicherten zur Verfügung, die sich eine
um lebenslange Abschläge geminderte Rente leisten
können.
Man muss sich die Teilrente und vor allem die lebenslangen Abschläge also erst einmal leisten können. Wer
beispielsweise 1 000 Euro Rente oder weniger zu erwarten hat, kann sich die Abschläge aber gar nicht leisten.
Das ist das Problem, und darum sagen wir Linken: Die
Teilrente ist mit größter Vorsicht zu genießen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
halten Sie die Abschläge eigentlich für gerechtfertigt,
wenn jemand gesundheitlich eingeschränkt ist, wenn
eine ältere Schlecker-Verkäuferin trotz intensiver langer
Suche keinen Job gefunden hat oder wenn ein Bochumer
Opel-Arbeiter nach einem langen Berufsleben unfreiwillig vorzeitig in Rente gehen muss? Ich nicht. Wer seinen
Job verliert, soll nicht auch noch mit Abschlägen bestraft
werden.
({7})
Können die beiden nach Erreichen ihrer Regelaltersgrenze überhaupt weiterarbeiten, um die Abschläge auszugleichen? Ich bezweifle das. Wird eine Krankenschwester
oder ein Bauarbeiter überhaupt einen Teilzeitarbeitsplatz
erhalten, um die Abschläge mit einer Teilrente abmildern zu können? Die Antwort der Industriegewerkschaft BAU: Viele Ältere haben gar keine Chance auf
einen auskömmlichen und dauerhaften Teilzeitarbeitsplatz; denn in Betrieben mit weniger als 15 Beschäftigten
besteht auch kein Rechtsanspruch, oder ein bestehender
Rechtsanspruch wird regelmäßig mit dem Verweis auf
betriebliche Gründe ausgehebelt.
Nein, liebe Katja Mast, die Lebenswirklichkeit wird
die hochkomplizierte Teilrente ins Leere laufen lassen,
({8})
bevor sich überhaupt ein einziger Mensch dieses sehr
komplexe Modell erklärt haben lassen wird.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD,
haben Sie gelesen, was die Deutsche Rentenversicherung
schreibt? Sie schreibt, die Teilrente sei schwer vermittelbar und könne zu sozialpolitisch höchst fragwürdigen
Ergebnissen führen. Sie wird dazu führen, dass ständig
Rentenzahlungen zurückgefordert werden müssen. Dem
abschließenden Urteil der IG BAU kann ich mich deshalb nur anschließen - Zitat -:
Die vom Gesetzentwurf vorgeschlagenen Regelungen schaffen für viele besonders belastete Beschäftigtengruppen keine realitätstauglichen Möglichkeiten für flexible Altersübergänge.
Nicht realitätstauglich, schwer vermittelbar, sozialpolitisch höchst fragwürdig - so kritisch äußern sich Gewerkschaften, Sozialverbände und die Rentenversicherung zur Teilrente. Ich finde: Grund genug, die Teilrente
auf Eis zu legen!
({10})
Lieber Martin Rosemann, die Arbeiterwohlfahrt, der
Deutsche Gewerkschaftsbund und die katholische Caritas lehnen auch die befristete Abschaffung des Arbeitgeberbeitrags zur Arbeitslosenversicherung für arbeitende Rentnerinnen und Rentner ab. Die Caritas kritisiert:
Damit werden Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt; denn sie werden zukünftig gegen billigere
Ältere ausgespielt, die weiterarbeiten können und wollen. - AWO, DGB und Caritas, sie haben recht.
({11})
Darum sollte man den Arbeitgeberbeitrag beibehalten.
Meine Damen und Herren, nach so viel Kritik nun ein
dreifaches Lob:
({12})
Erstens. Wer vorzeitig in Rente geht und weiterarbeitet,
wird künftig auch weiter Rentenbeiträge zahlen müssen.
({13})
Damit steigt dann auch die Rente. Gut so! Zweitens.
Wer nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiterarbeiten möchte, darf freiwillig weiter Rentenbeiträge zahlen.
Auch das erhöht die Rente. Gut so! Drittens sollen die
Beschäftigten künftig ab 50 die Möglichkeit haben, zusätzlich und freiwillig in die Rentenkasse einzuzahlen.
Auch da sage ich: Gut so!
({14})
- Ja, da darf man auch mal klatschen.
Ich empfehle allen Versicherten, statt kapitalgedeckter
privater Vorsorge freiwillige Zusatzbeiträge auf ihr persönliches Rentenkonto einzuzahlen. Bei der gesetzlichen
Rentenversicherung ist ihr Geld sicher. Wer von Riester
die Nase voll hat oder so klug war, keinen Vertrag zur
Riester-Rente abzuschließen, hat hier eine seriöse Alternative. So weit, so gut.
Aber, liebe Koalition, warum begrenzen Sie die Zusatzbeiträge auf den Ausgleich der Abschläge und warum
auf das 50. Lebensjahr?
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Frau Präsidentin, das wird sofort erledigt. - Wir hätten hier die perfekte und sichere Alternative zur Riester-Rente, wenn man ab dem ersten Arbeitstag zusätzlich
auf sein persönliches Konto bei der Rentenversicherung
einzahlen könnte.
Ich komme zum Schluss. Dieser Gesetzentwurf ist ein
typischer „Nahles“: Er hat etwas Licht und viel Schatten.
Der Gesetzentwurf ist viel zu kompliziert. Reden Sie mal
mit der Rentenversicherung und den Rentenberaterinnen
und -beratern! Ich sage Ihnen: Wir brauchen drei Punkte - damit ende ich -: Die Abschläge bei den Erwerbsminderungsrenten müssen gestrichen werden; denn
niemand wird freiwillig krank. Nach 40 Beitragsjahren
sollen die Menschen ab 60 in Rente gehen können - ohne
Abschläge. Und wir Linken fordern die komplette AbMatthias W. Birkwald
schaffung der Zwangsverrentung von Hartz-IV-Beziehenden - ohne Wenn und Aber.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank. - Als Nächstes hat jetzt der Kollege Karl
Schiewerling, CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Die Idee der Flexirente ist
nichts anderes als eine Antwort auf die großen Herausforderungen in der Rentenversicherung, vor denen wir
in Zukunft stehen. Wir wollen die Menschen motivieren,
länger zu arbeiten und den Übergang in die Rente nicht
abrupt zu gestalten. Wir wollen, dass sie ihre Arbeitskraft
weiterhin einsetzen können und so die Möglichkeit haben, ihre Rente aufzubessern. Die Flexirente ist nach vorne gerichtet, nicht nach hinten. Sie ermöglicht längeres
Arbeiten. Wir belohnen längeres Arbeiten. Der Übergang
von der Arbeit in den Ruhestand lässt sich fließender und
individueller gestalten. Die Flexirente ist ideologiefrei
und dient daher den Menschen.
({0})
Herr Kollege Birkwald, lassen Sie mich eine Bemerkung zu Ihrer Rede machen; ich will nicht auf alle Punkte
eingehen.
({1})
Es war ja wieder ein Feuerwerk von Vermischungen,
Vertuschungen und Verwirrungen.
({2})
Das war dazu angetan, alle Menschen wuschelig zu
machen, und vor allen Dingen dazu, das blanke Elend
Deutschlands präzise zu beschreiben. Es ist nur leider
danebengegangen.
({3})
- Ich habe Ihre Rede gehört. - Ich will Ihnen eines sagen:
Wir sollten uns darauf verständigen, dass wir es bei der
Rentenversicherung mit einem Sozialversicherungssystem zu tun haben und nicht mit einem Fürsorgesystem.
Je mehr wir bei der Rente Fürsorge und Versicherung
vermischen, umso unklarer wird für die Menschen, dass
das, was sie in die Rentenkasse einzahlen, ihre eigene
Lebensleistung ist und dass das, was der Arbeitgeber einzahlt, der Beitrag der Arbeitgeber zur Alterssicherung ist.
Das ist das Prinzip der Versicherung, und der Bund, der
Staat, gibt Geld dazu. Wenn wir anfangen, all die Wünsche, die Sie aufgezählt haben, in das System der Rentenversicherung aufzunehmen, werden wir die Rentenversicherung überfordern. Deswegen bin ich ein großer
Freund davon, diese Dinge präzise auseinanderzuhalten.
({4})
Das machen wir mit diesem Gesetz.
In dem Gesetzentwurf geht es um drei Bereiche; die
Kollegin Katja Mast hat bereits richtigerweise darauf
hingewiesen.
Erstens geht es um die Phase des Übergangs. Wenn
jemand 63 ist, aber nicht aus dem Beruf aussteigen, sondern nur schon einmal einen Teil der Rente in Anspruch
nehmen will und den weiteren Teil bis zu der Höhe des
letzten Verdiensts hinzuverdienen möchte, dann bietet
dieses Gesetz, glaube ich, ein attraktives Angebot. Dass
das für die Rentenversicherung möglicherweise nicht
einfach zu berechnen ist und sie Schwierigkeiten hat, das
für den individuellen Fall zu berechnen, das will ich ja
gerne glauben. Aber die Deutsche Rentenversicherung
steht im Dienst der Versicherten, und sie hat die Aufgabe, die Versicherten ordentlich zu beraten. Das wird sie
auch auf Grundlage dieses Gesetzes tun; davon bin ich
fest überzeugt.
({5})
Zweitens wollen wir diejenigen mobilisieren, die sagen: Ich bin schon in Rente gegangen, habe aber festgestellt, dass ich noch fit bin. Ich bin gerne bereit, weiter zu
arbeiten. - Das ist der Punkt, auf den der Kollege Carsten
Linnemann immer wieder hingewiesen hat. Deswegen
steckt auch viel Herzblut von ihm in diesem Gesetz; er
wird ja gleich noch reden. In diesem Fall wollen wir die
Möglichkeit eröffnen, wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Wenn man für die Arbeit, die man dann verrichtet - vielleicht 10, 15 oder 20 Stunden pro Woche -,
noch selbst Geld in die Rentenversicherung einzahlt und
dadurch den Arbeitgeberbeitrag aktiviert, bringt dies entsprechende Vorteile. Das ist ein Angebot, keine Pflicht
oder Verpflichtung. Es ist ein Anreiz. Ich halte diesen Anreiz für eine gute Antwort auf die Herausforderungen, vor
denen wir stehen. Im Übrigen: So aus der Welt gegriffen
ist das nicht, wie es manche darzustellen pflegen. Es gibt
schon heute einen deutlichen Aufwuchs an Menschen,
die im Rentenalter länger arbeiten. Mittlerweile sind es
fast 15 Prozent. Diese Zahl ist nicht zu unterschätzen.
Deshalb wollen wir diesen Anreiz verstärken, indem wir
die Rahmenbedingungen begünstigen.
({6})
Drittens. Wir halten es zwar für notwendig, länger zu
arbeiten, wissen aber auch, dass es nicht wenige Menschen gibt, die sich aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen damit schwertun. Wir wollen ihnen helfen, durch
rechtzeitige präventive gesundheitliche Vorsorge, durch
vernünftige gesundheitliche und berufliche Rehabilitation für den Arbeitsmarkt wieder gesund zu werden.
Aber ich sage auch sehr deutlich: Wenn im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel die Arbeitgeber sagen
längeres Arbeiten sei richtig, dann setzt das voraus, dass
die Betriebe die entsprechenden Voraussetzungen dafür
schaffen, dass dies möglich ist. Dieser Gesetzentwurf ist
so ausgerichtet, dass er sich in Kooperation mit den Tarifpartnern, mit den Betrieben zu einem guten Instrument
entwickeln kann, um Menschen länger in Beschäftigung
zu halten. Unter diesem Gesichtspunkt geht alles, was
wir in Bezug auf Rehabilitation und Prävention vorhaben, in die richtige Richtung.
Meine Damen und Herren, unter welchen Gesichtspunkten diskutieren wir über dieses Thema? Wir diskutieren es unter dem Gesamtgesichtspunkt der demografischen Entwicklung. Vor dieser Herausforderung stehen
wir bei allen Altersvorsorgesystemen, sowohl den kapitalgedeckten Systemen als auch den umlagefinanzierten
Systemen, bei allen Fragen, mit denen wir uns in Zukunft
bei der Alterssicherung beschäftigen. Deswegen ist es ein
guter Ansatzpunkt, dass wir den Menschen sagen: Das
Angebot der Flexirente, das wir hiermit unterbreiten, ist
ein Angebot, sich für einen fließenden Übergang in die
Rente zu entscheiden, und bezieht sich auf die Gestaltung
des Alltags und den Eintritt in die Ruhephase.
Ich sage das auch vor dem Hintergrund der aktuell
laufenden Rentendebatte; das ist ja im Augenblick ein
Topthema. Ich finde es sehr gut, dass die Bundesarbeitsministerin von sich aus gesagt hat, dass sie im Herbst
den Rentenbericht vorlegen wird - auf diesen warten wir
jetzt - und auf dieser Grundlage Vorschläge unterbreiten
wird, wie es mit der Rente weitergeht. Damit haben wir
dann eine gute Grundlage für eine gescheite Diskussion.
Für wenig zweckdienlich halte ich die augenblickliche
Aufgeregtheit, indem man punktuell ein Thema herausgreift - wie zum Beispiel im Augenblick das Thema Rentenniveau ({7})
und dieses in den Vordergrund stellt, aber alle anderen
Fragen zur Rente in der öffentlichen Debatte völlig ausblendet. Es geht nicht nur um das Rentenniveau.
({8})
Wenn wir das Rentenniveau möglichst hoch halten wollen, wird das nur gehen, indem mehr Geld in das Rentensystem eingezahlt wird - egal ob über Beiträge oder
über Steuern - oder indem die Menschen länger arbeiten. Wir müssen den Menschen die Wahrheit sagen: Die
Rentenversicherung ist kein Wünsch-dir-was, sondern
ein mathematisches System, das aus vier Stellschrauben
besteht. Das ist die Ordnung in diesem alten System. Ich
kann uns nur raten, davon nicht abzuweichen und offen,
klar und entschieden zu sagen, unter welchen Rahmenbedingungen wir die zukünftige Alterssicherung organisieren.
({9})
Wir sagen aber auch in aller Deutlichkeit: Wir wollen,
dass die Menschen Sicherheit haben. Ohne Sicherheit,
ohne Verlässlichkeit wird man nicht frohgemut in die Zukunft schauen können. Die Menschen brauchen Planbarkeit. Diese Planbarkeit aber muss auf realen Grundlagen
stehen; sonst täuschen wir die Menschen. Das haben wir
nicht vor. Die Unionsfraktion steht dazu: Rente ist Lohn
für Lebensleistung. Wir wollen alles tun, dass die Menschen im Alter vernünftig leben können. Dazu aber gehören alle Säulen: die gesetzliche Rente, die private Vorsorge und die betriebliche Vorsorge. An diesen Dingen
arbeiten wir. Die Flexirente ist ein wichtiger Baustein.
Wir hoffen und wünschen sehr, dass sie entsprechende
Resonanz bei der Bevölkerung findet.
Herzlichen Dank.
({10})
Vielen Dank, Herr Kollege Schiewerling. - Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Markus Kurth das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von den Regierungsfraktionen haben wir nun einige
wohlmeinende, wohlklingende Absichtserklärungen gehört: Flexibel und selbstbestimmt in den Ruhestand - wer
wollte das nicht? Allein: Der vorliegende Gesetzentwurf
geht komplett am Problem vorbei.
Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht; aber bei mir im
Wahlkreisbüro stehen die Bürgerinnen und Bürger jedenfalls nicht Schlage, um sich darüber zu beklagen, dass sie
nicht bis 70 arbeiten können. Im Gegenteil: Sie fragen
mich mit Ende 50, Anfang 60: Wie kann ich es schaffen,
wenn das Renteneintrittsalter demnächst auf 67 Jahre
steigt, dieses auch zu erreichen? - Das ist die entscheidende Frage, die gesellschaftspolitisch und rentenpolitisch geklärt werden muss.
({0})
Ich sage Ihnen auch, was es dafür aus Sicht von Bündnis 90/Die Grünen ganz klar braucht, nämlich die Möglichkeit einer Belastungsreduzierung, einer Belastungsanpassung schon ab dem 60. Lebensjahr durch eine
Teilrente ab dem 60. Lebensjahr.
({1})
Diesen Vorschlag haben wir übrigens schon einige
Monate vor Ihrem Gesetzentwurf zur Flexirente eingebracht; er befindet sich im Beratungsverfahren im Ausschuss. Ich sage es Ihnen noch einmal ganz klar: Wir
schlagen damit keine Frühverrentung vor, wie es manche Wirtschaftsredakteure und Wirtschaftspolitiker nicht
müde werden zu behaupten, sondern die Zielsetzung
einer Belastungsreduzierung ab dem 60. Lebensjahr
ist, unter dem Strich länger arbeiten zu können und die
Chance zu haben, auch das 67. Lebensjahr als zukünftige
Ruhestandsgrenze zu erreichen. Das ist der Clou an der
Sache.
({2})
Der Kollege Matthias Birkwald hat - nicht ganz zu
Unrecht - gesagt: Dann sind die Abschläge das Problem,
und zwar natürlich insbesondere bei denjenigen Beschäftigten, die besonderen gesundheitlichen Belastungen
ausgesetzt sind. Hierzu machen wir von Bündnis 90/Die
Grünen ebenfalls Vorschläge. Wir sagen nämlich, dass es
noch eine Zwischenlösung zwischen der Erwerbsminderungsrente und dem Eintritt in die Teilrente mit vollen
Abschlägen geben muss.
({3})
Wir sagen: Wir brauchen eine Lösung für die Gruppe
der besonders belasteten Beschäftigten. Auch diejenigen,
die zu gesund für die Erwerbsminderungsrente, aber zu
eingeschränkt sind, um im Job 100 Prozent „Stoff“ zu
geben, brauchen eine abschlagsfreie Teilrente. Auch das
bedeutet keine Frühverrentung und keinen ungerechtfertigten sozialpolitischen Bonus, sondern ist eine Hilfestellung, um es auch dieser Beschäftigtengruppe zu ermöglichen, unter dem Strich länger zu arbeiten und im Job
besser dazustehen.
({4})
Davon profitiert natürlich auch die Krankenversicherung,
weil sie dann weniger Ausgaben hat. Das ist unter dem
Strich volkswirtschaftlich und für die Sozialversicherung
eine sinnvolle Geschichte.
Da mir der Kollege Martin Rosemann, der nach mir
reden wird, eben zugerufen hat, wir hätten das - angeblich - von der SPD abgeschrieben, möchte ich dann doch
gerne einmal wissen, wovon wir das abgeschrieben haben sollen.
({5})
Ich weiß, dass die SPD immer vom Alterssicherungsgeld
geredet hat.
({6})
- Ja, wie auch immer. - Sie haben jedenfalls einen ähnlich gelagerten Vorschlag gemacht, wie ihn Bündnis 90/
Die Grünen im Verfahren hat. Sie haben als Koalition
auch einen Prüfauftrag für dieses Geld beschlossen. Ich
habe einmal bei der Bundesregierung nachgefragt, was
denn das Ergebnis dieser Prüfung sei. Da heißt es lapidar:
„Ergebnisse zu dem Prüfauftrag liegen noch nicht vor.“
({7})
Das ist die Leistung des sozialdemokratischen Arbeitsministeriums zu diesem Punkt. Dazu brauchen wir, glaube ich, wenig zu sagen.
({8})
Aber wenn man schon eine Teilrente ab 63 vorsieht na gut, da konnten Sie in Ihrer Koalition eben nicht weiterkommen -, dann doch um Himmels willen, bitte sehr,
unkompliziert! Wissen Sie, was die Präsidentin des Bundesverbands der Rentenberater sagt?
Die vorgeschlagene Abrechnungsmethode wird bei
Menschen, die sich ein flexibles Modell wünschen,
zu Verunsicherung und Frustration führen. Sie ist so
kompliziert, dass viele Menschen abgeschreckt werden und die Flexirente nicht nutzen.
Völlig unflexibel und kompliziert - das ist das Fazit, das
die Rentenberater, die in der Praxis zu Hause sind, mit
Blick auf Ihren Gesetzentwurf ziehen.
({9})
Und die Deutsche Rentenversicherung sagt, in der Praxis
würden „bei nahezu allen Teilrenten nachträgliche Korrekturen erforderlich sein“. Fazit der Deutschen Rentenversicherung:
Das Verfahren wird bei den Betroffenen Verunsicherung und Unverständnis auslösen.
So viel zum Punkt Vereinfachung. Herr Linnemann vom
Wirtschaftsflügel der Union, Sie sind doch immer für
Bürokratieabbau. Was haben Sie denn da gemacht? Gar
nichts.
({10})
Dann noch zum Punkt Flexibilität. Kann man denn
wenigstens frühzeitig im Berufsleben auf so etwas wie
die Teilrente hinarbeiten und sie einplanen?
({11})
Kann man beispielsweise schon frühzeitiger im Berufsleben freiwillige Beiträge zahlen, um spätere Abschläge
auszugleichen?
({12})
Könnte man das mit Arbeitgebern branchenübergreifend
im Tarifvertrag vereinbaren und so eine atmende Rentenversicherung hinbekommen?
({13})
Nein, kann man nicht. Die SPD ruft „Ja!“, aber es ist
nicht die Wahrheit. Kann man mit 40 Jahren etwa schon
vorzeitig Rentenbeiträge auf freiwilliger Basis zahlen
oder mit dem Betrieb vereinbaren?
({14})
Nein, das kann man nicht.
({15})
Das ist die Wahrheit, und das ändern Sie auch nicht mit
Ihrem Gesetzentwurf, auch wenn Sie noch so laut von
der Seite rufen.
({16})
Und warum das alles? Warum versagt diese Große
Koalition auf ganzer Linie, wo sie doch angeblich das
Ziel hat, einen längeren Verbleib im Erwerbsleben zu befördern? Weil sie kein wirkliches Interesse daran hat und
von Anfang an keinen wirklichen Zugang zum Problem
gesucht hat. Denn das, was hier als Flexirente präsentiert
wird, ist ein Koppelgeschäft mit der sogenannten Rente
mit 63, es ist ein Wundpflaster für den Wirtschaftsflügel
der Union. Sie haben sich da von Anfang an ideologisch
verhakt, und deswegen sind Sie da nicht mit einem Blick
das Problem herangegangen. Im Hintergrund galt immer
noch: Es muss dabei ein taktischer Vorteil, eine Gesichtswahrung für Sie, Herr Linnemann, herauskommen. Das
merkt man diesem Gesetzentwurf auf ganzer Linie an.
({17})
Ich frage mich auch, was das soll, warum Sie von der
Union bei der Teilrente nicht praktikablere Vorschläge
gemacht haben. Sie sagen, das sei eine Frühverrentung.
Das Ergebnis, wenn man die Belastungsreduzierung
nicht ermöglicht, ist doch eigentlich das Gegenteil von
dem, was Sie wollen. Das Ergebnis ist tatsächlich, dass
Leute zu früh in die Erwerbsminderungsrente, zu früh
in die Arbeitslosigkeit gehen oder sich irgendwie mit
450-Euro-Jobs durchhangeln. Das wollen wir nicht; wir
wollen einen Verbleib im Erwerbsleben.
({18})
Meine Damen und Herren, mancher Protagonist von
der Großen Koalition verunsichert die Bürgerinnen und
Bürger mit Gerede von der Rente mit 70. Sie schaffen
keine Lösungen für die besonders belasteten Beschäftigten. Sie produzieren mit der Flexirente ein Placebo.
Dabei wären tatsächliche Schritte für eine längere Erwerbszeit nötig. Wir müssen diese Diskussion weiterhin
führen; das prognostiziere ich ganz persönlich.
Ich hoffe an dieser Stelle auch auf die Wirtschaft, darauf, dass sie die Notwendigkeit erkennt, da von ihrer
Seite her etwas zu tun. Sie weiß ab dem heutigen Tag:
Von der Großen Koalition ist an dieser Stelle nichts zu erwarten, aber sehr viel mehr von Bündnis 90/Die Grünen.
Vielen Dank.
({19})
Vielen Dank. - Ich erteile jetzt dem Kollegen
Dr. Martin Rosemann, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss
schon sagen: Ich bin schon ein bisschen stolz auf dieses
Gesetz. Denn zum einen greifen wir mit diesem Gesetz
ganz zentrale gesellschaftliche Herausforderungen auf.
Die Erwerbsbiografien werden immer individueller, immer unterschiedlicher. Es gibt eben immer mehr Leute in
diesem Land, die nicht mit einem bestimmten Alter - von
100 auf null - einfach aus dem Erwerbsleben ausscheiden wollen.
Das Zweite ist: Es ist ein Gesetz aus der Mitte des
Bundestages, das Ergebnis einer Koalitionsarbeitsgruppe, ein Gesetz der Koalitionsfraktionen.
({0})
Ich finde, wir haben mehr erreicht, als die meisten Skeptiker uns zugetraut haben. Das offenbart die Einigungsfähigkeit dieser Koalition. Ich muss zu Ihrem Redebeitrag,
lieber Markus Kurth, schon sagen: Da springt doch wirklich aus jeder Pore der Neid, dass Sie nicht dabei sein
durften.
({1})
Das Dritte ist: Dieses Gesetz trägt eine klare sozialdemokratische Handschrift. Denn neben Anreizen für
längeres Arbeiten
({2})
und flexibleren Möglichkeiten, früher in Rente zu gehen,
schaffen wir die Voraussetzungen dafür, dass die Leute
es erst einmal gesund bis zur Regelaltersgrenze schaffen,
({3})
dass sie nämlich nicht darauf angewiesen sind, in die
Erwerbsminderungsrente oder in die Arbeitslosigkeit zu
fallen. Deswegen stärken wir Prävention und Rehabilitation.
({4})
Da haben Sie, Markus Kurth, das Gesetz offenbar nicht
richtig gelesen. Wir machen Nachsorge und Prävention
zu Pflichtleistungen, wir machen Kinder- und Jugendrehabilitation zu einer Pflichtleistung der gesetzlichen
Rentenversicherung, wir stärken Kinder- und Jugendrehabilitation, und wir führen einen individuellen, berufsbezogenen Gesundheitscheck ab dem 45. Lebensjahr ein;
meine Kollegin Dagmar Schmidt wird noch näher darauf
eingehen.
Meine Damen und Herren, ich bin auf vielen Veranstaltungen, bei denen es um das Thema Rentenpolitik
geht, und da begegnet mir immer wieder, dass Menschen
glauben, sie müssen mit Erreichen der Regelaltersgrenze
in den Ruhestand gehen. Sie wissen häufig gar nicht, dass
es für eine spätere Inanspruchnahme der Rente sogar Zuschläge gibt, für jeden Monat 0,5 Prozent, für jedes Jahr
6 Prozent. Deshalb ist es so wichtig - auch das steht in
dem vorliegenden Gesetzentwurf -, als Allererstes die
Information der Rentenversicherung zu verbessern. Das
gilt für die zukünftige Möglichkeit als Vollrentner, Rentenanwartschaften zu erwerben, und das gilt auch für die
Möglichkeit, früher teilweise auszusteigen und Teilrente
in Anspruch zu nehmen. Dafür gestalten wir die Teilrente
deutlich flexibler und attraktiver.
Im Gegensatz zu dem, was Sie hier sagen, ersetzen
wir das bisherige Dreistufenmodell in der Teilrente. Die
Teilrente ist in Zukunft stufenlos wählbar. Die Stufenabstürze, unter denen die Menschen mit Hinzuverdienst
bisher leiden, wird es in Zukunft nicht mehr geben. Von
jedem Euro, den ich als Teilrentner mehr verdiene, habe
ich 60 Cent mehr in der Tasche. 40 Cent werden freilich
auf die Rente angerechnet, aber damit werden weniger
Rentenleistungen in Anspruch genommen, auf die dann
später auch keine Abschläge gezahlt werden müssen.
Man hat also mit der neuen Regelung bei der Teilrente
bei mehr Zuverdienst einen doppelten Vorteil: Wer als
Teilrentner mehr verdient, hat unter dem Strich direkt
mehr in der Tasche und später mehr Rente, weil Abschläge reduziert und zusätzliche Rentenanwartschaften erworben werden.
({5})
Wir gehen von der Monats- zur Jahresbetrachtung
über. Auch das führt zu mehr Bürokratieabbau und zu
Vereinfachung. Was viele auch nicht wissen, ist, dass die
ganzen Zuverdienstregelungen nur bei Inanspruchnahme
einer Rente vor der Regelaltersgrenze gelten.
({6})
Erreiche ich die Regelaltersgrenze, dann kann ich so viel
dazuverdienen, wie ich will.
Wir machen den vorzeitigen Ausstieg planbarer, indem wir den Abkauf von Abschlägen bereits ab 50 Jahren ermöglichen statt wie bisher ab 55 Jahren. Und da
verstehe ich Sie nicht, Markus Kurth:
({7})
Wer hier sagt, man will schon mit 40 den Menschen die
Möglichkeit geben, den Ausstieg zu planen, der setzt die
völlig falschen Anreize und die völlig falschen Signale.
({8})
Leute, ich werde in diesem Jahr 40 - ob mir das passt
oder nicht: es sind nur noch wenige Wochen -, aber ich
will jetzt noch nicht über den Ausstieg aus dem Erwerbsleben nachdenken. Ich glaube, das wäre angesichts der
demografischen Entwicklung auch das völlig falsche Signal.
({9})
Zusammengefasst: Wir schaffen mehr Anreize für längeres Arbeiten. Wir sorgen dafür, dass mehr Menschen
die Regelaltersgrenze gesund erreichen. Wir schaffen
mehr, bessere und flexiblere Ausstiegsmöglichkeiten
für die, die das nicht können. Natürlich ist richtig: Diese
Ausstiegsmöglichkeiten beginnen erst mit dem 63. Geburtstag. Aber natürlich können gesundheitliche Probleme auch schon vorher vorkommen. Dem wirken wir
mit Prävention und Rehabilitation entgegen, aber mit
Sicherheit wird es nicht bei allen reichen. Das Problem
ist: Wenn es dann nicht für eine Erwerbsminderungsrente reicht, droht Arbeitslosigkeit. Hier mit einem anderen
Angebot wie dem Arbeitssicherungsgeld anzusetzen, das
bleibt für uns auf der Tagesordnung. Denn wir meinen:
Teilzeitarbeit ist besser als Arbeitslosigkeit, und dies finanziell abzufedern, ist und bleibt die Idee des Arbeitssicherungsgeldes.
({10})
Es geht darum, den Lohnverlust, der dadurch entsteht,
dass Menschen nur noch in Teilzeit arbeiten können, teilweise auszugleichen. Natürlich ist es bedauerlich - das
sage ich für meine Fraktion -, dass man bei dem Prüfauftrag stehen geblieben ist. Ich sage aber auch: Wir werden
dieses Konzept weiterverfolgen und gerne mit Ihnen in
der nächsten Legislaturperiode umsetzen.
({11})
Und Sie kommen dann zum Schluss, lieber Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin. - Insgesamt ist dieses Gesetz ein wichtiger Beitrag, um den
Übergang von Erwerbsarbeit in Rente flexibler auszugestalten und den unterschiedlichen individuellen Bedürfnissen gerecht zu werden.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Stephan Stracke,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Vor zwei Tagen war der Internationale Tag der älteren Menschen. Das Statistische Bundesamt
hat dies zum Anlass genommen, Zahlen zur Erwerbstätigenquote der 65- bis 69-Jährigen zu veröffentlichen. Die
Quote hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Jeder Siebte der 65- bis 69-Jährigen geht inzwischen einer
Erwerbstätigkeit nach. Dies ist eine sehr erfreuliche Entwicklung. Offenbar will Deutschlands Generation „65
plus“ das Arbeiten nicht lassen.
({0})
Diese Entwicklung dürfte weniger damit zu tun haben,
dass die Menschen neben ihrer Rente arbeiten müssen,
sondern ganz überwiegend damit, dass sie arbeiten wolDr. Martin Rosemann
len . Natürlich ist der eine oder andere Senior in einer alles andere als komfortablen Lage, Herr Kollege.
({1})
Deswegen müssen sie zum Teil verdienen, um über die
Runden zu kommen.
Aber für die neue Generation der tüchtigen Rentner
ist das Müssen nicht der vornehmliche Grund. Das zeigt
beispielsweise die Tatsache, dass die Neigung zur Arbeit
sprunghaft ansteigt, wenn die Berufsqualifikation eine
hohe ist. Sie ist bei Menschen mit einer hohen Berufsqualifikation höher als bei denjenigen, die ohne abgeschlossene Berufsausbildung dastehen. Vermeidung von
Armut ist also sicherlich nicht die alleinige Triebfeder.
Auch der Schaukelstuhl scheint für viele keine Perspektive für das Alter zu sein, jedenfalls nicht ausschließlich.
Andere Motivationen sind ursächlich: Freude an der Arbeit, Kontakt zu anderen Menschen, sich geistig und körperlich fit zu halten, natürlich auch, einen Hinzuverdienst
zu haben, um sich die eine oder andere Annehmlichkeit
leisten zu können. Das sind Motivationen, die es nicht zu
kritisieren gilt, sondern die - ganz im Gegenteil - zu unterstützen sind. Wir sollten den Menschen mit Spaß und
Freude an der Arbeit hier nicht Steine in den Weg legen,
sondern wir sollten vielmehr Anreize schaffen, damit das
Arbeiten im Alter noch besser wird. Wir wollen Anreize
setzen, damit Menschen, die das wollen, länger arbeiten.
({2})
Das ist die Philosophie des Flexibonus, den wir als
Union in die Verhandlungen eingebracht haben und mit
dem wir an die vor zwei Jahren beschlossenen Erleichterungen bei befristeten Arbeitsverträgen nach der Regelaltersgrenze anknüpfen.
Mit dem Flexibonus schaffen wir für Rentner jenseits
der Regelaltersgrenze Möglichkeiten, ihre Rente aufzustocken, mehr in der Tasche zu haben. In Zukunft kann
der isolierte Arbeitgeberbeitrag zur Rentenversicherung
aktiviert werden. Heute zahlen die Arbeitgeber die Beiträge ausschließlich in die Rentenkasse. Damit machen
wir Schluss. Das ist künftig anders, wenn der Arbeitnehmer es wünscht. Der isolierte Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosenversicherung entfällt gleichfalls, befristet auf
fünf Jahre. Die Entfristung bleibt dabei unser Ziel.
({3})
Damit entlasten wir die Wirtschaft. - Das ist kein
schlechtes Ziel, ganz im Gegenteil. Oftmals wird das
Wettbewerbsargument angeführt, das jedoch längst überholt ist. Wir müssen den Arbeitsmarkt nicht vor den älteren Arbeitnehmern schützen. Ganz im Gegenteil: Wir
müssen vielmehr darauf achten, dass die älteren Arbeitnehmer gebraucht werden, und wir müssen die nötigen
Anreize setzen. Das ist der Paradigmenwechsel, den wir
mit dem Flexibonus vornehmen. Das ist ein klares Signal
dafür, dass sich längeres Arbeiten künftig deutlich mehr
lohnen wird. Genau daran, diesen Paradigmenwechseln
noch stärker herauszuarbeiten, arbeiten wir als Union,
daran, ihn als klares Signal in all den Dingen durchzuweben, die wir uns vorgenommen haben.
({4})
Auch das Arbeiten bis zur Regelsaltersgrenze wollen
wir deutlich verbessern. Wir wollen echte flexible Übergänge in den Ruhestand, wir wollen Teilzeitarbeit und
Teilrenten besser als heute miteinander verzahnen. Heute
gibt es lediglich einige wenige Tausend Teilrentner, und
dies ganz überwiegend aus Versehen, weil die Betroffenen einige Euro über den starren Hinzuverdienstgrenzen
liegen, womit ein Teil ihrer Rente dann wegfällt. Das
wollen wir ändern.
Künftig soll es keine zufälligen Teilrenten mehr geben, sondern Teilrenten, für die sich die Betroffenen ganz
bewusst entschieden haben. Dazu vereinfachen wir das
geltende Hinzuverdienstrecht. Anstelle von starren Stufen gilt zukünftig eine flexible Anrechnungsregelung. Ich
halte das für gut; denn sie ist gerecht, sie ist transparent,
und mit einer Obergrenze sorgen wir auch dafür, dass es
nicht zu Überversorgungen in diesen Bereichen kommt.
Im Übrigen ist es auch ein Beitrag zur Entbürokratisierung. Viele haben darüber jahrelang geredet. Wir als Union, als diese Koalition machen es.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, mir ist auch
noch ganz wichtig, zu betonen, dass wir auch keinen
falschen Rezepten folgen, die lauten, wir machen eine
Teilrente ab 60 oder ein Arbeitssicherungsgeld oder vieles mehr. Vielmehr müssen wir dafür sorgen, dass die
Menschen gesund bleiben und länger im Erwerbsleben
verbleiben können. Dazu haben wir als Koalition jetzt
ein ganzes Bündel an Maßnahmen auf den Weg gebracht,
das vor allem die medizinische und berufliche Rehabilitation stärkt und das zeigt, dass wir den Eintritt in die
Erwerbsminderungsrente vermeiden wollen. Auch hier
gilt: Wir sind diejenige Koalition, die die Erwerbsminderungsrenten spürbar verbessert haben.
({5})
Insofern setzen wir hier mit unserem Maßnahmenbündel
entsprechend an.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube,
dass der vorliegende Gesetzentwurf, den die Koalitionsfraktionen ausgearbeitet haben, ein guter Entwurf ist,
der die wesentlichen Zielrichtungen in den Blick nimmt,
insbesondere für diejenigen, die länger arbeiten wollen,
flexiblere Übergänge in den Ruhestand zu organisieren.
Das ist genau die Zielrichtung, um die es geht. Lassen Sie
uns vor diesem Hintergrund weiter daran arbeiten, dass
diese Zielrichtung verstetigt wird. Meines Erachtens ist
sie richtig.
Ein herzliches Dankeschön.
({6})
Vielen Dank. - Jetzt erhält die Kollegin Dagmar
Schmidt, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon
viel zu dem Gesetz gesagt worden. Uns als SPD war es
besonders wichtig, Verbesserungen zu erreichen, damit
Menschen gesund bis zur Rente, bis zur Regelaltersgrenze arbeiten können. Wenn wir darüber reden, wie eine
gute Rente zu erreichen ist, dann ist die beste Voraussetzung ein langes, möglichst lückenloses und gesundes
Erwerbsleben bei gutem Lohn.
Betrachten wir das durchschnittliche Renteneintrittsalter inklusive aller Rentenarten, so lag es 2015 bei
61,9 Jahren. Im Vergleich dazu lag das durchschnittliche
Zugangsalter nur in die Altersrente bei 64 Jahren. Die
hohe Zahl der Eintritte in die Erwerbsminderungsrente
senkt das durchschnittliche Rentenalter also um mehr als
zwei Jahre. Dies wäre nur reine Statistik, würde sich hinter dem frühen Zugangsalter in die Erwerbsminderungsrente, nämlich einem durchschnittlichen Alter von gerade
einmal 51,6 Jahren, nicht eines der größten Risiken für
Altersarmut verbergen.
Wir haben schon viel gemacht; das ist gesagt worden.
Die sogenannte Zurechnungszeit bei der Berechnung der
Erwerbsminderungsrente wurde von 60 auf 62 Jahre verlängert,
({0})
und mit der sogenannten Günstiger-Prüfung, die wir eingeführt haben, wird geschaut, ob die meist ja schon wegen der Krankheit schlechter bezahlten letzten vier Jahre
vor der Erwerbsminderungsrente die Rente senken. Ist
dies der Fall, werden sie nicht berücksichtigt.
Aber der beste Beitrag für eine gute Rente ist, zu vermeiden, dass jemand aus gesundheitlichen Gründen nicht
weiter arbeiten kann.
({1})
Für uns gilt der Grundsatz „Prävention vor Reha und
Reha vor Rente“. Was machen wir da? Es ist bereits angedeutet worden: Die Leistungen zur Teilhabe in der gesetzlichen Rentenversicherung werden eine Pflichtleistung. Wir machen aus der Kannleistung für Teilhabe eine
Mussleistung, auch wenn bisher die Leistungen regelmäßig auf Antrag erbracht wurden. Jetzt gibt es den individuellen Anspruch. Wir haben ergänzt, dass Leistungen
zur Teilhabe nicht nur dann erbracht werden, wenn damit der Arbeitsplatz erhalten werden kann, sondern auch
dann, wenn es möglich ist, einen anderen Arbeitsplatz zu
bekommen.
({2})
Wir führen eine bundeseinheitliche Regelung zur
Nachsorge ein und beseitigen die Begrenzung der Ausgaben für die Nachsorge. Denn wer möchte, dass eine Reha
Erfolg hat, dass die oftmals notwendigen Verhaltensänderungen und Änderungen der Lebensweise nachhaltig
sind, der muss auch die Nachsorge stärken.
({3})
Dass wir es mit der Prävention sehr ernst meinen,
sieht man daran, dass wir mit unserem Gesetz auch die
Reha für Kinder stärken.
({4})
Was haben wir verbessert? Die Träger der Rentenversicherung dürfen die Leistungen der Kinderreha jetzt auch
ambulant erbringen, was das Leben der Familien deutlich
erleichtern dürfte. Genauso haben wir nun den Anspruch
gesetzlich verankert, dass eine Begleitperson mitkommen darf oder auch die Familienangehörigen mitkommen dürfen, wenn dies für die Durchführung der Reha
notwendig ist. Das sind kleine Änderungen im Gesetz,
die aber große Erleichterungen für die betroffenen Kinder und ihre Familien darstellen. Auch darauf können wir
stolz sein.
({5})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem Ü-45Check-up haben wir eine weitere präventive Maßnahme
in der Lebensmitte in Gang gebracht. Ich bin ja bald in
dem Alter, und ich kann feststellen, dass es nicht mehr
wie mit 20 ist. Die ersten Verschleißerscheinungen machen sich bemerkbar.
({6})
Je nach Tätigkeit sind diese unterschiedlich stark und
unterschiedlich in ihren Auswirkungen auf den aktuellen
Arbeitsplatz. Wir sind der Auffassung, dass es, wenn der
Rücken oder die Knie erst kaputt sind oder die psychische Belastung zu einer psychischen Erkrankung geführt
hat, schwer ist, sich noch einmal umzuorientieren, noch
einmal einen neuen Anlauf zu nehmen oder sich umzustellen. Deswegen wollen wir rechtzeitig einen individuellen Anspruch auf eine umfassende Gesundheitsuntersuchung sowie eine Gefährdungs- und Potenzialanalyse in
Bezug auf die ausgeübte Tätigkeit. Aus den Ergebnissen
und Gesprächen sollen Maßnahmen resultieren und unterstützt werden, entweder in Bezug auf den Arbeitsplatz,
auf die berufliche Weiterbildung oder aber auch, wenn es
nicht anders geht, eine Umschulung für eine Tätigkeit,
die ohne die zu erwartenden gesundheitlichen Schädigungen ausgeführt werden kann.
Wir haben lange und mit vielen Fachleuten darüber
geredet, wie genau solch ein Check-up aussehen kann.
Wir mussten feststellen, dass es eine sowohl auf Arbeitsmedizin als auch auf den Arbeitsmarkt ausgerichtete
Fachkompetenz bisher in dieser Form nicht gibt. Deswegen wird die Deutsche Rentenversicherung entsprechende Modellprojekte mit unterschiedlichen Partnern
starten, um die bestmögliche Umsetzung des Check-ups
zu gewährleisten. Wir sind sehr gespannt, was dabei herauskommt. Ich glaube, das ist eine wirklich gute Sache.
Mit all diesen Maßnahmen stärken wir die Vorsorge
und den Gesundheitsschutz. Das ist nicht nur gut in Bezug auf eine gute Rente, sondern das ist auch vor allem
gut für das persönliche Wohlbefinden. Denn die Belastung am Arbeitsplatz steigt. Immer mehr Arbeitnehmer
fehlen aufgrund von psychischen Erkrankungen oder
leiden unter größerem Druck bei der Arbeit. Deswegen
bleiben wir nicht stehen: erst das Präventionsgesetz,
jetzt weitere wichtige Schritte im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung. Aber es ist auch notwendig,
die Arbeitgeber mehr in die Verantwortung zu nehmen.
Wir wollen das betriebliche Eingliederungsmanagement
verbessern und verbreitern sowie perspektivisch eine Antistressverordnung erarbeiten. Auch der von Arbeitsministerin Nahles angestoßene Dialog „Arbeiten 4.0“ wird
uns noch einige Arbeitsaufträge mitgeben.
({7})
Packen wir es an - ohne Stress und bei bester Gesundheit.
({8})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Dr. Carsten Linnemann,
CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Herzlichen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kollegin-
nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Her-
ren! Lieber Herr Rosemann, vielleicht darf ich das sagen:
Auch wir sind ein bisschen stolz, dass wir gemeinsam als
Koalition jetzt die Flexirente auf den Weg bringen. Wir
haben das in toller Zusammenarbeit gemacht. Wir haben
gezeigt, dass das geht. Ich glaube, auch so weit gehen zu
wollen, dass ich sage, dass die Flexirente - dies geschieht
natürlich nicht von heute auf morgen - einen Mentalitäts-
wechsel einleitet. Wir wollen die Menschen in die Lage
versetzen, a) länger arbeiten zu können - Stichwort „Prä-
vention“ - und b) länger arbeiten zu wollen. Wir wollen
also, dass Arbeit auch im Alter attraktiv ist und längeres
Arbeiten belohnt wird. Das ist gut so. Diesen Weg wollen
wir jetzt gehen.
({0})
Ich meine, man muss sich einmal die Frage stellen,
wo wir herkommen. Wir kommen aus einer Zeit, in der
die Rentenversicherung - bis vor kurzem war es noch
so - an 55-Jährige Briefe verschickt und sie faktisch aufgefordert hat, einen Rentenantrag, einen Antrag auf Alterssicherung zu stellen. Die Alternative, dass man auch
länger arbeiten kann, hat man nicht beschrieben. Schlimmer noch: Man hat so getan, als ob es zu der Möglichkeit,
in Rente zu gehen, gar keine Alternative gäbe. Das zeigt,
glaube ich, dass diese Denke, diese Geisteshaltung, die
wir in Deutschland über Jahrzehnte gelebt haben, falsch
ist.
Wir tun so, als ob diejenigen, die 65 sind, zum alten
Eisen gehören, sodass derjenige, der jetzt in Rente geht,
eine Vollbremsung von 100 auf null hinlegen muss. Das
stimmt nicht. Deshalb brauchen wir einen Mentalitätswechsel in die Richtung, die beispielsweise in Japan zu
beobachten ist. Ich habe mir vor vier, fünf Jahren im
Rahmen einer Reise der Konrad-Adenauer-Stiftung die
demografische Situation in Japan angesehen. Das war interessant. In Deutschland haben wir ja ein Klima, dass
wir denken, derjenige, der länger arbeitet, tut dies nur
deshalb, weil er das Geld benötigt.
({1})
In Japan war es aber so, dass viele Menschen - die übrigens bis knapp 70 arbeiten, nicht nur in Vollzeit, sondern
auch in Teilzeit - sagen: Es geht mir gar nicht um den
finanziellen Aspekt, sondern um die Teilhabe und den
Kontakt zu den Kollegen; ich möchte weiter im Leben
stehen. - Ich weiß noch, wie einer zu mir gesagt hat: Arbeit hält fit und ist gesund.
Als ich nach Deutschland zurückgekommen bin, ist
mir eine Studie in die Hand gefallen, keine vom ifo-Institut oder vom Institut der deutschen Wirtschaft, sondern
eine der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Die
Hans-Böckler-Stiftung hat eine Umfrage durchgeführt
und alle über 65-Jährigen in Deutschland, die noch arbeiten - entweder in einem Minijob oder im welchem Rahmen auch immer -, gefragt: Warum arbeitet ihr länger?
Auf Platz eins der Antworten stand: Spaß an der Arbeit.
Auf Platz zwei stand: Wunsch nach einer Aufgabe. Auf
Platz drei stand: Kontakt zu Menschen. Erst auf Platz vier
stand der finanzielle Aspekt. Ich will gar nicht in Abrede
stellen, dass viele Menschen länger arbeiten müssen, um
finanziell über die Runden zu kommen.
({2})
Aber der Großteil - das zeigt doch diese Studie - möchte
nicht zum alten Eisen gehören, möchte weiter im Leben
stehen. Wenn es geht, möchte man gerne weiterarbeiten,
wenn nicht in Vollzeit, dann in Teilzeit. Ich glaube, diese
Menschen müssen wir unterstützen.
({3})
Es ist richtig - deswegen kann man von einem Mentalitätswechsel sprechen -, dass die Briefe der Rentenversicherung jetzt geändert werden. Dort steht jetzt beispielsweise drin - ein Redner vor mir hat das angesprochen -,
dass man dann, wenn man länger arbeitet und die Rente
nicht bezieht, im Monat Zuschläge von 0,5 Prozent bekommt - das sind 6 Prozent im Jahr - plus die eingezahlten Beiträge; das entspricht 8,5 Prozent.
({4})
- Das steht jetzt drin, Herr Birkwald.
Es ist aber so, dass die meisten Menschen im Rentenalter aus verständlichen Gründen erst einmal die Rente beziehen und dann zusätzlich arbeiten wollen. Das
Dagmar Schmidt ({5})
wollen wir mit der Flexirente attraktiver machen. Heute
zahlt der Arbeitgeber Rentenversicherungsbeiträge, diese
kommen in einen großen Topf, und dann sind sie weg. In
Zukunft ist es so, dass diese Beiträge aktiviert werden,
wenn auch der Rentner einzahlt. Das heißt, er bekommt
dann jedes Jahr - ich glaube, zum 1. Juli - eine zusätzliche Rentenerhöhung. Das ist auch richtig, weil er ja auch
zusätzlich dafür arbeitet. Die Arbeitslosenversicherungsbeiträge der Rentner fallen weg; warum ein Rentner Arbeitslosenversicherungsbeiträge zahlen muss, habe ich
übrigens bis heute nicht verstanden, weil ein Rentner
nicht mehr arbeitslos werden kann. Das ist, glaube ich,
der richtige Weg. Das heißt für mich: Alter neu denken.
Das ist die Flexirente: Alter neu denken. Das geht nicht
von heute auf morgen. Sie ist aber ein wichtiger Schritt.
Ich glaube, das müssen wir jetzt leben.
Ja, zur Ehrlichkeit gehört auch, zu sagen, dass hiermit
nicht diejenigen angesprochen werden, die mit 55 unverschuldet in die Arbeitslosigkeit rutschen. Wir sprechen
hiermit die Menschen an - das hat Frau Mast richtig zum
Ausdruck gebracht -, die erst einmal in die Lage versetzt
werden müssen, länger zu arbeiten, und diejenigen, die
auch im Rentenalter länger arbeiten wollen.
({6})
Was diejenigen betrifft, die mit 55 arbeitslos werden, ist
es richtig, den Appell an die Wirtschaft loszuwerden, den
Mut zu haben, diese Menschen einzustellen, statt von einem flächendeckenden Fachkräftemangel zu reden.
({7})
Das hat mit der Flexirente aber überhaupt nichts zu tun.
Hiermit wollen wir den Ansatz verfolgen, dass wir das
Arbeiten im Alter für diejenigen, die es können und wollen, attraktiver machen. Dass es einen Zusammenhang
zwischen der Lebenszeit und der Lebensarbeitszeit gibt,
ist, glaube ich, offenkundig.
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Diese Rentendebatte zeigt seit langem zum ersten Mal, dass Rentenpolitik kein Kampf zwischen den Generationen ist. Ich
weiß nicht, wer immer davon spricht. Die Rentner, die
wir treffen, haben natürlich Verständnis dafür, dass wir
die nächsten Generationen nie über Gebühr belasten
können.
Dieser Gesetzentwurf zur Flexirente ist ein Beispiel
dafür, dass es geht. Dieser Gesetzentwurf denkt nämlich
an beide, sowohl an die Jüngeren, die ihre Beiträge leisten, als auch an die Älteren.
({8})
Durch diesen Gesetzentwurf werden keine Schulden zulasten der zukünftigen Generationen in die Zukunft verlagert, sondern es ist ein ehrlicher Gesetzentwurf und ein
Schritt in die richtige Richtung.
Diesen sollten wir jetzt gehen, und jetzt freue ich mich
auf die Debatte im Ausschuss.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/9787 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? - Ich sehe, das ist nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Abstimmungen,
für die ich noch einmal Ihre ganze Aufmerksamkeit er-
bitte.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 27 a bis 27 f auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über
die Feststellung des Wirtschaftsplans des
ERP-Sondervermögens für das Jahr 2017
({0})
Drucksache 18/9753
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Energie ({1})
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 22. März 2016 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Republik Serbien über
die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
Drucksache 18/9754
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 31. Mai 2013 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und
dem Ministerrat der Republik Albanien über
die Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich
Drucksache 18/9755
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 9. Juli 2014 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Georgien über die ZuDr. Carsten Linnemann
sammenarbeit bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, des Terrorismus und
anderer Straftaten von erheblicher Bedeutung
Drucksache 18/9756
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({4})
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes über die internationale
Rechtshilfe in Strafsachen
Drucksache 18/9757
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus
Zdebel, Eva Bulling-Schröter, Caren Lay, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Exportverbot für hochradioaktive Abfälle
Drucksache 18/9791
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit ({5})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Es handelt sich hierbei um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 j auf. Es
handelt sich hierbei um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.
Tagesordnungspunkt 28 a:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
In der UN-Vollversammlung für Atomwaffenverbot stimmen
Drucksache 18/9792
Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.
Tagesordnungspunkt 28 b:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({6}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Fünfte Verordnung zur Änderung der Elektro- und Elektronikgeräte-Stoff-Verordnung
Drucksachen 18/9500, 18/9596 Nr. 2, 18/9775
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9775, der Verordnung auf
Drucksache 18/9500 zuzustimmen. - Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist einstimmig
angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 c:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({7}) zu der Verordnung der Bundesregierung
Erste Verordnung zur Änderung der Verordnung über Vereinbarungen zu abschaltbaren
Lasten
Drucksachen 18/9631, 18/9733 Nr. 2, 18/9839
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9839, der Verordnung auf
Drucksache 18/9631 zuzustimmen. - Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die
Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Die
Linke angenommen.
Bei den Tagesordnungspunkten 28 d bis 28 j geht es
um die Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.
Tagesordnungspunkt 28 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 357 zu Petitionen
Drucksache 18/9679
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 357 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 358 zu Petitionen
Drucksache 18/9680
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht 358 ist bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({10})
Sammelübersicht 359 zu Petitionen
Drucksache 18/9681
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 359 ist bei Enthaltung
der Fraktion Die Linke angenommen.
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Tagesordnungspunkt 28 g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({11})
Sammelübersicht 360 zu Petitionen
Drucksache 18/9682
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 360 ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({12})
Sammelübersicht 361 zu Petitionen
Drucksache 18/9683
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
von Bündnis 90/Die Grünen angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 i:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 362 zu Petitionen
Drucksache 18/9684
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht ist gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke angenommen.
Tagesordnungspunkt 28 j:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 363 zu Petitionen
Drucksache 18/9685
Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Wer ent-
hält sich? - Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppo-
sition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses zu dem Gesetz zur Anpassung
des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerge-
setzes an die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts
Drucksachen 18/5923, 18/6279, 18/8911,
18/8912, 18/9155, 18/9690
Berichterstatter im Bundestag: der Abgeordnete
Minister Dr. Norbert Walter-Borjans.
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? - Ich
sehe, das ist nicht der Fall. Wird das Wort zu Erklärungen
gewünscht? - Ich sehe, auch das ist nicht der Fall.1)
1) Anlage 3
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Absatz 3 Satz 1 seiner
Geschäftsordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam abzustimmen
ist. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf Drucksache 18/9690? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Ergebnisse zur Reform der Erbschaftsteuer
Ich bitte darum, die Plätze einzunehmen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Dietmar Bartsch, Fraktion Die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wir haben hier eben einen
Beschluss gefasst. Offensichtlich sollte zu dieser Entscheidung, die nicht irgendeine ist, weiter keine Debatte
geführt werden. Ich kenne die Geschäftsordnung. Aber
ich finde, diese relevante Veränderung bzw. Nichtveränderung muss hier im Plenum des Deutschen Bundestages
diskutiert werden.
({0})
Es gibt in der ganzen Legislatur nicht eine wirkliche
Veränderung im Steuerrecht. Die gesamten Südstaaten
setzen Sie, was Reformen betrifft, unter Druck, aber hier
in Deutschland, meinen Sie, müsse gar nichts passieren.
Das, was jetzt als Ergebnis herausgekommen ist, verdient
den Titel „Erbschaftsteuerreform“ nicht. Das ist maximal
ein Erbschaftsteuerreförmchen.
Wir haben heute früh hier im Deutschen Bundestag
Peer Steinbrück verabschiedet. Ich will deshalb Herrn
Steinbrück mit dem zitieren, was er zum Thema Erbschaftsteuer in einem Interview im Juli 2015 gesagt hat:
Damit der Staat aber genug Geld für Investitionen in
Bildung hat, sollte die Erbschaftsteuer erhöht werden. In Deutschland werden jedes Jahr 250 Milliarden Euro Privatvermögen vererbt.
({1})
Die Erbschaftsteuer beträgt nur 2 Prozent davon,
also 5 Milliarden Euro. Das darf man weiß Gott verdoppeln für den zentralen Zukunftsfaktor Bildung
einschließlich Kinderbetreuung.
({2})
Vizepräsidentin Ulla Schmidt
Ich finde, Peer Steinbrück hat ausdrücklich recht. Sie
haben ihm hier ein übles Abschiedsgeschenk gemacht. Er
ist wahrhaftig kein Linker,
({3})
aber dass Sie diesen Beschluss an diesem Tag fassen, ist
wirklich völlig inakzeptabel.
({4})
Ich will etwas zum Verfahren sagen und daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht 2014 wesentliche Teile der Steuervergünstigungen für Erben kassiert
hat - 2014! Dann haben sich die Spitzen der drei Parteien
in der Koalition ewig nicht einigen können. Es gab ein
permanentes Hin und Her, und die Erbschaftsteuer wurde
mit anderen Dingen verhandelt.
Bis zum 30. Juni 2016 hatte Ihnen das Bundesverfassungsgericht die Frist gesetzt. Sie haben diese Frist einfach ignoriert. Das ist inakzeptabel, meine Damen und
Herren. Jeder Parksünder, dessen Parkschein seit zehn
Minuten abgelaufen ist, bekommt ein Ticket. Und Sie
machen monatelang einen Verschiebebahnhof. Damit
desavouieren Sie den Rechtsstaat, meine Damen und
Herren von der Großen Koalition.
({5})
Auch im Vermittlungsausschuss wird gepokert. Zum
Schluss gibt es dann eine Nachtsitzung;
({6})
das alles will ich gar nicht weiter bewerten. Am Ende sagt
dann der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer:
„Ich bin zufrieden, sogar sehr zufrieden.“
({7})
Das sagt eigentlich alles. Am Ende wurden die Forderungen der Unternehmenslobby nahezu vollständig bedient.
Bei der Reform geht es nicht um kleine Familienunternehmen, sondern um Riesenkonzerne wie zum Beispiel den im Eigentum der Familie Quandt. Durch Ihre
Einigung werden Firmenerben auch künftig steuerlich
begünstigt. Sie verweisen in diesem Zusammenhang
ständig auf die Arbeitsplätze. Niemand hier im Haus will
mit der Erbschaftsteuer Arbeitsplätze gefährden oder
vernichten.
({8})
Das ist ein absurder Vorwurf. Aber Fakt ist, dass das Argument, die Verschonung des Unternehmensvermögens
sei notwendig, um Arbeitsplätze zu erhalten, falsch ist.
Es gab noch nicht einen einzigen Fall, in dem ein Unternehmen wegen der Erbschaftsteuer pleitegegangen ist.
({9})
Es gibt keinen Fall. Also bringen Sie die Arbeitsplätze
nicht als Argument.
({10})
Das Problem besteht ganz woanders. Wir sehen doch,
dass die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland
immer weiter auseinandergeht. 10 Prozent der Deutschen besitzen 60 Prozent des Gesamtvermögens. Die
500 reichsten Familien verfügen über ein Vermögen von
732 Milliarden Euro. Die Erbschaftsteuer wäre ein probates Mittel, hier endlich einzugreifen.
({11})
Wie wir alle wissen, stehen die Einnahmen aus der
Erbschaftsteuer den Ländern zu. Liebe Grüne, es stimmt,
dass Sie hier tapfer dagegen gestimmt haben. Aber im
Vermittlungsausschuss hat nur eine der Landesregierungen, an denen die Grünen beteiligt sind, dagegen gestimmt, nämlich Thüringen. Auch Brandenburg hat nicht
zugestimmt. Meine Damen und Herren von den Grünen,
es ist nur begrenzt glaubwürdig, hier dagegen zu stimmen, es aber im Vermittlungsausschuss einfach durchlaufen zu lassen. Das ist meines Erachtens so nicht zu
akzeptieren.
({12})
Diese Reform hat den Namen nicht verdient. Es handelt sich maximal um ein Reförmchen. So bleibt die Erbschaftsteuer eine Bagatellsteuer.
({13})
Finanzdynastien werden begünstigt, wenn nicht endlich
umgesteuert wird. Wenn es aber solche Riesenvermögen
in unserem Land gibt und wenn wir gleichzeitig Kinderarmut und Altersarmut zu verzeichnen haben, dann müssen die Mittel, die uns hier im Hohen Haus zur Verfügung
stehen, endlich ausgeschöpft werden.
({14})
Lassen Sie mich zum Schluss die bayerische Landesverfassung zitieren - ich mache das sehr gerne -:
Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die
Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen
einzelner zu verhindern.
({15})
Halten Sie sich bitte an die bayerische Landesverfassung
und der bayerische Ministerpräsident bitte auch! Aber
Sie machen genau das Gegenteil. Das darf nicht sein.
Wir brauchen eine Veränderung bei der Erbschaftsteuer,
die grundlegender Natur ist. Wir werden das zum Wahlkampfthema machen und hoffentlich in der nächsten Legislaturperiode eine entsprechende Reform angehen. Es
ist schade, dass die Mehrheit im Deutschen Bundestag,
die eine andere Sicht als die Regierung hat, hier nicht
zum Tragen kommt.
Herzlichen Dank.
({16})
Vielen Dank. - Nächster Redner ist der Kollege
Dr. Hans Michelbach, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der gemeinsame Vermittlungsausschuss des Bundestages und des Bundesrates hat sich auf einen Kompromiss
zur Neuregelung der Erbschaft- und Schenkungsteuer
geeinigt. Die im Vermittlungsausschuss gefundene Einigung zur Erbschaft- und Schenkungsteuer schafft jetzt
Planungs- und Rechtssicherheit für unsere Unternehmen.
({0})
Das Betriebsvermögen unterliegt weiterhin der Verschonungsregelung, wenn der Betrieb gemeinwohlpflichtig
weitergeführt wird. Das ist ein Erfolg. Das waren wir unseren Arbeitsplätzen und unseren Betrieben in Deutschland schuldig. Wir sollten noch einmal verdeutlichen: Es
geht um Betriebsvermögen und nicht, wie Herr Bartsch
behauptet hat, um Privatvermögen. Letzteres wird weiterhin voll besteuert. Sie sollten hier keine Neidkampagne gegen Großfamilien schüren; die müssen ihre Privatvermögen selbstverständlich in Deutschland versteuern.
Ihre Neidkampagne läuft völlig ins Leere, weil es um Betriebsvermögen und den Erhalt von Arbeitsplätzen geht.
({1})
Wichtig ist, dass die Politik Handlungsfähigkeit bewiesen hat. Bei diesem schwierigen Thema wurde eine
Entscheidung auf dem Kompromissweg gefunden.
({2})
Hätte sich das Bundesverfassungsgericht wieder eingeschaltet, wäre das ein falsches Signal für den Wirtschaftsstandort und sogar eine Blamage für die Politik gewesen.
Es ist wichtig, dass wir mit Vernunft über die Ideologie, die bei dieser Reform immer wieder zum Ausdruck
kommt, letzten Endes gesiegt haben. Meine Damen und
Herren, wir haben bewiesen, dass bei uns Vernunft vor
Ideologie kommt.
({3})
Wir haben zweifelsfrei auch Kompromisse eingehen
müssen. Im Rahmen des Kompromisses zum Beispiel bei
der Unternehmensbewertung nach dem vereinfachten Ertragswertverfahren liegt der pauschale Kapitalisierungsfaktor jetzt beim 13,75-Fachen des Gewinns. Er ist nach
unserer Auffassung sehr hoch und liegt über dem Marktwert vieler Unternehmen. Wir wollen Substanzbesteuerung verhindern; aber wir kommen vom 18-Fachen des
Gewinns, sodass wir mit dem 13,75-Fachen die richtige
Richtung eingeschlagen haben.
({4})
Damit werden letzten Endes in Zukunft die Unternehmenswerte planungssicher und realistisch veranschlagt.
Auch das, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg für
unsere Familienbetriebe.
Ein weiterer Erfolg ist, dass unsere Kleinbetriebe mit
bis zu fünf Mitarbeitern von der Lohnsummenpflicht
befreit werden. Das entlastet diese Betriebe von erheblichem Bürokratieaufwand. Die rot-rot-grünen Bundesländer wollten die Bagatellgrenze schon bei drei Mitarbeitern ziehen. Es war ein Kernanliegen, hier letzten Endes
eine Entbürokratisierung vorzunehmen. Ich glaube, es ist
wichtig, dass wir das Signal aussenden: Betriebe mit bis
zu fünf Mitarbeitern brauchen keine Lohnsummenregelungsbürokratie. Deswegen ist das ein richtiger Weg.
Ein zusätzliches Kernanliegen war die Durchsetzung
der Investitionsklausel. Durch sie kann Verwaltungsvermögen im Investitionsfall in Betriebsvermögen umgewandelt werden. Es dient natürlich der Zukunftsgestaltung, wenn Investitionen für Arbeitsplätze und für die
Wettbewerbsfähigkeit getätigt werden.
Das sind wichtige Aspekte; denn wir wollen mit einer
funktionsfähigen Generationenbrücke die Zukunft gewinnen. Und dazu braucht es Investitionen, die wir mit
diesem Investitionsklauselparagrafen begünstigen. Das
ist ein wichtiger Erfolg für die mittelständische Wirtschaft.
({5})
Ich komme jetzt zum Thema Großfamilien. Es gibt da
eine Abschmelzkurve, die im Bereich von 26 Millionen
Euro bis 90 Millionen Euro liegt. Das hatten wir schon
vorher in den Verhandlungen durchgesetzt, und es wurde
im Vermittlungsverfahren erhalten. Das ist ein wichtiger
Aspekt, weil hier letzten Endes entschieden wird, ob im
Rahmen einer Bedarfsprüfung das Privatvermögen offengelegt werden muss oder ob letzten Endes pauschal
eine Steuerbefreiung in Anspruch genommen werden
kann. Das ist genau das, was wir wollen. Wir wollen,
dass es hier eine Wahlmöglichkeit gibt. Es geht um mittelständische Unternehmen.
({6})
Von daher ist es völlig falsch, hier die Neidkeule gegen
Großfamilien - wie Quandt und andere, die Sie angesprochen haben - zu schwingen.
In diesem Sinne glaube ich, dass es ein großen Erfolg
war, in diese Richtung zu gehen. Es handelt sich dabei
um einen Kompromiss. Kompromisse müssen wir immer
wieder eingehen. Wir haben uns aber stetig verbessert.
Vor allem die Anerkennung von Verschonungsregeln
wurde letzten Endes immer wieder bestätigt. Sie wurde
zunächst als verfassungswidrig angesehen. Das ist nicht
der Fall. Die Verschonungsregel für Betriebsvermögen
ist ein wichtiger Schritt hin zur Schaffung einer Generationenbrücke. Darauf sollten wir stolz sein. Damit haben
wir für die Zukunft der Unternehmen in Deutschland gesorgt.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Ich darf vielleicht noch einmal daran
erinnern, dass in der Aktuellen Stunde die Debattenzeit
fünf Minuten beträgt. Sie muss nicht ausgenutzt werden,
aber sie darf nicht überschritten werden.
Die Kollegin Anja Hajduk, Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, macht das jetzt beispielhaft vor.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Das Thema Erbschaftsteuer hat ja in der Tat
schon eine erhebliche Vorgeschichte, denn das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt - zuletzt im Dezember 2014 - entschieden, dass die Erbschaftsteuer in dieser
Form gegen das Grundgesetz verstößt. Herr Michelbach,
da ging es genau um die Privilegierung von Betriebsvermögen. Das ist genau das Thema. Sie müssen gar nicht
denken, dass hier jemand etwas ausgeblendet hat.
Es ist schon bemerkenswert, wie sich die Unionsseite
dieser Fragestellung nur äußerst widerwillig stellt, ganz
im Unterschied zum Finanzminister. Der hat sich nämlich in seinem Vorschlag mit dem Verfassungsgerichtsurteil sehr ernsthaft auseinandergesetzt.
({0})
Ich will jetzt noch einen Punkt benennen. Die Ablehnung im Bundesrat war sehr breit. Wir glauben, dass der
Kompromiss, den Sie nunmehr vorgelegt haben, wiederum große Zweifel lässt, ob er mit den Verfassungsgerichtsurteilen, die wir haben, in Einklang steht.
({1})
Ich will eines vorausschicken: Ziel der Begünstigung
von Unternehmen ist es, eine Weiterführung des Betriebs
durch die Erbschaftsteuer nicht zu gefährden und Arbeitsplätze vollständig zu erhalten. Das ist unstrittig. Das
sehen auch wir so. Das ist nicht der Punkt.
Aber das, was Sie uns vorgelegt haben, besagt, dass
generell die Unternehmensbewertung pauschal um
23 Prozent abgesenkt wird. Das steht im Widerspruch
zu dem Verfassungsgerichtsurteil von 2014, wonach es
dazu einer Bedürfnisprüfung bedarf und eine generelle
Regelung nicht zulässig ist. Schauen wir uns das Urteil
von 2006 an. Ich zitiere aus der Urteilsbegründung des
Verfassungsgerichts:
Zur Verfolgung außerfiskalischer Förderungs- und
Lenkungsziele im Erbschaftsteuerrecht ist die Bewertungsebene daher aus verfassungsrechtlichen
Gründen bereits vom Ansatz her ungeeignet.
Das heißt schlicht, Begünstigungen müssen transparent
sein und dürfen eben nicht im Wege der Unternehmensbewertung gewährt werden. Das ist der Hauptpunkt, der
diese Lösung äußerst kritisch macht.
({2})
Des Weiteren bleibt es auch nach dem Kompromiss
dabei, dass bis zu einem Betriebsvermögen von sage und
schreibe 90 Millionen Euro eine Verschonung auch dann
gewährt werden soll, wenn es gar keinen Nachweis dafür gibt, dass die Erben das wirklich brauchen, um Arbeitsplätze zu schützen oder die Zukunft des Betriebes
zu sichern. Auch da gibt es wiederum keine Bedürfnisprüfung.
Da kann ich Ihnen nur sagen: Bei diesem Punkt gab es
null Bewegung im Vermittlungsausschuss. Dass sich die
SPD-Seite damit zufriedengegeben hat, bedaure ich zutiefst. Aber auch dieser Punkt macht wieder deutlich: Das
ist ein sehr verfassungskritisches Gesetz. Eine Überprüfung, die wir wahrscheinlich haben werden, könnte dazu
führen, dass wir wiederum keine Rechtssicherheit haben.
({3})
Vor diesem Hintergrund werden wir im Bundestag
dieses Gesetz ablehnen.
({4})
Wie gesagt: Wir bedauern, dass von den vier wesentlichen Punkten, die jenseits der anderen sieben Punkte verhandelt wurden, mit der Stundung nur einer befriedigend
gelöst wurde.
({5})
Es ist jetzt für die Grünen in den Bundesländern um darauf einzugehen, Herr Bartsch, Sie haben uns da
angesprochen - ein schwieriges Problem, abzuwägen,
weil ein Kompromiss aus dem Vermittlungsausschuss
vorliegt, dem alle anwesenden Ministerpräsidenten zugestimmt haben. Herr Kretschmann hat zu dieser Frage
eine andere Auffassung als ich.
({6})
Daraus machen wir auch kein Geheimnis. Aber die anderen Länder, an deren Regierung die Grünen beteiligt
sind, haben mit der SPD-Seite einen sehr klaren Katalog
vorgelegt, über den verhandelt wurde. Aus unserer Sicht
und auch aus Sicht der Länder, in denen die Grünen mitregieren, ist das kein besonders befriedigendes Ergebnis.
Deswegen wird es noch eine sehr schwierige Abwägung
in den Bundesländern sein, wie man sich tatsächlich im
Bundesrat verhalten soll.
({7})
Das hält die Bundestagsfraktion nicht davon ab, hier
sehr deutlich zu benennen, wo faktisch die gravierenden
Schwächen Ihres Vorschlags liegen.
({8})
Herr Michelbach, Sie sind gar nicht imstande, die Argumente, die ich hier vorgetragen habe, zu widerlegen, weil
Sie sich mit dem Verfassungsgerichtsurteil nicht ernsthaft auseinandersetzen.
Am Ende möchte ich sagen: Es ist in der Tat davon
auszugehen, dass Erben von Geld- oder Immobilienvermögen, die diese Steuer voll zahlen werden müssen, wegen der Ungleichbehandlung verschiedener Vermögensarten klagen werden. Es wäre dann wieder eine Blamage
für die Politik, wenn das Verfassungsgericht sagt: Das
können wir so nicht durchlaufen lassen.
({9})
Dann gibt es keine Rechtssicherheit für die Unternehmen. Aber vielleicht gibt es dann die Chance für eine
richtige Erbschaftsteuerreform, mit einem niedrigen,
moderaten Steuersatz für alle Vermögensarten, mit einer
breiten Bemessungsgrundlage. Das wäre eine ernsthafte
Reform. Das wäre die positive Aussicht bei einem Scheitern vor dem Verfassungsgericht, das wir leider erwarten
müssen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Vielen Dank. - Carsten Schneider spricht jetzt für die
SPD-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Frau Kollegin Hajduk, ich bin kein Jurist.
({0})
Wenn Klagen da sind, hat sich das Verfassungsgericht
damit zu beschäftigen. Allerdings hat das Verfassungsgericht klar gesagt: Der Gesetzgeber - also wir - kann
Unternehmen, wenn es um den Fortbestand von Arbeitsplätzen geht, schützen; allerdings müssen Ausnahmetatbestände bei höchstem Erbvermögen gestrichen werden. - Genau das haben wir gemacht.
({1})
Was die Verfassungsmäßigkeit angeht, zitiere ich nur
den grünen Ministerpräsidenten Kretschmann, der nach
der Einigung im Vermittlungsausschuss gesagt hat:
Das Ergebnis ist nach unserer Prüfung verfassungsfest und zugleich ein guter Kompromiss für unsere
Familienunternehmen.
({2})
Setzen Sie sich im Zweifel mit der Staatskanzlei in Stuttgart in Verbindung.
Ich möchte auf das Ergebnis des Vermittlungsausschusses eingehen. Wir haben hier im Bundestag zwischen CDU/CSU und SPD eine Einigung erzielt. Das
war ein Kompromiss. Ich glaube, wenn die Union allein
entschieden hätte, wäre das Ergebnis anders gewesen,
und wenn die SPD allein entschieden hätte, wäre das
steuerliche Aufkommen wahrscheinlich höher. Es ist
kein Geheimnis, dass wir der Meinung sind, dass mit der
Erbschaftsteuer durchaus Verteilungswirkungen verbunden sind und dass insbesondere die höheren Vermögen
steuerlich stärker herangezogen werden sollten.
Das, was vereinbart worden ist, entspricht dem Wesen
eines Kompromisses. Wir, die SPD, hatten uns vorgenommen, den Unternehmensübergang in Deutschland es ist eh schwierig, Nachfolger zu finden - zu erleichtern,
sodass Arbeitsplätze im Kern erhalten bleiben, und die
kleinen und mittleren Unternehmen nicht weiter zu belasten. Die Grünen und die Linken haben im Bundesrat
und im Bundestag, in beiden Häusern, keinen einzigen
Änderungsantrag eingebracht.
({3})
Man kann anderer Auffassung sein, keine Frage.
Frau Hajduk, den Vorschlag, den Sie eben gemacht
haben - ich weiß nicht, ob er parteiprogrammatisch
schon beschlossen ist -, eine Flat Tax, also einen einheitlichen Steuersatz auf alles, von 15 Prozent zu beschließen, ist im Vergleich zu dem, was wir vorhaben, ungerecht. Denn jeder kleine Krauter, jeder kleine Bäcker,
jede Wäscherei würde bei Umsetzung Ihres Vorschlags
bei Unternehmensfortführung eine Erbschaftsteuer von
15 Prozent zahlen, während die Reichen, diejenigen, die
ein Unternehmen im Wert von über 90 Millionen Euro
erben, auch nur 15 Prozent zahlen, nach Verabschiedung
unseres Gesetzentwurfes aber 30 Prozent. Das heißt, die
Umsetzung Ihres Modells würde dazu führen, dass die
obersten Vermögen geringer und die kleineren überhaupt
besteuert werden. Wir jedenfalls wollen das nicht, und
deswegen haben wir uns zur Zustimmung zum Ergebnis
des Vermittlungsausschusses entschlossen.
({4})
Ich will jetzt nicht auf Ihre internen Parteiprobleme Sie müssen sie lösen -, was Vermögen- und Erbschaftsteuer betrifft, eingehen. Aber ich finde es bezeichnend,
wenn die Welt nach Bekanntgabe des Ergebnisses des
Vermittlungsausschusses titelt: „Winfried Kretschmann
ist die Hoffnung der Firmenerben“. Ohne aus der Vermittlungsausschusssitzung zu zitieren, kann ich sagen, dass
er zumindest in dem, was er vorgetragen hat, diese Hoffnung auch bestätigt hat. Wenn in dieser Frage kein Blatt
zwischen Herrn Seehofer und Herrn Kretschmann passt,
dann kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch! ({5})
Aber klären Sie das parteiintern.
Wir im Bundestag müssen das Gesetzgebungsverfahren abschließen. Wenn wir nicht handeln, dann könnte
die Konsequenz sein, dass wir gar keine Erbschaftsteuer
mehr haben, dass das Verfassungsgericht wegen unserer
Untätigkeit zu dem gleichen Urteil käme wie im Zusammenhang mit der Vermögensteuer. Der Bund hätte dann
kein Erbschaftsteueraufkommen mehr. Die damit verbundene Abwägung müssen wir letztendlich vornehmen.
Wir Sozialdemokraten haben uns klar dafür entschieden,
in Deutschland das Instrument der Erbschaftsteuer zu erhalten und gerechter auszugestalten.
({6})
Ich finde, auch im Vermittlungsausschuss sind viele
Veränderungen vorgenommen worden. Etwa der Unternehmenswert - Kollege Michelbach hat das angesprochen - ist im jetzt vorliegenden Gesetzentwurf höher als
im ursprünglichen Gesetzentwurf. Es wurde also mehr
geändert, als nur ein Komma zu entfernen. Wir haben für
die Klarstellung gesorgt, dass Oldtimer, Kunstgegenstände etc. nicht dem Betriebsvermögen zugerechnet werden.
({7})
Wir haben auch andere Dinge verhindert, die zu einem
Aufweichen der Bemessungsgrundlage geführt hätten.
({8})
Alles in allem kann ich für die SPD-Fraktion sagen:
Wir haben dem Ergebnis des Vermittlungsausschusses
zugestimmt. Wir geben den Arbeitnehmern mit dem Erhalt der Arbeitsplätze, aber auch den Unternehmern die
Sicherheit, dass sie im Erbfall nicht in eine Schieflage
kommen. Der Bund erhält nach Verabschiedung des Gesetzentwurfs ein deutlich höheres Aufkommen aus der
Erbschaftsteuer. Wir tragen dies mit, auch wenn wir an
der einen oder anderen Stelle uns eine bessere Regelung
hätten vorstellen können. Aber die Verantwortung gebietet, dann auch zu der getroffenen Entscheidung zu stehen.
Vielen Dank.
({9})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Christian von
Stetten für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was hier von der Linksfraktion, Herr Kollege Bartsch,
an Thesen aufgestellt wurde, war wieder mal abenteuerlich. Sie haben überhaupt nicht verstanden, worum es
die letzten 18 Monate bei der Diskussion über die Reform der Erbschaftsteuer gegangen ist. Es ging nicht um
die Bewertung von millionenschwerem Privatvermögen,
sondern es ging um Kapital, was in mittelständischen
Unternehmen gebunden ist, es ging um die Wettbewerbsfähigkeit dieser mittelständischen Unternehmen, und
es ging um die Zukunft von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen. Sie haben dagegen durch die Anträge, die
Sie schon in der letzten Legislaturperiode, aber auch in
den letzten zwei Jahren gestellt haben, immer wieder die
Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Mittelstands infrage
gestellt.
({0})
Ich glaube, wir können uns einig sein: Das ist nicht die
Aufgabe von deutschen Parlamentariern.
({1})
Es ist doch völlig klar: Börsennotierte Unternehmen,
zum Beispiel DAX-Unternehmen, zahlen keine Erbschaftsteuer.
({2})
Auch die ausländischen Unternehmen, die hier am Markt
tätig sind, die hier ihre Produkte anbieten, zahlen keine
Erbschaftsteuer. Es ist doch völlig klar: Wenn in Zukunft
Familienunternehmen bei der Preiskalkulation einen
Erbschaftsteueraufschlag berücksichtigen müssten, würde dies deren Wettbewerbssituation massiv verschlechtern. Sie schlagen hier eine Politik vor, die gegen die
Betriebsräte ist und die gegen die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter dieser Familienunternehmen ist. Ich bin froh,
dass das verhindert worden ist.
({3})
Es ist zwar richtig, dass wir auch mit den Familienunternehmern über dieses Gesetz gesprochen haben. Wir
sprechen immer mit den Betroffenen. Aber besonders
beeindruckend waren für mich die Gespräche mit den
Betriebsräten und den betroffenen Mitarbeitern dieser
Familienunternehmen. Die haben uns geradezu bekniet,
dafür zu sorgen, dass die über Jahrzehnte und Jahrhunderte entstandene Kultur der Familienunternehmen nicht
zerstört wird.
({4})
Es ist auch der soziale und kulturelle Beitrag der Familienunternehmer, der eine Region stärkt. Es ist auch
den Gewerkschaftern in der Krise deutlich geworden,
dass gerade Familienunternehmer bei der Entlassung
von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern besonders rücksichtsvoll vorgehen, weil es schwierig ist, in einer Region, in der man selbst lebt, Mitarbeiter zu entlassen, deren
Kinder oder Verwandtschaft vielleicht in dem gleichen
Sportverein oder Gesangsverein engagiert sind wie man
selbst.
({5})
Ich glaube, dabei ist deutlich geworden: Der Familienunternehmer ist längst nicht bloß Arbeitgeber, sondern
er kümmert sich vielfach auch um das Soziale und um
private Probleme.
Ich sage Ihnen: Selbst die eingefleischtesten Gewerkschafter, die Streikwütigen, die, die bei jeder Gelegenheit
mit der roten Fahne vorauslaufen, wollen nicht - das ist
in den Gesprächen mit ihnen klar geworden - von Großkonzernen übernommen werden. Ihnen ist es lieber, dass
sie bei Streiks und Demonstrationen wissen, wo der EiCarsten Schneider ({6})
gentümer wohnt, vor welches Wohnhaus sie ziehen können. Bei Gesellschaftern im entfernten New York oder
anonymen Chicago wüssten sie überhaupt nicht, wo sie
demonstrieren sollen. Deswegen sind sie an unserer Seite
gewesen und haben diesen konkreten Kompromiss ermöglicht.
({7})
Ich war Mitglied der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses und kann Ihnen sagen: Manche Vorschläge,
die da vom Bundesrat gekommen sind, waren schon
abenteuerlich. So wollte man die von Hans Michelbach
schon erwähnte Reinvestitionsklausel aus dem Gesetz
streichen; dabei ist sie nötig, um im Falle des Todes des
Unternehmers Ungerechtigkeiten zu verhindern. Der Tod
ist ja in der Regel nicht planbar und kann ein Familienunternehmen schwer treffen, personell, aber natürlich auch
finanziell.
Auch bei der Beurteilung der liquiden Mittel konnten
wir uns durchsetzen und eine Lösung finden. Denken Sie
an den erfolgreichen Europa-Park in Rust, der als Freizeitpark seine Einnahmen hauptsächlich im Juni, Juli und
August generiert und natürlich im September/Oktober
hohe Barmittel auf dem Konto hat. Diese braucht er, weil
er seine Mitarbeiter auch in den schwächeren Wintermonaten bezahlen muss. Wenn infolge eines Todesfalls im
September der Staat 30 Prozent dieser liquiden Mittel
wegbesteuerte, wäre das eine unzumutbare Härte für das
Unternehmen. Hier konnten wir eine Lösung finden.
Ich glaube, der Kompromiss ist so angelegt, dass
Deutschland weiterhin ein familienunternehmerfreundliches Land bleibt. Wann immer wir im Ausland sind - das
wissen Sie -, werden wir auf diese Familienunternehmen
angesprochen. Sie sind die Stärke der deutschen Wirtschaft. Auch der soziale Ausgleich dient unserem Land.
Deswegen ist es ein vertretbarer Kompromiss. Herzlichen Dank allen, die daran mitgewirkt haben!
({8})
Vielen Dank. - Als nächster Redner spricht Richard
Pitterle für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Was Sie uns hier als Kompromiss
präsentieren, ist eine Missachtung der Auflagen, die das
Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber aufgegeben
hat.
({0})
Mir ist schon klar, dass Ihnen das nicht gefallen wird,
was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, aber uns gefällt auch
nicht, wie respektlos Sie mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgehen.
({1})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ende 2014 in seinem Urteil zur Erbschaftsteuer festgestellt, dass die bisherigen Verschonungsregeln zugunsten der Erbinnen und
Erben großer Unternehmensvermögen nicht mit dem
Grundgesetz vereinbar sind. Die pauschale Steuerbefreiung der Sprösslinge schwerreicher Unternehmensdynastien ging einfach zu weit. Und schon wieder legen Sie
uns eine pauschale und unangemessene Steuerbefreiung
der Superreichen vor. Ich bin mir sicher: Das wird Ihnen
das Bundesverfassungsgericht wieder um die Ohren hauen. Das wissen Sie auch, meine Damen und Herren von
der Großen Koalition, und das lassen wir von der Linken
Ihnen nicht einfach so durchgehen.
({2})
Dass Sie es nicht schaffen, ein verfassungsgemäßes
Gesetz auf den Weg zu bringen, ist das eine. Das andere
ist die Art und Weise, wie Sie unter dem Druck der Unternehmenslobby eingeknickt sind. Die letzten Wochen
und Monate waren ein einziges Trauerspiel, in dem wieder einmal der Einfluss der Superreichen auf die Politik
deutlich wurde. Die Lobby hält das Stöckchen, und Söder
und Co. springen artig drüber. Dabei wurden, wie auch
eben wieder, Märchen erzählt, apokalyptische Bilder gezeichnet, Schreckensszenarien verbreitet, zum Beispiel:
Dem Wirtschaftsstandort Deutschland drohe Schlimmes,
ja es drohe sogar eine Kernschmelze des deutschen Mittelstands, wenn man die Erben von betrieblichen Vermögen belaste. Es gehe um den Fortbestand der Arbeitsplätze, die durch die Abschmelzung von Privilegien bedroht
würden. Was für ein Quatsch! Meine Tochter würde sagen: Quatsch mit Soße!
Es hat nachweislich noch nie einen Fall gegeben - darauf ist Dietmar Bartsch eingegangen -, in dem ein Unternehmen der Erbschaftsteuerlast wegen pleitegegangen
wäre.
({3})
Und sollte ein Unternehmen wirklich einmal der Erbschaftsteuer wegen in Schieflage geraten, wäre eine
großzügige Stundung völlig ausreichend.
({4})
Den Superreichen geht es einzig und allein darum, ihre
Privilegien zu sichern. Aber Union, SPD und leider nun
auch einige Grüne gehen ihnen voll auf den Leim. Das
ist, mit Verlaub, schlichtweg peinlich, liebe Kolleginnen
und Kollegen.
({5})
Ebenfalls gerne bedient wurde das märchenhafte Bild
der braven Familienunternehmen - auch das haben wir
vorhin gehört -, die hier um ihre Existenz kämpfen. Das
ist ebenfalls Quatsch. Es geht bei dieser Reform überChristian Freiherr von Stetten
haupt nicht um die kleine Bäckerei oder den Handwerksbetrieb von nebenan. Es geht um milliardenschwere
Konzerne wie Volkswagen, BMW oder Metro, die unter
der Flagge der Familienunternehmen fahren und der Großen Koalition ihre Forderungen diktieren.
({6})
Das ist Klientelpolitik aus der untersten Schublade, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({7})
Apropos Klientelpolitik: Dass die Union die Unternehmerlobby bedient, ist ja nicht weiter verwunderlich,
auch wenn es schon bedenklich ist, wie sehr die eigentlich kleinere Schwester CSU hier der CDU den Takt
vorgegeben hat. Was aber machen die Kolleginnen und
Kollegen von der SPD? Sie tragen diesen unsäglichen,
verfassungswidrigen Kompromiss mit und lassen gleichzeitig durch Frau Nahles verkünden, dass man die Erbschaftsteuerreform in der nächsten Wahlperiode gleich
wieder auf die Tagesordnung setzen werde.
({8})
Ja warum denn nicht jetzt?
({9})
Frau Nahles hat doch vollkommen recht, wenn sie von
einer „Oligarchie der Reichen“ in diesem Lande spricht.
Also, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der SPD: Reißen Sie sich endlich am Riemen, und nehmen Sie sich
ein Beispiel an der Linken, die diesen Kompromiss von
Anfang an als das bezeichnet hat, was er ist: ein weiteres
Geschenk an genau diese Oligarchie der Reichen.
Zuletzt noch ein Wort zu Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe grüne Kolleginnen und Kollegen hier im Hause,
ich schätze es sehr, dass Sie gleich angekündigt haben,
den vorliegenden Kompromiss nicht mittragen zu wollen. Aber was machen denn bloß Ihre Leute in den Ländern? Entscheidend sind doch die grünen Stimmen im
Bundesrat. Und da hat Ihr Seehofer-Amigo Kretschmann
ja bereits voll auf die Linie der Unternehmenslobby eingelenkt.
({10})
Dadurch werden es am Ende wohl doch die Grünen sein,
die dieser Klientelpolitik durch ihre Bundesratsstimmen
zu Gesetzeskraft verhelfen,
({11})
und das ist nicht gut so.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({12})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Cansel
Kiziltepe von der SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine Damen und Herren! Frau Hajduk, jetzt
so zu tun, als seien die Grünen gegen diesen Kompromiss, ist, ehrlich gesagt, eine Verschleierung der Wahrheit.
({0})
Die Grünen waren das Zünglein an der Waage, im Vermittlungsausschuss und im Bundesrat.
({1})
Leider hat sich Ministerpräsident Kretschmann für die
andere Seite entschieden. Damit ist kein besseres Ergebnis herausgekommen.
({2})
- Ihre Seite, meinetwegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, vor uns liegt nun
ein Kompromiss des Vermittlungsausschusses. Wir alle
wissen: Kompromisse sind nie einfach. Der Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses hat deutliche
Verbesserungen herbeigeführt. Daher möchte ich mich an
dieser Stelle bei den sozialdemokratischen Finanzministerinnen und Finanzministern, insbesondere bei Norbert
Walter-Borjans aus NRW und Senator Tschentscher aus
Hamburg, für die harte und konstruktive Arbeit bedanken.
({3})
Im Rahmen des Vermittlungsausschusses haben die
SPD-Länder in harten Verhandlungen wichtige Verbesserungen und Klarstellungen erreicht. Die Überprivilegierung der Unternehmenserben wird hiermit reduziert.
Vor allem bei der Bewertung von Unternehmen hat es
wichtige Verbesserungen gegeben. Es wurde nämlich erreicht, dass der Wert nun um circa 10 Prozent höher liegt,
als im Gesetz beschlossen war. Diese deutliche Nachbesserung hat auch positive Auswirkungen auf das Steueraufkommen.
({4})
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist
es immer wichtig gewesen, dass Arbeitsplätze durch die
Erbschaftsteuer nicht gefährdet werden.
({5})
Dieses Ziel war, ist und bleibt richtig. Aus diesem Grund
haben wir auch darauf geachtet, dass Unternehmen, die
nicht überwiegend produktiv arbeiten, von der 100-Prozent-Verschonung ausgenommen werden. Für Familienunternehmen führen wir eine konkrete Definition ein.
Das ist auch gut so; denn dadurch soll nicht jedes UnRichard Pitterle
ternehmen die Möglichkeit haben, sich arm zu rechnen.
Darüber hinaus sind durch Klarstellungen unsererseits
noch zwei weitere Verbesserungen in das Gesetz aufgenommen worden, die es ohne die Verhandlungen im Vermittlungsausschuss eben nicht geben würde.
Zum einen stellen wir nun klar, dass Luxusgüter wie
Jachten oder Kunstsammlungen, Herr von Stetten, nicht
als Betriebsvermögen angerechnet werden können. Wir
wollen hiermit den Missbrauch, der in der Vergangenheit
allzu oft betrieben wurde, verhindern. Beim Missbrauch
in der Vergangenheit kommt jedem sofort die Konstruktion „Cash-GmbH“ in den Sinn. Auch hier wurden die
Schlupflöcher dichtgemacht.
({6})
Somit wird es in Zukunft nicht möglich sein, unbegünstigtes Vermögen in begünstigtes Vermögen umzuwandeln.
Was mir besonders wichtig ist und auch wegverhandelt
wurde, ist die zinslose und voraussetzungslose Stundung.
Auch hier haben wir diese Regelung, die ja vollkommen
gaga und nicht nachvollziehbar war, herausverhandelt.
({7})
Vor uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegt nun ein
Minimalkonsens zwischen drei im Bundestag vertretenen
Fraktionen und den Bundesländern. Es ist nicht mehr und
nicht weniger. Wir als Bundestagsfraktion wissen, hier
wäre noch viel Luft nach oben. Deshalb unterstützen wir
auch die Forderung von Andrea Nahles, in der nächsten
Legislatur über eine Revision zu entscheiden,
({8})
damit wir endlich eine Erbschaftsteuer bekommen, die
auch den Namen verdient.
({9})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, im Ergebnis ist es
mit diesem Kompromiss gelungen, nichtproduktive Unternehmen und im Unternehmen versteckte Luxusgüter von der Verschonung auszunehmen. Und das ist ein
wichtiger Erfolg.
Danke schön.
({10})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Britta
Haßelmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Erst einmal kann sich das ganze Haus, vor
allen Dingen die die Regierung tragenden Fraktionen,
nicht mit Ruhm bekleckern und das Beratungsverfahren
zur Erbschaftsteuer schon gar nicht als Musterbeispiel
nehmen.
({0})
Wir haben am 7. September 2015 den Gesetzentwurf
bekommen. Anderthalb Jahre nach dem jüngsten Urteil
des Bundesverfassungsgerichts dazu und seinem Schreiben vom Juli wurde auf der letzten Strecke klar, welcher
Druck einfach zur Einigung besteht, weil Sie als Große
Koalition ganz lange Zeit untätig und nicht in der Lage
waren, einen wirklich verfassungsfesten Gesetzentwurf
zur Erbschaftsteuer vorzulegen. Das haben Sie sich zuzuschreiben. Diese peinliche Situation, die auch in der
Öffentlichkeit für viel Verunsicherung gesorgt hat, geht
voll auf die Kappe der Großen Koalition.
({1})
Meine Damen und Herren, warum erwähne ich das?
Weil ich finde, dass gerade an einem so komplizierten
Gesetz wie dem Erbschaftsteuergesetz, das schon so oft
beklagt wurde, zu dem es zwei Bundesverfassungsgerichtsurteile gab, die uns den Auftrag gegeben haben,
die Erbschaftsteuer gerechter zu machen, deutlich wird,
welche Selbstüberschätzung vorhanden ist, wenn man
glaubt, durch eine Handschlagpolitik von drei Männern
das Problem mal schnell regeln zu können.
({2})
Da treffen sich am 20. Juni 2016, sonntagabends,
Schäuble, Seehofer und Gabriel und versprechen sich in
die Hand: Wir regeln die Erbschaftsteuer.
({3})
Meine Damen und Herren, das hat dann einfach dazu
geführt, dass man nicht ordentlich gearbeitet hat; denn
diese Art von Kompromiss war in dem Gesetzgebungsverfahren kaum umsetzbar. Das hat eigentlich all die
Probleme nach sich gezogen, mit denen wir bis heute,
bis es im Vermittlungsausschuss zu einem Ergebnis kam,
konfrontiert sind. Das haben Sie sich als Große Koalition von CDU/CSU und SPD voll zuzuschreiben. Deshalb
muss das hier Erwähnung finden.
({4})
Meine Damen und Herren, verantwortlich für dieses
Desaster war auch die langandauernde CSU-Blockadepolitik. Von daher war doch vollkommen klar: In der
Erbschaftsteuer tut sich nichts. - Das war die Devise bis
zu den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss. Das
hat der Sache geschadet, und das wissen auch alle, die
daran beteiligt sind.
({5})
Ich finde es auch falsch, ein Bild in der Art zu zeichnen, als ob einige von uns Familienunternehmen oder Erben knebeln wollten. Das will niemand von uns.
({6})
Aber wir wollen den Auftrag des Bundesverfassungsgerichts umsetzen und eine verfassungsfeste, gerechte
Erbschaftsteuer im Deutschen Bundestag und im Bundesrat - also gemeinsam - neu auf den Weg bringen. Dahinter bleiben Sie einfach mit dem vorliegenden Vermittlungsausschussergebnis zurück.
({7})
Meine Damen und Herren, ich kann es der Kollegin
und auch der SPD insgesamt nicht ersparen, zu sagen:
Leute, das geht so gar nicht, was ihr hier abzieht!
({8})
Wir können mit den sechs Stimmen aus Baden-Württemberg im Bundesrat ganz gut umgehen.
({9})
Denn wir wussten von Anfang an, dass sich Baden-Württemberg inhaltlich zu der Frage von Familienunternehmen und der Frage der Erbschaftsteuer anders positioniert als zum Beispiel wir oder manche grün mitregierten
Länder. Aber warum machen Sie sich eigentlich so klein?
Sie haben 50 Stimmen im Bundesrat, Frau Kiziltepe, und
da kommen Sie hier ans Mikro und erzählen mir was von
Winfried Kretschmann!
({10})
50 Stimmen!
Im Gegensatz zu Ihnen saß ich im Vermittlungsausschuss. Ich weiß, wie Sie gekämpft haben. Aber Sie sind
am Ende verantwortlich für dieses Vermittlungsausschussergebnis. Die A-Länder sind verantwortlich für dieses
Ergebnis. Bei aller Wertschätzung, die ich für Norbert
Walter-Borjans habe: Am Ende war klar, dass Sie diesen
Kompromiss mitgeschmiedet, mitgetragen und mit zu
verantworten haben. Deshalb verstehe ich gar nicht, was
diese Rumeierei hier soll.
({11})
Über 50 Stimmen im Bundesrat! Warum haben Sie den
Kompromiss nicht verhindert, wenn Sie glauben, dass er
nicht tragbar ist?
({12})
Was arbeiten Sie sich jetzt eigentlich an den Grünen ab?
Das ist doch vollkommen verrückt!
({13})
Ich finde, das Ergebnis ist weder ein großer Erfolg
({14})
noch von Vernunft gezeichnet. Es führt am Ende dazu,
dass wir Betriebsvermögen immer noch in zu großem
Umfang schonen.
({15})
Wir haben zu starke Verschonungsregelungen, und das ist
das Problem - auch wenn sich im Bereich der Stundung
etwas getan hat. Jetzt ist es natürlich an den anderen, an
den Ländern, zu entscheiden, wie sie damit umgehen. Ich
glaube, nach der Erbschaftsteuerreform ist vor der nächsten Erbschaftsteuerreform,
({16})
und alle, die sich schon mal damit befasst haben, wissen
das auch.
({17})
Als nächster Redner hat Fritz Güntzler für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! 21 Monate Beratung über Erbschaftsteuer liegen
hinter uns, und man hat gespürt: Es wird nicht nur fachbezogen argumentiert, sondern die Dinge werden oft sehr
ideologisch angegangen - so wie bei Frau Haßelmann,
die anscheinend gerade die Flucht ergreift.
({0})
- Gut. Das wusste ich nicht. Entschuldigung! - Ich gebe
zu, dass in dem Zusammenhang manche Interessenverbände mit manchen Forderungen an uns herangetreten
sind, deren Umsetzung auch nicht verfassungswidrig gewesen wäre. Im Ergebnis können wir aber, glaube ich,
feststellen, dass wir nach diesen 21 Monaten einen guten
Kompromiss gefunden haben.
Wenn Frau Haßelmann dem Parlament oder den Regierungsfraktionen hier Untätigkeit vorwirft, dann muss
ich sagen: Untätig waren der Bundesrat und die Bundesländer.
({1})
Denn es ist eine Ländersteuer; die Länder hätten hier
einen Entwurf vorlegen können und müssen. Sie hätten
nicht nur torpedieren sollen, sondern von vornherein sagen sollen: So stellen wir uns das vor. - Aber eine Einigung der Bundesländer war ja wohl nicht möglich.
Herr Pitterle, Sie haben das Urteil ja sehr holzschnittartig dargestellt. Das kenne ich gar nicht von Ihnen; denn
Sie argumentieren sonst sehr genau. Man muss sich vergegenwärtigen, dass das Verfassungsgericht gesagt hat,
die Ziele der Steuerbefreiung nach §§ 13a und 13b Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz seien verfassungskonform. Das ist die erste These des Bundesverfassungsgerichts.
Es hat auch gesagt, Unternehmensvermögen könnten
sogar zu 100 Prozent verschont werden. Ich höre von Ihnen, es sei eine Sauerei, dass Unternehmensvermögen zu
100 Prozent verschont werden könnten. Das Bundesverfassungsgericht hat aber festgestellt, dass wir das dürfen.
Es hat zudem festgestellt, dass wir das bisherige System
beibehalten können und kein neues System einführen
müssen.
Natürlich ist die Übertragung großer Vermögen betrachtet worden. Aber im Urteil stand nicht, dass wir diese Vermögen unbedingt höher besteuern müssen. Gucken
Sie ins Urteil! Es gibt eine höhere Darlegungslast bei
möglichen Verschonungen.
({2})
- Ja, eine Bedürfnisprüfung, eine höhere Darlegungslast, wenn wir verschonen. - Es steht aber nicht drin: Ihr
müsst die größeren Vermögen besteuern. Das ist, glaube
ich, ein feiner Unterschied.
({3})
Wenn wir uns einig sind, dass der Bestand der Unternehmen nicht gefährdet werden soll, dann bin ich schon
einmal froh, dass wir uns grundsätzlich im Ziel einig
sind.
Ich will auch darauf hinweisen: Es geht hier nicht um
Unternehmer - das geht in der Diskussion oft durcheinander -; es geht tatsächlich um Unternehmen, die wir
schützen wollen. Damit wollen wir einen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesen Unternehmen gewährleisten. Darum haben wir die Regelungen ja
an die Lohnsumme gekoppelt. Denn wir wollen, dass die
Unternehmen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern fortgeführt werden.
Dann wird hier immer vorgetragen, es gebe ja noch
gar kein Unternehmen, das aufgrund einer Erbschaftsteuerzahlung in die Insolvenz gegangen sei.
Es ist zunächst einmal so, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil festgestellt hat, dass die
Gefährdungsprognose, die der Gesetzgeber angestellt
hat, grundsätzlich plausibel ist. Das war ja in Karlsruhe
Gegenstand; es ist ja darüber gesprochen worden, ob es
eine Insolvenzgefahr gibt. Wenn Sie jetzt anführen, es
gebe keine Zahlen oder keine Fälle, die Ihnen bekannt
seien, dann liegt das natürlich daran, dass wir derzeit
Verschonungsregelungen haben. Wir haben ja nur auf
die Gefahr hingewiesen: Wenn es diese Verschonungen
in Zukunft nicht mehr gäbe, es zu Liquiditätsbelastungen
käme und den Unternehmen Liquidität entzogen würde,
dann könnte es Insolvenzen geben. - Wir wollen Insolvenzen verhindern. Es ist schlimm, dass Sie erst dann
bereit wären, zu handeln, wenn es schon Insolvenzen gegeben hätte. Das ist nicht seriös, Herr Pitterle. Von daher:
Wir gehen da schon in die richtige Richtung.
({4})
Ich glaube, es war klug, Herrn Minister Schäuble
auch zu folgen, als er gesagt hat: Wir machen einen minimalinvasiven Eingriff in das Erbschaftsteuerrecht und
erdenken kein völlig neues Modell. - Ich will nicht ausschließen - das Steuerrecht bringt mir seit 20, 30 Jahren
wirklich Spaß -,
({5})
dass man über andere Modelle nachdenken und fabulieren kann. Aber ich möchte mir gar nicht vorstellen,
wie es wäre, in der Gemengelage, die heute mehrfach
beschrieben worden ist, ein völlig neues Modell zu beschließen. Wie wären wir da zu einem Ergebnis gekommen? „Flat Tax“ hört sich toll an. Die Grünen haben auch
ein Modell, ein Stufenmodell; das ist kein reines FlatTax-Modell mehr. Der Kollege Schneider hat ja darauf
hingewiesen, dass es da Gewinner und Verlierer gäbe.
Hielten wir es aus, wenn große Privatvermögen auf einmal viel niedriger besteuert würden? Der Teufel steckt
dort meines Erachtens im Detail. Von daher sollten wir
da nicht zu schnell schießen.
Im Ergebnis haben wir die vom Bundesverfassungsgericht gestellten Aufgaben angenommen. Es ging darum, dass das Verwaltungsvermögen nicht mehr in dem
Maße übertragen und begünstigt werden darf. Wir hatten das Thema, dass wir den Lohnsummentest erst bei
20 Arbeitnehmern nicht mehr akzeptieren können; jetzt
sind wir bei 5 Arbeitnehmern gelandet. Wir haben auch
die Bedürfnisprüfung und zu Recht ein Abschmelzungsmodell eingeführt, weil wir keinen Fallbeileffekt haben
wollen, der dann entsteht, wenn es ab der Grenze von
26 Millionen Euro gar keine Verschonung mehr gibt. Das
läuft jetzt bei 90 Millionen Euro aus. Irgendjemand hat
vorhin gesagt: 90 Millionen Euro wären eine riesige Verschonung. Aber schauen Sie sich an, wie viel Verschonung Sie bei 89 Millionen Euro tatsächlich noch haben:
eigentlich gar keine mehr. Sie sind ziemlich schnell bei
der vollen Besteuerung.
Abschließend noch eine Bemerkung zur Bewertung.
Sie sagen, es sei eine Begünstigung, dass es, nachdem
wir vom 18-Fachen kommen, jetzt das 13,75-Fache sein
wird. Ich kann Ihnen dazu sagen: Die 18 waren völlig
irre, sie entbehrten jeder Realität; und das sind die 13,75
übrigens auch. Jetzt provozieren wir dadurch, dass jedes
Unternehmen ein zusätzliches Gutachten in Auftrag geben muss, also Kosten verursacht werden, Probleme gerade für kleinere Unternehmen. Wir zwingen sie nämlich
dazu, Wirtschaftsprüfer zu beauftragen. Das kann meinen Berufsstand letztendlich freuen, aber ich glaube, das
sollte nicht das Ziel des Gesetzgebers sein. Stattdessen
wollten wir mit dem vereinfachten Ertragswertverfahren
den Steuerpflichtigen ein Verfahren an die Hand geben,
durch das man zu realistischen Werten kommt. Von daher
wäre ein niedrigerer Faktor viel besser gewesen.
Abschließend können wir feststellen - Carsten
Schneider hat es so schön gesagt -: Wenn die SPD es
alleine gemacht hätte, dann wäre etwas anderes herausgekommen. Wenn die CDU oder die CSU es alleine gemacht hätte, dann wäre wieder etwas anderes herausgekommen. Von daher ist die gefundene Lösung ein guter
Kompromiss. Die Diskussionen werden weitergehen.
Das Beste ist aber, dass die Unternehmen derzeit Rechtsund Planungssicherheit haben.
({6})
Von daher können wir mit gutem Gewissen zustimmen.
Ich glaube auch, dass wir uns in Karlsruhe irgendwann
wiedersehen. Es ist egal, was wir heute beschließen: Der
Weg nach Karlsruhe wird wieder beschritten werden;
denn es gibt immer klagefreudige Steuerpflichtige und
Steuerberater. Aber mit dem geplanten Gesetz werden
wir in Karlsruhe gut um die Ecke kommen.
Herzlichen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Lothar Binding hat für die SPD-Fraktion als nächster Redner das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Carsten Schneider hat,
wie ich glaube, vorhin auf einen ganz wichtigen Begriff
abgehoben, und zwar auf den der Verantwortung. Er hat
zwei Dinge genannt, für die wir große Verantwortung tragen. Das ist zum einen der Unternehmensübergang in die
nächste Generation, und das ist zum anderen die Frage:
Wie wichtig sind uns Arbeitsplätze? Dann wurde noch
erwähnt, dass eine Flat Tax gefährlich ist, weil das eine
aggressive Umverteilung von unten nach oben bedeutet,
also die Schwachen geben den Starken. Auch das wollen
wir nicht. Das bildet damit eigentlich die Grundlage, auf
der wir diskutieren.
Jetzt ist es so, dass 80 Prozent aller Vermögen aus Erbschaften kommen. Es ist der ewige Denkfehler von Hans
Michelbach, man könne nur verteilen, was man erarbeitet
hat. Nein, das meiste wird durch Erben verteilt. Gemessen an der Unsicherheit, an dem Schwebezustand, den
wir lange hatten, ist es sehr gut, dass wir uns jetzt auf ein
entsprechendes Gesetz geeinigt haben. Es erzeugt bei uns
eine gewisse Zufriedenheit; denn der Schwebezustand
hat nun ein Ende.
({0})
- Natürlich, aber wir hätten mehr machen können.
Vielleicht schauen die Bürgerinnen und Bürger, die
hier sitzen, verwundert, wenn sie hören, dass wir im Zusammenhang mit Erbschaften bis zur Höhe von 90 Millionen Euro über eine Bedürfnisprüfung nachdenken. Festhalten kann man, dass man ohne Bedürfnisprüfung eine
Erbschaft in Höhe von 90 Millionen Euro voll versteuern
muss. Da sagen sich die Leute jetzt wahrscheinlich: „Da
komme ich ja richtig in Gefahr“, und gehen ganz angstbesetzt nach Hause.
({1})
Dass es die Grünen nicht ganz leicht haben, ist verständlich. Klar ist übrigens: Wir haben es auch nicht
ganz leicht. Man muss schon sagen: Vielleicht wird ja
das Ross, auf dem man sitzt, kleiner, wenn man sich anschaut, wie Herr Kretschmann agiert. Wir wollen uns gar
nicht hinter Herrn Kretschmann verstecken, wir sagen
nur: Auch er trägt Verantwortung, und die Ministerpräsidenten beschließen einstimmig. - Es gibt also schon
asymmetrische Machtverhältnisse, die wir in den Blick
nehmen müssen. Auch haben wir mit der CDU, anders
als die Grünen, keine geheimen Nebenabsprachen. Wir
agieren ganz offen. Immerhin merkt man daran, dass Realpolitik manchmal dazu geeignet ist, wieder geerdet zu
werden, und dass wir alle hier ziemlich normal sind.
({2})
Wir hätten uns gewünscht, dass uns die Grünen und
auch die Linken in diesem schwierigen Verfahren gezeigt
hätten, welchen Weg sie gehen wollen. Das wäre schön
gewesen. Dann hätte ich heute über Anträge schimpfen
können, die sie gestellt haben. Das kann ich nicht, weil
man über eine leere Menge schlecht etwas sagen kann.
({3})
- Vorsicht jetzt! - Ganz anders ist es bei der CSU.
({4})
Die CSU wollte ja die Steuer auf große Erbschaften zinslos und ohne Ratenzahlung einfach so zehn Jahre stunden.
({5})
- Na ja, der Erbe ist ja nicht tot; er erbt doch. Und ihm
sollen wir für zehn Jahre die Steuer stunden? Jetzt stelle
ich mir einmal vor, was los wäre, wenn ein Arbeitnehmer
sagen würde: Ich kann die Lohnsteuernachforderung in
diesem Jahr nicht zahlen. Kann ich das später machen? Da ist eine Asymmetrie in der Betrachtung.
({6})
Es geht um das Gefühl für Gerechtigkeit, und wir haben
das Gefühl, dass das, was ihr wollt, ungerecht ist.
({7})
- Ja, ich stimme Kompromissen immer zu, weil der
Kompromiss an sich einen eigenen Wert hat,
({8})
und wir werden alle hier sehr bescheiden; das habe ich ja
gerade gezeigt.
Fänden Sie es richtig, die Cash-GmbH, eines der größten Schlupflöcher, zu reaktivieren?
({9})
- Nein, ich rede von Zielen, die die CSU hatte. Im Vergleich zu diesen Zielen ist unser Erfolg ziemlich groß.
({10})
Wertvolle Immobilien von Brauereien und ähnlich
gelagerten Unternehmen wollen wir per Gesetz begünstigen. Wir schreiben also ein Steuersparmodell für eine
Branche ins Gesetz. Seit wann machen wir als Finanzer
denn so was?
({11})
Wir stehen hier immer und rufen: Steuerschlupflöcher
stopfen! Die Reichen entweichen ärgerlicherweise durch
die Schlupflöcher! - Und jetzt wollt ihr die Schlupflöcher
ins Gesetz schreiben? Das ist eine Sache, die wir überhaupt nicht nachvollziehen können.
Diese mehrfache Privilegierung, die es jetzt gibt, ist
nichts Tolles: Der Unternehmenswert sinkt bei Familienunternehmen um fast 30 Prozent; darüber kann man
streiten. Ein Kapitalisierungsfaktor von 18 war euch zu
viel. Aber was ist mit 13,75?
({12})
- Ja, das ist eure Meinung. Die ist aber falsch. Deshalb
trage ich das ja vor.
({13})
Also, ein Abschlag von 30 Prozent bei Familienunternehmen ist schwierig. Das ist ein Abschmelzmodell.
Wenn ein Arbeitnehmer sagen würde: „Lass uns mal über
ein Abschmelzmodell reden“, dann würde man sagen:
Moment! Das hätte in fiskalischer Hinsicht, also auf der
Einnahmeseite, riesige Konsequenzen. Das ist a priori
unmöglich. Das kommt überhaupt nicht infrage. - Über
solche Sachen haben wir aber nachgedacht.
Dazu muss man auch sagen, dass die CSU die CDU
manchmal ein bisschen am Nasenring herumführt.
({14})
- Doch, das stimmt schon. - Wer versucht, vor dem Hintergrund der insgesamt schwierigen Lage und der Forderungen der CSU, diesen Kompromiss zu bewerten, der
ahnt, warum wir trotzdem einigermaßen zufrieden sind.
Angesichts der Rahmenbedingungen schauen wir also
optimistisch in die Zukunft.
({15})
Es ist richtig: Nach dem Gesetz ist vor dem Gesetz, und
den Rest entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
({16})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Anja
Karliczek für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Besucherinnen und Besucher! In der
letzten Dreiviertelstunde haben wir die meisten Argumente schon gehört. Ich bin die Vorletzte, die hier vortragen darf, und will daher nur ein paar Punkte herausgreifen.
Lieber Lothar Binding, ich fange mit der Bewertung
von Betriebsvermögen an.
({0})
Unternehmenswerte bis zum 18-Fachen des Ertragswertes: Geh einmal hin und kauf zu diesen Bedingungen ein
Unternehmen und versuch, damit glücklich zu werden
und damit Geld zu erwirtschaften.
({1})
Frag mal die mittelständischen Unternehmer im Münsterland, ob ihre Unternehmen so viel wert sind. Ich bin
gespannt, was sie dir dazu sagen.
({2})
Das ist total unrealistisch. Meiner Meinung nach ist auch
das 13,75-Fache noch sehr ambitioniert.
({3})
Das 12,5-Fache wäre besser gewesen; aber auch das wäre
noch nicht gut gewesen; denn auch das wäre noch zu viel.
({4})
Zweiter Punkt. Zur Frage nach der Verfassungsfestigkeit, die hier ständig im Raum steht: Ich glaube nicht,
dass es unsere Aufgabe ist, den Verfassungsrichtern ihre
Arbeit abzunehmen.
({5})
Wir sind der Gesetzgeber. Wir halten uns an das, was uns
als Aufgabe ins Arbeitsbuch geschrieben wurde.
({6})
Diese Aufgabe haben wir erfüllt. Wir haben ein Gesetz
auf den Weg gebracht, das die Verschonung größerer BeLothar Binding ({7})
triebsvermögen am wirklichen Verschonungsbedarf ausrichtet - Punkt.
({8})
Drittens. Zur Beachtung gesellschaftlicher Verfügungsbeschränkungen - dieser Punkt ist bisher noch
nicht angesprochen worden; aber er ist, wie ich finde, bedenkenswert -: Gesellschaftsverträge, die Gesellschafter
eng an das Unternehmen binden, haben finanzielle Auswirkungen. Deswegen ist es richtig und wichtig, dass
dies zukünftig bei der Berechnung der Steuer mit einem
Abschlag berücksichtigt wird. Gerade solche Punkte zeigen doch den Unterschied zwischen Kapitalgesellschaften und Familienunternehmen oder Unternehmen, die in
Familienhand sind.
So weit zu einigen der neuen Regelungen. Worum
geht es denn nun wirklich? Unser Land, Deutschland, ist
mittelständisch strukturiert. Es gibt ungefähr 3,7 Millionen Unternehmen in Deutschland. Davon haben 3,6 Millionen weniger als 100 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte. Nur etwa 57 700 haben bis zu 250 Mitarbeiter,
und nur 13 000 Firmen haben mehr Mitarbeiter. Diese
kleinteilige mittelständische Struktur funktioniert wunderbar.
Wir brauchen aber auch die größeren familiengeführten Unternehmen, und um die ging es jetzt bei den Änderungen; denn das Bundesverfassungsgericht hat ganz
klar gesagt: Es geht nicht um die Verschonungsnotwendigkeit an sich, sondern nur um die Frage der Weite der
Verschonung. - Der gesunde Mix, wie wir ihn heute haben, hat uns so stark gemacht, und deshalb ist es auch
wichtig, dass wir das erhalten, was wir haben. Damit
bleiben wir, was wir gerade in dieser schwierigen Zeit
sind: wirtschaftlich stark.
Ein gesundes Unternehmen zahlt nämlich Steuern,
stellt Arbeitsplätze bereit und - Christian von Stetten hat
es eben sehr schön gesagt - engagiert sich in der Regel
auch vor Ort. Dies für die Zukunft zu erhalten, ist gerade heute, gerade in einer sich schnell verändernden Welt
mehr wert, als wir heute ermessen können.
({9})
In den kommenden Wochen, Monaten und Jahren
haben wir aus meiner Sicht vielfältige große und kleine Aufgaben zu bewältigen, und wir brauchen an vielen
Stellen starke und leistungsfähige Unternehmen. Die Digitalisierung wird hohe Investitionen erfordern, unsere
älter werdende Arbeitnehmerschaft braucht andere Arbeitsplatzbedingungen, um gut und gesund arbeiten zu
können. Auch die Integration, die wir bewältigen müssen,
kann nur durch Arbeit zum Erfolg geführt werden. Wer
macht das alles? Das machen in unserem Land unsere
starken und innovativen Unternehmen. Dafür brauchen
wir sie, und deswegen sollten wir ihnen immer schön die
Hand schützend über dem Kopf halten.
({10})
Dass für all diese Aufgaben auch Zeit und finanzieller
Atem da sein müssen, ist ja wohl klar. Daher ist es gut
und richtig, dass der Vermittlungsausschuss ein Ergebnis gefunden hat, mit dem jetzt hoffentlich auch alle leben können; denn ich habe den Eindruck, dass niemand
Verständnis dafür hat, wenn wir keine Lösungen für Detailfragen finden und uns stattdessen immer wieder in
ideologischen Gefechten verbeißen. Die Menschen in
unserem Land haben ein Recht darauf, dass wir uns nicht
im Klein-Klein verheddern, sondern dass wir endlich den
Blick nach vorn richten.
Unsere mittelständische Unternehmenslandschaft mit
ihren vielen Familienunternehmen können wir nur dann
erhalten, wenn die Belastungen gerade in einer Phase des
Übergangs nicht überhandnehmen. Familienunternehmen investieren langfristig. Nur die wenigsten von ihnen
können eine hohe Erbschaftsteuer aus irgendwelchen Ersparnissen bezahlen. Uns als politisch Verantwortlichen
kann auf keinen Fall daran gelegen sein, dass Unternehmensanteile verkauft werden müssen, um Forderungen
des Finanzamts gerecht zu werden.
({11})
Das würde unsere Unternehmenslandschaft definitiv verändern, lieber Lothar Binding,
({12})
und zwar so, wie es weder euch noch den Linken gefallen
könnte.
Wichtig ist doch vor allem, dass die Unternehmen nun
endlich Klarheit bekommen und dass die Zeit der Unsicherheit für sie vorbei ist, dass sie wissen, worauf sie sich
einstellen müssen. Gerade in einer unsicheren Zeit sind
Planbarkeit und Verlässlichkeit schon ein Wert an sich.
Dass es dabei bleibt, liegt nun am 14. Oktober in den
Händen der Ländervertreter. Ich hoffe sehr, dass dieses
Gesetz auch dort Zustimmung findet.
Vielen Dank.
({13})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat in dieser Runde Dr. Philipp Murmann für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir erleben das durchaus: Die Erbschaftsteuer ist eine sehr emotionale Sache.
({0})
Das hat natürlich auch dazu beigetragen, dass der Prozess
so lange gedauert hat, bis wir diese Einigung, die nun auf
dem Tisch liegt, gefunden haben. Aber ich kann Ihnen
sagen: In den Familienunternehmen ist die Erbschaft eine
genauso emotionale Sache.
Frau Hajduk hat das betriebliche Vermögen dem Vermögen anderer Art gegenübergestellt. Das ist natürlich
ein Thema, das in der Diskussion aus meiner Sicht eine
größere Rolle spielt; denn es ist natürlich ein Unterschied,
ob ich ein betriebliches Vermögen oder sozusagen einen
Sack Geld erbe. In vielen Familien geht es um die Frage:
Kann ich es eigentlich der nächsten Generation zumuten,
diesen Betrieb erfolgreich weiterzuführen, oder wäre es
nicht besser, ihn zu verkaufen, den Sack Geld zu nehmen
und die 30 Prozent zu zahlen? - Das ist in jeder Familie
eine große Diskussion, und diese Fragestellung kommt
in der politischen Auseinandersetzung meines Erachtens
viel zu kurz.
({1})
Sie haben es natürlich zu Recht gesagt - und es ist
auch so -: Familienunternehmen stehen in unserer Gesellschaft ganz anders da als Konzerne. Wir kennen ja
viele: Lürssen, Freudenberg, Boehringer Ingelheim und
wie sie alle heißen. Einige von uns haben sie in ihren
Wahlkreisen. Gerade bei den großen Unternehmen unter
ihnen, auf die ich gleich noch einmal zu sprechen komme, ist es natürlich noch etwas ganz Besonderes. Sie nehmen in der Regel eben auch eine große Verantwortung
wahr, erstens gegenüber ihren Mitarbeitern und deren
Familien, aber zweitens auch in ihrer Region.
Wir können eindeutig feststellen, dass gerade in Krisenzeiten versucht wird, die Mitarbeiter zu halten, auch
aus sozialen Gesichtspunkten und Aspekten. Auch das ist
ein Wert an sich, und er geht auch mit diesem Betriebsvermögen einher. Deswegen kann man nicht Betriebsvermögen und Geldsäcke direkt miteinander vergleichen.
Aus meiner Sicht sollte man sogar mit den Richtern, die
sich mit diesen Fragen beschäftigen, noch einmal darüber diskutieren, wie das in Zukunft für die Gesellschaft
insgesamt zu sehen ist. Ich bin nun kein Jurist. In juristischer Hinsicht ist das sicherlich auch ein Thema. Das
verstehe ich schon.
({2})
- Die Arbeitnehmer könnten das auch erben. Das ist sogar in vielen Betrieben so, aber meistens nur in Familienunternehmen. Über die Siemens-Stiftung zum Beispiel
gibt es auch einen Anteil für die Mitarbeiter, was bei Aktiengesellschaften völlig unüblich ist.
Aus meiner Sicht gibt es auch noch ein anderes Argument. Ich glaube, dass die Erbschaftsteuer ein relativ
kurzsichtiges Instrument ist. Denn wir haben etwa 3 Millionen Familienunternehmen, und ungefähr alle 30 Jahre
wird vererbt. Das heißt, es gibt etwa 100 000 Erbschaften
pro Jahr, bei denen dieses Thema eine Rolle spielt. Klar,
es gibt die Verschonung bei den kleinen Unternehmen,
die aus meiner Sicht sehr gerechtfertigt ist. Aber Sie müssen bei den großen Unternehmen 30 Prozent aus dem
Unternehmen nehmen.
({3})
- Nein, es sind in etwa 100 000 Erbschaften, die pro Jahr
anfallen. Viele werden natürlich verschont. Deswegen
spielen sie im Moment keine Rolle.
Mein Argument ist, dass die Erbschaftsteuer als solche
ein relativ kurzsichtiges Instrument ist. Aus meiner Sicht
wäre es viel sinnvoller, das Geld im Unternehmen zu belassen, statt die 30 Prozent in dem Moment aus dem Unternehmen zu nehmen und zu vereinnahmen. So können
Mitarbeiter eingestellt werden, die Lohnsteuer zahlen
und konsumieren. Die Unternehmen müssen investieren.
Sie zahlen Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und anderes. Das ist über 30 Jahre gesehen aus meiner Sicht viel
einträglicher - auch für die Finanzminister der Länder -,
als wenn der Staat einmalig die Erbschaftsteuer von den
Unternehmen bekommt. Insofern, finde ich, sollte man,
wenn man das Thema noch einmal aufmacht - ich hoffe,
dass das jetzt erst einmal nicht passiert -, noch einmal
darüber nachdenken, ob es wirklich solch ein intelligentes Instrument ist, wie mancher jetzt aus dem Bauch heraus argumentiert.
Wir haben nun einen Kompromiss gefunden. Wir haben über Alternativen, nämlich über die Einführung eines einheitlichen Steuersatzes oder von vielleicht zwei
Steuersätzen, diskutiert. Die Argumente dazu, denke ich,
sind ausgetauscht. Ich persönlich habe auch eine gewisse Sympathie für solch ein relativ einfaches Modell, das
natürlich viel Planungssicherheit und Verlässlichkeit mit
sich bringt.
Wir haben jetzt den Kompromiss. Das ist erst einmal
gut. Aber er hat aus meiner Sicht einen großen Nachteil
für Unternehmen ab einer Schwelle von 90 Millionen
Euro, zumindest dort, wo nur ein oder zwei Erben nachkommen; denn in diesen Fällen wird wirklich Geld aus
den Unternehmen herausfließen. Das sind vielleicht nicht
allzu viele Fälle, aber diese Fälle sind sehr relevant, weil
es sich häufig um Unternehmen handelt, die Weltmarktführer sind. Dadurch werden sich ihre Strukturen verändern; ein paar Namen habe ich bereits genannt.
Wir haben natürlich auch das Problem, dass es eine
sehr komplizierte Regelung ist und dass es wegen der
Bewertungsgeschichte sicherlich zusätzliche Verfahren
und zusätzliche Diskussionen geben wird. Jeder, der
schon einmal eine Betriebsprüfung im Unternehmen mitgemacht hat, weiß, wie da diskutiert und verhandelt wird.
Das kostet die Finanzministerien Zeit, aber das kostet
auch den Unternehmer Zeit.
Ich möchte mit dem Positiven enden; auch das müssen wir natürlich erwähnen. Ich denke, dass das Verschonungsmodell bestehen bleibt und auch vom Verfassungsgericht akzeptiert wurde, ist grundsätzlich richtig. Dass
wir das Abschmelzmodell und keinen Fallbeileffekt haben, ist sicherlich ein sehr positiver Aspekt. Dass die Investitionsklausel bleibt, ist absolut zu begrüßen; ich halte
das für notwendig und denke, das ist im Sinne aller. Der
Wertansatz hätte etwas anders und realistischer sein können. Wir sind uns jedenfalls in vielen Bereichen einig.
Ich möchte noch einmal allen, die über viele Jahre daran mitgearbeitet haben, Dank sagen. Herr Staatssekretär
Meister hat sich viel Mühe gegeben und musste mit vielen, die hier sitzen, aber auch mit vielen anderen PersoDr. Philipp Murmann
nen sehr viele Stunden über dieses Thema reden. Carsten
Schneider, Ralph Brinkhaus und auch Gerda Hasselfeldt
haben einen Kompromiss ausgehandelt, der die Basis dafür war, dass wir uns am Ende geeinigt haben.
Die Stärke Deutschlands ist auch die Bereitschaft zum
Kompromiss. Insofern würde ich mich freuen, wenn dieser nun errungene Kompromiss durchträgt und im Bundestag, im Bundesrat, aber auch von den Gerichten und
auch von der Gesellschaft mitgetragen wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit ist die Aktu-
elle Stunde beendet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf:
a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD
Innovativer Staat - Potenziale einer digitalen
Verwaltung nutzen und elektronische Verwaltungsdienstleistungen ausbauen
Drucksache 18/9788
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-
sicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Digitale Verwaltung 2020
Regierungsprogramm 18. Legislaturperiode
Drucksache 18/3074 ({1})
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgen-
abschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss Digitale Agenda
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dieter
Janecek, Dr. Konstantin von Notz, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Stillstand beim E-Government beheben - Für
einen innovativen Staat und eine moderne
Verwaltung
Drucksache 18/9056
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({3})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre dazu
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat
Dr. Tim Ostermann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({4})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Viele Bereiche
des Lebens laufen mittlerweile digital ab: Kommunikation, Information, Einkaufen, Lernen, um einige wenige
Beispiele zu nennen. Wenn es dann aber um den Kontakt
mit Behörden geht, wird man vielfach noch auf den analogen Weg gezwungen.
Ein Report der Europäischen Kommission zum Thema „Digitale Verwaltung“ sagt, dass Deutschland unter
den 28 EU-Staaten auf Platz 18 liegt, hinter Italien und
knapp vor Zypern. Auch die Nutzerzahlen sind besorgniserregend. Im vergangenen Jahr haben gerade einmal
45 Prozent der befragten Deutschen E-Government-Angebote in Anspruch genommen. Damit hinken wir den
Schweizern um 20 und den Österreichern um fast 30 Prozentpunkte hinterher. Diese Umstände haben den Nationalen Normenkontrollrat zu dem harschen Urteil veranlasst, E-Government gebe es de facto in Deutschland
nicht. All dies macht deutlich: Deutschland muss, um den
Anschluss nicht zu verlieren, schnell aufholen. Diesen
Rückstand können wir uns nicht dauerhaft erlauben.
({0})
Was sind die Vorteile einer digitalen Verwaltung für
den Nutzer, Bürger, Unternehmer? Zum einen ist es die
Zeiteinsparung - weniger Behördengänge, kein Porto
mehr, schnellere Bearbeitung -, zum anderen der Komfort: Man kann von zu Hause aus oder von unterwegs auf
die digitalen Angebote zugreifen.
Wesentliche Akteure sind die Verwaltungen. Machen
wir uns nichts vor: Für die öffentliche Verwaltung ist die
Digitalisierung die größte Herausforderung der nächsten
Jahre. Viele Verwaltungen tun sich noch schwer. So sieht
weniger als ein Viertel der Behördenleiter einen Nutzen
darin, Bürger in die Gestaltung digitaler Verwaltungsleistungen einzubeziehen. Da ist noch deutlich Luft nach
oben. Wir brauchen einen Anschub für die digitale Verwaltung. Wir brauchen Rahmenbedingungen für die Verwaltung der Zukunft. Diesen Anschub, diese Rahmenbedingungen bietet das Regierungsprogramm „Digitale
Verwaltung 2020“, das wir heute ebenfalls beraten.
Die Bundesregierung möchte und muss Vorreiter für
die übrigen Ebenen sein. Dies gilt übrigens auch für den
Grundsatz, dass es bei der Organisation der eigenen IT
eine einheitliche Zuständigkeit und übergreifende Planung geben muss. Das Bundesinnenministerium geht
hier mit gutem Beispiel voran; denn es bündelt seine IT
in einem Rechenzentrum, das dem Bundesfinanzministerium unterstellt ist. Wer sich nur ein bisschen in der
Bundesverwaltung auskennt, der mag erahnen, was für
Brocken hierfür aus dem Weg geräumt werden mussten.
Johannes Ludewig, der Vorsitzende des Nationalen
Normenkontrollrats, kennt sich in der Bundesverwaltung
aus. Darum ist sein Lob nachvollziehbar und belegbar er hat die entsprechenden Erfahrungen gesammelt -,
wenn er sagt: „In unserem von Zuständigkeitsdenken geprägten System hat dies Mut erfordert.“ Wir geben ihm
recht und danken Ihnen, sehr geehrter Herr Staatssekretär
Krings, stellvertretend für Ihr gesamtes Haus für diesen
Mut.
({1})
Ich zitiere nochmals Johannes Ludewig, wenn ich sage:
Diesen Mut wünschen wir uns auch von anderen.
({2})
Mit unserem Antrag, den wir heute beraten, machen
wir deutlich, dass wir das Regierungsprogramm unterstützen. Wir setzen aber auch eigene Akzente,
({3})
zum Beispiel beim Thema eID, bei der Onlineausweisfunktion für den neuen Personalausweis. Wir müssen
den Verbreitungsgrad der eID deutlich erhöhen. Derzeit
beißt sich dort die Katze in den Schwanz. Es gibt kaum
Nachfrage und daher auch kaum Angebot; umgekehrt
ist es natürlich ebenso. Darum sagen wir: Wir müssen
hier deutlich besser werden. Wir schlagen vor, dass die
eID-Funktion grundsätzlich eingeschaltet sein und lediglich auf ausdrücklichen Wunsch hiervon abgesehen
werden sollte.
Über die eID hat man auch Zugang zu den geplanten
Bürgerkonten. Jeder Bürger soll Zugang zu einem digitalen Konto erhalten, und zwar ebenenübergreifend. Das
heißt, es soll nicht nur für Dienstleistungen des Bundes
gelten, sondern auch für Dienstleistungen der Länder und
der Kommunen. Das muss medienbruchfrei erfolgen. Ich
will hier ausdrücklich sagen: Es macht keinen Sinn, wenn
digital erstellte Dokumente ausgedruckt, unterschrieben
und im Original übersendet werden müssen.
Wir haben auch erkannt, dass der größte Hemmschuh
bei der Digitalisierung der Verwaltung der oftmals fehlende Wille zur Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen ist. Wir brauchen eine bessere und
verbindlichere Koordinierung. Darum ist unser Vorschlag, den IT-Planungsrat zu stärken. Hier mangelt es
noch an politischer Durchschlagskraft.
Wir brauchen eine föderale E-Government-Infrastruktur, wie auch vom Nationalen Normenkontrollrat
gefordert. Wir brauchen eine gemeinsame Plattform für
gemeinsame Entwicklungen über die föderalen Ebenen
hinweg.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die deutsche Verwaltung gilt in vielen Ländern als Vorbild. Das muss
aber auch für die digitale Verwaltung gelten. Im Zuge
der Migrationskrise ist es uns gelungen, den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Ebenen deutlich zu
verbessern. Daran sieht man: Manchmal braucht es etwas Druck, dann ist der Aufbau einer digital vernetzten
Verwaltung möglich. Vor allem aber ist es ermutigend,
zu sehen, dass der Föderalismus kein unüberwindbares
Hindernis darstellen muss.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Als nächster Redner hat Frank Tempel von der Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen
und Kollegen! Wenn wir über E-Government reden, also
über digitale Informationen und Leistungen vom Staat für
den Bürger, steht nicht die Frage im Vordergrund, ob das
grundsätzlich gut oder schlecht ist, sondern im konkreten
Fall stellen sich die Fragen, ob sich daraus ein Nutzen für
den Bürger ergibt und ob das ein Gewinn für den Verwaltungsablauf ist. Das sind die Fragen, die wir uns stellen
müssen. Wir Linken sehen vor allem das Potenzial, das
im E-Government steckt. Das muss dann aber auch zum
Vorteil der Bürgerinnen und Bürger genutzt und gestaltet
werden.
Wie eine solche Gestaltung aussehen kann, haben wir
in einem Sondervotum - gemeinsam mit SPD und Grünen; so etwas geht - der Projektgruppe „Demokratie und
Staat“ der Enquete-Kommission „Internet- und digitale
Gesellschaft“ aufgezeigt.
({0})
Ich darf in diesem Zusammenhang noch einige Punkte
nennen.
Gesetze und Prinzipien des Datenschutzes und der
Mitbestimmung der Beschäftigten müssen auf allen Ebenen verwirklicht werden. Die öffentliche Verwaltung
muss für den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern
verlässliche, transparente, demokratisch kontrollierte
und umfassend interoperable Infrastrukturen anbieten. Es
sollten offene Standards, zum Beispiel bei Dokumentenformaten, Signaturen oder Softwareanwendungen, eingesetzt werden. Im Idealfall wären das Standards ohne
Patentrechte. Wenn Software entwickelt wird, ist auf eine
breite Weiterverwendbarkeit zu drängen. Die Lizenzierung als freie Software bietet uns diese Möglichkeiten.
Die Ausschreibungen im Bereich E-Government haben soziale und technische Kriterien zu berücksichtigen,
zum Beispiel die Innovationsfähigkeit des Netzes und die
Stärkung der Grundrechte der Betroffenen. Außerdem
darf der Monopolbildung von Anbietern kein Vorschub
geleistet werden usw.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, einer Unterrichtung
der Bundesregierung vor fast zwei Jahren konnten wir
folgende Vision entnehmen - ich zitiere -:
Die Vision des E-Government ist, dass Informations-, Kommunikations- und Transaktionsprozesse zwischen Politik, Verwaltung, Bürgern und der
Wirtschaft von jedem Ort, zu jeder Zeit und mit
jedem Medium erfolgen können, und zwar schnell,
einfach, sicher und kostengünstig.
Ein toller Satz!
Wir schauen nun, was mit dieser Vision passiert ist.
Der Breitbandausbau ist wohl die wichtigste Voraussetzung, um digitale Angebote überhaupt nutzen zu können;
darin sind wir uns einig. Während Großstädte dies meistens bereits haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass auf
dem Lande - ich komme von dort - die Kaffeemaschine
häufig immer noch schneller als das Internet ist.
({1})
Ganz nebenbei: Für junge Menschen und auch für Selbstständige - auch für Mittelständler - ist das übrigens ein
Grund dafür, ländliche Regionen zu verlassen.
({2})
Welche Entwicklungen gibt es noch? Als die Linke
mit einem Antrag hier im Haus ein Informations- und
Transparenzgesetz forderte, wurde von der Großen Koalition groß angekündigt, den Entwurf eines Open-Data-Gesetzes vorzulegen. „Demnächst“ hieß es damals.
„Demnächst“ ist meiner Ansicht nach längst vorbei. Wo
ist dieser Gesetzentwurf? Für den Fall, dass Sie das doch
noch in dieser Wahlperiode anpacken wollen, möchte ich
Ihnen eine weitere Empfehlung aus dem Sondervotum
der Opposition aus der Enquete-Kommission vorlesen.
Dort steht:
Dazu gehören auch Verträge der öffentlichen Hand,
Public-private-Partnership-Verträge und andere
Verwaltungsdokumente. Diese sollen jedermann
zugänglich gemacht werden, wenn das öffentliche
Interesse an einer Einsicht das berechtigte Interesse der Anbieter am Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen überwiegt. Das gilt insbesondere für die Unterlagen zu Vergabeverfahren, bei
denen zum Teil hohe Haushaltsmittel verwendet
werden. Dazu zählen beispielsweise auch Gutachten
und Stellungnahmen, Verwaltungsvorschriften und
Verwaltungsanweisungen.
Das klingt zwar gut. Aber was haben wir bisher dazu?
Derzeit gibt es das Portal govdata.de mit einem zentralen Zugang zu Verwaltungsdaten aus Bund, Ländern
und Kommunen. Richtig gelungen ist aber auch das
noch nicht. Erstens. Dieses Portal ist noch zu unbekannt.
Zweitens. Erst 10 von 16 Bundesländern sind dabei. Drittens. Bisher ist der Umfang der eingespeisten Daten viel
zu gering.
({3})
Wir sehen aber die Notwendigkeit für mindestens zwei
weitere Portale im Bereich Infrastruktur: für Großprojekte in Verbindung mit digitaler Bürgerbeteiligung und
zum Bundeshaushalt.
Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen gibt es weitere Anforderungen an die Gestaltung von E-Government,
die aus unserer Sicht durchaus sehr sinnvoll sind. Dazu
gehört unter anderem eine verpflichtende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung bei allen IT-Großprojekten.
({4})
- Da könnten alle klatschen. - Kontraproduktiv für das
Vertrauen in E-Government sind deshalb die Pläne zur
Schaffung einer Bundesbehörde, die wiederum Methoden entwickeln soll, verschlüsselte Kommunikation auszuhebeln, wie es der Innenminister angekündigt hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sagen ja nicht,
dass nichts gemacht wurde. Aber wir sagen, dass deutlich zu wenig gemacht wurde. Ideen für die Nutzung der
Potenziale von E-Government liegen auf dem Tisch. Sie
müssen nur aufgegriffen werden. Dazu habe ich einen
Vorschlag: Stellen Sie sich zur Motivation einfach vor,
Sie würden mit E-Government die Deutsche Bank retten.
Schon wird das mit dem Tempo kein Problem mehr sein.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Mahmut
Özdemir für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Informationstechnische Systeme haben das
Verhältnis von Staat, Bürgerschaft und Wirtschaft grundlegend verändert. Daten sind die neue Währung in der
digitalisierten Welt. Auch unsere Rechtsordnung ist davon nicht unberührt geblieben; denn wir haben auf die
Lebenswirklichkeit der Menschen reagiert oder besser:
reagieren müssen.
Bund und Länder haben mit Artikel 91c Grundgesetz
eine notwendige Grundlage für die Zusammenarbeit geschaffen, die in den Vertrag zur Errichtung des IT-Planungsrates mündete. Zwischen den schriftlichen und den
mündlichen Erlass eines Verwaltungsaktes in § 37 Absatz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz ist der elektronische
getreten. Die elektronische Aktenführung und Dokumentenübermittlung hat in §§ 55a und 55b Verwaltungsgerichtsordnung Einzug erhalten; eine zugegeben sehr zaghafte Entwicklung.
https://www.govdata.de/
Ein Attest für die gesetzgeberische Zaghaftigkeit war,
dass sich das Bundesverfassungsgericht 2008 genötigt
sah, ein Grundrecht neu zu entwickeln: das Grundrecht
auf „Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“. Acht Jahre später überschreibt
die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 17. August 2016
einen prominent platzierten, ganzseitigen Artikel immer
noch: „Wir brauchen ein Digitalgesetz“.
Deshalb ist es wichtig, dass wir mit unserem Antrag
die Strategie der Bundesregierung unterstützen. Die
Wirtschaft hat es erkannt, den Komfort durch elektronische Dienste gewinnbringend einzusetzen. Nutzerdaten, elektronische Zahlungsmethoden und in Algorithmen verschwindende Suchbegriffe werden zu einer
Dienstleistung verschmolzen, die das Leben vereinfacht.
Diese Lebenswirklichkeit der Menschen müssen wir als
Staat aufnehmen. Staatliche Dienstleistungen müssen
komfortabel, sicher und zeitgemäß werden.
Die Sondernutzungsgenehmigung für Vereine, das
An- und Abmelden eines Kraftfahrzeugs, die Beantragung eines Personalausweises oder die Erstellung einer
Steuererklärung sind nur einige wenige Verwaltungsvorgänge, die durch elektronische Datenverarbeitung erheblich beschleunigt werden und sowohl für die Verwaltung
als auch für die Bürgerinnen und Bürger eine Vereinfachung darstellen - können. Ich betone bewusst „können“,
weil der Postweg und das persönliche Erscheinen nach
wie vor die Regel sind. Dies liegt auch, aber nicht nur am
mangelnden Vertrauen in diesen Kommunikationskanal.
Ein sicherer Zugang auf beiden Seiten, um persönliche Verwaltungsgänge auch digital erledigen zu können,
setzt eine sichere Authentifizierung voraus. Der neue
Personalausweis mit der eID stellt in der Anonymität
des Netzes endlich eine staatliche Schnittstelle dar. Das
wiederum bedeutet ein Mehr an Sicherheit. Zentralisiert
wird diese in einem Bürgerkonto, das als Plattform für
die sichere Übermittlung von Anträgen dient und dem
Staat die Möglichkeit gibt, demnächst Entscheidungen
zügig und kostensparend zuzustellen.
Rund 13 Milliarden Euro geben wir bundesweit für die
Informationstechnik aus. Die Bündelung der häufigsten
Verwaltungsprozesse könnte diese Kosten um ein Drittel
senken, wenn wir einmalig eine Investition von knapp
1,7 Milliarden Euro vornähmen. Die Interoperabilität
von IT-Systemen ist hierfür unerlässlich, um den Datenaustausch zwischen den Behörden zu vereinfachen, die
gemeinsam an einer Verwaltungsentscheidung arbeiten.
Aber auch der gesetzlich vorgesehene Datenaustausch
und die Amtshilfe unter den Behörden müssen hierbei
im Blick behalten werden. Die per Hand vorgenommene Datenübertragung von einem System in das andere ist
schlicht nicht zeitgemäß. Insbesondere im Bereich der
Sicherheitsbehörden können IT-Systeme für eine Zeitersparnis sorgen, die lebenswichtig ist.
({0})
Der richtige Weg ist hier eine gemeinsame Beschaffungsstrategie für die elektronischen Datenverarbeitungssysteme der am häufigsten in Anspruch genommenen Verwaltungsdienstleistungen. Den digitalen Flickenteppich gilt
es in einem strategisch vernünftigen, gemeinsamen Vergaberecht zu bündeln, ohne dabei den Schutzbereich von
Bund, Ländern und Kommunen zu verletzen.
Die Kommunen sind die erste Anlaufstelle bei der Inanspruchnahme von Verwaltungsdienstleistungen. Daher
befürchten die kommunalen Spitzenverbände zu Recht,
dass eine unverhältnismäßige Kostenbelastung durch das
E-Government entsteht. Ohne eine ständige, kostenintensive Fortbildung bei der Nutzung von IT-Systemen können wir dem öffentlichen Dienst eine solche Digitalwende nicht abverlangen. Die Garantie der Barrierefreiheit
wiederum darf nicht unter dem Kostenaspekt bewertet,
sondern muss als gesetzlicher Auftrag der Umsetzung
von Teilhabe betrachtet werden.
Die Kommunen sind bei all diesen Reformgedanken
die Instanz mit der notwendigerweise höchsten Anzahl
an Schnittstellen, wenn es um die Potenziale der digitalen Verwaltung geht. Die kommunalen Spitzenverbände
stärken wir daher bewusst mit einem mitentscheidenden
Mandat. Die Organisations- und Beschaffungshoheit der
einzelnen staatlichen Ebenen muss sich einem kollektiven Bewusstsein für Kostenersparnis und Verwaltungseffizienz unterordnen. Es geht nicht um zentralisierte Lösungen, sondern um eine verbindliche Vereinbarung des
Einsatzes von Modulen, die miteinander an den gesetzlich zulässigen und entscheidenden Stellen im Datenaustausch gekoppelt werden können. Die Abhängigkeit von
Hardware- und Softwaremonopolen zu durchbrechen,
ist hierbei mindestens ein gleichrangiges Motiv, da die
IT-Sicherheit für die Verwaltung entscheidend davon abhängig ist, dass die höchst sensiblen Daten der Bürgerinnen und Bürger nicht durch Backdoors abfließen können.
Egoismen und Eitelkeiten können wir überwinden,
wenn wir die Macht eines koordinierenden Vergaberechts
endlich ausüben. Nur so kann der Staat neue Maßstäbe in
der digitalen Welt setzen sowie den Datenschutz und das
Bewusstsein für den Datenschutz in den Mittelpunkt stellen. Es wird Zeit, dass die Verwaltung mit ihrer Präsenz
im Netz den Grundrechtsinhaber von einer vielleicht
selbst gewählten Unmündigkeit wieder zum Souverän
seiner eigenen digitalen Identität macht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Ein herzliches
Glückauf!
({1})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Dieter Janecek
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Lieber Dr. Ostermann,
ich war ein bisschen verwundert, dass Sie Herrn Dr. Ludewig in Bezug auf das Lob an Ihre Regierung erwähnt
haben. Ich kann mich noch gut an die Kernaussage seiner zwei Gutachten zum E-Government erinnern, die da
lautet: Es gibt in Deutschland gar kein E-Government. Man muss Ihnen aber zugutehalten: In der im Antrag Ihrer Fraktion enthaltenen Analyse sind Sie schonungslos
Mahmut Özdemir ({0})
und ehrlich. Die Daten, die uns vorliegen, können uns
nicht glücklich stimmen. So ist die Nutzerquote beim
E-Government im letzten Jahr von 45 auf 39 Prozent
gesunken. Wie manche wissen, war ich einmal österreichischer Staatsbürger. In Österreich liegt die Nutzerquote
bei 73 Prozent, in Schweden bei 75 Prozent und in Estland bei rund 70 Prozent. Zugegeben, es handelt sich hier
um kleinere Länder. Aber diese Länder sind beispielgebend und sind vorangegangen. Schließlich hat Österreich
ebenfalls einen dreistufigen Aufbau. Wir müssen uns
schon fragen - deshalb führen wir heute diese Debatte -:
Warum gelingt es uns in Deutschland nicht, hier besser
zu werden, und wie können wir endlich besser werden?
({1})
Kommen wir nun zu den Antworten. Einiges, was Sie
in Ihrem Antrag schreiben, ist durchaus richtig. Aber Sie
bekennen sich nicht klar zu zwei Prinzipien. Das eine
Prinzip lautet: Digital by default. Auf Deutsch bedeutet
das den Vorrang des Digitalen in der Verwaltung. Wenn
dieses Prinzip erst einmal gültig ist und die analogen
Vorgänge ergänzend erfolgen, weil Menschen nicht abgehängt werden dürfen, dann hätten wir eine ganz andere Verwaltungskultur. Das zweite Prinzip lautet: Once
only. Das bedeutet: Wenn Sie einmal Daten abgegeben
und freigegeben haben, dann muss die Verwaltung darauf zugreifen. Sie selber müssen die Daten nicht erneut
liefern.
Diese zwei Prinzipien muss man glasklar formulieren,
in ein Gesetz hineinschreiben und umsetzen. Solange
das nicht auf allen Ebenen passiert, werden wir weiter
so abgehängt bleiben, wie wir es heute sind. Das haben
Sie nicht getan. Dies ist, was Ihren Antrag anbelangt, ein
Versagen. Das steht aber in unserem Antrag. Deswegen
würden wir uns freuen, wenn Sie unserem Antrag heute zustimmen würden; denn dann würde es wirklich mit
dem E-Government, mit der digitalen Verwaltung, in
Deutschland vorangehen.
({2})
- Manche würden - das weiß ich - schon gerne applaudieren. Im Ausschuss Digitale Agenda, lieber Thomas
Jarzombek, sind wir uns ja bei vielen Themen parteiübergreifend nahe. Ich will aber heute sozusagen etwas Schub in die Diskussion hineinbringen; denn ich
glaube, dass wir wirklich Potenziale auszuschöpfen
haben - auch Herr Tempel hat das angesprochen -, die
gewaltig sind.
Es ist ja nicht so, dass schon alles gut läuft. In München zum Beispiel werden noch tausendfach Textprotokolle abgetippt. Das geschieht durch Mitarbeiter der
Stadtverwaltung, die das dann in Aktenordnern abheften. Ist das heute noch zeitgemäß? Ist das eine schöne
Beschäftigung? Ich glaube, die Verwaltung könnte stattdessen viele andere schöne Dinge - beispielsweise im
Rahmen der Flüchtlingsbetreuung - tun. In diesem Zusammenhang hat die Verwaltung übrigens gemerkt, dass
all die betreffenden Datensätze überhaupt nicht übertragbar waren. Das BAMF hat dann letztlich dafür gesorgt,
dass diese Datensätze vereinheitlicht werden konnten
und dass so eine Übertragung möglich wurde. Es wurde also auf diese Weise aus einer Schwäche eine Stärke
gemacht. Wir sollten versuchen, diesen Ansatz auch auf
vielen anderen Ebenen zu verwirklichen.
Man kann das auch einmal in Zahlen fassen: Wirtschaft und Verwaltung könnten allein 3 Milliarden Euro
dadurch sparen, wenn nur die Gewerbeanmeldungen, die
Baugenehmigungen und die Melderegistereinträge nicht
mehr länger papiergebunden erstellt würden. Das wäre
also eine ganze Menge Geld. Es ist auch gar nicht so
schwer, das zu machen. Die Frage ist: Woran liegt das?
Das liegt zum Teil - das haben Sie angesprochen - an
den Steuerungsprozessen. Wir leben in einem föderalistischen Staat, wodurch das Ganze nicht so leicht ist.
Deswegen muss der Bund, glaube ich, diese 1,7 Milliarden Euro als Anschubfinanzierung investieren. Bei
13 Milliarden Euro Gesamtbudget für IT-Kosten ist das
keine sehr hohe Summe. Das sollte aber nicht mehr im
IT-Planungsrat gemacht werden; denn der allein schafft
das, glaube ich, nicht.
Der österreichische Bundeskanzler hat die Zuständigkeit für E-Government damals ins Kanzleramt geholt. In
Österreich gab es einen Beauftragten, der das koordiniert
hat. Wir würden Ihnen vorschlagen, das an eine Koordinierungsstelle zu geben, die Durchschlagskraft hat. Das
haben wir momentan nicht. Wenn das aber nicht passiert,
kommen wir auch nicht wesentlich voran.
({3})
Ich komme - das wurde ja auch von Herrn Tempel
richtigerweise angesprochen - zum Thema Open Data.
Ich glaube, wenn wir Vereinheitlichungen vornehmen
und Synergien schaffen wollen, dann muss das auf der
Basis geschehen, dass die Daten offen und die Schnittstellen kompatibel sind. Es hilft uns nicht weiter, wenn
wir tausend Insellösungen haben, von denen manche
ja sehr beispielshaft und gut sind, wo wir es aber nicht
schaffen, das Ganze zusammenzuführen. Solange das
nicht auf der Basis von Open Data geschieht, werden wir
auch keinen Fortschritt erzielen.
({4})
Ich glaube, wir müssen uns bei dem Thema ein bisschen was trauen. Deswegen bitte ich Sie heute, sich
ernsthaft mit dem zu befassen, was wir an Vorschlägen
vorgelegt haben: Wir müssen bei den Investitionen vorangehen und eine Koordinierung schaffen. Es muss aber
auch das Prinzip des Vorrangs des Digitalen in der Verwaltung gelten. Weiter muss klar sein und verankert werden, dass der Bürger, wenn er Daten abgegeben hat, diese
nicht noch ein drittes, viertes oder fünftes Mal abgeben
muss. Wenn wir da einmal hingelangen, werden wir bei
der Nutzerquote von den 39 Prozent - da sind wir heute auf 50 Prozent oder 60 Prozent kommen. Es ist gut für
die Demokratie, die Wirtschaft und den Bürger, wenn wir
endlich eine gute digitale Verwaltung in unserem Land
bekommen. Das hilft allen, es hilft uns insgesamt. Ich
freue mich auf die Debatte.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Günter Krings für die Bundesregierung das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Wir haben in den letzten Monaten hier an dieser
Stelle viel über Veränderungen gesprochen - über Krisen, Reformen und Neuordnungen in unserem Land. Aus
dieser Zeit haben wir Lehren gezogen, aber wir haben
auch - gerade im letzten Jahr - aufs Neue den Wert einer
guten Verwaltung schätzen gelernt. Die Digitalisierung
der Verwaltung ist eben viel mehr als ein Wettbewerb der
schönen Worte, sie ist Ergebnis harter Arbeit. Dazu will
ich Ihnen ein paar Beispiele nennen.
Wir haben - das haben wir hier oft diskutiert - das
Asylverfahren digitalisiert. Der Kollege Ostermann hat
das angesprochen. All das haben wir innerhalb kürzester
Zeit an einem Tisch mit Bund, Ländern und Kommunen
geschafft. Das zeigt, dass so etwas geht, wenn die Sache
drängt.
Wir haben im Kabinett die Absenkung Hunderter
Formvorgaben beschlossen. Auch das waren große Hindernisse für eine elektronische Verwaltung. Mit dem
Gesetzentwurf zur E-Rechnung sorgen wir dafür, dass
Unternehmen ihre Rechnungen an Behörden künftig
elektronisch stellen können.
Wir arbeiten - auch mit dem Bundestag - daran, das
Gesetzgebungsverfahren zu digitalisieren. Noch in dieser
Legislaturperiode werden wir erste Pilotanwendungen
testen.
Ich könnte jetzt meine komplette restliche Redezeit
mit der Aufzählung von kleinen und großen Fortschritten
bestreiten.
({0})
Zu den Lehren aus den großen Kraftanstrengungen,
insbesondere was die Hochzeit der Flüchtlingskrise im
letzten Jahr betrifft, gehört auch, dass wir gut daran tun,
nicht nur über ungelöste Aufgaben zu reden - das tue ich
gleich auch noch -, sondern auch das herauszustellen,
was funktioniert und was wir geleistet haben.
An der Stelle würde ich gerne nicht nur den Kollegen, die hier bei Anträgen und vielen anderen Bereichen
mitgewirkt haben, sondern auch den vielen Verwaltungsmitarbeitern meinen Dank ausrichten, die bei diesen Projekten Digitalisierungserfolge überhaupt erst möglich
gemacht haben.
({1})
Aber ich will auch Themen nennen, bei denen wir in
puncto Digitalisierung besser werden müssen und besser
werden können. Ich will drei Punkte zur digitalen Verwaltung herausgreifen.
Erstens. Digitalisierung von Arbeitsabläufen. Viele sagen einfach: In der Verwaltung müssen wir die Abläufe
digitalisieren. Deshalb heißt das digitale Verwaltung. Das ist richtig, aber genauso richtig ist, dass Digitalisierung kein Selbstzweck ist. Deshalb müssen wir als
logische Vorfragen klären, ob die bestehenden Abläufe
in der Verwaltung in jedem Einzelfall überhaupt so sind,
dass man sie digitalisieren kann und vor allem dass man
sie auch digitalisieren sollte. Um es klar zu sagen: Ein
schlechter Prozess, der digitalisiert wird, ist einfach ein
digitalisierter schlechter Prozess. Da wird durch Digitalisierung an sich noch nichts besser.
({2})
Also stellt Digitalisierung auch eine große Chance dar,
Abläufe zu optimieren. Erst Abläufe prüfen, dann verbessern und anschließend digitalisieren, das ist die Sequenz, die richtig ist und Sinn macht.
({3})
Ich will einen zweiten, ganz wichtigen Punkt nennen:
Bürger- und Unternehmenskonten bei der Verwaltung.
Das ist ein wirklich dickes Brett, das es zu bohren gilt.
Wir haben in Deutschland viele gute Ideen. Wir verfügen
über gute Techniken und gute Angebote. Aber damit das
Angebot in der Breite genutzt wird, müssen wir es besser
zusammenbekommen. Es gibt viele Portale und viele Insellösungen in Bund, Ländern und Kommunen.
Aber auch hier kommen wir jetzt ein Stück weiter. Wir
werden einen Portalverbund einrichten, in dem wir alle
Verwaltungsportale vereinen und in dem jeder von einem
Serviceportal auf alle Dienstleistungen des Verbunds
zugreifen kann. Das haben wir mit den Ländern und
Kommunen so verabredet. Man kommt dann sozusagen
online mit einem Schlüssel in jede Verwaltung. Die Zugangsdaten für das Portal in Berlin können dann genauso
für das Portal in Mönchengladbach oder Herford genutzt
werden. Eine einmalige Registrierung reicht dann aus.
Mein dritter Punkt ist die IT-Sicherheit. Die ist nicht
nur in der Verwaltung relevant, aber eben auch dort. Die
Cyberbedrohungslage wird von Jahr zu Jahr kritischer.
Verfügbarkeit und Sicherheit der IT-Systeme haben eine
immer größere Bedeutung, auch bei der Modernisierung
der Verwaltung. Auch hier haben wir einiges getan - ich
nenne insbesondere das IT-Sicherheitsgesetz -, aber auch
hier wollen wir noch mehr machen. Wir erarbeiten derzeit eine neue Cybersicherheitsstrategie des Bundes, die
wir noch in diesem Jahr vorstellen wollen. Damit werden
die IT-Systeme sicherer, und damit schaffen wir mehr
Vertrauen aufseiten der Nutzer. Auch das ist ein wichtiger Punkt, um die Nutzerzahlen bei den vielen VerwalDieter Janecek
tungsangeboten zu erhöhen. Die sind in der Tat noch zu
niedrig, und die müssen wir verbessern.
Ich habe jetzt hier nur einige Erfolge, aber eben auch
offene Baustellen der digitalen Verwaltung beschrieben.
Lassen Sie mich aber auch aus meiner Erfahrung als Parlamentarischer Staatssekretär sagen: Bei der Digitalisierung geht es letztlich nicht nur um Nullen und Einsen,
sondern vor allem um Menschen, um ihre Arbeit und ihr
Kommunikationsverhalten. Wir müssen die Menschen in
der Verwaltung mitnehmen und motivieren und davon
überzeugen, dass diese Abläufe für sie besser werden.
Wenn wir Verwaltungsmitarbeiter vom Nutzen der Digitalisierung überzeugen wollen, dann geht das am besten,
wenn die Regierung mit gutem Beispiel vorangeht. Zur
digitalen Verwaltung gehört also auch die digitale Regierung.
({4}): Jawohl!)
Da - das müssen wir, glaube ich, ehrlich eingestehen haben wir auch noch eine große Baustelle vor uns. An offensichtlichen Zielen wie dem papierlosen Kabinett oder
einem modernen, digitalen Wissensmanagementsystem
müssen wir mit noch mehr Nachdruck arbeiten. Als Zeichen dafür, dass wir sehen, dass wir noch einiges zu tun
haben, habe ich auch nicht, wie der Kollege Ostermann,
meine Rede von einem Tablet-PC abgelesen, sondern
ganz analog vom Papier. Das zeigt, dass noch einiges zu
tun ist, auch bei uns.
({5})
Letztlich gilt hier das Gleiche wie für die digitale Verwaltung. Die Digitalisierung ist kein Zweck an sich; aber
klug eingesetzt kann sie für die Menschen die Qualität
des Arbeitens und die Qualität des Lebens verbessern.
Der Einsatz dafür lohnt sich.
Vielen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Saskia Esken
für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit, die Handlungsfähigkeit und die Durchsetzungsfähigkeit von Regierung
und öffentlicher Verwaltung ist eine wichtige Grundlage
für Rechtsstaat und Demokratie. Das ergibt sich nicht nur
aus der Entwicklung und Umsetzung großer politischer
Vorhaben; viel entscheidender ist dafür der alltägliche
Umgang des Staates mit seinen Bürgerinnen und Bürgern.
Eine moderne und effiziente öffentliche Verwaltung
begreift sich als Dienstleister. Als Nutzer erwarten wir
heute, dass wir unsere Behördengänge online und am
liebsten auch mobil erledigen können. Wir wollen uns
darauf verlassen können, dass es dabei sicher zugeht. Die
Daten, die ich mit der Behörde austausche, gehen sonst
niemanden etwas an.
Die Arbeit in einer solchen modernen Verwaltung ist
auch für Stauballergiker geeignet, weil sie auf Papierakten so weit wie möglich verzichtet. Auch sonst entspricht
moderne Verwaltungsarbeit den Anforderungen an einen
Arbeitsplatz von heute. Auch Verwaltungsmitarbeiter
wollen zeitflexibel und auch einmal von zu Hause aus
oder mobil arbeiten, und zwar in Teams, die ohne große
Umstände über Abteilungsgrenzen hinweg gemeinsam
einen Auftrag erledigen, ein Problem lösen. Warum sollte
Verwaltung das nicht können?
Leider hängt Deutschland im internationalen Vergleich beim E-Government deutlich hinterher. Egal welche Studie wir zurate ziehen, sie alle kommen zu einem
fast schon vernichtenden Urteil. Die Angebote der digitalen Verwaltung in Deutschland sind dürftig: in Anzahl
und Qualität, aber auch in ihrer Nutzung, also in der Akzeptanz.
Mit dem 2013 in Kraft getretenen E-Government-Gesetz, das jetzt nach und nach in den Bundesländern umgesetzt wird, ebenso wie mit dem Programm Digitale
Verwaltung 2020 geht es quälend langsam voran. Diese
ersten Schritte waren leider wenig konsequent und deshalb wenig wirksam. Ich bin deshalb dankbar, dass wir
uns mit den Kollegen und Kolleginnen der Unionsfraktion jetzt auf den nun vorliegenden Antrag zum E-Government einigen konnten.
Ein zentrales Vorhaben ist dabei das Bürgerkonto,
über das wir als Nutzer sicher mit der Verwaltung kommunizieren können. Als eindeutige Identifikation beim
Zugriff auf das Bürgerkonto dient die elektronische ID
des neuen Personalausweises. Bei allen neu ausgestellten Personalausweisen soll die eID deshalb voreingestellt
sein und nur auf Wunsch abgeschaltet werden können.
Damit dieses Bürgerkonto dann auch für weitere attraktive Onlineangebote genutzt werden kann, müssen
die wichtigsten Lebens- und Unternehmenslagen identifiziert werden. Solche häufig genutzten Dienstleistungen sollen dann vollständig digitalisiert werden mit
einer durchgängigen elektronischen Aktenführung und
mit einer nutzerfreundlichen Bedienung und bitte ohne
Schriftform und ohne persönliches Erscheinen zu verlangen, wenn das gar nicht notwendig ist.
Weil der digitale Staat in seiner Funktions- und Handlungsfähigkeit - Herr Krings hat es gesagt - durch cyberkriminelle Angriffe hoch gefährdet ist, muss er sich
besonders schützen. Die öffentliche Verwaltung muss
deshalb Vorreiter sein beim Umgang mit solchen Angriffen, beim Einsatz von IT-Sicherheitstechnik und bei der
Anwendung von IT-Sicherheitsverfahren. Zudem muss
die Verwaltung den Bürgerinnen und Bürgern sichere Ende-zu-Ende verschlüsselte Kommunikationswege
zur Verfügung stellen. Das Bundesamt für Sicherheit in
der Informationstechnik wollen wir in seiner DienstleisParl. Staatssekretär Dr. Günter Krings
tungs- und Beratungsfunktion auch für die öffentliche
Verwaltung stärken.
Wichtige Anliegen unseres Antrags sind zudem die
Transparenz staatlichen Handelns ebenso wie der Zugang zu und die Nutzung von Daten der Verwaltung. Wir
verdeutlichen deshalb nochmals das Ziel der Offenlegung von Verwaltungsdaten, und zwar nicht auf Antrag,
sondern proaktiv in einheitlichen, maschinenlesbaren
Formaten und unter freien Lizenzen. Herr Krings, Sie haben es zwar nicht angemerkt, es ist dennoch zu begrüßen:
Die Regierung wird bis Anfang 2017, wenn ich es richtig
sehe, ein solches Open-Data-Gesetz vorlegen.
({0})
Wir freuen uns darauf.
Auch in der öffentlichen Verwaltung ist der digitale
Wandel ein Kulturwandel - auch das wurde schon gesagt -, sowohl im Umgang mit Bürgerinnen und Bürgern
als auch in der Art, wie Behörden und Verwaltungsmitarbeiter zusammenarbeiten. Es ist dabei unerlässlich, das
Fachwissen und die Erfahrungen, aber auch die Bedürfnisse von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von vornherein in die Entwicklung von Organisationen, aber auch
von Verfahren einzubeziehen. Zudem müssen digitale
Kompetenzen, die technische und rechtliche Grundlagen
ebenso wie Medienkompetenz, aber auch offene digitale
Arbeitsformen umfassen, endlich Einzug halten in die
Aus- und Weiterbildung von Verwaltungsfachleuten.
Vom digitalen Staat, meine Damen und Herren, sind
wir noch meilenweit entfernt. Mit dem vorliegenden
Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, sich konsequent und gemeinsam mit den Ländern und Kommunen
auf den Weg zu machen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Als letzter Redner in dieser Aussprache hat Marian Wendt für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es sind biblische Zeiten in Deutschland,
({0})
zumindest was die Verwaltung angeht, nicht paradiesische; verstehen Sie mich nicht falsch. Unvorstellbar eigentlich, dass Menschen für manche Anliegen in ihren
Geburtsort zurückkehren müssen.
({1})
Wenn ein Kind geboren wird, steht eine wahre Ochsentour bevor: am ersten Tag zum Standesamt, am zweiten
Tag zur Krankenkasse, am dritten Tag gegebenenfalls
zum Jugendamt, am vierten Tag zur Kindergeldkasse.
Das ist in Deutschland Realität.
In der freien Wirtschaft dagegen können wir Tag und
Nacht jede digitale Dienstleistung in Anspruch nehmen,
nachts ein Paket bei Zalando oder Amazon bestellen,
und am nächsten Tag wird geliefert. Kredite online beantragen und genehmigt bekommen - alles kein Problem.
Aber alltägliche Dinge, die mit der Verwaltung zu klären
sind, brauchen länger. Eine einfache Wohnungsummeldung hier in Berlin nimmt zum Beispiel einen Monat Zeit
in Anspruch. Muss das so sein? Wir sagen: Nein. Mit unserem Antrag „Innovativer Staat“ ergänzen wir jetzt die
richtigen Schritte, die die Bundesregierung mit der Digitalen Agenda bereits getan hat.
Schön und gut, wenn man die Steuererklärung am heimischen Computer machen kann; aber wenn man sie am
Ende doch wieder ausdrucken muss, damit sie auf dem
Finanzamt entsprechend bearbeitet werden kann - dort
muss alles händisch eingetragen werden -, ist das kein
Schritt zur Verwaltungsmodernisierung oder -vereinfachung. Solche Medienbrüche kosten viel Zeit und Geld.
Sie müssen in Zukunft schleunigst und rigoros abgebaut
werden.
Viele Behörden, viele Datengrundlagen, viele komplizierte Plattformen - das bedeutet auch viel Aufwand, für
die Menschen ebenso wie für die Verwaltung. Mit der
Flüchtlingskarte und dem dazugehörigen Kerndatensystem haben wir es geschafft, alle diese komplizierten
Datengrundlagen, Schnittstellen und Plattformen auf der
kommunalen Ebene, auf der Länderebene und auf der
Bundesebene zu vereinheitlichen und miteinander zu
verknüpfen. Ich denke, es ist richtig, dass wir diesen Weg
konsequent weitergehen, so wie es die Kolleginnen und
Kollegen bereits angesprochen haben.
Warum sollte solch ein System nicht für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland nutzbar sein? Nach unserem Antrag sollen daher Bürgerkonten angelegt werden,
die als zentrale Zugangspunkte für alle Anliegen an die
Verwaltung genutzt werden sollen. Ein Zugang für alle
Anliegen bei allen staatlichen Stellen, alle Daten parat wie einfach könnte es dann sein! Wir müssten die Tage
nach der Geburt eines Kindes nicht auf verschiedenen
Ämtern verbringen, sondern könnten bei der Familie
sein.
Den Menschen in unserem Land ist es egal, ob der
Verwaltungsprozess, der hinter dem Anliegen steckt, digital ist, wer ihn bearbeitet. Für sie ist wichtig: Es muss
einfach sein, schnell gehen und funktionieren. Das ist
auch unsere Leitschnur für die digitale Verwaltung, nämlich nicht Digitalisieren um der Digitalisierung willen,
nicht die alten Prozesse einfach digital machen, einfach
in Computer einpflegen, sondern neue, der Technologie
angepasste Prozesse entwickeln, die der Funktion folgen.
Wenn man einen Führerschein digital beantragen kann,
stellt sich natürlich die Frage, ob das noch vom Landkreis vor Ort bearbeitet werden muss oder ob das zum
Beispiel zentral in Flensburg bearbeitet werden kann. Es
sind solche Fragen, die wir stellen müssen. Wir müssen
die Prozesse grundsätzlich hinterfragen.
Meine Damen und Herren, unser Antrag bringt die
digitale Verwaltung voran. Wir brauchen - um das zusammenfassend noch einmal festzustellen - einfachere
und leichter zugängliche Verfahren, am besten durch
die Schaffung eines über alle staatlichen Ebenen hinweg
nutzbaren Bürgerkontos, gekoppelt mit der eID-Funktion
unseres Personalausweises. Außerdem brauchen wir eine
möglichst umfassende zentrale Steuerung des digitalen
Wandels, damit die vielen kleinen Könige entmachtet
werden, die den Fortschritt derzeit behindern und an alten Systemen festhalten. Da ist - das muss ich leider feststellen - der Föderalismus in unserer Ausprägung - bei
aller Herrlichkeit - eine große Hürde, die wir hier zu nehmen haben. Wir brauchen weiterhin eine stete Evaluation
und Verbesserung in der Verwaltungsarbeit; denn das,
was heute richtig ist, kann morgen schon überholt sein.
Ich freue mich, dass wir hier sehr einhellig über dieses
Thema in erster Lesung beraten haben. Ich freue mich
auf die Ausschussberatung und denke, dass wir im Ergebnis unseren Antrag so beschließen können, damit die
Leute künftig nicht immer wieder in ihre Geburtsstädte zurückkehren müssen, um ihre Geburt nachzuweisen
oder Ähnliches. All das wollen wir künftig nicht mehr.
Ich wünsche uns viel Erfolg bei den jetzigen Beratungen.
({2})
Vielen Dank. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, damit schließe ich diese Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 18/9788, 18/3074 ({0}) und 18/9056
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 18/9056 - Tagesordnungspunkt 7 c - soll federführend beim Innenausschuss beraten werden. Sind Sie damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, ihre Plätze
einzunehmen, und rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Doris
Wagner, Elisabeth Scharfenberg, Christian Kühn
({1}), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Partizipation und Selbstbestimmung älterer
Menschen stärken
Drucksache 18/9797
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. Gibt es dazu
Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat
Doris Wagner von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie so
viele Menschen in Deutschland gehöre ich der Generation der Babyboomer an, und wenn ich mich hier bei uns
so umschaue, kann ich sagen: viele von Ihnen auch.
({0})
Wir Babyboomer sind jetzt so in den 50ern. Wir sind
eigentlich noch jung, fangen aber auch schon an, uns
Gedanken darüber zu machen, wie wir im Alter leben
wollen. Viele von uns jungen Alten sind noch fit und gesund. Wir sind familiär oder gesellschaftlich engagiert.
Vielleicht arbeiten wir über das Rentenalter hinaus weiter. Manche von uns haben eine Migrationsgeschichte,
manche leben in Familien, andere alleine, in größeren
Gemeinschaften, in Ehen oder in gleichgeschlechtlichen
Partnerschaften. Wir haben das Glück, dass das Alter
heute so bunt und vielfältig ist wie noch nie zuvor. Das
muss sich aber auch endlich in den Altersbildern in unseren Köpfen niederschlagen.
Übermorgen, am 1. Oktober, ist der Internationale Tag
der älteren Menschen, ein guter Anlass, um über die Frage nachzudenken: Was brauchen wir eigentlich, um im
Alter selbstbestimmt leben und uns weiterhin aktiv in die
Gesellschaft einbringen zu können? Die Voraussetzung
für gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung ist
natürlich eine solide finanzielle Absicherung. Deshalb
müssen wir die gesetzliche Rentenversicherung stabilisieren und eine Garantierente einführen.
({1})
Aber bei Partizipation und Selbstbestimmung geht es
natürlich nicht nur um finanzielle Ressourcen. Es geht
auch um die Möglichkeit, die ganz individuellen Vorstellungen von einem guten Leben im Alter umzusetzen. Ich
wünsche mir, so lange wie möglich in meiner eigenen
Wohnung zu bleiben. Wählen zu können, wo und wie ich
wohne, ist Grundlage meiner Selbstbestimmung.
({2})
Damit ich aber in meinen eigenen vier Wänden alt
werden kann, muss meine Wohnung barrierearm oder am
besten sogar barrierefrei sein. Ich brauche eine Wohnung
ohne Türschwellen, in der Dusche sollte es stabile Griffe
geben, und ich wünsche mir einen ebenerdigen Zugang
zu meiner Haustür. Zum guten Leben im Alter gehört
aber auch, dass ich mich in meinem vertrauten Viertel
fortbewegen und in der Gemeinschaft einbringen kann.
Ich möchte den Supermarkt und meine Hausärztin gut zu
Fuß erreichen können, ohne Stufen zu überwinden. Auf
dem Weg zur Bushaltestelle gibt es eine Bank, auf der ich
mich ausruhen kann, und ich wünsche mir Orte, an denen
ich meine Nachbarn treffen und mit ihnen in Austausch
gehen kann.
Natürlich möchte ich im Alter auch mal raus aus meinem Quartier. Dafür brauche ich ein gut ausgebautes
Nahverkehrsnetz mit Rampen, Rolltreppen und Aufzügen an allen Haltestellen und Bahnhöfen. Selbstverständlich müssen die Fahrkartenautomaten leicht für mich zu
bedienen sein.
Und schließlich: Wenn ich eines Tages auf pflegerische Unterstützung angewiesen bin, soll das nicht über
meinen Kopf hinweg geschehen. Ich will selber entscheiden, wie und von wem ich gepflegt werde, und wenn ich
das nicht mehr kann, sollen meine Familie und meine
Freunde Sprachrohr für mich sein.
({3})
Damit alle Menschen im Alter gut leben können,
brauchen wir eine grüne politische Strategie des aktiven
Alterns. Wir wollen altersgerechtes und barrierefreies
Wohnen stärker als bisher fördern. Dazu muss das Programm „Altersgerecht Umbauen“ der Kreditanstalt für
Wiederaufbau finanziell so ausgestattet werden, dass es
dem tatsächlichen Bedarf entspricht.
({4})
Wir möchten zudem einen Bewegungsfreiheitsbonus
einführen, der den Abbau von Barrieren auch im Wohnumfeld finanziell unterstützt.
Mit unserem Programm „Lotsen-, Informations- und
Vernetzungsbüros - LIVE“ fördern wir das Quartier als
Keimzelle des Zusammenlebens.
({5})
Die LIVE-Büros informieren über altersgerechtes Wohnen, Weiterbildungsangebote, Pflege und soziale Sicherung sowie Engagementmöglichkeiten. Außerdem sind
die LIVE-Büros ein Begegnungsort, der aktive Partizipation älterer Menschen ermöglicht. Man kann dort über
Umbaumaßnahmen im Viertel diskutieren oder gemeinsame Lösungen für lokale andere Probleme finden. Und
wir wollen das Nahverkehrsangebot in Städten und auf
dem Land ausbauen und barrierefrei gestalten. So ermöglichen wir es älteren Menschen, auch ohne eigenes Auto
selbstbestimmt mobil zu sein. Wir wollen das Recht auf
Selbstbestimmung auch denjenigen garantieren, die beeinträchtigt sind. Pflegebedürftige haben einen Anspruch
auf individuelles Fallmanagement und ein Pflegebudget.
Damit können sich die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen ihre Leistungen nach individuellen Wünschen
und Bedürfnissen zusammenstellen. Ganz wichtig: Diejenigen, die uns pflegen, sollen für ihre anspruchsvolle
Arbeit angemessen entlohnt werden.
({6})
Wenn wir heute an den zentralen Stellschrauben drehen - altersgerechtes Wohnen, Partizipationsmöglichkeiten im Quartier, barrierefreier ÖPNV und individuelle
pflegerische Unterstützung -, können wir im Alter selbstbestimmt und aktiv leben. Dann werden wir Babyboomer
und die Generationen nach uns glückliche Alte sein.
Vielen Dank.
({7})
Vielen Dank. - Als nächster Redner hat Heinz Wiese
von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Seit 1990
begehen wir am 1. Oktober den Internationalen Tag der
älteren Menschen, den die UNO eingeführt hat.
Im Oktober wird der siebte Altenbericht vorgelegt;
es ist tatsächlich schon der siebte. Er wird im Kabinett
beraten und den Titel „Sorge und Mitverantwortung in
der Kommune - Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger
Gemeinschaften“ haben. Mit diesem Bericht werden wir
uns auch hier im Plenum zu gegebener Zeit befassen.
Im Vorfeld der Debatte zum siebten Altenbericht geht
es heute um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Partizipation und Selbstbestimmung älterer Menschen stärken“. Bei der Lektüre dieses
Antrages könnte man allerdings den Eindruck gewinnen,
in den letzten Jahren hätte sich in der Seniorenpolitik des
Bundesministeriums nichts getan. Dem ist bei weitem
nicht so. Wir wissen ganz genau, liebe Kolleginnen und
Kollegen, dass wir bereits im fünften Altenbericht „Potenziale des Alters in Wirtschaft und Gesellschaft - Der
Beitrag älterer Menschen zum Zusammenhalt der Generationen“ die Potenziale älterer Menschen in den Fokus
genommen haben. Damals wurden in den Bereichen Erwerbsarbeit, Bildung, Einkommenslage, Seniorenwirtschaft, Familie und private Netzwerke, Engagement und
Teilhabe viele Potenziale untersucht und Handlungsempfehlungen gegeben. Viele dieser Handlungsempfehlungen sind mittlerweile umgesetzt. Ich nenne nur beispielhaft das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie,
Pflege und Beruf, die Weiterentwicklung des Programms
„Mehrgenerationenhaus“ und den Ausbau des Bundesfreiwilligendienstes.
({0})
Solche gesellschaftspolitischen Meilensteine sind Teil
der Erfolgsgeschichte unserer Großen Koalition.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, auch heute
bestimmt der Mensch im Alter selbstständig, welche Lebensqualität er sich vorstellt. Ältere Menschen möchten
möglichst lange selbstbestimmt und in vertrautem Umfeld leben. Wenn sie gegebenenfalls irgendwann hilfebedürftig werden, müssen entsprechende Maßnahmen
ergriffen werden. Verschiedene Maßnahmen und Programme sind bereits in die Wege geleitet. Die Kollegin
hat das Programm der KfW erwähnt, und es gibt noch
mehr. Ich meine, wir sind mittlerweile auf einem ganz
guten Weg.
Meine Damen und Herren, erst seit Anfang der
80er-Jahre wird der Eintritt in die Rente auch als Eintritt
in eine neue und interessante Lebensphase gesehen. Und
diese Lebensphase sollte auch noch neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Wenn man heute aus dem Berufsleben ausscheidet, hat man oft noch ein Viertel, manchmal
sogar noch ein Drittel seines Lebens vor sich, und zwar
häufig - Gott sei Dank! - auch bei guter Gesundheit.
Gleichwohl hat das Alter viele Gesichter. Es gibt auf
der einen Seite Hilfebedürftige, auf der anderen Seite
aber auch viele, die genauso alt und hoch kompetent sind.
Dieses Potenzialreservoir ist sehr wichtig und vielseitig.
Die Älteren haben einen Erfahrungsschatz, den wir nicht
missen wollen. Die Erfahrungen der Älteren gepaart mit
dem Wagemut der Jüngeren - das ergibt eine gesunde
Mischung.
({1})
Noch nie waren ältere Menschen so fit wie heutzutage.
Altern heißt mehr denn je: Pläne schmieden, umsetzen,
gewonnene Lebensjahre nutzen und mit Leben und Sinn
erfüllen. Wir brauchen daher ein neues Verständnis für
das Leben im Alter, das rüstige Senioren genauso wie hilfebedürftige Menschen im Fokus hat. Beide Facetten gehören dazu, wenn man die Lebenswirklichkeit betrachtet.
Ich bleibe dabei, meine Damen und Herren: Es wird
zunehmend wichtiger, dass wir die Potenziale des Alters
nutzen. Ältere Menschen sollten noch bessere Perspektiven bekommen. Wir sollten sie wissen lassen, dass wir
sie schätzen und brauchen.
Aus diesem Grund hat sich die Koalition - zunächst
einmal haben wir in der Fraktion beraten; die Beratungen
mit der Mittelstandsvereinigung haben etwas länger gedauert - auf die Flexirente geeinigt. Den Gesetzentwurf
zur Flexirente haben wir heute Mittag in erster Lesung
beraten. Meine Damen und Herren, ich muss sagen: Damit wird jetzt auch das erfüllt, was wir immer avisiert haben, nämlich dass sich längeres Arbeiten lohnt, und zwar
auch für den Arbeitnehmer. Das ist auch ein Schritt, um
die drohende Altersarmut zu bekämpfen.
({2})
Wer neben der Rente arbeitet, kann künftig seine späteren Rentenansprüche, seine Entgeltpunkte, aufbessern.
Zudem lässt sich der Übergang von Arbeit in Ruhestand
fließender und individueller gestalten. Die Flexirente ist
somit ein Gewinn für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. So
wird es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in
Zukunft auch erleichtert, Teilzeitarbeit und Teilrentenbezug zu kombinieren. Anstatt sich ganz aus dem Arbeitsleben zu verabschieden, können Arbeitnehmer in Teilrente
weiterarbeiten und so in den Ruhestand ausgleiten.
Alle Versicherten - auch das ist ein Riesenfortschritt werden künftig gezielt darüber informiert, welche Gestaltungsmöglichkeiten es für den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand gibt. Ich meine, diese Transparenz
war überfällig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, der
von Ihnen vorgelegte Antrag enthält zwar einige gute
Ansätze. Das reicht aber nicht. Und nur immer mehr zu
fordern, ist auch ein bisschen einfach. Alles, was wir fordern und durchsetzen wollen, muss auch solide finanziert
werden. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Vielen Dank.
Als nächster Redner hat Jörn Wunderlich für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Partizipation und Selbstbestimmung älterer Menschen
stärken“ - welch schöner Titel! Bekenntnisse zur Verbesserung der Lebenssituation von Seniorinnen und Senioren erklingen insbesondere vor Wahlkämpfen häufig laut
und vernehmbar. Danach sind sie kaum mehr zu hören.
Zu Unrecht, sage ich. Denn Seniorenpolitik ist angesichts
der demografischen und auch sozialen Entwicklung unserer Gesellschaft ein dringendes und wichtiges Thema.
Als seniorenpolitischer Sprecher meiner Fraktion
konnte ich mich in vielen Gesprächen auf Bundes-, aber
auch auf Landesebene und besonders in meinem Wahlkreis davon überzeugen, wie sehr die Lebensbedingungen vor Ort in den Kommunen und Städten die Qualität
des Lebens im Alter beeinflussen.
Jetzt fordern die Grünen in ihrem Antrag erstens, altersfreundliche Kultur und intergenerationelle Solidarität zu fördern, zweitens, diskriminierende Altersgrenzen
abzuschaffen, drittens, altersgerechtes und barrierefreies
Wohnen stärker als bisher zu fördern, viertens, älteren
Menschen selbstbestimmte Mobilität zu ermöglichen
({0})
- hör erst mal zu! -,
({1})
fünftens, es Pflegebedürftigen zu erleichtern, länger in
den eigenen vier Wänden zu leben. Mit diesen inhaltlichen Forderungen liegen die Grünen ja voll auf linker
Linie; das sind ja die Forderungen, die wir schon immer
hatten. Schön, dass sich die Grünen nun dazu durchgerungen haben, das auch mal zu dokumentieren. Denn in
der vorletzten Legislaturperiode, zum Beispiel auf dem
Deutschen Seniorentag in Leipzig, gab es noch nichts
Schriftliches. Und auf der letzten Seniorenmesse in München wurde die Tatsache, dass es keine Leitlinien gab,
damit entschuldigt, dass die Senioren keine Wählergruppe der Grünen seien. Na ja, Schwamm drüber!
Die jetzt dargelegten Forderungen sind ja ganz gut.
Und es tut auch immer mal wieder not, die Bundesregierung auf die mangelnde Seniorenpolitik hinzuweisen;
denn dort ist sie ja auch nicht so das Thema. Wenn man
sich die Tagesordnungen der letzten Legislaturperioden
mal anschaut,
({2})
dann sieht man, dass nur zweimal richtige Seniorenthemen Gegenstand der Debatten waren, nämlich - das ist
Heinz Wiese ({3})
vorhin schon angesprochen worden - der fünfte und der
sechste Altenbericht.
({4})
Ansonsten werden hier im Hause Senioren in aller Regel
mit Rente, Pflege und Gesundheit abgetan,
({5})
wobei in Erklärungen immer wieder dargelegt wird, dass
mehr Potenziale des Alters als Defizite vorhanden sind Potenziale nutzen, wie es so schön heißt.
Letztlich ist auch der Umgang mit dem siebten Altenbericht Indiz dafür, wie Seniorenpolitik behandelt wird.
Jetzt bin ich ja richtig gespannt; denn beim siebten Altenbericht lautet der Auftrag, das Thema „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune“ zu bearbeiten. Er liegt
der Regierung seit Dezember 2015 vor, dem Parlament
allerdings immer noch nicht; eine Stellungnahme gibt es
noch nicht, wurde dem Parlament noch nicht zugeleitet.
Immerhin - das wissen wir aus den Vorbemerkungen zu
diesem Auftrag - geht es im siebten Altenbericht darum,
dass Seniorenpolitik primär in den Kommunen stattfindet. Aufgrund der Vielfalt und der mannigfaltigen Unterschiede in Deutschland kann ich mir nicht vorstellen,
dass es vom Bund eine Blaupause oder ein Muster, eine
allgemeine Regelung für die Seniorenpolitik geben kann.
Im Antrag der Grünen gibt es unter den Punkten 6
und 7 den mutigen Vorstoß, Forschungsvorhaben zu unterstützen und auf die Länder entsprechend einzuwirken,
dass ältere Menschen mehr beteiligt werden. Doch wir
brauchen im Grunde keine weitere Forschung, wir brauchen keine Sachverständigengutachten, wir brauchen
keine Kongresse.
({6})
Wir wissen doch, was zu machen ist. Wir müssen endlich
einmal anfangen.
({7})
Wenn ihr fordert, auf die Länder einzuwirken, dann muss
ich euch, liebe Grüne, daran erinnern: Ihr seid - wenn ich
mich nicht verzählt habe - in elf Ländern an der Regierung beteiligt; in einem Land stellt ihr den Ministerpräsidenten.
({8})
Ja warum macht ihr denn nichts in den Ländern,
({9})
zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen?
({10})
- Ja. - Ich habe hier ein Papier mit dem Titel „Ziele und
Möglichkeiten kommunaler Seniorenpolitik“ aus Nordrhein-Westfalen. Das ist so alt; es ist aus dem letzten
Jahrhundert. Da wird noch von einem Durchschnittseinkommen in D-Mark gesprochen. Da sind eure Forderungen drin. Es ist vom Städte- und Gemeindebund Nordrhein-Westfalen. Alles, was da steht, wurde bislang nicht
gemacht.
Die Seniorenpolitischen Leitlinien der Fraktion Die
Linke, die seniorenpolitischen Standpunkte meiner Partei und der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag,
die Forderungen der BAGSO und die Ergebnisse der
Bertelsmann-Stiftung - all das ist deckungsgleich mit
dem, was ihr jetzt aufgeschrieben habt.
({11})
Fangt mit der Umsetzung eurer Forderungen an, und
dann könnt ihr nächstes Jahr auch punkten.
Aber eins muss ich noch im Zusammenhang mit den
Potenzialen des Alters sagen: Wir müssen aufpassen,
dass ehrenamtliches Engagement bei allem Respekt - das
möchte ich an dieser Stelle betonen; ich möchte da nicht
falsch verstanden werden - nicht als Ausfallbürge für
angeblich nicht mehr finanzierbare staatliche Aufgaben
herhalten muss und letztlich Seniorinnen und Senioren
für den Ausgleich klammer kommunaler Kassen sorgen
sollen.
({12})
Aber warten wir es ab. Vielleicht können wir ja einen
entsprechenden Antrag gemeinsam mit dem siebten Altenbericht beraten. So, wie es angekündigt worden ist,
soll er im Oktober beraten werden; letzte Gerüchte besagen, dass es im November so weit ist. Schauen wir mal,
ob es in diesem Jahr noch etwas wird. Ich bin da nicht
sonderlich guter Hoffnung; aber die Hoffnung stirbt ja
bekanntlich zuletzt.
Danke für die Aufmerksamkeit.
({13})
Petra Crone hat als nächste Rednerin für die SPD-Fraktion das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe
Kolleginnen und Kollegen! Ich finde, es ist doch ganz
wunderbar. Das, was sich die Menschheit schon immer
gewünscht hat, das haben wir erreicht: Wir werden immer älter. Das ist ein ganz tolles Geschenk, vor allem,
weil wir dabei immer besser gebildet, gesünder und fitter sind. Aber Achtung: Das „Wir“ ist kein Einheitsbrei.
Schauen wir zurück auf den sechsten Altenbericht, der
sich mit Altersbildern beschäftigt hat. Das Fazit ist: Die
Älteren gibt es nicht. Diese Altersgruppe ist genauso
vielfältig wie alle anderen auch, mit sehr unterschiedliJörn Wunderlich
chen Vorstellungen von Leben, Alltag, Familie und Freizeitgestaltung. Wie sollte es auch anders sein.
({0})
Doch für alle gilt: Mitmischen, dabei sein und aktiv sein,
das hält fit, im Oberstübchen und auch sonst.
Zwingen können und wollen wir niemanden, aber
Rahmenbedingungen können wir schaffen. Als Beispiel
nenne ich die Flexirente - sie ist eben angesprochen worden -, eine Grundsicherung im Alter, die auch Teilhabe
an Kultur beinhaltet, und die Förderung des freiwilligen
Engagements. Dabei dürfen weder geringere Bildung
noch schlaffer Geldbeutel oder Altersgrenzen im Wege
stehen. Die Altersgrenzen für Schöffen und Schiedsleute
sind in meinen Augen überholt und gehören abgeschafft.
Sie sind eindeutig diskriminierend.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Rahmenbedingungen für Teilhabe zu schaffen, das kostet. Darum hat die
SPD-Bundestagsfraktion dafür gesorgt, dass die Kommunen strukturell, politisch und vor allem finanziell
gestärkt werden. Wir werden auch weiter dafür sorgen;
denn die Kommunen müssen vor Ort geeignete Strukturen aufbauen. Dabei muss es nach dem Motto gehen:
Lieber weniger, aber dafür dauerhafte Programme anstelle von Leuchttürmen, denen schnell das Licht wieder
ausgeht. Deshalb freue ich mich, dass beispielsweise die
Mehrgenerationenhäuser jetzt eine feste Förderung bekommen; denn da geht es um das Miteinander von Jung
und Alt.
({2})
Ja, Kollege Wunderlich, auch ich bin gespannt auf den
siebten Altenbericht; denn der beschäftigt sich mit der
Rolle der Kommunen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich
stimme Ihnen zu: Besonders das Quartiersmanagement
und das Programm „Soziale Stadt“ verdienen Stärkung.
({3})
Dazu gehören Mehrgenerationenhäuser, und zwar am
besten flächendeckend. Mehr Seniorenbüros und Freiwilligenagenturen fördern das freiwillige Engagement.
({4})
Denn diese niederschwelligen Angebote können in den
Regionen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen eingesetzt werden. Mir ist es dabei wichtig, den Akteuren
von heute nicht mit neuen Programmen das Wasser abzugraben, sondern Bewährtes zu fördern und zu vernetzen.
({5})
Was mitten in Berlin passt, das hat bei mir im Sauerland vielleicht keine Wirkung oder umgekehrt. Genau
wie Sie in Ihrem Antrag schreiben: Die Mobilität in meiner ländlichen Region ist ein nicht zu unterschätzendes
Problem. Der Bürgerbus, Seniorentaxis und Hol- und
Bringdienste sind in jedem Fall wichtige Instrumente.
Denn: Wo es die nicht gibt, sind die älteren Menschen
von der selbstbestimmten Teilhabe ausgeschlossen. Sie
sehen: Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt.
({6})
Eines ist mir jedoch wichtig. Bei aller Freude über
die gesunden und fitten Alten: Es darf kein Hype ähnlich dem Jugendwahn entstehen. Auf diese Weise wächst
bekanntermaßen nur die Angst vor der Zeit, in der Unterstützung, Hilfe und Pflege gebraucht werden. Diese
Themen dürfen keine Tabuthemen sein. Unterstützung,
Hilfe, Pflege und eine Sterbe- und Abschiedskultur sind
unentbehrlich für gute Altenarbeit.
({7})
Sie sprechen das Thema Pflege an, liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Bündnisgrünen. Sie haben absolut
recht: Wir brauchen ausreichend Personal, also mehr Personal, um eine anspruchsvolle ambulante und stationäre
Pflege gewährleisten zu können. Dafür muss der Altenpflegeberuf dringend aufgewertet werden,
({8})
das heißt bessere Bezahlung, und zwar auch, weil es wieder einmal die Frauen trifft, die diese kräftezehrende Arbeit hauptsächlich erledigen.
Alte und multimorbide Menschen kommen ins Krankenhaus und von dort zurück ins Seniorenheim. Deshalb
setze ich mich seit vielen Jahren für eine generalistische
Pflegeausbildung ein, für einen Zusammenschluss der
drei existierenden Ausbildungen in den Bereichen Altenpflege, Kinderkrankenpflege und Krankenpflege zu
einer neuen, umfassenden und zukunftsfesten Berufsausbildung. Wir haben nun die Gelegenheit, diesen Gesetzentwurf zu verabschieden. Dieses Gesetz wünschen
sich große Teile der Verbände und viele Pflegerinnen und
Pfleger. Glauben Sie mir; ich habe mit vielen gesprochen.
Lassen Sie uns das gemeinsam machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Und damit - hören Sie mir bitte gut
zu - meine ich alle in diesem Hohen Haus: Die einen
sollen sich einen Ruck geben und die anderen aus den
Puschen kommen. Pflegekräfte und diejenigen, die Pflege benötigen, werden davon profitieren.
Ich danke Ihnen.
({9})
Vielen Dank. - Als nächste Rednerin hat Astrid
Timmermann-Fechter für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Herbert N. ist 65 Jahre alt und geht
wöchentlich in ein Altersheim. Dort spielt er mit den Bewohnern Schach und liest Geschichten vor. Er engagiert
sich, weil er das Gefühl hat, dort gebraucht zu werden. Sandra M., 70 Jahre alt, ist Mitglied im städtischen Seniorenbeirat. Mit großem Engagement setzt sie sich für die
besonderen Interessen und Belange der Seniorinnen und
Senioren in ihrer Stadt ein. - Gisela S., 85 Jahre, ist eine
leidenschaftliche Kulturliebhaberin. Jeden Montag fährt
sie zusammen mit einer Seniorengruppe aus ihrem Stadtteil mit der U-Bahn in die Innenstadt. Dort besuchen sie
Theatervorstellungen, die Oper oder auch Museen. Kultur war schon immer ein wichtiger Bestandteil in ihrem
Leben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese fiktiven, aber
realitätsnahen Beispiele zeigen, dass Partizipation viele
Gesichter hat. Sie findet unter anderem im ehrenamtlichen und politischen Engagement oder auch in der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben statt. Dabei wünscht
sich die Mehrheit der Seniorinnen und Senioren, ein
selbstbestimmtes Leben im Alter zu führen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels
stehen wir jedoch vor neuen Herausforderungen. Immer
mehr Menschen erreichen bei guter körperlicher und geistiger Gesundheit ein höheres Lebensalter. Zugleich steigt
der Anteil der Menschen, die hilfe- und pflegebedürftig
sind. Wir stehen vor der Aufgabe, die Bedingungen zu
erhalten, aber auch zu schaffen, die Partizipation und ein
selbstbestimmtes Leben älterer Menschen ermöglichen.
({0})
Hierzu zählen insbesondere ein altersgerechtes und
barrierearmes Wohnumfeld, Mobilität, Erreichbarkeit
von Sport- und Freizeitmöglichkeiten und kulturellen
Einrichtungen, soziale Dienstleistungen, Prävention und
Pflege. Darüber hinaus wollen wir die aktive Teilhabe im
Sinne von Mitgestaltung und Engagement ermöglichen
und fördern. An diesen Herausforderungen arbeiten wir;
denn es ist ein zentrales Ziel unserer Seniorenpolitik,
ältere Menschen dabei zu unterstützen, auch im hohen
Alter selbstbestimmt leben zu können und an der Gesellschaft teilzuhaben.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
beinhaltet Forderungen, die bereits Bestandteil der
Handlungsagenda unserer Bundesregierung sind. Beispielsweise wird gefordert, „eine Strategie des ‚aktiven
Alterns’, die Selbstbestimmung, Teilhabe und Partizipation älterer Menschen in allen Lebensbereichen ermöglicht“, zu entwickeln. Diese Ziele werden bereits seit
2012 mit der Demografiestrategie der Bundesregierung
verfolgt. In diesem Zusammenhang wurde die Arbeitsgruppe „Selbstbestimmtes Leben im Alter“ eingesetzt,
die ein strategisches Konzept erarbeitet hat. Dieses verbindet Dimensionen des aktiven Alterns mit dem Bedarf
an Unterstützungs- und Gesundheits- oder Pflegeleistungen.
Darüber hinaus fordern Sie mit Ihrem Antrag die
Bundesregierung auf, ein Förderprogramm für „Lotsen-,
Informations- und Vernetzungsbüros“ aufzulegen, die
unter anderem über altersgerechtes Wohnen und Weiterbildungsangebote informieren sollen. Eine ähnliche
Zielstellung hat neben dem Städtebauförderprogramm
„Soziale Stadt“ das 2013 initiierte Bundesprogramm
„Anlaufstellen für ältere Menschen“. Bundesweit wurden über 300 Projekte ausgewählt, die das selbstständige
Wohnen und Leben im Alter fördern.
Ein Großteil Ihrer Forderungen betrifft das altersgerechte und barrierefreie Wohnen. In diesem Zusammenhang existieren, wie auch in Ihrem Antrag erwähnt,
bereits wichtige und bewährte Maßnahmen und Bundesprogramme. Mit dem Bundesprogramm „Altersgerecht Umbauen“ werden barrierereduzierende Baumaßnahmen unterstützt. Daneben fördert das Modellprojekt
„Gemeinschaftlich wohnen, selbstbestimmt leben“ innovative gemeinschaftliche Wohnprojekte.
Sie fordern jedoch in Ihrem Antrag insbesondere eine
stärkere finanzielle Förderung. Der Anteil an Bundesmitteln soll für das eben genannte Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufgestockt werden. Es sollen verstärkt
Finanzierungszuschüsse gegenüber Zinsverbilligungen
angeboten werden. Über einen höheren Zuschuss oder
einen niedrigeren Zinssatz sollen die Kombinationsmöglichkeiten mit der energetischen Gebäudemodernisierung
weiter ausgebaut und attraktiver gemacht werden, und
durch eine finanzielle Förderung eines Bewegungsfreiheitsbonus soll der Abbau von Barrieren im Wohnumfeld
gefördert werden.
Wenn ich mir nun diesen Forderungskatalog genauer
anschaue, insbesondere die Wünsche an die Länder - Sie
stehen in vielen Landesregierungen in Verantwortung
und können dort auch selbst Gespräche führen -,
({1})
wird für mich an dieser Stelle nicht deutlich, wie Sie diese Maßnahmen denn finanzieren wollen. Diesbezüglich
werden von Ihnen keine Vorschläge eingebracht, und
einen Antrag, in dem die Belastung für den Bundeshaushalt im Unklaren bleibt, können wir an dieser Stelle nur
ablehnen.
({2})
Darüber hinaus betreffen viele Forderungen Ihres Antrags insbesondere die Kommunen. Wie Sie sicherlich
wissen und wie wir jetzt hier auch schon mehrfach gehört
haben, warten wir ja mit Spannung auf die Veröffentlichung des von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen siebten Altenberichts mit dem Titel „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune - Aufbau und Sicherung
zukunftsfähiger Gemeinschaften“. Insofern überrascht
mich natürlich ein wenig der Zeitpunkt Ihres Antrages;
denn für mich gehört zu einem geregelten Ablauf dazu,
dass wir dem Ergebnis der Altenberichtskommission
nicht vorgreifen wollen.
Das Thema „Partizipation und Teilhabe älterer Menschen und die Stärkung des selbstbestimmten Lebens im
Alter“ ist und bleibt für uns ein zentraler Aspekt der Seniorenpolitik. Aber aus den vorgenannten Gründen lehnen
wir heute den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab.
Vielen Dank.
({3})
Als nächste Rednerin spricht Ursula Schulte für die
SPD-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren auf
der Tribüne! Meine diesjährige Sommertour führte mich
in zahlreiche Pflegeeinrichtungen. Bei diesen Besuchen
stand immer auch ein Gespräch mit dem Bewohnerbeirat
auf der Tagesordnung. Mich hat dabei vor allem interessiert, wie Menschen den Weg in die Einrichtung gefunden haben. In den seltensten Fällen war das eine selbstbestimmte Entscheidung, aber da, wo sie ganz eigenständig
getroffen wurde, hat dies ganz wesentlich zum Selbstbewusstsein der älteren Menschen beigetragen.
Das zeigt mir, dass wir uns früher und offener mit dem
Altern auseinandersetzen müssen; denn Menschen sind
ja nicht erst dann alt, wenn sie in die Pflegeeinrichtung
einziehen. Wenn wir uns mit dem Älterwerden beschäftigen, sollten wir uns folgende Fragen stellen: Wie stellen
wir uns ein Leben im Alter eigentlich vor? Welche Altersbilder hat die Gesellschaft vor Augen?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Arbeitswelt
wurden ältere Menschen lange Zeit als weniger leistungsfähig eingestuft. Manche Unternehmen betrachteten sie
gar als Belastung. Dieses Bild wandelt sich allmählich.
Das Wissen und die Erfahrung älterer Menschen sind zu
einem wertvollen Rohstoff geworden, der von den Unternehmen immer mehr wertgeschätzt wird. Wie wertvoll
die Arbeit älterer Menschen ist, hat sich zuletzt noch
einmal deutlich in der Arbeit für Flüchtlinge gezeigt, sei
es beim Sprachunterricht, beim Gang zum Arzt oder zu
den Behörden oder einfach bei der Essensausgabe, um
nur einige Beispiele zu nennen. Viele haben durch diese
ehrenamtliche Arbeit einen neuen Sinn für ihr Leben gefunden: Sie fühlen sich bestätigt und sind stolz auf ihre
Leistung. Das Gefühl, gebraucht zu werden und Teil dieser Gesellschaft zu sein, das macht Leben im Alter aus,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({0})
Ehrenamtliches Engagement ist ohne ältere Menschen
kaum vorstellbar, und ohne dieses Engagement ist unsere Gesellschaft nicht vorstellbar. Da befinde ich mich
durchaus im Widerspruch zu Ihnen, Herr Wunderlich.
({1})
Älter werden und fit bleiben, das wünschen wir uns alle.
Aber auch wenn man sich ungern damit auseinandersetzt
und am liebsten nicht darüber spricht, nimmt die Wahrscheinlichkeit, dass man krank, unterstützungs- oder pflegebedürftig wird, im Alter leider zu. Barrierefreies Wohnen ist deshalb ein zentrales Thema. Der ältere Mensch
möchte natürlich - das ist ganz selbstverständlich - in
der vertrauten Umgebung bleiben. Das KfW-Programm
„Altersgerecht Umbauen“ hilft dabei und erfreut sich
großer Nachfrage. Das zuständige Bundesministerium
hat für das kommende Jahr eine Mittelerhöhung vorgesehen. Darüber freue ich mich.
({2})
Denn ohne selber entscheiden zu können, wo man wohnt,
ist selbstbestimmtes Leben kaum möglich.
In der Kindheit und im Alter wird soziale Ungleichheit am deutlichsten sichtbar. Kinder und alte Menschen
können an diesem Zustand nichts ändern. Die einen
sind zu jung, die anderen sind zu alt. In diesen beiden
Lebensphasen benötigen die Menschen Hilfe, Unterstützung und die Solidarität der Gesellschaft.
({3})
Gerade bei pflegebedürftigen Menschen zeigt sich die
soziale Ungleichheit deutlich: Derjenige, der die finanziellen Möglichkeiten hat, kann bis zum Schluss zu Hause bleiben. Die anderen - das ist die Mehrheit - haben
nicht die Wahl und ziehen in eine stationäre Einrichtung.
Bei meinen Besuchen habe ich Menschen getroffen, die
sich dort durchaus zu Hause und gut betreut fühlen. Auch
das muss einmal gesagt werden; das gehört zur Wahrheit
dazu.
({4})
Am Ende unserer Gespräche haben mir aber einige
Bewohner ganz verschämt gesagt: Frau Schulte, mit den
100 Euro Taschengeld komme ich nicht hin. Manchmal
habe ich kein Geld mehr für den Friseur, die Fußpflege
oder für die Körperlotion. Meine Kinder mag ich nicht
um Geld bitten. - Diese Worte haben mich beschämt. Ich
habe versprochen, dass ich sie in diesem Hause wiederhole. Damit löse ich heute mein Versprechen ein.
({5})
Von einem selbstbestimmten Leben kann bei einem Taschengeld von 100 Euro keine Rede mehr sein. Wir alle
hier im Haus könnten das gemeinsam ändern. Bitte denken Sie noch einmal darüber nach! Das wäre ein schönes
Geschenk zum nächsten Tag der älteren Menschen.
({6})
In Ihrem Antrag, liebe Kolleginnen und Kollegen von
den Grünen, sprechen Sie davon, dass Frauen häufiger
von Altersarmut betroffen sind als Männer. Das entspricht
der Wahrheit. Eine auskömmliche Rente - das wissen
wir - gehört unabdingbar zu einem selbstbestimmten Leben. In meinem Wahlkreis beziehen Frauen eine durchschnittliche Rente von 400 Euro. Verdient hätten sie viel
mehr; denn sie haben oft mehrere Kinder großgezogen
und Eltern und Schwiegereltern gepflegt. Für diese Frauen war die Mütterrente ein Schritt zu etwas mehr Gerechtigkeit, Selbstbestimmung und Eigenständigkeit.
({7})
Ich bin auch froh, dass es die Grundsicherung im Alter
gibt, und erkläre den Frauen immer wieder, dass sie einen
Anspruch darauf haben und keine Bittsteller sind.
Die Zeit des Älterwerdens, des Altseins kann für viele
wirklich schön und bereichernd sein. Man unterliegt keinen Zwängen. Man muss nicht mehr für Kinder sorgen.
Man kann eigentlich tun und lassen, was man will. Man
ist frei. Allerdings müssen wir den Blick der Gesellschaft
auf die älteren Menschen ändern. Ältere Männer werden
immer noch wesentlich positiver betrachtet als ältere
Frauen. Wenn wir von Geschlechtergerechtigkeit sprechen, dürfen wir daher nicht immer nur an die Belange
jüngerer Frauen denken.
„Altwerden ist nichts für Feiglinge“, hat Joachim
Fuchsberger gesagt - ein wahres Wort. Auch das habe
ich bei meinen Besuchen gelernt. Altsein ist immer auch
eine Zeit des Abschiednehmens, manchmal sogar Abschied von der Selbstbestimmung. Aber auch das kann
man schaffen, selbstbestimmt und in Würde. Es ist unsere Aufgabe, die entsprechenden Rahmenbedingungen
dafür zu schaffen.
Wir werden heute den Antrag der Grünen ablehnen,
obwohl ich mir sicher bin, dass sich einige Ihrer Anregungen irgendwo wiederfinden werden.
({8})
Sie sollten vielleicht einen Blick in die Kommunen und
Kreise werfen. Vieles von dem, was Sie fordern, ist dort
schon passiert.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank, Frau Kollegin Schulte. - Einen schönen
Nachmittag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der letzte
Redner in der Debatte: der sehr geschätzte
({0})
- der beste nicht, sondern der geschätzte - Paul Lehrieder.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Auch ich darf Ihnen einen schönen Nachmittag wünschen; ich bin froh, dass Sie
da sind. - Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 52,6 Jahre - das ist das Durchschnittsalter der Abgeordneten des
Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode.
({0})
Zwar stellen die 50- bis 59-Jährigen die größte Gruppe,
aber 46 Parlamentarier sind immerhin über 65. Diese
Kolleginnen und Kollegen sind selbstverständlich mit
dem gleichen Engagement und Biss bei der Arbeit wie
die Jüngeren unter uns. Stimmt’s, Heinz?
({1})
Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland hat sich im letzten Jahrhundert fast verdoppelt. Die
Erhöhung der Lebenserwartung gehört zu den Errungenschaften moderner Gesellschaften. Experten schätzen,
dass im Jahr 2020 gut ein Drittel der Deutschen zur Generation 65 plus gehören wird. Bis zum Jahr 2040 wird
sich die Zahl der über 80-Jährigen auf mehr als 8 Millionen verdoppeln. Diese Erfolgsgeschichte ist erst im Zug
des demografischen Wandels zum Gegenstand allgegenwärtiger politischer und medialer Diskurse geworden.
Deshalb, liebe Frau Kollegin Wagner, ist es Ihr Antrag, wie schon gesagt, durchaus wert, dass man ihn
sich in Ruhe anschaut. Auch ich habe ihn natürlich sehr
gründlich gelesen. Die Überschrift „Partizipation und
Selbstbestimmung älterer Menschen stärken“ können
wir, glaube ich, alle mittragen; das ist überhaupt kein
Thema. Das Altern hat sich verändert; das wissen wir.
Die Menschen leben heute nicht nur deutlich länger, sondern sie sind auch gesünder und länger agil. Gleichzeitig
steigt der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung kontinuierlich. Die Alterung ist also eine zentrale
Komponente der demografischen Entwicklung Deutschlands; das ist Common Sense, und das haben wir alle auf
dem Schirm.
Wir werden Ihren Antrag - um das gleich vorwegzunehmen, damit Frau Dörner mich am Schluss nicht ausschimpfen muss - natürlich nicht heute, aber in Zukunft
ablehnen.
({2})
Wir werden uns den Antrag im Ausschuss sehr gründlich
daraufhin anschauen, ob etwas Ordentliches, Vernünftiges und Sinnstiftendes darin enthalten ist. Ich will ja
nicht unterstellen, dass nicht auch die Grünen eventuell
gute Ideen zu den Potenzialen des Alters haben; das ist
kein Thema.
({3})
Die in vielen Köpfen vorherrschenden Altersbilder
sind keineswegs nur positiv; auch darauf wurde in dieser
Debatte schon mehrfach hingewiesen. Oftmals wird das
Alter mit Krankheit und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt. Natürlich gibt es ältere Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr aktiv am Leben teilnehmen können. Doch die Mehrzahl der Generation 65 plus
ist fit, steht mitten im Leben und fühlt sich noch lange
nicht alt. Ganz im Gegenteil: Keine bisherige Generation
älterer Menschen war besser qualifiziert und leistungsfähiger als die heutige. Viele können und wollen deshalb
über das eigentliche Rentenalter hinaus noch arbeiten;
Kollege Wiese hat bei der Debatte über die Flexirente,
die wir heute früh in diesem Hohen Haus geführt haben,
völlig zu Recht darauf hingewiesen.
Es gibt aber auch Menschen, die nicht bis zur Regelaltersgrenze berufstätig bleiben können, selbst wenn sie
es wollten. Gerade weil die älteren Menschen in unserem
Land keine homogene Gruppe darstellen, ist es wichtig,
den Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand individuell gestalten zu können. Möglichkeiten hierzu schafft
das heute in erster Lesung beratene Flexi-Rentengesetz.
Den Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
möchte ich noch die Lektüre der weiterentwickelten Demografiestrategie der Bundesregierung ans Herz legen.
Darin gibt sie unter dem Titel „Für mehr Wohlstand und
Lebensqualität aller Generationen“ umfassende Antworten auf die Bevölkerungsentwicklung und legt dar, was
bereits erreicht worden ist und wo weitere Anstrengungen unternommen werden müssen. So zeigt beispielsweise das Handlungsfeld „Selbstbestimmtes Leben im
Alter“ die vielfältigen Maßnahmen der Bundesregierung
auf, damit Menschen bis ins hohe Alter aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können.
Frau Kollegin Wagner, vergangene Woche haben wir
im Ausschuss den Freiwilligensurvey 2014 beraten; wir
haben ihn uns dort vorstellen lassen. Da haben sicherlich
auch Sie zur Kenntnis genommen: Im Jahr 1999 haben
sich immerhin 23 Prozent der über 65-Jährigen ehrenamtlich engagiert, im Jahr 2004 waren es 26,4 Prozent
der über 65-Jährigen, im Jahr 2009 waren es 29,1 Prozent
der über 65-Jährigen, und im Jahr 2014 waren es 34 Prozent der Menschen, die über 65 sind, die sich ehrenamtlich und freiwillig in der Gesellschaft engagiert haben.
Ich glaube, das ist eine tolle Zahl. Sie verdient einen Applaus; dann habt ihr auch die Gelegenheit, zu klatschen.
({4})
Wenn Sie sich die Statistik zum Anteil der freiwillig
Engagierten, aufgeteilt nach Fünf-Jahres-Altersgrenzen,
anschauen, stellen Sie fest: Von den 50- bis 54-Jährigen
sind 46 Prozent freiwillig engagiert, von den 65- bis
69-Jährigen 43,7 Prozent und von den 70- bis 74-Jährigen 39,9 Prozent. Erst ab einem Alter von 75 Jahren,
wenn die körperliche Leistungsfähigkeit verständlicherweise etwas nachlässt, sind es nur noch 26 Prozent. Das
heißt, die Potenziale des Alters sind schon im Freiwilligensurvey unwahrscheinlich eindrucksvoll nachgewiesen, meine Damen und Herren.
Mit dem Aktionsprogramm Mehrgenerationenhäuser trägt die Bundesregierung darüber hinaus - darauf
wurde bereits hingewiesen - zur Entwicklung sorgender
Gemeinschaften vor Ort bei. Die Parlamentarische Geschäftsführerin Michaela Noll - sie ist gerade hinausgegangen - hat vorhin gestrahlt, weil sie heute die erfreuliche Mitteilung bekommen hat, dass in ihrem Wahlkreis
ein neues Mehrgenerationenhaus geschaffen werden
kann. Ingrid Pahlmann strahlt jetzt noch, weil auch ihr
Wahlkreis ein neues Mehrgenerationenhaus bekommt.
({5})
Mein Wahlkreis bekommt leider keines, lieber Sönke.
Ich werde mich bei der nächsten Runde wieder einmal
melden; vielleicht habe dann auch ich eine Chance.
Frau Staatssekretärin, an diesem Programm müssen
wir uns weiter entlanghangeln. Ich glaube, es ist ein Erfolgsprogramm. Wie der Name schon sagt, fördert ein
Mehrgenerationenhaus den Zusammenhalt der Generationen. - Frau Präsidentin, Sie können den Schalter wieder
ausmachen. Ich habe gemerkt, dass Sie mich zum Ende
drängen wollen.
({6})
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, freue mich
auf die Beratung Ihres Antrags im Ausschuss und wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.
Danke schön.
({7})
Vielen Dank für den Hinweis auf die Betätigung der
Druckknöpfe, Herr Lehrieder.
({0})
- Ja, freilich, das soll Sie auch nervös machen.
Zur Erklärung: Wenn die Redezeit zu Ende ist und ich
auf den Knopf drücke, sodass es bei Ihnen blinkt, dann
soll Sie das selbstverständlich nervös machen, lieber
Kollege Paul Lehrieder.
({1})
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9797 an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend vorgeschlagen. - Sie sind
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Möglicherweise gibt es jetzt einen Platzwechsel. Dann bitte ich, ihn zu vollziehen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform
der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung
Drucksache 18/9525
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz ({2})
Innenausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre auch
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe, nachdem die
interessierten Kolleginnen und Kollegen nun Platz gePaul Lehrieder
nommen haben, dem Parlamentarischen Staatssekretär
Christian Lange das Wort.
({3})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die strafrechtliche Vermögensabschöpfung ist ein wichtiger Baustein der Kriminalitätsbekämpfung. Straftaten dürfen sich nicht lohnen. Für
manche mag das schon abgedroschen klingen, und doch
ist der Satz uneingeschränkt richtig. Wir wollen deshalb
die Abschöpfung von Vermögen aus Straftaten mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf deutlich stärken. Deswegen
darf ich heute für die Bundesregierung diesen Gesetzentwurf einbringen.
Gleich zu Beginn möchte ich mich für die außergewöhnlich gute und konstruktive Zusammenarbeit mit der
Justiz und der Polizei von Bund und Ländern bei diesem
Reformvorhaben bedanken. Vieles von dem, was aus diesem Kreis an uns herangetragen wurde, ist in unserem
Reformvorschlag berücksichtigt.
Unser Gesetzentwurf sieht eine vollständige Neufassung des Rechts der Vermögensabschöpfung vor. Ich
will mich deshalb auf einige wesentliche Kernpunkte
beschränken:
Die Reform wird sowohl das staatsanwaltschaftliche
Ermittlungsverfahren als auch die gerichtliche Hauptverhandlung spürbar erleichtern und vereinfachen.
Im materiellen Recht halte ich die gesetzliche Stärkung und Konkretisierung des sogenannten Bruttoprinzips für besonders wichtig. Im Kern geht es dabei um die
bislang strittige Frage, ob und - gegebenenfalls - in welchem Umfang Aufwendungen des Täters berücksichtigt
werden sollen. Wir geben der Praxis nun eine klare Leitlinie vor. Ihr liegt folgender Rechtsgedanke zugrunde:
Was in Verbotenes investiert wird, ist unwiederbringlich
verloren. Im Übrigen müssen Aufwendungen hingegen
berücksichtigt werden.
Wir gewährleisten damit eine umfassende Abschöpfung von Taterträgen. Zugleich verhindern wir, dass die
Vermögensabschöpfung in Teilbereichen Strafcharakter
erlangt. Wir sichern damit ihren Rechtscharakter als quasi-bereicherungsrechtliche Maßnahme.
Mag dies auf den ersten Blick vielleicht wie eine rein
akademische Frage wirken, so ist sie doch von immenser Bedeutung; denn eine Veränderung ihrer Rechtsnatur würde das Recht der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung in Gänze infrage stellen.
Von nicht minderer Bedeutung für die Strafrechtspraxis ist die grundlegende Reform der Opferentschädigung.
Das neue Modell gewährleistet eine gleichmäßige und
gerechte Entschädigung aller Verletzten. Zugleich entlastet das Reformmodell Gerichte und Staatsanwaltschaften
im eigentlichen Strafverfahren von zeitaufwendigen Entschädigungsfragen.
Wir schließen mit dem Gesetzentwurf aber vor allem auch erhebliche Abschöpfungslücken. Ich will mich
aus Zeitgründen auf eine für unser Recht allerdings fast
schon revolutionäre Neuerung beschränken: Wir wollen
Polizei und Strafjustiz für den Bereich des Terrorismus
und der organisierten Kriminalität ein völlig neuartiges
Abschöpfungsinstrument an die Hand geben.
Künftig kann Vermögen unklarer Herkunft eingezogen
werden, ohne dass eine konkrete Straftat nachgewiesen
werden muss. Das Gericht muss lediglich davon überzeugt sein, dass der Vermögensgegenstand aus irgendeiner Straftat herrührt. Dabei ist Folgendes von besonderer
Bedeutung: Der Gesetzentwurf erlaubt dem Gericht ausdrücklich, seine Überzeugung von der deliktischen Herkunft des Vermögens insbesondere auf ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert des Gegenstandes und
den legalen Einkünften zu stützen. Liegt also ein solches
Missverhältnis vor, ist der Betroffene nach unserem Konzept faktisch gezwungen, die legale Herkunft des Vermögens darzulegen und im Zweifelsfall zu beweisen. Wir
setzen damit die Forderung des Koalitionsvertrages nach
einer verfassungskonformen Beweislastumkehr um.
Das deutsche Abschöpfungsrecht würde mit diesem
Instrument zu einem der schärfsten in Europa werden.
Zugleich markiert dies die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen. Dies sollten diejenigen bedenken, die
gar eine weitergehende Beweiserleichterung und einen
Eingriff in den Grundsatz der freien Beweiswürdigung
für erwägenswert halten. Denn eines muss auch in diesem Zusammenhang klar sein: Kein noch so guter Zweck
kann im Rechtsstaat jedes Mittel heiligen.
({0})
Meine Damen und Herren, unsere Reformvorschläge
sind von hoher Bedeutung für die wirksame Kriminalitätsbekämpfung. Deshalb werbe ich gerne bei Ihnen für
Ihre Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf in den anstehenden Ausschussberatungen. Polizei und Strafjustiz
sollen baldmöglichst von den Erleichterungen profitieren
und mit dem neuen Abschöpfungsinstrument arbeiten
können.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({1})
Vielen Dank, Christian Lange. - Nächster Redner in
der Debatte: Jörn Wunderlich für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Bei dem vorgelegten Entwurf eines Gesetzes
zur Reform der strafrechtlichen Vermögensabschöpfung
geht es - vereinfacht - um die Frage, wie der vermögensrechtliche Schaden aus einer Straftat dem Geschädigten
wieder zugeführt werden kann. In Fällen, in denen der
Betroffene nicht ermittelt werden kann, soll der VermöVizepräsidentin Claudia Roth
gensvorteil aus der Straftat trotzdem nicht beim Täter
verbleiben. Denn: Kriminalität soll sich nicht lohnen.
({0})
Das ist ein berechtigter und wirklich begrüßenswerter Ansatz. So sollen die Ansprüche der Geschädigten
grundsätzlich im Strafvollstreckungsverfahren befriedigt
werden. Das heißt, durch die Tat erlangte Gegenstände
oder, soweit sie nicht mehr vorhanden sind, der entsprechende Wert sollen im strafrechtlichen Urteil eingezogen
und den Geschädigten zurückübertragen werden. Den
Geschädigten wird somit, anders als bisher, der Weg über
die Zivilgerichte erspart. Das soll den Opferschutz stärken.
Künftig soll Gewinnabschöpfung für jede Straftat in
Betracht kommen. Es soll im Bereich der organisierten
Kriminalität und des Terrorismus möglich sein - Sie haben es gesagt, Herr Lange -, auch Vermögen unklarer
Herkunft abzuschöpfen. Aber angesichts der Tatsache,
dass es an einer belastbaren Datengrundlage im Hinblick
auf die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen durch Geschädigte fehlt, frage ich mich: Ist das
überhaupt notwendig? Besteht hier ein Regelungsdefizit
oder ein Vollstreckungsdefizit? Von daher sollten wir uns
wirklich die Zeit nehmen, diesen Gesetzentwurf gründlich zu beraten. In den mir zur Verfügung stehenden fünf
Minuten Redezeit kann ich das heute nur knapp und ansatzweise anreißen.
Erstens. So logisch es auf den ersten Blick erscheint,
alle Straftaten in die Gewinnabschöpfung einzubeziehen,
so sehe ich doch in der Praxis Schwierigkeiten. Ich denke nur an Beförderungserschleichung, Ladendiebstahl,
an Kleinstkriminalität. Das ist eine andere Debatte. Aber
vielleicht sollten wir wirklich einmal überlegen, das
StGB zu entrümpeln und die Kleinstkriminalität als Ordnungswidrigkeiten zu behandeln,
({1})
um nicht die Justiz über Gebühr zu belasten; denn das
schafft man personell einfach nicht mehr. Die Frage ist,
ob es da nicht sinnvoll ist, bei der Vermögensabschöpfung einen Straftatenkatalog für die Taten einzuführen,
bei denen richtige Gewinne gemacht werden. Aber wir
haben ja noch die Beratung.
Zweitens. Bei der Einziehung des Vermögens unklarer
Herkunft ist die Frage: Kann das tatsächlich unabhängig
vom Nachweis einer konkreten Straftat eingezogen werden? Herr Lange, Sie sprechen von „Abschöpfungslücken“, von Geldbeträgen, die - ich zitiere jetzt aus dem
Gesetzentwurf - „allem Anschein nach aus Straftaten der
organisierten Kriminalität herrühren“. So ist es. Sie machen auch eine Einschränkung, indem Sie einen Katalog
von Delikten anführen. Aber ich denke, hier müssen wir
wirklich noch tiefer in die Materie gehen. Auch wenn
das Bundesverfassungsgericht die Einziehung von Vermögenswerten nicht als originäre Strafe ansieht, findet
diese Einziehung jedoch in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren statt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
im Zusammenhang mit einer Entscheidung über Sicherungsverwahrung deutlich gemacht, dass es eben nicht
entscheidend ist, wie das nationale Recht eine Strafe dogmatisch einordnet. Wenn wir das berücksichtigen, kommen wir hier vielleicht doch in Konflikte, was die Einziehung von Vermögen unklarer Herkunft angeht. Herr
Lange, Sie haben gesagt: Hier sind wir an der Grenze der
Verfassungsmäßigkeit. - Vielleicht sind wir auch schon
leicht drüber; das müssen wir wirklich genau abchecken
und ganz gründlich diskutieren.
Drittens. Bei der Erweiterung der Einziehung auf den
Erben habe ich auch so meine Probleme. Wenn der Täter als solcher rechtskräftig festgestellt und im Urteil die
Einziehung angeordnet ist, dann stellt sich für mich die
Frage: Gehört dann das eingezogene Vermögen noch zur
Erbmasse? Ich denke mal, nein. Oder wenn das Erlangte
noch vor Schuldfeststellung vererbt wird, dann gibt es
keine Täterfeststellung mehr. Dann wird das Verfahren
nach § 206a StPO eingestellt, weil der Täter ja gestorben
ist; denn nur ein Toter kann etwas vererben. Oder ist damit der Fall gemeint, in dem der Täter vor Verkündigung
des Urteils seine Beute an einen Freund verschenkt, der
es dann nach der Urteilsverkündung vererbt, sodass der
unbeteiligte Erbe des Freundes mangels festgestellten
Täters den Vermögenseingriff erdulden muss? Artikel 14
Grundgesetz schützt ja nun auch Erbe und Eigentum.
Haben wir da vielleicht Probleme? Wir müssen darüber
reden.
Last, but not least stellt sich die Frage, was mit den
zivilrechtlichen Ansprüchen geschieht - hier gibt es eine
Vermischung -, wenn bei der Streichung des § 73 Absatz 1 Satz 2 StPO die Subsidiarität des staatlichen Zugriffs aufgehoben wird. Muss das Opfer möglicherweise
bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens, also
mitunter Jahre, warten, um dann seine berechtigten Ansprüche bei der Staatsanwaltschaft geltend zu machen?
({2})
- Reden wir in den Beratungen darüber. - Hinzu kommen die prozessualen Regelungen, diese Vermischung
von zivilprozessrechtlichen mit strafprozessrechtlichen
Sachen.
Das ist kein leichtes Thema. Sie sehen die Vielzahl der
Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf noch stellen. - Ich warte dauernd darauf, dass das Wort „Präsident“ auf meinem Rednerpult
aufleuchtet.
Es müsste jetzt leuchten.
Ja, aber das ist falsch. Sie sind doch eine Präsidentin.
Gut, hier ist eine geschlechtergerechte Veränderung
notwendig.
Ich komme zum Gesetzentwurf zurück. Es gilt noch
über eine Vielzahl von Fragen zu beraten. Ich freue mich
auf die Beratungen. Diese werden sicherlich intensiv
werden.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Jörn Wunderlich. Danke auch für den
Hinweis. Das werden wir natürlich klären. - Nächste
Rednerin: Elisabeth Winkelmeier-Becker für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Crime does not pay. Auf Deutsch: Verbrechen darf sich
nicht lohnen. So weit sind wir uns jedenfalls einig. Das
ist ein Kernsatz eines jeden Rechtsstaats; das ist quasi ein
Teil der DNA auch in Deutschland. Das beschreibt den
Anspruch, den die Gesetze schon heutzutage erheben.
Deshalb werden Verbrecher verfolgt und bestraft, und die
Beute wird eingezogen. Alle drei Bereiche sind wichtig,
vor allem dann, wenn es um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität geht. Wir dürfen hier nicht zu naiv
sein. Das Ausmaß der organisierten Kriminalität gerade
in Deutschland dürfen wir nicht unterschätzen. Gerade in
dieser Woche konnten wir wieder Berichte über Schlepper lesen, die skrupellos und zynisch Menschen das Geld
abnehmen. Es geht um Menschenhandel. Das war ein
Schwerpunkt unserer Arbeit vor der Sommerpause.
Es geht des Weiteren um die Bekämpfung von Einbruchsbanden, deren Aktivitäten zugenommen haben,
oder auch um die Mafia. Die italienische Abgeordnete
Laura Garavini, die Mitglied des Antimafiaausschusses
in Rom ist und einen Wohnsitz in Berlin hat, hat gesagt,
dass die Mafia ihre Milliarden aus Drogen- und Waffenhandel sowie aus Erpressung dort investiert, wo die
Bedingungen am günstigsten sind, die Profite am höchsten sind und das Risiko am kleinsten ist - und das ist
in Deutschland der Fall. Deutschland ist ein Rückzugsraum zum Geldwaschen. Es geht hier um erhebliche
Verbrechen, viel Leid und große Schäden. Hier müssen
wir einen noch beherzteren Kampf führen. Dazu sind effektivere Ermittlungsmaßnahmen notwendig. Laura Garavini mahnte aufgrund der Erfahrungen in Italien mehr
Möglichkeiten zur Kommunikationsüberwachung - allein aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten
Clan - an. Erforderlich sind zielgenaue Straftatbestände.
Für solche haben wir in den vergangenen Wochen und
Monaten schon bei Geldwäsche, Terrorismusfinanzierung und Menschenhandel gesorgt. Hinzu kommt die
Formulierung verschiedener Korruptionstatbestände.
Wir brauchen als letztes Element effektive Möglichkeiten zur Abschöpfung von Gewinnen aus Straftaten. Allen Straftaten, um die es hier geht, liegt nämlich das Motiv zugrunde, Geld zu verdienen und Gewinn zu erzielen.
Das Streben nach Profit ist die wichtigste Triebfeder der
grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität einschließlich mafiaähnlicher, krimineller Organisationen.
Das besagt die europäische Richtlinie, die wir mit diesem Gesetz umsetzen. Das besagen auch unsere Gesetze.
Aber der Blick in die Praxis zeigt, dass hier noch vieles
besser werden muss. Das sagt in aller Deutlichkeit auch
die Mafiaexpertin Garavini, nach deren Einschätzung die
Mafia ihren Rückzugsraum in Deutschland sucht. Die
Zahlen des Bundeslagebildes Organisierte Kriminalität
besagen, dass nur etwa in einem Viertel der Fälle Verfahren eröffnet werden, in denen Vermögen abgeschöpft
wird. Es gibt Schätzungen, dass wir in Deutschland ein
illegales Vermögen von über 3 Milliarden Euro haben,
und nur ein Bruchteil davon ist sichergestellt. Was sind
hier die Gründe? Es gibt - sie wurden ja auch schon genannt - unterschiedliche Gründe: Teilweise gibt es eine
Konkurrenz zu Opferansprüchen, die natürlich vorgehen
sollen. Diese Ansprüche halten häufig ein Verfahren auf,
werden zu oft dann aber nicht wirklich durchgesetzt. Des
Weiteren gibt es Verschiebungen der Beute hin zu Ahnungslosen oder auch kollusiv handelnden Dritten.
Der wichtigste Grund, dass eine Vermögensabschöpfung nicht erreicht werden kann, besteht darin, dass die
volle Beweislast dafür erbracht werden muss, dass eine
Beute aus einer bestimmten kriminellen Tat resultiert.
Dieser Beweis muss von der Staatsanwaltschaft erbracht
werden. Er ist häufig nur sehr aufwendig zu führen. In
der Praxis führt das dazu, dass offenkundig gelogene
Ausreden hingenommen werden müssen bzw. nicht widerlegt werden. Das kann so nicht stehen bleiben.
Wer überführter Straftäter ist, hat eine andere Darlegungs- und Beweislast. Er muss erklären, woher unerklärliches Vermögen kommt. Das gilt zum Beispiel
für jemanden, bei dem auf dem Dachboden Bargeld in
Eimern gefunden wird, der aber kein geregeltes legales
Einkommen hat. Wer zehn Rolex-Uhren hat, der kann
sich nicht damit herausreden, dass er sie von seinem Onkel geschenkt bekommen hat, und dergleichen mehr.
({0})
Wir machen deshalb einen Vorschlag für eine deutliche Erleichterung im Hinblick auf die Beweislast. Hier
müssen wir uns - weil wir uns dabei natürlich auch im
Schutzbereich von Artikel 14 Grundgesetz bewegen sehr genau anschauen, welche Voraussetzungen gegeben
sein müssen, welcher Grad von Verdacht bestehen muss
und bei welchem Stand der Ermittlungen man zu einer
Beweislastumkehr kommen kann. Das ist für einen Katalog von sehr schweren Straftaten vorgesehen. Ich glaube,
den müssen wir uns auch noch einmal anschauen. Dabei
geht es auch um die Frage: Gehören dazu nicht auch Zuhälterei und Einbruchdiebstahl?
Wichtig ist, dass wir eine Regelung hinbekommen,
die in der Praxis klappt und natürlich auch den verfassungsmäßigen Anforderungen genügt. Wir müssen aber
auch noch - ich glaube, der Hinweis des Richterbundes
ist wichtig - eines im Blick haben: Die Ressourcen bei
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten sind an dieser
Stelle sehr begrenzt. Deshalb muss man vielleicht dazu
auch sagen, dass Behörden, die eigene Durchgriffsrechte
haben, diese auch selber nutzen und ihre Probleme nicht
bei der Staatsanwaltschaft abladen sollten.
Weiter müssen wir überlegen, ob nicht eventuell,
wenn es um aufwendige Ermittlungen geht, eine Priorisierung schwerer Straftaten möglich ist. Wir werden also
gut daran tun, uns da auch weiterhin ganz eng mit der
Praxis abzustimmen, damit wir eine gute Regelung hinbekommen. In dem Sinne freue auch ich mich auf unsere
Beratungen.
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Frau Winkelmeier-Becker. - Nächster Redner für Bündnis 90/Die Grünen: Hans-Christian
Ströbele.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuhörer! Es handelt sich hier um eine etwas komplizierte Materie. Über 100 Paragrafen sollen im Strafgesetzbuch, in der Strafprozessordnung sowie in vielen
anderen Gesetzen geändert werden. Es ist also nicht ganz
so einfach, wie es - auch vom Bundesjustizministerium dargestellt wird.
Der Minister selber hat in einem kürzlich der NJW das ist die Neue Juristische Wochenschrift - gegebenen
Interview erklärt, es gehe hier darum, Gerichte und
Staatsanwaltschaften spürbar zu entlasten. Genau das ist,
glaube ich, ein Ziel, das mit diesem Gesetzentwurf nicht
erreicht werden kann. Vielmehr werden vor allen Dingen
Gerichte, Staatsanwaltschaften und Rechtspfleger erheblich zusätzlich belastet. Das ist nicht nur meine Idee,
nicht nur ich lese das hier heraus. Dies kommt auch aus
den Ländern, zum Beispiel aus Niedersachsen.
Man muss sich doch einmal vorstellen: Es soll in der
Regel nach Straftaten etwas eingezogen werden, was aus
diesen erlangt wurde. Dabei geht es aber auch um Nutzungen, um Ersatz für aus der Tat Erlangtes, um Gegenstände aus der Tat, sogar um Wertersatz und - ich komme
gleich noch darauf - um selbstständige Einziehung dann,
wenn es einem Angeklagten überhaupt nicht zuzurechnen ist. Auch das kann dann eingezogen werden. Aber
wo bleibt das Ganze? Es geht - so steht es ausdrücklich
im Gesetz - erst einmal in das Eigentum des Staates über.
Dagegen kann man nichts haben. Ich kenne niemanden,
der der Meinung ist - auch wir sind nicht dieser Meinung -, dass aus Straftaten erlangtes Vermögen, wenn
das ganz klar und konkret ist, bei den Straftätern verbleiben soll. Natürlich nicht. Wir sind auch dafür, dass
die Opfer, die Geschädigten, wenn irgendwie möglich,
einfach an ihre Entschädigung kommen. Doch kommen
sie mit diesem Gesetz einfacher an die Entschädigung?
Heute kann man, wenn beispielsweise ein Einbruch
erfolgt und etwas weggekommen ist - wenn es vermögende Leute sind -, sofort versuchen, zu klagen. Das
läuft dann parallel zum Strafverfahren. Möglicherweise
setzt die Zivilkammer das Verfahren aus; das kann sein.
Aber es gibt wenigstens diese Möglichkeit. Nach diesem
Gesetz ist es immer so, dass die Opfer, die Geschädigten,
abwarten müssen, bis das Urteil rechtskräftig geworden
ist. Wir wissen, dass gerade Wirtschaftsstrafverfahren,
aber auch Verfahren wegen Serieneinbrüchen jahrelang
dauern können, wenn die Beteiligten durch die Instanzen
gehen. Erst danach können die Leute versuchen, an ihr
Geld zu kommen.
Auch dann muss sich das Gericht damit beschäftigen,
wer wie viel verloren hat, wer um wie viel Geld geschädigt worden ist. Diese Arbeit bleibt bei den Gerichten.
Das heißt, sie müssen sich in jedem Verfahren, wenn sie
eine Einziehung anordnen, genau überlegen, was denn
nun konkret eingezogen wird. Das ist gerade dann der
Fall, wenn es nicht um einzelne Gegenstände wie ein geklautes Auto geht, sondern um Vermögenswerte, die später überhaupt erst entstanden sind, etwa aus dem Verkauf
oder aus Vererbung. Dann müssen die Gerichte prüfen,
ob dem tatsächlich so ist.
Die Staatsanwaltschaften verwalten dann diese 6 Milliarden Euro. Herr Staatssekretär, wer verwaltet das Vermögen denn, bis Geschädigte Anspruch anmelden oder
der Staat es verwertet? So liegen Milliardenwerte in der
Verfügungsgewalt des Staates. Damit muss umgegangen
werden, die Gelder müssen verwaltet werden. Deshalb
gehen die Länder davon aus, dass es einen erheblichen
Zusatz an Verwaltungsaufgaben geben wird. Sie machen
jetzt schon die Gegenrechnung auf und fragen, wie viel
bei ihnen aus der Verwertung der eingezogenen Gegenstände verbleibt. Da ist also noch vieles zu klären.
({0})
Sie haben das Beispiel genannt, dass eine selbstständige Einziehung erfolgen kann, wenn zum Beispiel ein
grobes Missverhältnis zwischen Wert und regelmäßigem
Einkommen besteht. So steht es im Gesetz. Das ist auch
dann der Fall, wenn es gar keinen Angeklagten, keinen
strafrechtlich Verantwortlichen gibt. Sie nennen als Beispiel dafür - Sie haben das auf eine ganze Reihe von
Straftaten beschränkt - den Terrorismus, verschweigen
aber, dass es noch 30, 40 weitere Straftatbestände aus anderen Gesetzen gibt, zum Beispiel aus dem Asylverfahrensgesetz oder dem Betäubungsmittelgesetz. Auch bei
diesen wollen Sie das anwenden. Deshalb kann ich hier
nur zum Abschluss sagen: Wir müssen uns ganz genau
überlegen und evaluieren - wir müssen uns möglicherweise von den Ländern Zahlen geben lassen -, in welchem Umfang welche Arbeit auf die Strafverfolgungsbehörden zukommt. Ist es wirklich eine Erleichterung für
die Opfer, oder muss man nicht mindestens noch andere
Wege freihalten?
({1})
Vielen Dank, Hans-Christian Ströbele. - Der nächste
Redner: Dr. Johannes Fechner für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen auf den Tribünen!
In den letzten Tagen waren Zitate in den Zeitungen zu
lesen wie etwa: „Die Mafia zieht es nach Deutschland“,
„Die Mafia findet in Deutschland günstige Bedingungen
für illegale Geschäfte“ oder „Deutschland ist ein Eldorado für Mafiosi“. Wenn man sich vor Augen hält, dass nach
seriösen Schätzungen in Deutschland pro Jahr 100 Milliarden Euro gewaschen werden und dass es leider auch
bei uns Milliardengewinne durch Menschenhandel gibt,
dann müssen wir das bekämpfen.
Die in Berlin lebende und schon genannte italienische
Abgeordnete und Antimafiaaktivistin, Frau Garavini,
nennt als eines der wirksamsten Mittel im Kampf gegen
die organisierte Kriminalität und die Mafia, die Gewinne
der Straftäter abzuschöpfen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, genau hier setzen wir mit diesem Gesetz an. Wir
sorgen dafür, dass die Gewinne aus Straftaten endlich
leichter eingezogen werden können. Das ist eine überfällige Maßnahme. Deshalb ist dies ein gutes Gesetz. Auch
ich möchte sagen: Verbrechen darf sich nicht lohnen.
({0})
Oft waren nach der bisherigen Rechtslage Vermögensabschöpfungen nicht möglich. Das Verfahren war sehr
kompliziert, vor allem, weil oft schon im Strafprozess
schwierige zivilrechtliche Fragen zu debattieren waren,
weshalb die Gerichte von der Vermögensabschöpfung oft
abgesehen haben. Das führte leider dazu, dass Straftäter
möglicherweise verurteilt wurden, aber eben die Beute
nicht eingezogen werden konnte. Im schlimmsten Fall
stand dieses Geld dann wieder quasi als Investitionskapital für zukünftige Straftaten zur Verfügung. Genau das
müssen wir ändern.
({1})
Mit diesem Gesetz wollen wir das Verfahren der Vermögensabschöpfung, wie gesagt, vereinfachen. Die Opfer müssen nicht mehr vor einem Zivilgericht einen eigenen Titel erstreiten und dann mit ungewissen Aussichten
die Zwangsvollstreckung selber betreiben, sondern dies
kann über das Strafverfahren geschehen. Die Vermögensabschöpfung wird dabei zum Regelfall. Wenn sich
der Strafprozess in die Länge zieht, kann das Verfahren
auch abgetrennt werden.
Die Abschöpfung kann auch nachgeholt werden.
Entschuldigung, dass ich Sie unterbreche: Ich möchte
Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage oder -bemerkung
zulassen.
Ja.
Dann Frau Keul, bitte.
Vielen Dank für die Zulassung der Frage. - Dass wir
alle wollen, dass sich Straftaten nicht lohnen, ist, glaube ich, klar. Das haben wir hier auch mehrfach gehört.
Aber was sagen Sie denn zu den Darlegungen des Kollegen Ströbele, dass die Betroffenen im Prinzip dadurch
schlechtergestellt sind, dass man ihnen die Möglichkeit
nimmt, während des laufenden Strafverfahrens zivilrechtlich ihre Ansprüche einzuklagen?
({0})
Das scheint mir doch ein erheblicher Nachteil zu sein;
denn das stellt sie ja mehr oder weniger rechtlos für die
Dauer des Verfahrens. Was sagen Sie dazu?
Ich sehe die Grundlage für die Annahme von Herrn
Ströbele nicht. Ich glaube, dass er da fehlgeht. Wir wollen diese Einschränkung nicht. Wir werden uns das im
Verfahren genau anschauen. Wenn Sie der Meinung sind,
dass wir hier Dinge klarzustellen haben, dann werden wir
uns gern damit beschäftigen.
({0})
- Bitte schön.
Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auch Herrn
Ströbele fragen lassen?
Na logo.
Gut. - „Na logo“ ist das gar nicht.
Doch, er ist freundlich. Er darf fragen.
Danke, Herr Kollege Fechner. - Es gibt heute schon
einen entsprechenden Paragrafen. § 73 StGB ist die
Grundlage. Nur heißt es da nicht „Einziehung“, sondern
„Verfall“. Aber in § 73 Absatz 1 Satz 2 wird ausdrücklich
geregelt, dass dieses Verfallsverfahren, wenn das Opfer
bzw. der Geschädigte einen Anspruch hat, nicht eintritt.
Warum streichen Sie das jetzt?
({0})
Genau deswegen, Herr Ströbele. Ich glaube, wir haben
jetzt ein Interpretationsproblem. Wir wollen doch genau
Ihrem Anliegen nachkommen,
({0})
dass diese Situation nicht eintritt. - Ich freue mich auf
das Verfahren und auf die Beratungen mit Ihnen.
So, weiter geht’s.
Weiter geht’s, genau. - Wichtig ist auch - das ist schon
angesprochen worden - die Regelung für die unklaren
Herkünfte. Wenn also beispielsweise bei einer Grenzkontrolle eine Person erwischt wird, die einen hohen Bargeldbetrag bei sich hat, und das Gericht zu dem Ergebnis
kommt, dass sämtliche Umstände keinen anderen Schluss
zulassen, als dass dieses Geld durch eine Straftat erlangt
worden ist, dann kann dieses Geld zukünftig eingezogen
werden, auch wenn nicht genau festgestellt werden kann,
durch welche Straftat der Täter dies erlangt hat.
({0})
- Doch, Herr Ströbele. Lesen Sie es nach. Das steht ausdrücklich so im Gesetzentwurf. - Das ist verfassungsrechtlich sicher. Das Gericht darf nicht ins Blaue hinein
vorgehen, sondern das Geld nur dann einziehen lassen,
wenn festgestellt wird, dass eine Straftat Grund für den
Vermögenszuwachs ist.
Ich will den zweiten wichtigen Aspekt dieses Gesetzentwurfs ansprechen: die Opferentschädigung. Ich glaube, dass wir hier wirklich einen Meilenstein für die Opferentschädigung schaffen, allein schon deshalb, weil wir
das Windhundprinzip, das es bisher gibt, aufheben. Jetzt
bekommen wir eine gerechte Verteilung der Beträge, die
noch da sind. Diese Beträge werden aus meiner Sicht davon gehe ich aus - höher sein, weil wir zu mehr Vermögensabschöpfungen kommen werden. Das heißt, für
die Opfer steht mehr Geld zur Verfügung.
Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir
mit diesem Gesetz viel für die Opfer tun. Wir vereinfachen die Opferentschädigung. Wir ermöglichen die Abschöpfung von Gewinnen aus Steuerbetrug, Geldwäsche
oder Menschenhandel, und wir verhindern damit, dass
die Täter ihre durch Straftaten erlangten Gewinne behalten können. Stimmen wir also diesem Gesetz zu, helfen
wir den Opfern, verbessern wir die Entschädigung, und
lassen wir nicht zu, dass sich Verbrechen lohnt!
Vielen Dank.
({1})
Vielen Dank, Dr. Fechner. - Der nächste Redner in der
Debatte: Dr. Jan-Marco Luczak für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Vielen Dank. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Gesetzgeber haben wir die
Verpflichtung, Menschen effektiv vor Kriminalität und
Verbrechen zu schützen. Staatstheoretisch ist das eine
unserer vornehmsten Aufgaben, weil wir damit den Gesellschaftsvertrag im Sinne von Thomas Hobbes erfüllen,
nämlich den Menschen ihre Sicherheit, ihr Leben, ihr Eigentum zu garantieren. Unter dieser Prämisse unterwerfen sich die Menschen der Staatsmacht. Daraus speist
sich letztlich auch ein Stück weit die Legitimation eines
staatlichen Gebildes. Deswegen ist es so wichtig, dass
wir die Strafverfolgung effektiv gewährleisten. Dazu gehören im Kern drei Punkte:
Zum Ersten brauchen wir einen wirksamen rechtlichen Regelungsrahmen. Insbesondere die Strafgesetze
müssen so ausgestaltet sein, dass Kriminalität nachhaltig
bekämpft werden kann.
Zum Zweiten gehört dazu, dass die Polizei, die Staatsanwaltschaften und die Gerichte ausreichende Befugnisse haben. Natürlich müssen sie auch personell entsprechend ausgestattet sein, um ihren Aufgaben nachkommen
zu können.
Zum Dritten - hier schließt sich der Kreis zum Gesetzentwurf, den wir heute miteinander diskutieren - müssen
wir die Folgen von Straftaten in den Blick nehmen. Hier
spielt die Vermögensabschöpfung eine wirklich zentrale
Rolle für die effektive Strafverfolgung; denn nur dann,
wenn Vermögenswerte aus strafbaren Handlungen dem
Täter schnell, wirksam und umfassend wieder entzogen
werden können, schwindet der Anreiz für die Begehung
der Tat und entfällt der finanzielle Boden dafür, in Zukunft Straftaten zu begehen.
Das ist gerade im Bereich der organisierten Kriminalität und im Bereich der Terrorismusbekämpfung ein
ganz fundamentaler Satz. Weil das so ist und weil die
Vermögensabschöpfung in der Praxis momentan nicht
gut funktioniert - sie ist kompliziert, sie ist fehleranfällig und weist Lücken auf; das ist ein in höchstem Maße
unbefriedigender Rechtszustand -, haben wir als Union
uns dieses Themas angenommen und gesagt: Das muss
in den Koalitionsvertrag; das muss reformiert, das muss
verbessert werden. - Insofern ist es gut, dass wir jetzt
einen Gesetzentwurf haben, über den wir diskutieren
können.
({0})
Ich möchte gern kurz auf den Kollegen Ströbele eingehen. Es schien mir, Herr Kollege, als hätten Sie das
Gesetz in einem Punkt nicht richtig verstanden. Sie haben zu Recht auf § 73 Absatz 1 Satz 2 StGB hingewiesen.
Darin ist festgelegt: Wenn ein Opfer vermögensrechtliche Ansprüche, zivilrechtliche Ansprüche aus einer
Straftat gegen den Täter hat, dann kommt es hier nicht
zu einer Rückgewinnungshilfe, dann kann der Staat nicht
eingreifen, dem Opfer nicht zur Seite stehen. Man hat
diese Vorschrift deswegen „Totengräber des Verfalls“ genannt. In allen Fällen, in denen es um Betrug, Untreue
und Diebstahl geht, also im gesamten Bereich der Vermögenskriminalität, ist es so, dass man als Opfer einen
zivilrechtlichen Anspruch gegen den Täter hat. Insofern
greift diese Vorschrift immer. Man muss immer den Zivilrechtsweg beschreiten; der Staat steht einem nicht zur
Seite.
Das wollen wir ändern. Diese Vorschrift wird ersatzlos gestrichen, sodass die Folge ist: Wir haben ein Entschädigungsverfahren, also ein staatliches Verfahren;
das hat der Kollege Fechner schon dargestellt. Im strafrechtlichen Verfahren, im Strafvollstreckungsverfahren
bekommt man Hilfe vom Staat. Gleichzeitig - insofern
ist es keine Verschlechterung - hat man die Möglichkeit,
seine Ansprüche auf dem Zivilrechtsweg durchzusetzen.
Man kann also in Zukunft zweigleisig vorgehen, und das
ist eine wirkliche Verbesserung für das Opfer. Deswegen
ist es gut, dass wir das so machen.
({1})
Das Gesetz enthält viele Punkte; ich könnte viel dazu
sagen. Ich möchte aber auf einen Punkt eingehen, der
hier schon angesprochen worden ist, und zwar auf das
Vermögen unklarer Herkunft, eines der Kernelemente
dieses Gesetzes. Heute ist es so: Wenn im Rahmen eines
Ermittlungsverfahrens Vermögenswerte festgestellt werden, bei denen klar ist, dass sie aus rechtswidrigen Taten
stammen müssen, man das dem Betroffenen aber nicht
nachweisen kann, ihn entsprechend auch nicht verurteilen kann, dann hat man keine Chance, an diese Vermögenswerte heranzukommen. Das gilt selbst in den Fällen,
in denen völlig klar ist, dass die Vermögenswerte nicht
im Eigentum des Betroffenen stehen können. Das ist eine
im höchsten Maße unbefriedigende Rechtslage, und das
muss geändert werden.
Deswegen gibt es zukünftig in § 76a StGB das neue
Instrument der selbstständigen Einziehung. Selbst dann,
wenn einem Verdächtigen die eigentliche Straftat nicht
bis zur Verurteilung nachgewiesen werden kann, das Gericht aber dennoch von der illegalen Herkunft des Vermögenswertes überzeugt ist, wird zukünftig eine Einziehung möglich sein. Es gibt bestimmte Aspekte, auf die
sich das Gericht berufen kann; wir haben schon davon
gehört. Wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem
Wert des Gegenstandes und den regelmäßigen Einkünften des Betroffenen besteht, dann liegt das ja ein Stück
weit auf der Hand. Insofern gibt es hier eine Art Beweislastumkehr.
Das ist - das will ich gar nicht verschweigen - verfassungsrechtlich nicht unproblematisch.
({2})
Daher gibt es auch erhebliche Kritik an diesem Gesetzentwurf. Diese muss man sich genau anschauen. Dabei
spielen die Eigentumsgarantie des Artikels 14 GG und
die Unschuldsvermutung eine Rolle.
({3})
Diese Kritik nehme ich durchaus ernst. Wir werden uns
das im parlamentarischen Verfahren im Rahmen der Anhörungen sicherlich sehr genau anschauen. Aber letztlich
muss klar sein: Das Strafrecht und die Vermögenseinziehung sind ein scharfes Schwert. Hier müssen wir größtmögliche Sorgfalt an den Tag legen. Einerseits müssen
wir im Interesse der Sicherheit der Menschen eine effektive Strafverfolgung gewährleisten, um der organisierten
Kriminalität und dem Terrorismus den Boden zu entziehen. Andererseits müssen wir die Rechte der Beschuldigten wahren. Insofern ist das schon eine diffizile Gratwanderung.
Ich glaube aber, dass in der Abwägung die Kritik an
diesem Instrument letztlich nicht greift. Die Vermögensabschöpfung hat ja im Kern keinen Strafcharakter. Sie ist
auf den Vermögenswert bezogen - nicht auf die Person,
sondern auf die Sache. Insofern ist auch die Unschuldsvermutung an dieser Stelle nicht tangiert.
Letztlich wird auch Artikel 14 GG, also die Gewährleistung des Eigentums, nicht dagegen sprechen, ein
solches Instrument zu installieren; denn die Einziehung
erfolgt ja in einem rechtsstaatlichen Verfahren. Sie ist
an enge Voraussetzungen geknüpft. Insofern ist der Gewährleistungsgehalt von Artikel 14 durch eine verfahrensrechtliche Sicherung ausreichend geschützt. Trotzdem werden wir uns das im parlamentarischen Verfahren
genau anschauen.
Ich glaube, unter dem Strich sollte uns alle ein Ziel
einen: Wir brauchen dieses Instrument der Vermögensabschöpfung, damit wir effektiv gegen Kriminalität vorgehen können. Es muss heißen - das wurde heute schon
mehrfach gesagt -: Verbrechen darf sich nicht lohnen.
Insofern ist es ein guter Gesetzentwurf, den wir hier vorliegen haben.
({4})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Der letzte Redner ist
Alexander Hoffmann für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und
Herren auf den Besucherrängen! Es gibt unterschiedliche Motivationen, warum Menschen zu Straftätern werden. Die einen handeln aus reiner Schädigungs- oder
Verletzungsabsicht. Wieder andere nutzen die spontane
Gelegenheit zu einer Straftat aus. Aber viele Straftaten
haben eine große Gemeinsamkeit: Die Grundmotivation
ist Geld. Der Täter möchte seine wirtschaftliche, seine
monetäre Situation verbessern. Deswegen ist es naheliegend, dass sich der Rechtsstaat Gedanken über die Frage
macht: Wie können wir dem Täter diese Motivation nehmen? Insofern begrüße ich ausdrücklich, dass mit dem
uns vorliegenden Gesetzentwurf des Justizministeriums
der Versuch unternommen wird, das Recht der Vermögensabschöpfung grundlegend zu vereinfachen. Bisher
war es zu statisch, zu kompliziert und für die Praxis
nicht wirklich tauglich. Es wird außerdem der Versuch
unternommen, nicht vertretbare Abschöpfungslücken zu
schließen. Das ist die eine Perspektive.
Aber wo Straftaten begangen werden, da gibt es eben
auch Opfer. Das Gute an diesem Gesetzentwurf ist, dass
auch das Thema Opferschutz in den Fokus gerückt wird;
denn bei ehrlicher Betrachtung müssen wir feststellen,
dass wir hier Schutzlücken haben. Nach der aktuellen
Rechtslage ist es so, dass die Strafjustiz zwar Vermögenswerte im Wege der sogenannten Rückgewinnungshilfe
sichern kann, aber das Opfer dann zivilrechtlich seinen
Anspruch geltend machen muss. Herr Ströbele, das haben Sie vorhin leider nicht beleuchtet: Dieser zivilrechtliche Anspruch ist oftmals mit sehr vielen Schwierigkeiten
behaftet, von der psychischen Situation des Opfers einmal ganz abgesehen. Oftmals wird nach dem Windhundprinzip agiert - das ist schon angeklungen -: Wer zuerst
kommt, mahlt zuerst. Zudem besteht das Risiko, dass bis
zur zivilrechtlichen Realisierung eines Anspruchs Vermögenswerte beiseitegeschafft werden. Deswegen ist es
gut, dass der Gesetzentwurf hier die Sicherstellung durch
die Justizbehörden vorsieht und nach Rechtskraft des Urteils die Verwertung und Auskehrung des Erlöses direkt
an das Opfer, und zwar unter Gleichbehandlung aller Geschädigten. Ich glaube, das ist der große Zugewinn dieses
Vorschlags.
Wir begrüßen außerordentlich - auch das will ich
betonen -, dass der Instrumentenkasten der Vermögensabschöpfung - so will ich es einmal nennen - für die
Bereiche der organisierten Kriminalität und der Terrorismusbekämpfung erweitert wird; denn hier ist die Einziehung von Gegenständen, die aus einer rechtswidrigen
Tat stammen, auch dann vorgesehen, wenn eine Verurteilung wegen dieser konkreten Tat nicht erfolgen kann. Bei
kritischer Betrachtung möchte ich auch darauf hinweisen, dass nach wie vor für alle Instrumente gilt, dass die
Staatsanwaltschaft die deliktische Herkunft des Vermögenswertes nachweisen muss.
Gerade weil wir am Anfang dieses Verfahrens stehen,
möchte ich dafür werben, dass wir den Versuch unternehmen, uns im Rahmen der rechtsstaatlichen Grenzen ein
Stück weiter aus dem Fenster zu lehnen. Wir sollten definitiv vermeiden, hinter der aktuellen Rechtslage zurückzubleiben. Im vorliegenden Gesetzentwurf bin ich mir da
an einer Stelle nicht ganz sicher. In § 76a Absatz 4 des
Entwurfs heißt es - in der Begründung steht es etwas anders -, dass es um einen Gegenstand gehen muss, der aus
einer rechtswidrigen Tat herrührt. Diese Formulierung ist
natürlich wesentlich zielgenauer als der bisherige § 73d.
Hier hat es genügt, wenn Umstände die Annahme rechtfertigen, dass der Vermögenswert aus einer rechtswidrigen Tat stammt. In der Begründung ist dies klargestellt.
Aber wir wissen, dass die bisherige Formulierung schon
auf dem Prüfstand des Bundesverfassungsgerichts stand.
Deswegen sollten wir uns sehr gut überlegen, ob die Umformulierung nicht zu dem Ergebnis führt, dass wir eine
eher seichtere Regelung haben.
Ich werbe ausdrücklich für eine Beweislastumkehr,
die wir uns vielleicht etwas offensiver überlegen sollten.
Ich begrüße den Vorstoß aus Bayern. In der Polizeilichen
Kriminalstatistik ist zu lesen, dass bei der organisierten
Kriminalität die festgestellten kriminellen Erträge für
das Jahr 2014 bei 335 Millionen Euro lagen; vorläufig
gesichert werden konnten nur 90 Millionen Euro. Im
Jahr 2013 lag die Höhe der festgestellten kriminellen Erträge bei 638 Millionen Euro; hier konnten nur Vermögenswerte in Höhe von 85 Millionen Euro vorläufig gesichert werden. Das sollte für uns Motivation genug sein.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen und bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege Hoffmann. - Ich schließe
die Aussprache und bedanke mich für die wirklich lehr-
reiche und spannende Debatte. Es ist immer gut, wenn
man etwas lernt. Danke schön. Das hat uns hier im Prä-
sidium gutgetan.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 18/9525 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Es gibt
dazu keinen weiteren Vorschlag. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und 10 b auf:
a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald
Weinberg, Sabine Zimmermann ({1}),
Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion DIE LINKE
Zusatzbeiträge abschaffen - Parität wieder-
herstellen
Drucksachen 18/7237, 18/9168
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Gesundheit ({2}) zu dem Antrag der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Elisabeth Scharfenberg,
Kordula Schulz-Asche, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Lasten und Kosten fair teilen - Paritätische
Beteiligung der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an den Beiträgen der gesetzlichen Krankenversicherung wiederherstellen
Drucksachen 18/7241, 18/9169
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre und
sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Wenn Sie alle sitzen und konzentriert sind, können Sie
dem ersten Redner zuhören. - Ich eröffne die AusspraAlexander Hoffmann
che. Der erste Redner ist Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In beiden Anträgen, die wir heute diskutieren, führen die
Oppositionsfraktionen steigende Zusatzbeiträge in den
Jahren 2015 und 2016 sowie erhebliche Mehrausgaben
der Krankenversicherungen zulasten der Arbeitnehmer
an. Dadurch würden stärkere Belastungen der Bezieher
kleinerer und mittlerer Einkommen entstehen sowie die
Entlastung der Arbeitgeber vertieft - so der Grundtenor.
Wie wir nun schon häufiger gehört haben, sehen die
Oppositionsfraktionen die Lösung des Problems in der
Rückkehr zur paritätischen Beitragsfinanzierung und in
der Einführung einer Bürgerversicherung.
({0})
- Wenn ich von der Seite Applaus bekomme, kriege ich
meistens Angst.
({1})
Ob die Wiedereinführung des Buß- und Bettags als gesetzlichen Feiertag, die auch gefordert wird,
({2})
die Frage der sozialen Ungerechtigkeiten an dieser Stelle
löst, sei einmal dahingestellt.
In der Tat können wir feststellen, dass die in den Anträgen der Oppositionsfraktionen aufgeführten Kostensteigerungen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherungen in den vergangenen Jahren zu - in meinen
Augen moderaten - Anstiegen der Zusatzbeiträge geführt
haben. Hier ist es uns als Union wichtig, eine gerechte
Lastenverteilung zwischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf der einen Seite und Arbeitgebern auf der
anderen Seite zu gewährleisten.
({3})
Wir alle wissen, dass 2004 im Zuge der Agenda 2010
Zusatzbeiträge von 0,9 Prozent erhoben worden sind.
Das war Rot-Grün.
({4})
Ich glaube, dass Deutschland auch heute noch davon
profitiert. - Nehmen Sie dieses Lob einfach einmal zur
Kenntnis! - In meinen Augen ist das ganz in Ordnung.
Wir dürfen aber auch nicht unter den Scheffel stellen,
dass die Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und SPD
in ihrem Koalitionsvertrag ganz bewusst den Arbeitnehmeranteil von 8,2 Prozent auf 7,3 Prozent reduziert haben. Damit haben wir ausdrücklich die Erhebung von Zusatzbeiträgen fördern wollen, um unter den gesetzlichen
Krankenkassen einen Preiswettbewerb zu ermöglichen Stichwort „Beitragsautonomie“ -, meine sehr geehrten
Damen und Herren.
({5})
Die Krankenkassen - das dürfen Sie mir glauben; ich war
selber 20 Jahre bei der AOK Bayern beschäftigt - sollen
ganz bewusst hinsichtlich der Kosten, aber auch der Qualität im Wettbewerb zueinander stehen. Wir wollen wirtschaftliche Anreize setzen, weil das den Dienstleistungsgedanken zugunsten der Versicherten aufrechterhält.
({6})
Gleichzeitig haben die Krankenkassenmitglieder ein
Sonderkündigungsrecht usw.
Dass Transparenz und Aufklärung gefordert werden,
ist vollkommen normal. Ich glaube, da sind wir uns einig. Aber darüber hinaus ist es aus meiner Sicht auch
notwendig, in dieser häufig sehr emotional geführten Debatte die Parität vollständig zu betrachten; denn bei der
Diskussion über eine gerechte Lastenverteilung werden
beispielsweise die Lohnfortzahlungen des Arbeitgebers
im Krankheitsfall sowie die Versicherung der Arbeitnehmer bei Unfällen auf dem Weg zum und am Arbeitsplatz
gerne außen vor gelassen. Das möchte ich an dieser Stelle erwähnen.
Ich möchte es deutlich sagen: Wir haben ein gutes Gesundheitssystem - in meinen Augen eines der besten auf
der Welt -,
({7})
und ich glaube, dass wir hier auch einmal sagen müssen, dass es gut funktionierende Sozialsysteme nicht zum
Nulltarif gibt.
({8})
Ich glaube natürlich auch, dass die Wirtschaft ihren Beitrag dazu leisten muss. Das ist völlig normal. Am Ende
ist, was die Wirtschaft betrifft, die Schaffung von Arbeitsplätzen zumindest für mich die beste Sozialpolitik.
Der Satz von Edmund Stoiber: „Sozial ist, was Arbeit
schafft“, hat auch 2016 noch Gültigkeit.
({9})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland bewegt sich, was die Lohnnebenkosten betrifft, im europäischen Umfeld im Mittelfeld.
Ich glaube auch, dass das angemessen ist. Die bestehenden Beitragssätze haben CDU, CSU und SPD in ihrem
Koalitionsvertrag für diese Legislaturperiode gemeinsam
beschlossen, und sie werden bis zu ihrem Ende auch bestehen bleiben. Wir dürfen nicht vergessen - ich glaube,
das ist schon wichtig -, dass es uns gelingen muss, nach
außen Verlässlichkeit in diesem System zu dokumentieren.
({10})
Das ist ein wesentlicher Wert, zumindest für uns.
({11})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, das soll aber nicht
Vizepräsidentin Claudia Roth
heißen, dass diese Beitragssätze für immer in Stein gemeißelt sind und wir nicht offen für Veränderungen sind.
Gerne können wir uns über die Parteigrenzen hinweg
konstruktiv über Reformen der gesetzlichen Krankenversicherung austauschen und darüber diskutieren. Jedoch sollte der Grundgedanke eines Wettbewerbs unter
den Krankenkassen zugunsten der Versicherten nicht in
Zweifel gezogen werden. Das wünsche ich mir. Zum
Thema Bürgerversicherung habe ich eine ganz andere
Meinung als Sie; aber ich glaube, das werden wir noch
an einer anderen Stelle bereden.
Der Grund der heutigen Debatte sind die beiden Anträge der Opposition. Sie sind für uns keine Alternative
und werden von uns nicht weiter verfolgt.
In diesem Sinne herzlichen Dank.
({12})
Vielen Dank, Erich Irlstorfer. - Der nächste Redner:
Harald Weinberg für die Linke.
({0})
Ich glaube nicht, dass alles gesagt ist. - Sehr geehrte
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Man muss erst einmal feststellen:
Die Messe ist gelesen, die Beschlussempfehlungen zu
den beiden Anträgen liegen vor, und es ist klar, welches
Schicksal diese guten Anträge von den Grünen und uns
erleiden werden. Das ist relativ eindeutig.
({0})
Ich verstehe die SPD aber nicht. Sie fasst auf ihrer Klausur den Beschluss, dass die paritätische Finanzierung,
also halbe-halbe, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wiederhergestellt werden soll, und wir bieten ihr
dann die Chance, das umzusetzen und damit das positive
Signal auszusenden, dass sie auch tut, was sie sagt; aber
sie lässt diese Chance leider wieder verstreichen.
({1})
Wie lange, liebe SPD, wollt ihr noch im Bus der Union auf der rechten Spur fahren? Ab und zu links zu blinken, hilft da nichts. Wenn ihr wirklich überholen wolltet,
müsstet ihr aussteigen und mit uns zusammen links ausscheren.
({2})
Die Chance ist da; sonst ist sie weg.
Dann will ich meine Redezeit nutzen, um Ihnen und
der Öffentlichkeit vorzurechnen, dass es sich nicht um
Kleinigkeiten handelt, sondern hier eine manifeste Umverteilung organisiert wird und stattfindet. Die letzte größere Steuersenkung gab es 2014 und hatte ein Volumen
von 2,5 Milliarden Euro. Für diese Steuersenkung haben
Sie sich gefeiert, als wären Weihnachten und Neujahr auf
einen Tag gefallen.
({3})
In dem gleichen Jahr, nämlich 2014, hatten die Versichertenhaushalte durch den Sonderbeitrag von 0,9 Prozent insgesamt 10,5 Milliarden Euro selber aufzubringen - 10,5 Milliarden Euro Belastung im Vergleich zu
2,5 Milliarden Euro Entlastung. Hinzu kamen 3,6 Milliarden Euro Ausgaben für Zuzahlungen jeglicher Art,
für Arzneimittel usw. usf., damals auch noch die unsägliche Praxisgebühr, die dann zum Glück weggefallen ist.
2,5 Milliarden Euro Entlastung, fast 14 Milliarden Euro
Belastung - das nennt sich dann Entlastung. In Wahrheit
ist es das Spiel „linke Tasche, rechte Tasche“: In die linke Tasche kommt ein bisschen Klimpergeld rein, aus der
rechten Tasche geht viel Geld raus. Und es ist eine Verarschung der Menschen in diesem Lande.
({4})
Summiert man die Sonderbeiträge - damals ja noch
mit freundlicher Unterstützung der Grünen eingeführt;
wir vergessen das nicht, auch wenn wir sehen, dass sie
dazugelernt haben - und die Zusatzbeiträge von 2005
bis 2016, in einem Zeitraum von elf Jahren, dann kommt
man auf die stolze Summe von 116 Milliarden Euro - ich
wiederhole: 116 Milliarden Euro. Rechnet man da die
Zuzahlungen für Arzneimittel, Krankenhausaufenthalte
usw. usf. noch drauf, dann reden wir über 168 Milliarden
Euro - 168 Milliarden Euro! Das ist eine riesige Umverteilung, die da stattfindet. Das ist aus unserer Sicht ein
gesellschafts- und sozialpolitischer Skandal ersten Ranges und darf auf keinen Fall so hingenommen werden.
({5})
Dieser Skandal bleibt auch nicht verborgen und ruft
zu Recht den Widerstand, den Zorn, den Protest insbesondere der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben
auf den Plan. Es gibt Aktionen und Kampagnen zur Wiedereinführung der Parität. 15 000 Unterschriften sind
allein in Nordrhein-Westfalen gesammelt worden. Und
das ist es auch, was die SPD fürchtet - deshalb diese Beschlüsse auf der Fraktionsklausur. Aber Beschlüsse sind
das eine - die Menschen erwarten von euch, dass ihr sie
auch umsetzt.
({6})
Ich höre schon Ihren Einwand - wir haben ihn im Übrigen auch gerade wieder gehört -: Die Menschen könnten ja die Kasse wechseln, hin zu einer mit keinem oder
geringerem Zusatzbeitrag. - Sie wissen schon, was Sie
da sagen?
({7})
Sie tönen doch immer, dass Sie gegen eine Einheitskasse
sind, tun aber per Wettbewerbsverschärfung alles dafür,
dass die Zahl der Kassen über die Jahre stetig zurückgeht.
({8})
Verlängern wir diese Trendlinie, dann landen wir irgendwann zwischen 2020 und 2025 bei ganz wenigen Kassen,
womöglich bei nur einer Kasse. Sie sind der Totengräber
der Kassenvielfalt, nicht wir.
({9})
Wir wollen gleiche Bedingungen für die Kassen und
eine in den Kernbereichen gleich gute Gesundheitsversorgung für die Versicherten. Dazu gehört auch, dass wir
nicht wollen, dass der Wettbewerb um die Vermeidung
von Zusatzbeiträgen weiter angeheizt wird; denn das
geht zulasten einer guten Versorgung und ist nicht im Interesse der Versicherten.
({10})
Zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; ich muss kurz
darauf eingehen, dafür lasse ich das Thema Lohnnebenkosten weg,
({11})
dazu habe ich bei der letzten Diskussion schon etwas
gesagt. Regelmäßig kommt von Ihnen der Hinweis, die
Arbeitgeber täten damit schon eine ganze Menge. Ich
habe mir einmal die Mühe gemacht, mir die Plenarprotokolle von 1956/57 zu diesem Thema anzuschauen. Das
war sehr interessant, kann ich Ihnen sagen, das kann ich
Ihnen nur empfehlen. Vorausgegangen war ein 114-tägiger Streik - ein 114-tägiger Streik! - um diese Frage, der
bisher längste Streik in Deutschland, den wir überhaupt
gesehen haben. Es war ein erbitterter Streik. Bei diesem Streik ging es darum, die immer noch existierende
Diskriminierung der Arbeiter gegenüber den Angestellten - die damals schon längst eine Lohnfortzahlung bekamen - aufzuheben.
({12})
- Nein, das war der Kern dieses Streiks.
Nach einem erfolgreichen Tarifabschluss gab es für
Adenauer einen eher positiven und einen eher defensiven
Grund, dies gesetzlich zu regeln. Der positive Grund war,
die Arbeiterschaft mit dem westdeutschen Staat zu versöhnen, indem er diese völlig unzeitgemäße Diskriminierung aufhebt. Der defensive Grund war, eine Ausbreitung
der Streikbewegung auf andere Regionen und Branchen
zu verhindern. Es ist also keine Wohltat der Arbeitgeber,
sondern ein erkämpftes Recht gewesen.
({13})
Wer das infrage oder in einen schrägen Zusammenhang
mit unserer heutigen Debatte um die paritätische Finanzierung stellen will, der muss sich den Vorwurf gefallen
lassen, nicht konservativ zu argumentieren, sondern reaktionär zu argumentieren.
Vielen Dank.
({14})
Danke, Herr Kollege Weinberg. - Nächster Redner:
Dr. Edgar Franke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Herr Stritzl, Sie wissen: Die Gesundheitspolitik
der letzten Jahre trägt eine eindeutig sozialdemokratische
Handschrift, und nicht nur das: Sie hat auch einen roten
Faden im doppelten Sinn des Wortes.
({0})
Der rote Faden sozialdemokratischer Politik ist der verbesserte Zugang der Menschen zur medizinischen Versorgung, unabhängig vom Einkommen, unabhängig vom
Alter und unabhängig vom Wohnort. Das ist ein Kern
sozialdemokratischer Politik, und die haben wir in dieser
Legislaturperiode auch durchgesetzt, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({1})
Wir haben in dieser Legislaturperiode so viele Gesetze
beschlossen wie noch nie; das kann man wirklich sagen.
({2})
Wir haben die ambulante ärztliche Versorgung verbessert, wir haben Qualitätsverbesserungen in der Krankenhausversorgung auf den Weg gebracht, wir haben die
Leistungen in der Pflege mit Mehrausgaben in Höhe von
5 Milliarden Euro verbessert, wir haben den einheitlichen
Pflegebedürftigkeitsbegriff für demenziell Erkrankte eingeführt, und wir haben das Präventionsgesetz beschlossen. Gesundheitsförderung und Krankheitsvermeidung
in den jeweiligen Lebenswelten - alles das waren epochale Gesetze, die wir zusammen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, beschlossen haben, und es waren gute Gesetze.
({3})
Es war vor allen Dingen eine Politik für die Versicherten,
und das haben die Versicherten auch gemerkt.
Ich will hinzufügen, liebe Linke, lieber Harald
Weinberg: Wir haben die pauschalen Zusatzbeiträge abgeschafft, was eindeutig die Geringverdiener entlastet.
Auch das haben wir gemacht, das darf man nicht vergessen.
({4})
Liebe Linke oder auch liebe Grüne, ihr habt immer gegen die vielen gesundheitlichen Verbesserungen, die wir
beschlossen haben, gestimmt. Das darf man in diesem
Kreis auch einmal sagen.
({5})
Da könnt ihr, liebe Schwarze, auch einmal klatschen.
({6})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, natürlich haben die
Krankenkassen Angst, dass sie Versicherte durch Zusatzbeiträge verlieren. Wenn wir einen reinen Preiswettbewerb und keinen Qualitätswettbewerb haben, werden wir
Schwierigkeiten bekommen. Wir brauchen beides. Wir
brauchen einen Preis- und einen Qualitätswettbewerb. Das
ist der Unterschied zwischen unseren Positionen. Ohne
Qualitätswettbewerb bekommt man keine guten Ergebnisse; ohne Preiswettbewerb gelingt das aber auch nicht.
({7})
Deswegen haben wir zusammen die Qualitätsindikatoren
beschlossen, zum Beispiel im Krankenhausstrukturgesetz.
({8})
- Ja, ja, ja. Da habe ich ein besseres Gedächtnis, Herr
Stritzl.
({9})
Strukturreformen mit dem Ziel einer verbesserten gesundheitlichen Versorgung kosten aber Geld, sogar viel
Geld. Dieses Geld wird nicht mehr hälftig durch die Beiträge erbracht, weil der Arbeitgeberbeitrag bei 7,3 Prozent eingefroren ist. Im Schnitt zahlen die Arbeitnehmer
über 1 Prozentpunkt mehr. Das kann für einzelne Versicherte mehr als 40 Euro im Monat bedeuten. Es kann
nicht sein, dass die Beitragssteigerungen allein zulasten
der Versicherten gehen. Das muss man ganz klar sagen.
({10})
Es ist auch sozial ungerecht, wenn die Versicherten
den medizinischen Fortschritt und die Reformen, die
wir zusammen durchgesetzt haben, durch Zusatzbeiträge alleine finanzieren. Das kann nicht richtig sein. Das
leuchtet jedem in unserem Land ein; das muss man auch
sagen.
({11})
In der Anhörung, die wir dazu durchgeführt haben,
haben fast alle Fachleute - Herr Stritzl, das wissen Sie eine Rückkehr zur Parität befürwortet, und nicht nur das;
sie haben auch gesagt, dass die Arbeitgeber kein Interesse an der Beitragsentwicklung haben, wenn wir die
Arbeitgeberbeiträge einfrieren. Schon deswegen ist die
Parität, wenn Sie so wollen, sinnvoll.
Herr Irlstorfer, zum Thema Geschichtsklitterung könnte
man noch sagen, dass ihr in Sachen Zahnersatz, über den
wir ab 2003 verhandelt haben, im Vermittlungsausschuss
einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozent - ab 2005 - durchgesetzt habt. 2005 war die Lage aber ganz anders, Harald
Weinberg. Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose. Jetzt haben
wir eine wirtschaftliche Lage und eine Beschäftigungszahl
wie seit 25 Jahren nicht mehr. Deswegen sind wir jetzt,
glaube ich, in der Lage, das paritätisch zu finanzieren,
auch bei den Zusatzbeiträgen. Wir sind in der Lage, die
Rentner und die Arbeitnehmer, also die Versicherten, zu
entlasten. Das ist vernünftig und sozial gerecht. Ich sage es
noch einmal: In unserer Gesellschaft wird die Forderung,
zur Parität zurückzukehren, wirklich geteilt.
Zum Schluss meiner Rede sage ich: Es ist vernünftiger, zur Parität zurückzukommen, als in den Gesundheitsfonds zu greifen und zu versuchen, die Höhe der
Zusatzbeiträge dadurch zu stabilisieren. Das ist ordnungspolitisch schwierig, wenn nicht sogar ordnungspolitisch falsch. Ich glaube, man sollte sauber vorgehen und
aus dem Gesundheitsfonds keine Ausgaben finanzieren,
die man mit Steuermitteln finanzieren muss. So sollte
man das machen.
({12})
Sie haben angekündigt, dass das der Schluss ist. Bitte.
({0})
Zwei Sätze noch.
Einen Satz.
Einen. - Jetzt muss ich ja noch die Frage beantworten, warum die SPD dem vorliegenden Antrag nicht zustimmt, Frau Präsidentin.
Nein. Einen Satz.
Ja. - Dafür gibt es zwei Gründe: Wir sind vertragstreu. Wir haben im Koalitionsvertrag etwas anderes vereinbart. Dazu stehen wir. Wir sagen aber auch, dass ein
Wettbewerb zwischen den Kassen möglich ist und wir
gegen einen Einheitsbeitrag sind. Wir Sozialdemokraten
sind für die Parität und hoffen, dass der geschätzte Koalitionspartner noch einmal darüber nachdenkt. In diesem
Sinne stehen die Sozialdemokraten immer aufseiten der
Versicherten bei uns in Deutschland.
Danke schön.
({0})
Vielen Dank, Herr Kollege, auch für die überlangen
Sätze. Das müssen Sie jetzt mit Ihrer Kollegin aushandeln. Es tut mir leid, aber Ihre Rede war deutlich zu lang.
Die nächste Rednerin in der Debatte: Maria KleinSchmeink für Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Wir diskutieren nicht zum ersten Mal über
die Parität in der Krankenversicherung, über die soziale
Schräglage der Zusatzbeiträge. Das ist eine Debatte, die
uns seit drei Jahren ständig und immer wieder begleitet.
Sie begleitet uns zu Recht, weil wir deutlich sehen, dass
diese Zusatzbeiträge nicht nur unsozial sind, indem sie
eben hohe Belastungen auf die Versicherten abwälzen,
sondern auch, dass es Nebenwirkungen für das gesamte
Gesundheitssystem gibt, die wir gar nicht wollen können.
Gerade deshalb ist es wichtig, ganz grundsätzlich darüber nachzudenken und endlich wieder dahin zu kommen,
dass wir die Arbeitgeber genauso wie die Arbeitnehmer
an den Kosten der Gesundheitsversorgung beteiligen.
({0})
Es ist ja auch deutlich geworden: Wir schauen auf eine
Tradition, die mehr als 50 Jahre Bestand hatte, worauf
auch gerade Sie vonseiten der Union eigentlich stolz sein
könnten,
({1})
aber auch Sie von der SPD, darauf, dass man weiß, dass
es so etwas wie die Sozialpartnerschaft gab, das Einverständnis, dass man sagt, diese Lebensrisiken tragen wir
als Gesellschaft gemeinsam, und wir haben ein gemeinsames Verständnis davon, was eigentlich sozialer Zusammenhalt heißen soll. Daran haben Sie die Axt gelegt, und
das ist das, was daran so schwerwiegend ist und was es
nötig macht, dass wir endlich wieder davon wegkommen.
({2})
Wenn ich dann sehe, welche Manöver Sie jetzt mit
dem PsychVVG vorgelegt haben, so wird daraus einiges
deutlich. Letztendlich ging es ja um eine Haushaltsfrage: Wie bekomme ich es hin, dass ich im Wahljahr nicht
erneut deutlich ansteigende Zusatzbeiträge habe? Da
macht man dann so einen Griff in die Rücklagen des Gesundheitsfonds und begründet dies ausgerechnet mit den
gestiegenen Kosten der Versorgung von Flüchtlingen.
Das zeigt erstens, dass es sachfremd ist, zweitens aber
auch, wie stark Sie auf solche Tricks und auf Manöver
angewiesen sind, die das Eigentliche kaschieren müssen:
dass Sie kein stimmiges Finanzierungskonzept haben.
Darum ging es nämlich.
({3})
Sie trauen sich nicht, mit diesem schrägen Zusatzbeitrag
im nächsten Jahr vor die Wählerinnen und vor die Wähler zu treten. Das ist der Punkt, und das muss man ganz
deutlich kritisieren.
({4})
Ich bin froh, dass es von vielen Seiten gerade an dieser Stelle eine Richtigstellung gegeben hat. Ich wünsche
mir, dass das auch hier im Hause noch einmal passiert.
Gestern Abend auf dem AOK-Empfang ist das ja auch
schon sehr deutlich richtiggestellt worden; das begrüße
ich sehr. Aber wir sollten es auch für die Öffentlichkeit
tun, weil natürlich diese ganzen Manöver mit den Zusatzbeiträgen und dem durchschnittlichen Zusatzbeitrag, mit
den hälftigen Beitragssätzen, die da angeblich wiederhergestellt worden wären, damit, dass nur aus Preiswettbewerbsgründen dann der Zusatzbeitrag für den Versicherten hinzukommt, natürlich auch zu Intransparenz führen.
Am Ende bleibt für den Versicherten der Eindruck zurück: Ich werde geschröpft, ich muss immer mehr bezahlen, es geht nicht mehr gerecht zu, und in Zukunft droht
mir auch noch, dass vielleicht eine schlechtere Versorgung ins Haus steht. Das dürfen wir gar nicht zulassen, da
müssen wir einen Punkt machen, und deshalb ist es auch
so wichtig, wieder zur hälftigen Finanzierung zurückzukehren. Es muss wieder ganz klar sein: Gemeinsam stemmen wir die Aufgabe von Gesundheitsversorgung, von
Absicherung in Lebensrisiken, und dies ist nicht nur eine
Aufgabe der Versicherten und der Patienten, sondern es
ist eine Aufgabe von Sozialpartnern. Das sollte in dieser
Gesellschaft einfach grundlegend sein.
({5})
Zudem haben wir die Aufgabe noch längst nicht vollständig erfüllt. Ich nehme zur Kenntnis, dass die CDU
erstmalig zumindest andeutet: Okay, mit diesem Konzept kommen wir wahrscheinlich nicht über die nächste
Wahlperiode. - Ich lade Sie ein: Kommen Sie zu uns,
zu unseren Veranstaltungen! Wir setzen uns mit vielen
Facetten der Bürgerversicherung auseinander,
({6})
mit einem integrierten Versicherungsmarkt, womit wir
es schaffen, eine gute, nachhaltige und gerechte Finanzierung für die Versicherten insgesamt sowie eine Krankenversicherung aufzubauen, die für alle Lebenslagen
taugt und eben nicht dazu führt, dass Privatversicherte,
so wie es heute in den Meldungen zu hören war, fürchten
müssen, dass sie mit enormen Beitragssprüngen zu tun
haben und insgesamt in eine Situation kommen, die sie
letztendlich nicht mehr stemmen können.
({7})
Es muss so sein, dass alle Versicherten so versichert
sind, dass sie für alle Lebensrisiken ordentlich abgesichert sind und gleichzeitig darauf vertrauen können, dass
eine gute gesundheitliche Versorgung für alle zugänglich
ist. Mit der paritätischen Beteiligung der Arbeitgeber
würden wir einen wichtigen Schritt genau in diese Richtung tun. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie sich diesem Gedanken wieder öffnen würden.
({8})
Vielen Dank, Maria Klein-Schmeink. - Nächster Redner: Thomas Stritzl.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich habe meinem geschätzten Vorsitzenden aus
dem Gesundheitsausschuss, Herrn Professor Dr. Franke,
ausgesprochen gerne zugehört. Denn ich finde, er verfügt über ein gerüttelt Maß an Ehrlichkeit, wenn er sagt:
Die erste Spreizung des Beitragssatzes für die gesetzliche
Krankenversicherung haben Sozialdemokraten und Grüne im Jahr 2005 gemeinsam auf den Weg gebracht.
({0})
- Ja, ist doch schön. Das ist doch so.
Jetzt geht es aber ab hier.
Ja, genau. - Manchmal machen auch Leute, die Sie
gar nicht mögen, etwas Richtiges. Ich wollte doch nur
dem Eindruck entgegenwirken und dafür sorgen, dass
sich hier geschichtlich nicht falsch festsetzt, dass es die
Sozialdemokraten nicht gewesen sein können, die die
Beitragsspreizung eingeführt haben, und dass die Grünen
damals nicht zugestimmt haben können, als die Beitragsspreizung kam.
({0})
Ich möchte nur, dass wir die gleichen Erinnerungen haben.
Wissen Sie, was Kollegin Bender damals in der Debatte gesagt hat? Ich zitiere auszugsweise mit Genehmigung der Präsidentin:
Die einen erheben normalerweise einkommensabhängige Beiträge - das hätten wir in diesem Fall
geändert -, die anderen erheben sowieso risikoadäquate Beiträge. Ein weiterer Nachteil war ..., dass
wir den Wettbewerb innerhalb der gesetzlichen
Krankenkassen in diesem Bereich stillgelegt haben;
({1})
denn bei einem einheitlichen Betrag ... hat keine
Krankenkasse mehr wirklich Interesse daran, durch
gute Beratung der Versicherten für wirtschaftliche
Leistungserbringung zu sorgen. Das ist jetzt wieder
anders.
Das sagte Frau Bender, Ihre Kollegin.
Wenn Sie über diese Fragen nachdenken, müssen Sie
doch auch an die Interessen der Versicherten denken.
Wenn es im Interesse der Versicherten ist, eine besonders
wirtschaftliche und gute Leistungserbringung zu erhalten, dann hat die Beitragsspreizung doch vielleicht ihren
Sinn, Herr Professor. Oder stimmt das nicht?
Jetzt frage ich Sie - jetzt springe ich rein -: Erlauben
Sie vom Professor eine Zwischenfrage oder eine Bemerkung?
Jederzeit.
Gut. - Dann Herr Professor Dr. Edgar Franke.
Wenn mir das nicht auf die Redezeit angerechnet wird.
Ich habe die Uhr natürlich angehalten. Das wird Ihnen
nicht zugerechnet.
Sehr gut.
Herr Stritzl, sind Sie mit mir einer Meinung, dass
2003 eine ganz andere wirtschaftliche Lage war? Wir
waren der kranke Mann in Europa.
({0})
Wir hatten 5 Millionen Arbeitslose. Momentan haben wir
Rekordbeschäftigungszahlen. Wir haben eine herausragende wirtschaftliche Lage. Den Unternehmern geht
es so gut wie nie zuvor. Insofern kann man die beiden
ökonomischen Rahmenbedingungen und die Beschäftigungszahlen nicht miteinander vergleichen. Sind Sie da
mit mir einer Meinung, hochverehrter Herr Stritzl?
Sehr geehrter Herr Professor Dr. Franke, ich bin
mit Ihnen erstens einer Meinung, dass 2003, zu Zeiten rot-grüner Bundesregierung unter Bundeskanzler
Gerhard Schröder, Deutschland in der Tat wirtschaftlich
dem kranken Mann am Bosporus glich. Punkt eins.
({0})
Punkt zwei. Ich hatte es für mutig gehalten, dass der
damalige Kanzler das eigene Fehlverhalten eingeräumt
hat und gesagt hat: Dagegen muss ich etwas tun.
Ich stimme mit Ihnen drittens überein, dass die Betrachtung der Lohnnebenkosten für die Frage der Wettbewerbsfähigkeit deutscher Arbeitsplätze von hoher Bedeutung ist.
({1})
Es ist nicht der einzige Faktor dabei, aber es ist von hoher
Bedeutung. Dieses Grundprinzip der Volkswirtschaftslehre - auch ich habe dies ein wenig studiert - setzt sich
aber nicht nur fort, wenn Arbeitsplätze fehlen, sondern es
setzt sich auch dann fort, wenn es darum geht, die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen darüber hinaus zu
erhalten und zu sichern. Genau in der Situation sind wir
heute: Im Rahmen der Globalisierung müssen wir deutsche Arbeitskräfte, Produktionsstätten in Deutschland
gegen ausländische Billigkonkurrenz verteidigen.
({2})
Deswegen ist es heute genauso richtig wie damals, die
Lohnnebenkosten zu senken. Ich sehe mich mit Ihnen einig, dass die Lohnnebenkosten ein entscheidender Faktor
sind. Deswegen ist die Beitragsspreizung - darum geht
es heute - genau richtig.
({3})
- Frau Klein-Schmeink möchte eine Zwischenfrage stellen.
Wollen Sie sie beantworten?
Natürlich. Das ist doch klar.
Aber dann reicht es.
Aber ich bin gerne in Ihrer Nähe.
({0})
Herr Stritzl, Sie haben jetzt sehr deutlich auf die
Lohnnebenkosten abgehoben. Das war ja Anfang der
2000er-Jahre sehr modern. Das war sozusagen das Allheilmittel gegen den Globalisierungsdruck.
({0})
In Nachhinein sieht man, dass das ganz viele andere
Nebenwirkungen produziert hat, mit denen wir heute
angesichts der Finanzmarktkrise immer noch kämpfen
müssen.
Zu der Sache mit den Lohnnebenkosten. Bei einem
Handwerkerlohn von insgesamt 48 Euro die Stunde - die
Handwerkskammer Bayern hat das ja deutlich gemacht
und vorgerechnet - inklusive sämtlicher Sozialversicherungslasten, Urlaubsgeld und allem Drum und Dran
kommen wir auf einen Betrag von 4,58 Euro. In Bezug
auf den Zusatzbeitrag und die Anpassung sprechen wir
über 0,42 Prozent des Handwerkerlohnes. Das kann doch
nicht der Faktor sein, der uns vor der Globalisierung und
vor dem globalen Markt rettet. Also geht es doch um etwas anderes.
({1})
Sie müssen sich einmal fragen - das wäre auch meine
Frage an Sie -: Wie wichtig müssen wir denn die soziale Partnerschaft nehmen, und wie wichtig müssen wir
den sozialen Zusammenhalt nehmen? Sind es nicht letztendlich stabile ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die eine Produktion auf hohem Niveau
möglich machen? Wäre nicht das eigentlich der richtige
Weg?
({2})
Sehr geehrte Frau Kollegin, bitte sehen Sie mir nach,
dass ich Ihre Rechnung so im Schnellverfahren nicht
nachvollziehen kann.
({0})
Aber ich will einmal generalisierend sagen - ich hatte
schon in meiner Antwort auf die Frage zuvor versucht,
das deutlich zu machen -: Die Spreizung bzw. Teilspreizung des Krankenkassenbeitrags ist nicht das Allheilmittel. Sie ist ein Teilaspekt.
({1})
In der Gegend, aus der ich komme - ich komme aus
Schleswig-Holstein, vom Land -, sagt man: Auch Kleinvieh macht Mist.
({2})
Genau das ist der Punkt. Sie müssen nämlich die Addition der verschiedenen Punkte sehen, wenn Sie über
die Lohnnebenkosten reden. Vorhin haben wir ja Herrn
Weinberg, unseren Geschichtsmann, gehört; die Stichworte waren „reaktionär“ und „konservativ“. Die Frage
ist: Welche weiteren Lasten werden im System eigentlich
wie verteilt? Da tun wir so, als ob die Parität das Einzige
ist, um das es geht, wenn wir über sozialen Ausgleich in
der Wirtschaft reden.
({3})
Es geht aber nicht allein um die Parität. Die Disparität,
Frau Kollegin, steht doch in vielen Bereichen eher Pate
als die Parität.
Ein Beispiel sind die Minijobber; denn den Versicherungsbeitrag zahlen die Arbeitgeber ganz alleine. Die
gesetzliche Unfallversicherung kommt den Versicherten,
den Arbeitnehmern, zugute; aber die Beiträge zahlen die
Arbeitgeber alleine. Ein anderes Beispiel ist die Lohnfortzahlung. Wie auch immer Sie die Lohnfortzahlung
zeitlich verankern und ob mit Schmerzen oder ohne: Die
ersten sechs Wochen zahlen die Arbeitgeber alleine. Hier
reden wir in Deutschland über einen Betrag von über
50 Milliarden Euro. Da können Sie doch nicht sagen: Das
bringt alles nichts, und das ist alles nichts. - Das ist eine
große Leistung auch der Arbeitgeber in diesem Land.
({4})
Letztlich, Frau Kollegin, haben Sie völlig recht: Ein
gutes soziales Klima in einem Land ist ein wesentlicher
Wettbewerbsfaktor. Das hat Deutschland stark gemacht.
Deswegen achten wir doch alle darauf, dass dieses gute
Klima erhalten bleibt, und ringen um die besten Lösungen. Insofern, sage ich, kann man über einen Krankenkassenbeitragssatz von 14,6 Prozent, der paritätisch
finanziert ist - das sind fast 200 Milliarden Euro im
Jahr -, nicht sagen: „Das ist nichts“, nur weil die letzten
0,83 Prozentpunkte nicht paritätisch finanziert werden.
Wir müssen immer auch ein Stück weit die Relationen
im Blick haben. Das haben Sie vor ein paar Jahren auch
selber so gesehen; das ist Ihnen ja nicht neu. Wenn Sie
sagen: „Es geht um den Wettbewerb; wir wollen, dass die
Situation der Versicherten bzw. der Kranken möglichst
gut ist, dass es aber kostengünstig ist“, dann ist das ein
gutes Instrument. Wir wissen, dass wir in einer alternden
Gesellschaft gezwungen sind, die gute Versorgung, die
wir vorhalten wollen, nicht ausschließlich über Arbeit zu
finanzieren, sondern dass wir Arbeit und Gesundheitskosten ein Stück weit entkoppeln müssen.
({5})
- Ja, genau. - Wir müssen in diesem Bereich darauf achten, dass wir Anreizsysteme schaffen, die zu Verbesserungen führen, um tatsächlich einen Fortschritt zu erzielen.
({6})
Insofern, glaube ich, ist das, was damals, 2005, beschlossen wurde, und zwar von Ihnen zusammen mit
Gerhard Schröder, richtig. Damals hat Ulla Schmidt gesagt:
Heute treffen wir eine Entscheidung, die, im Interesse der Versicherten, sozialverträglich und unbürokratisch ist. Es wäre gut, wenn Sie dabei mitmachten.
Dies zeigte, dass auch Sie in schwierigen Zeiten Verantwortung übernehmen.
Mein Appell an Sie: Glauben Sie Ihrer damaligen Gesundheitsministerin, sehr geehrter Herr Professor - Sie
waren damals schon im Parlament, ich nicht -, und stellen Sie sich dieser Verantwortung. Versuchen Sie nicht,
ihr auszuweichen. Das ist in der einen oder anderen Diskussion vielleicht geschmeidiger; das will ich gar nicht
bestreiten. Jemandem zu sagen: „Du kriegst von mir
1 Euro mehr“, ist immer sympathischer, als zu sagen:
„Du kriegst von mir 1 Euro weniger“. - Das ist schon
logisch.
Unsere Verantwortung bezieht sich aber auf die Gesamtsituation und das Gesamtinteresse. Wir sind gegenüber der Allgemeinheit verantwortlich,
({7})
und deswegen müssen wir immer wieder alle Anstrengungen dafür unternehmen, auch wenn es mal unbequem
ist. Wir müssen das Kreuz durchdrücken und sagen: Wir
waren, wir sind und wir bleiben bei der Überzeugung,
dass ein Stück Wettbewerb im System der gesetzlichen
Krankenkassen dem Versicherten nützt, und dem sind
wir verpflichtet und wollen wir auch in Zukunft verpflichtet sein.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Vielen Dank, Thomas Stritzl. - Jetzt hat Sabine
Dittmar das Wort für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte beginnen mit dem Auszug eines Zitats von Willy
Brandt:
Jede Zeit will ihre eigenen Antworten ...
Warum habe ich mich für diesen Einstieg entschieden?
Wir sprechen heute hier sehr leidenschaftlich über die
paritätische Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit und der Solidarität und deshalb für uns Sozialdemokraten ein ganz
wichtiges Thema.
Trotzdem haben wir - das ist heute schon mehrmals
angesprochen worden - im Jahre 2004 in der rot-grünen
Koalition mit dem unionsdominierten Bundesrat, aber
auch in vielen Arbeitsgruppen, die sich aus allen drei Parteien zusammengesetzt haben, einen Sonderbeitrag von
0,9 Prozentpunkten beschlossen.
Jetzt komme ich auf mein Eingangszitat zurück: „Jede
Zeit will ihre eigenen Antworten ...“ - Erinnern wir uns
an 2004 zurück - das ist auch schon von mehreren Rednern erwähnt worden -: 5 Millionen Arbeitslose, eine
schwierige wirtschaftliche Lage und davongaloppierende Kosten im Gesundheitswesen. - Hierauf musste eine
Antwort gefunden werden.
Der alternative Vorschlag, der von der rechten Seite
dieses Hauses kam, nämlich den Leistungskatalog der
GKV einzuschränken, kam für uns nicht infrage. Wir haben die bittere Pille geschluckt und den Sonderbeitrag als
Antwort auf diese prekäre Finanz- und Wirtschaftslage
akzeptiert.
Ich sage Ihnen: Das war eine schwere und schmerzhafte Entscheidung für uns Sozialdemokraten, aber uns
war damals auch klar, dass zukünftig weitere Beitragssteigerungen wieder paritätisch zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern verteilt werden. Das tatsächliche
Einfrieren auf 7,3 Prozent - das Festzurren - inklusive
einkommensunabhängiger Zusatzbeiträge, also der kleinen Kopfpauschale, war ein Produkt der letzten Bundesregierung.
Ich bin dankbar, dass wir jetzt mit dem GKV-FQWG
erreichen konnten, dass die Zusatzbeiträge wieder einkommensabhängig sind. Das ist ein kleiner Trost, aber
immerhin! Mehr war mit unserem Koalitionspartner
nicht zu machen.
Die Zeit jetzt ist aber eine andere: Der Wirtschaft geht
es gut, sie ist stabil, wir haben Haushaltsüberschüsse, so
viele sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse
wie noch nie, der Gesundheitsfonds ist gefüllt, und die
Krankenkassen haben Rücklagen gebildet. Deutschland
ist ein starkes Land, gerade weil die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer ihren Beitrag dazu geleistet haben.
({0})
Deshalb kann die Antwort, die diese Zeit einfordert, nur
lauten: Zurück zur echten Parität.
({1})
Machen wir uns aber nichts vor: Die Gesundheitskosten und die Ausgaben der Krankenkassen werden steigen.
Die Gründe dafür sind sehr vielfältig und wurden heute
auch schon angesprochen: Demografie, medizinischer
Fortschritt, Innovation in Diagnostik und Therapie. Gerade in den Bereichen Onkologie und Demenzforschung
wurden bahnbrechende Fortschritte gemacht, die vielen
Patienten und Patientinnen Hoffnung geben, aber auch
zu sehr hohen Kosten führen. Diese Mehrkosten dürfen
in Zukunft nicht alleine die Versicherten tragen.
({2})
Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch an zwei
Gesetze, die wir beschlossen haben, nämlich das Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung und das Krankenhausstrukturgesetz, das Edgar
Franke auch schon erwähnt hat und bei dem mir die
Überleitungspflege besonders wichtig ist. Hier haben
wir für Menschen, die nur einen kurzzeitigen Anspruch
auf Kurzzeitpflege, Grundpflege oder hauswirtschaftliche Versorgung haben, eine echte Versorgungslücke geschlossen. Viele wichtige Projekte wurden hier auf den
Weg gebracht. Aber auch das muss finanziert werden. In
aller Deutlichkeit noch einmal: Das muss paritätisch finanziert werden.
({3})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, Sie werden über kurz oder lang
schon Farbe bekennen müssen, was Sie bereit sind den
GKV-Mitgliedern dauerhaft zuzumuten. Ich wünsche
mir, dass wir noch in dieser Legislaturperiode weiterkommen. Vielleicht können der Arbeitnehmerflügel der
Union oder auch der Pflegebeauftragte, Herr Laumann,
die sich für die Parität schon ausgesprochen haben, hier
Überzeugungsarbeit leisten.
Ich sage auch in die Richtung der Linken und der
Grünen: Wir sind vertragstreu. Aber wir setzen auf Überzeugung. Wir setzen auf die Kraft der Argumente. Lieber
Herr Kollege Irlstorfer, Ihre Aussagen geben mir Anlass,
hoffungsvoll auf die letzten Monate dieser Großen Koalition zu blicken.
Ich sage noch einmal abschließend: Die SPD-Fraktion
steht zu ihrer Forderung nach einer Rückkehr zur paritätischen und solidarischen Finanzierung, für eine gleiche
und gerechte Beitragsbelastung von Arbeitgebern und
Arbeitnehmern, am besten eingebettet in eine solidarische Bürgerversicherung.
({4})
Vielen Dank, Sabine Dittmar. - Der letzte Redner
in dieser Debatte ist Lothar Riebsamen für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Auch ich glaube, dass das, was die
rot-grüne Koalition 2005 gemacht hat, richtig war. Wir
hatten damals 5 Millionen Arbeitslose; das ist schon
mehrfach angeklungen. Die Wirtschaftsinstitute hatten
prognostiziert: Wenn die Regierung nichts tut, dann wird
die Arbeitslosenquote noch weiter ansteigen. Im Übrigen
wird auch die Jugendarbeitslosenquote ansteigen.
Jetzt warne ich schon sehr davor - wir sind ja Gesundheitspolitiker -, diese präventiven Maßnahmen, die wir
damals getroffen haben, nicht rückgängig zu machen. Es
ist so wie in der Prävention allgemein: Wenn ich 5 Kilogramm durch Prävention abgenommen habe und mir
dann sage: „So, jetzt habe ich 5 Kilogramm abgenommen
und kann jetzt wieder fett essen“, dann geht das in die
Hose.
({0})
Dann werden wir wieder in die Situation kommen, in der
wir 2005 waren.
({1})
Frau Klein-Schmeink hat den Begriff „Globalisierung“ ins Spiel gebracht. So weit will ich gar nicht gehen. Es reicht doch schon, wenn wir uns Europa ansehen. Gucken wir uns doch die Staaten in Europa an, die
keine Strukturmaßnahmen durchgeführt haben. Das wird
uns doch jeden Tag vor Augen geführt. Wir sind heute in
der Situation, dass wir zu einem beachtlichen Teil auch
für die Staaten haften, die bisher nicht bereit oder in der
Lage waren, in ihren Sozialsystemen Strukturverbesserungen durchzuführen.
({2})
Wir sind in der Lage, weil Sie sie Gott sei Dank durchgeführt haben; wir haben es mitgetragen. Wir sind offenbar die Einzigen, die dazu stehen, obwohl wir diese Entscheidung nur mitgetragen haben.
({3})
Aber das machen wir gerne. Wir sind heute in der Lage,
den Staaten, die Probleme haben, ein Stück weit zu helfen. Unsere Steuereinnahmen sind so hoch wie noch nie.
Wir können über Steuerentlastungen reden.
({4})
Das ist ein erfreuliches Thema.
Frau Klein-Schmeink, Sie haben ausgerechnet, dass
dieser Zusatzbeitrag bei einem Handwerker 0,42 Prozent
seines Lohnes ausmachte; das seien Peanuts, das würde
die Handwerker im Wettbewerb nicht zurückwerfen.
({5})
Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Da haben Sie das Handwerk nicht begriffen.
({6})
Wissen Sie, die Handwerker stehen nicht in erster Linie
im Wettbewerb untereinander, also der eine Malerbetrieb
gegen den anderen. Die Handwerker stehen im Wettbewerb gegenüber der Schwarzarbeit.
({7})
Wenn wir die Lohnnebenkosten nicht im Auge behalten, dann befördern wir die Schwarzarbeit. Das hat mit
Wettbewerb innerhalb des Handwerks so gut wie nichts
zu tun. Da haben Sie schon recht. Das ist nicht das Problem - um das einmal deutlich zu sagen.
({8})
Die Wettbewerbsfähigkeit von Industrie und Handwerk ist die eine Sache. Die andere Sache ist der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen. Mit dem Zusatzbeitrag - das Thema Parität hängt damit zusammen - haben
wir für Wettbewerb zwischen den Krankenkassen gesorgt. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag steigt in diesem Jahr - manche Krankenkassen erheben gar keinen
Zusatzbeitrag - um 0,2 Prozentpunkte. Wenn man von
einem Monatseinkommen in Höhe von 3 500 Euro ausgeht, dann sind das etwa 7 Euro. Man kann natürlich sagen, dass das viel Geld ist. Wenn man aber dieser Auffassung ist, dann darf man nicht wie Herr Weinberg sagen,
dass die rein rechnerischen steuerlichen Entlastungen in
Höhe von rund 7 Euro für jeden Bundesbürger in dieser
Legislaturperiode - das Gesamtvolumen der Entlastungen beläuft sich bei 80 Millionen Menschen auf rund
5 Milliarden Euro - Peanuts sind und dass das keinem
weiterhilft.
({9})
Wenn es aber um 7 Euro Belastung durch einen Zusatzbeitrag geht, geht die Welt unter. So kann man es natürlich nicht machen.
({10})
Sie haben von Verarschung gesprochen. Ich sage Ihnen:
Genau das, was Sie machen, ist Verarschung.
({11})
Herr Riebsamen, erlauben Sie eine Zwischenbemerkung oder -frage - das ist definitiv die letzte; das habe
ich vorhin angedroht - des Kollegen Dr. Harald Terpe?
Ja, bitte schön.
({0})
Machen Sie das mit Ihren Kollegen aus, die heute
Abend um 22 Uhr noch immer hier sitzen, wahrscheinlich im Gegensatz zu Ihnen.
({0})
- Gut, dann machen Sie das.
Bitte, Herr Terpe.
Herr Kollege Riebsamen, es ist mir eine Freude, Ihnen
eine Zwischenfrage zu stellen. Ich bin sehr dankbar, dass
Sie sie zulassen.
Immer gerne.
Da Redner von der Union zum zweiten Mal auf den
Wettbewerb zwischen den Krankenkassen hingewiesen
haben und das eine große Rolle spielt: Stimmen Sie mir
zu, dass ein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen
auch möglich ist, wenn man die Parität einführt?
Ja, ich stimme Ihnen ohne Weiteres zu, dass es Wettbewerb auch ohne Parität gibt.
({0})
Der finanzielle Wettbewerb wird aber erst dann deutlich,
wenn die eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhebt
und die andere nicht. Den Wettbewerb, den Sie meinen,
gab es bereits 50 Jahre. Bloß hat das niemanden interessiert. Nun wird durch die Zusatzbeiträge deutlich, dass es
tatsächlich einen Wettbewerb gibt.
({1})
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, meine Redezeit
neigt sich ohnehin dem Ende zu.
22 haben Sie noch.
22 Minuten habe ich also noch.
({0})
Von wegen!
Ich fasse zusammen. Sie diskutieren über die Einführung einer Bürgerversicherung
({0})
und wollen den Zusatzbeitrag abschaffen. Ich erinnere
daran, dass nicht wir, sondern Sie die Praxisgebühr und
die Kopfpauschale eingeführt haben.
({1})
Ich habe den Eindruck, dass Sie eine Salamitaktik verfolgen und Stück für Stück die wichtigen Strukturreformen
zurücknehmen wollen.
({2})
Wir lehnen das ab. Wir halten uns an den Koalitionsvertrag. Diesen werden wir weiter abarbeiten. Dazu gehört
aber nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, eine Rückkehr zur Parität, weder in dieser Legislaturperiode noch später.
Herzlichen Dank.
({3})
Vielen Dank, Kollege Riebsamen. - Damit schließe
ich die wirklich lebendige Aussprache.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Zusatzbeiträge abschaffen - Parität
wiederherstellen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9168, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7237 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU und SPD. Dagegengestimmt hat die Linke. Enthalten hat sich Bündnis 90/Die Grünen.
Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Lasten und Kosten fair
verteilen - Paritätische Beteiligung der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an den Beiträgen der gesetzlichen
Krankenversicherung wiederherstellen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9169, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 18/7241 abzulehnen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer stimmt
dagegen? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD. Dagegen waren
Bündnis 90/Die Grünen und die Linke. Die Beschlussempfehlung ist damit angenommen.
Ich freue mich sehr auf heute Abend. Wir treffen uns
hier um 21.45 Uhr im Plenum.
({0})
- Ja, sagen Sie es mal Ihren Kollegen!
({1})
Damit rufe ich jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Luftsicherheitsgesetzes
Drucksachen 18/9752, 18/9833
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss ({2})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Tourismus
Ich bitte, die Plätze zu tauschen oder einzunehmen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die
Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, die nicht an
der Debatte teilnehmen wollen, sich draußen weiter zu
unterhalten.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem
Bundesminister Dr. Thomas de Maizière.
({3})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wie fragil unsere Sicherheit ist, das hat uns der Sommer
dieses Jahres mit schrecklichen Anschlägen in Deutschland und anderswo allzu deutlich vor Augen geführt. Was
in Deutschland bei Bedrohungslagen zu tun ist, die sich
auf Straßen und Plätze bzw. auf Feste - also auf den Boden - beziehen, darüber haben wir in den letzten Wochen
und Monaten viel diskutiert. Wir haben in diesem Haus
viel gemacht, aber wir müssen - darüber werden wir zu
sprechen haben - noch ein bisschen mehr machen. Das
ist aber heute nicht Gegenstand der Debatte.
Heute geht es um den Luftraum, und der ist nicht weniger gefährdet. Die Motive für Anschläge in der Luft
sind so vielfältig wie das Spektrum an Bedrohungen: Fanatismus, Amok, Selbstmord, Erpressung. Vor allem für
islamistische Gruppierungen stellt der zivile Luftverkehr
immer noch ein attraktives Anschlagsziel dar. Die Symbolkraft solcher Angriffe und die hohe Zahl an Opfern,
mit denen solche Angriffe einhergehen, sind nicht erst
seit dem 11. September bekannt und bis heute zu spüren.
Wie verletzbar der Passagier- und Frachtverkehr, aber
auch sonstige Infrastruktureinrichtungen des zivilen
Luftverkehrs - wie etwa Flughäfen - sind, haben uns die
vergangenen Monate auf fürchterliche Weise gezeigt. Es
gab den Absturz einer Maschine über der Sinaihalbinsel
im vergangenen Oktober mit erheblichen Auswirkungen
etwa auf die ökonomische Lage des betroffenen Landes,
den schrecklichen Selbstmordanschlag auf dem Brüsseler Flughafen im März dieses Jahres und die verheerende
Explosion im Istanbuler Flughafen in diesem Sommer.
Ich habe mit Blick auf die Meldungen der letzten beiden
Tage diese Aufstellung jetzt bewusst nicht vollständig
gemacht.
Wir müssen deshalb alles daransetzen, den Luftverkehr so sicher wie möglich zu machen. Sicherheit braucht
Verantwortung, und Verantwortung braucht Wachsamkeit, Vorbeugung, Wissen und Weitsicht. Das gilt für
die Sicherheit am Boden, und das gilt für die Sicherheit
in der Luft. Natürlich kann es nirgendwo eine hundertprozentige Sicherheit geben, auch nicht im Luftverkehr.
Aber die Bürgerinnen und Bürger und nicht zuletzt auch
die Wirtschaft haben Anspruch darauf, dass wir, die wir
Verantwortung tragen, das uns Mögliche tun, damit es
gelingt, diesem Ziel so nahe wie möglich zu kommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein wichtiger Baustein auf diesem Weg.
({0})
Mit ihm passen wir das Luftsicherheitsgesetz übrigens
auch an geänderte EU-rechtliche Bestimmungen an.
Das ist also auch ein EU-Umsetzungsgesetz. Und wir
justieren nationales Flugverkehrssicherheitsrecht nach.
Beides sind wichtige Beiträge, um das Sicherheitsniveau
im Luftverkehr spürbar zu erhöhen. Künftig kann das
Bundesministerium des Innern für einzelne Flugzeuge
oder eine näher bestimmte Gruppe von Flugzeugen bei
erheblichen Gefährdungen ein Flugverbot für Einflüge,
Überflüge, Starts oder Frachtbeförderungen verhängen.
Das kann dann der Fall sein, wenn tatsächliche Anhaltspunkte den Schluss zulassen, dass Flüge bestimmter
Luftfahrtunternehmen aus bestimmten Drittstaaten oder
mit bestimmten Beiladungen eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland darstellen.
Zum besseren Schutz vor möglichen Innentätern verschärfen wir zudem die Vorschriften über die Zuverlässigkeitsprüfung. Künftig werden auch die Arbeitnehmer,
für die bislang eine Überprüfung durch den Arbeitgeber
ausreichend war, einer behördlichen Zuverlässigkeitsüberprüfung unterzogen. Das betrifft vor allem das im
Frachtbereich tätige Personal, also die Beteiligten an der
sogenannten sicheren Lieferkette. Sie unterliegen künftig einer stärkeren Kontrolle. Das ist wichtig; denn bei
der Luftfracht ist die Transportkette komplex und störanfällig: vom Versender über das Lager, Transporteure
und Frachtanlagen bis hin zum Flugzeug. Diese Sicherheitskette muss im Interesse größtmöglicher Sicherheit
lückenlos sein.
Dann gibt es etwas, was ein Minister, der für Sicherheit verantwortlich ist, ambivalent sieht. Das ist die vollständige Transparenz jedes Pakets auf jedem Weg. Das
ist für den Kunden gedacht, damit er weiß, wann das Paket kommt. Aber ob es wirklich nötig ist, dass man genau
weiß, in welchem Flugzeug und wo es sich gerade in der
Luft befindet, da habe ich erhebliche Zweifel. Ich weiß
nicht, ob das als kundenfreundlich bezeichnet werden
kann.
({1})
Schließlich führen wir eine bundeseinheitliche Zertifizierungs- und Zulassungspflicht für Luftsicherheitskontrolltechnik ein, damit in allen Bereichen, in denen diese besondere Technik zum Einsatz kommt, einheitliche
Qualitätsstandards gelten.
Meine Damen und Herren, wenn wir ein Flugzeug besteigen oder einen Flughafen betreten, dann hoffen wir,
dass alles technisch einwandfrei funktioniert. Wir hoffen,
dass der Pilot im Cockpit gut ausgebildet und ausgeruht
und auch nicht krank ist. Wir hoffen, dass es keine Wetterturbulenzen gibt. Für einen sicheren Flug sind wir aber
auch darauf angewiesen, dass die Behörden zusammen
mit den Unternehmen die bestmöglichen Maßnahmen
gegen Kriminelle und Terroristen ergreifen. Größtmögliche Sicherheit hat im Flugverkehr oberste Priorität.
Ich bin dankbar, dass die Bevölkerung dafür großes
Verständnis hat. Ich halte deshalb eine zügige Beratung
und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs der Bundesregierung für erforderlich und im Interesse der Sicherheit
unserer Landes und der Passagiere für geboten und bitte,
dass Sie dementsprechend die Beratungen aufnehmen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Dr. de Maizière. - Nächster Redner:
Thomas Lutze für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit den 90er-Jahren werden immer mehr öffentliche
Aufgaben in private Hände überführt. Große Umbrüche
gab es gerade bei der Bahn, bei der Post und bei der Telekommunikation. Aber auch die Befürworter dieser Entwicklung haben immer betont, dass hoheitliche Aufgaben, die ein hohes Sicherheitspotenzial haben, beim Staat
bleiben sollten. Davon wollen Sie sich nun endgültig verabschieden. Das lehnen wir ab.
({0})
Derzeit liegt die Qualität der Sicherheit bei Flugkontrollen - immerhin auch eine hoheitliche Aufgabe - in
den Händen privater Unternehmen. Sie ist streng genommen damit der Logik der Profitmaximierung unterworfen. Ein privates Unternehmen wird immer nur die Aufgaben ausführen, für die es beauftragt wird, nicht mehr
und nicht weniger.
Man darf sich aber wundern, dass bei Testkontrollen
Waffen von Prüfern in den Sicherheitsbereich gebracht
werden konnten. Erst letzten Monat musste der Frankfurter Flughafen evakuiert werden, weil eine Person einfach
durch die Sicherheitskontrolle spazieren konnte. Doch
anstatt aus diesen Skandalen im Zusammenhang mit
Flughafenkontrollen zu lernen, legen Sie einen Gesetzentwurf vor, der privaten Unternehmen nun noch weiter
Tür und Tor öffnet.
Noch halbwegs sinnvoll ist die Beauftragung von privaten Unternehmen im Bereich der Luftfracht. Bei den
Gepäck- und Personenkontrollen bedeutet die fortgeschrittene Privatisierung eine völlige Aufgabe staatlicher
Kontrolle bei der Sicherheit am Flughafen. Während
bisher jeder einzelne Luftsicherheitsassistent im Auftrag der Bundespolizei Sicherheitsaufgaben des Staates
übernommen hat, ermöglicht Ihr § 16a im Entwurf eines neuen Luftsicherheitsgesetzes die Beleihung von
Unternehmen, die Personaleinsatz und -steuerung dann
allein übernehmen. Die Bundespolizei hat dann nur noch
die Fachaufsicht, das heißt am Ende die Verantwortung,
wenn irgendetwas passiert. Das ist kein Schritt zu mehr
Sicherheit. Es besteht die Gefahr, dass die Sicherheitsstandards an deutschen Flughäfen noch mehr von den
Gewinninteressen einzelner Unternehmen abhängig werden. Deshalb müssen die Personen- und Gepäckkontrollen von der Öffnung in § 16a im Entwurf eines neuen
Luftsicherheitsgesetzes unbedingt ausgenommen werden.
({1})
In Verbindung mit den Änderungen an § 5 des Luftsicherheitsgesetzes, der den Einsatz bewaffneter privater Sicherheitsleute hinter den Kontrollen ermöglichen
soll, wird es dann übrigens richtig toll. Theoretisch ist
es möglich, dass im Sicherheitsbereich bewaffnetes Personal eines beliehenen, also privaten Unternehmens herumläuft, ohne dass die Bundespolizei irgendetwas davon
weiß, und das offenbar - sonst wäre dieses Personal nicht
bewaffnet -, um Terroristen abzuwehren. Es ist nicht zu
fassen, dass die Antwort des Innenministers auf die terroristische Bedrohung auf Flughäfen die ist, die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen von anderen erledigen zu
lassen. Lieber Herr Innenminister, das geht so gar nicht.
({2})
Wenn die terroristische Bedrohung tatsächlich so groß
ist, wie uns der Innenminister jeden Tag kommuniziert,
dann muss doch die Antwort eine personelle und finanzielle Stärkung der Polizei sein
({3})
und nicht die weitere Privatisierung ihrer Aufgaben.
Deshalb unser Vorschlag: Stellen Sie das notwendige Sicherheitspersonal bei der Bundespolizei an. Damit
schlagen Sie mehrere Fliegen mit einer Klappe: Wir können uns auf kontrollierbare und bewährte Standards bei
der Aus- und Weiterbildung des Personals tatsächlich
verlassen. Bundespolizeibeamte können bei Kontrollen
unmittelbar eingreifen. Nicht zuletzt: Das Personal stünde in einem sicheren Arbeitsverhältnis. Das fordert nicht
nur die Linke, sondern auch die Polizeigewerkschaften.
Übrigens: Die Polizeigewerkschaften haben errechnet,
dass die Anstellung bei der Bundespolizei noch nicht
einmal mit höheren Kosten verbunden wäre.
Grundsätzlich geht es also um die Frage: Wie viel
Aufwand und wie viel Geld wollen wir uns die Sicherheit kosten lassen? Gerade die Union kommt bei der Terrorabwehr ständig mit neuen, teilweise sogar grundgesetzwidrigen Vorschlägen. Ich nenne als Stichworte die
Vorratsdatenspeicherung und die Onlinedurchsuchung.
Bei den Sicherheitskontrollen an Flughäfen hätten Sie
die Möglichkeit, ganz konkret etwas für mehr Sicherheit
zu tun. Schade, dass Ihnen nichts Besseres eingefallen
ist, als wieder die Privatisierungskeule auszupacken.
Vielen Dank.
({4})
Vielen Dank, Thomas Lutze. - Nächste Rednerin:
Susanne Mittag für die SPD.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Zuschauer!
({0})
Auf deutschen Flughäfen sind im Jahre 2015 rund
216 Millionen Passagiere angekommen oder abgeflogen.
Das ist keine Kleinigkeit. Die Passagierzahlen steigen
weiter, und das weltweit. Die Welt rückt damit immer
näher zusammen, und Flughäfen sind oftmals auch schon
vom Ausmaß her eine eigene Welt. Leider sind auch
Flughäfen selbst, wie schon eingangs erwähnt, im Fokus
von Terroristen. Die Anschläge von 9/11, aber auch der
Anschlag in Brüssel im März dieses Jahres machen die
Notwendigkeit von guten und umfangreichen Sicherheitsmaßnahmen auf Flughäfen und der Flugsicherheit
insgesamt deutlich. Deswegen ist es gut und längst überfällig, dass wir nun den Entwurf der Bundesregierung für
die Änderung des Luftsicherheitsgesetzes beraten und
für weiter gehende Sicherheit sorgen.
({1})
Der Gesetzentwurf beruht zum einen auf Änderungen
des EU-Rechtsrahmens, und zum anderen justiert er unser nationales Luftsicherheitsrecht nach. Es bestand Bedarf, da etwas zu ändern. Mir ist im Zusammenhang mit
diesem Gesetz sehr wichtig, dass wir uns weiterhin damit
beschäftigen, den Flugverkehr vor sogenannten Innentätern zu schützen. Das heißt, dass in Zukunft alle, die in
sensiblen Bereichen arbeiten, einer behördlichen Zuverlässigkeitsprüfung unterzogen werden; nicht die Arbeitsverhältnisse werden geändert, sondern es wird die Zuverlässigkeit überprüft. Das betrifft auch die Beschäftigten,
für die bisher nur eine beschäftigungsbezogene Überprüfung durch den Arbeitgeber erfolgte. Das hat einfach ausgereicht; doch es ist heutzutage nicht mehr ausreichend.
({2})
Überall steigen die Standards. Dies ist das Ergebnis von
Erfahrungen und Erkenntnissen aus Vorfällen.
Der Entwurf sieht vor, dass auch Personal im ständig
wachsenden Frachtbereich sorgfältig überprüft wird und
es klare und strenge Regelungen gibt, wer an solch sicherheitssensiblen Stellen arbeiten darf und wer nicht.
Nun gilt diese Zuverlässigkeitsprüfung für die Pilotin genauso wie für den Mann in der Reinigungsfirma,
das Personal am Securitycheck und die Mitarbeiter im
Frachtbereich. Alle werden nach dem gleichen Verfahren überprüft; der gesamte Bereich ist schließlich hoch
sicherheitsrelevant. Wir haben in der vergangenen Sitzungswoche etwas Ähnliches für das Bewachungsgewerbe beschlossen. Auch das wurde befürwortet. Aber
auch da war der Grund steigende Anforderungen und
festgestellte Mängel. Es ist selbstverständlich, im Luftsicherheitsbereich nachzuziehen und eine Angleichung der
Regelungen zu erreichen.
({3})
Eine wichtige Neuerung - das hat Herr de Maizière
schon angesprochen - ist die Möglichkeit, bei möglichen
Gefährdungslagen Flugverbote auszusprechen. Das ist
eine ganz außergewöhnliche Sache. Das kann einmal für
einzelne Flugzeuge gelten, kann aber auch eine bestimmte Gruppe von Flugzeugen, zum Beispiel Kleinflugzeuge, betreffen. Grundlage solch eines Verbots wird sein,
dass tatsächliche Anhaltspunkte, die auf eine erhebliche
Gefahr für Leben, Gesundheit, Freiheit oder nicht unwesentliche Vermögenswerte schließen lassen, vorliegen.
Es ist immer schön, wenn man solche Definitionen schon
einmal zur Hand hat.
Die Verbote können für Flüge bestimmter Airlines,
aus bestimmten Drittstaaten oder mit bestimmten Beiladungen, also Fracht, gelten, die den geforderten Sicherheitsstandards nicht entsprechen. Grundlage und Auslöser können sehr kurzfristig vorliegende Erkenntnisse
der Sicherheitsbehörden sein. Es ist wichtig und lageentscheidend, dass dann auch Maßnahmen ergriffen werden können, um Menschenleben zu schützen oder große
Schadenslagen zu verhindern. Das muss manchmal sehr
schnell gehen.
Wir werden in den Beratungen zu diesem Gesetzentwurf sicherlich auch intensiv über sichere Lieferketten,
über Zertifizierung von Sicherheitsausrüstung, luftsicherheitsrechtliche Bestimmungen für Airlines, Flughafenbetreiber und Zulieferer diskutieren.
Wir haben als SPD-Bundestagsfraktion den Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU vorgeschlagen,
eine Anhörung zur Änderung des Luftsicherheitsgesetzes
durchzuführen. Da ist schon eine ganz positive Resonanz
erfolgt. Es gibt nämlich so vielseitige Themen, die noch
besprochen werden müssen, dass wir dazu gerne noch
einmal Sachverstand von außen einholen wollen. Das
kann ja bei der Beratung nur helfen. Es wird aber am
Ende sicher so sein: Die Standards werden erhöht; das
erfordert nun mal die Prävention. Das müssen wir dort
also leisten.
Bei all diesen Diskussionen dürfen wir eines nicht vergessen: Alles, was wir hier für die Sicherheit beschließen, wird am Ende auch Geld kosten - mein Kollege
Arno Klare wird gleich noch darauf eingehen -; aber das
muss uns die Sicherheit der 216 Millionen Passagiere in
Deutschland schon wert sein.
({4})
Zur grundsätzlichen Diskussion gehört auch, dass
wir uns mit den Beschäftigten auf den Flughäfen, die
für unser aller Sicherheit Tag und Nacht arbeiten, auseinandersetzen müssen. Viele Bundespolizisten und Mitarbeiter im Sicherheitsbereich, die etwa nach München
oder Frankfurt ausgeliehen werden, sind zum Beispiel
alles andere als glücklich mit dieser Situation. Sie haben
zum Teil sehr weite Anfahrtswege, sind fernab ihrer eigentlichen Wohnorte und Dienststellen, werden oft sehr
kurzfristig eingesetzt, und zwar für eine lange und unbestimmte Zeit. Hier besteht meiner Ansicht nach ebenfalls
Regelungsbedarf, um ein nachhaltiges, auf die Zukunft
ausgerichtetes, in allen Bereichen funktionierendes und
ineinander verzahntes Sicherheitskonzept verwirklichen
zu können.
Diese Diskussion hier wird wahrscheinlich nicht die
letzte zu dem Thema sein - abgesehen von der zweiten
und dritten Lesung dieses Gesetzes -; dann kommen wir
noch einmal völlig neu in dieses Thema hinein.
Herzlichen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Für Bündnis 90/Die Grünen erhält
jetzt Irene Mihalic das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Herr Lutze, ich bin ganz bei Ihnen:
Wenn schon Sicherheitsaufgaben von privaten Dienstleistern wahrgenommen werden, dann muss selbstverständlich auch die Qualität stimmen. Wir haben uns hier
im Hause schon entlang unseres Antrags, den wir seinerzeit eingebracht haben, aber auch entlang des Gesetzentwurfs zum Bewachungsgewerbe ziemlich damit auseinandergesetzt, wo eigentlich genau die Linien verlaufen
bzw. was im Bewachungsgewerbe eigentlich konkret
verändert werden muss, damit insbesondere auch in der
zivilen Luftfahrt die Bedingungen so sind, dass wir zu
mehr Sicherheit kommen. Ich persönlich hätte mir selbstverständlich gewünscht, dass unser Antrag damals eine
Mehrheit gefunden hätte; er hat sie leider nicht gefunden.
Ich glaube, dann hätten wir weitaus bessere Standards im
privaten Sicherheitsgewerbe, als wir sie heute haben.
({0})
Die Situation in der zivilen Luftfahrt, im Bereich der
Flughäfen und eben auch bei der Luftfracht ist aber nun
einmal so, wie sie aktuell ist, und ich sehe hier im Haus
keine Mehrheit, diese Dinge zu verändern. Deswegen bin
ich doch sehr dafür, dass wir uns mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf befassen und schauen, ob es da vielleicht
nicht auch Dinge zu verbessern gibt, die wiederum die
Sicherheit in der zivilen Luftfahrt erhöhen. Meine ehrliche Einschätzung dazu: Wenn es die entsprechende
EG-Verordnung nicht gegeben hätte, die jetzt mit diesem
Gesetzentwurf umgesetzt werden soll, und die Presse vor
knapp einem Jahr nicht wieder gravierende Sicherheitslücken im Bereich der Luftfahrt in Deutschland aufgedeckt hätte, wäre die Bundesregierung - ich jedenfalls
habe da meine Zweifel - wohl nicht von allein auf die
Idee gekommen, an diesem Gesetz etwas zu verändern.
({1})
Beschäftigte bei Luftfahrtunternehmen werden aktuell
eben nicht hinreichend überprüft, und das, obwohl sie in
einem hochsensiblen Sicherheitsbereich arbeiten und direkten, unkontrollierten Zugang zu Frachtgütern haben,
die dann später als Zuladungen in Passagiermaschinen
transportiert werden. Deshalb ist es zunächst einmal gut,
dass hier nun ein Gesetzentwurf vorliegt, mit dem sich
das ändern soll bzw. der zumindest das Ziel hat, das zu
ändern.
({2})
- Sie können das Lob gerne annehmen an dieser Stelle.
({3})
Zur Kritik komme ich gleich. Ich mache aber zunächst
noch ein bisschen weiter mit dem Lob;
({4})
denn ich finde, ein solches Gesetz ist die Art von praxisbezogener Sicherheitspolitik, die wir in allen zuletzt
geschnürten großen Sicherheitspaketen, die wir hier im
Haus ja auch leidenschaftlich beraten haben, so vermisst
haben. Hier wird zumindest nicht pauschal und massiv in
die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen, sondern eine bestimmte Gefahr für die öffentliche
Sicherheit in den Blick genommen. Das finde ich an diesem Gesetzentwurf ausnahmsweise einmal begrüßenswert.
Was aber die Detailarbeit angeht, finde ich, tun Sie
sich weiter schwer. Ich vermisse jedenfalls, dass die Vorgaben der EU mit einem echten Mehrwert für die Praxis
so umgesetzt werden, dass die Rechtsanwendung erleichtert und die Sicherheit nachhaltig gefördert wird. Das betrifft zum Beispiel die Nachberichtspflicht von Personen
mit Zuverlässigkeitsüberprüfung. Da haben Sie in Ihrem
Gesetzentwurf, wie ich finde, nicht ausreichend bedacht,
dass sich der Wohnsitz, der Arbeitgeber oder andere
Dinge auch einmal ändern können. Ich weiß, dass sich
zum Beispiel die IHK hier Sorgen macht, dass das Ganze
am Ende für die Unternehmen zu aufwendig wird. Aber
letztlich geht es hier um die Sicherheit im Flugverkehr.
Der Bundesrat hat, finde ich, da einen sehr sinnvollen
Vorschlag gemacht. Vielleicht greifen Sie den im Verfahren ja noch auf.
Ich frage mich auch, ob Sie die Erfahrungen des Luftfahrt-Bundesamtes hier hinreichend berücksichtigt haben; denn in den letzten Jahren wurden ja durch behördliche Prüfungen in regelmäßigen Abständen zahlreiche
Mängel festgestellt. Deshalb, finde ich, müsste zuallererst einmal die Frage beantwortet werden, welche Regelungen denn hier tatsächlich geeignet sind, die Sicherheit
durch staatliche Kontrollen zu verbessern. Denn das Ziel
von solchen regelmäßigen Kontrollen ist ja nicht, Jahr für
Jahr Mängel festzustellen, sondern sie auch abzustellen
und so für ein hohes Maß an Sicherheit zu sorgen.
({5})
Es ist schließlich auch das erklärte Ziel dieses Gesetzentwurfs, für Sicherheit zu sorgen. Nach meiner Einschätzung braucht es dazu aber eben mehr Praxisbezug.
Daran fehlt es in diesem Entwurf noch. Aber wir werden ja im Innenausschuss noch Gelegenheit haben, über
diesen Gesetzentwurf zu beraten. Wir werden dazu auch
eine Expertenanhörung durchführen, auf die ich schon
sehr gespannt bin. Insofern werden wir noch genug Gelegenheit haben, genau diese Dinge zu diskutieren.
Herzlichen Dank.
({6})
Vielen Dank. - Jetzt hat der Kollege Stephan Mayer,
CDU/CSU-Fraktion, das Wort.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Liebe Frau Kollegin
Mihalic, zunächst einmal darf ich mich wirklich sehr
ernsthaft für Ihre anerkennenden und lobenden Worte zu
diesem Gesetzentwurf bedanken.
({0})
Zum Kollegen Lutze darf ich sagen: Das war ja eine
interessante Rede, die Sie gehalten haben. Man kann zu
Ihrer Rede und zum Inhalt stehen, wie man will - ich
möchte die jetzt gar nicht bewerten -, nur eines steht fest,
lieber Herr Kollege Lutze: Diese Rede hat sich auf den
falschen Gesetzentwurf bezogen.
({1})
Ich erkenne beim besten Willen keine Privatisierungskeule in diesem Gesetzentwurf. Das Gegenteil ist der
Fall. Bei uns haben sich im Vorfeld die Vertreter der
Luftfahrtwirtschaft bzw. der Luftfahrtunternehmen eher
darüber beschwert oder davor gewarnt, dass eine zu starke staatliche Regulierung bzw. eine zu starke behördliche
Einflussnahme bei der Zuverlässigkeitsprüfung stattfindet. Also das Gegenteil dessen, wovor Sie in Ihrer Rede
gewarnt haben, ist mit diesem Gesetzentwurf intendiert.
Ich weise an dieser Stelle noch einmal darauf hin: Sie
haben gefordert, es müssten endlich mehr Stellen bei der
Bundespolizei geschaffen werden. Ich sage es hier ganz
nüchtern: Kein Bundesinnenminister hat in so kurzer Zeit
so viele Stellen bei der Bundespolizei geschaffen wie unser heutiger Bundesinnenminister Thomas de Maizière.
({2})
Wir schaffen allein zwischen 2016 und 2020 über 7 000
neue Stellen bei der Bundespolizei. Das entspricht
20 Prozent der Belegschaft der Bundespolizei. Ich sage
das hier ganz nüchtern und würde mir wünschen, dass
sich manche Bundesländer ein Beispiel daran nehmen.
({3})
Wir legen also wirklich klaren Wert auf innere Sicherheit, und zwar nicht auf eine Privatisierung innerer Sicherheit, also keine Privatisierungskeule, wie sie hier als
Horrorszenario an die Wand gemalt wurde, sondern wir
setzen auf den Staat, wir setzen auch auf die Bundespolizei.
({4})
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
Debatten über Luftverkehrssicherheit sind immer sehr
emotional. Das war auch in den letzten Jahren der Fall:
bei der erstmaligen Verabschiedung des Luftsicherheitsgesetzes, bei der Frage der Zuverlässigkeitsprüfung von
Privatpiloten, bei der Einführung der Körperscanner, bei
dem Verbot des Mitführens von Flüssigkeiten im Handgepäck. Ich denke, wir werden in wenigen Monaten,
wenn wir die sogenannte PNR-Richtlinie, also die Fluggastdatenrichtlinie, in deutsches Recht umsetzen, wieder
eine ähnlich emotionale Debatte führen. Das ist natürlich ein Ergebnis des Umstandes, dass es immer um ein
sehr großes Spannungsfeld geht. Millionen Menschen in
Deutschland und außerhalb Deutschlands legen Wert darauf, dass sie reibungslos verreisen können. Der Luftverkehr ist natürlich eine sehr wichtige Wirtschaftsbranche.
Mobilität ist ein berechtigtes und auch sehr schutzwürdiges Interesse. Natürlich ist ein gutes Luftverkehrssystem
ein wesentlicher und unverzichtbarer Erfolgsfaktor für
eine Volkswirtschaft wie die unsrige.
({5})
Ich bin aber auch der festen Überzeugung und sage
das auch ganz deutlich, dass der Gesetzentwurf dem
nicht widerspricht - ganz im Gegenteil. So sehr jeder
von uns und die Bürger Wert darauf legen, möglichst unkompliziert und reibungslos zu verreisen, so sehr legen
alle Wert darauf, sicher zu verreisen. Die Vergangenheit
hat auf sehr schauderliche und sehr dramatische Weise
gezeigt, dass sowohl Flughäfen als auch der Luftverkehr
insgesamt sehr sensitive Ziele, insbesondere für islamistische Terroristen, sind. Deshalb ist es richtig, dass mit
diesem Gesetzentwurf das Schutzniveau für die Bürger
erhöht wird, ohne aber - darauf lege ich auch Wert - die
Belange der Luftverkehrswirtschaft außer Acht zu lassen.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass jetzt
die Möglichkeit geschaffen wird, dass bei bestimmten,
insbesondere sehr akuten Gefährdungssachverhalten das
Bundesinnenministerium Flugverbote unterschiedlicher
Art erlässt: sowohl gegenüber einzelnen Flugzeugen,
aber auch gegenüber Arten von Flugzeugen.
Es werden die Vorschriften für die Zuverlässigkeitsprüfungen verschärft. Lieber Herr Kollege Lutze, das ist
eben genau das Gegenteil von dem, was Sie postuliert
haben. Es reicht nicht mehr, dass es bei Mitarbeitern, die
im Frachtverkehr tätig sind - gerade der Frachtverkehr
ist ein sehr sensibler Bereich -, nur eine beschäftigungsbezogene Zuverlässigkeitsprüfung des Arbeitgebers gibt.
Nein, wir gehen jetzt weiter und verlangen behördliche
Zuverlässigkeitsprüfungen bezüglich dieser Personen,
die im Frachtbereich tätig sind. Ich glaube, dass dies eine
deutliche Verbesserung ist.
({6})
Darüber hinaus setzen wir notwendigerweise auch
europäisches Recht um. Wir schaffen erstmals eine nationale Regelung für die Vorschriften der Zulassung und
der Überwachung der Unternehmen, die im Rahmen der
sogenannten sicheren Lieferkette im Frachtbereich tätig sind, und wir konkretisieren die Verfahren, mit denen europäische Bestimmungen zur Kontrolle der Luftfahrtunternehmen in Deutschland umgesetzt werden, die
entweder Luftfracht oder Luftpost von einem Drittstaaten-Flughafen außerhalb der Europäischen Union in die
Europäische Union befördern.
Darüber hinaus führen wir erstmals ein bundeseinheitliches Zertifizierungs- und Zulassungsverfahren ein und
schreiben eine Zertifizierungs- und Zulassungspflicht für
die Unternehmen fest, die Luftsicherheitskontrolltechnik
herstellen, um einheitliche hohe Qualitätsstandards bei
der Luftsicherheitskontrolltechnik zu gewährleisten. Wir
Stephan Mayer ({7})
werden es in Zukunft auch so handhaben, dass Luftfahrtunternehmen und Flugplatzbetreiber jedweder Art allen
luftsicherheitsrechtlichen Bestimmungen unterliegen,
wobei es im Einzelfall die Möglichkeit von Ausnahmen
gibt.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen,
ich glaube, dies ist ein sehr sachgerechter, ein sehr angemessener Gesetzentwurf, der sich in einem, wie von
mir dargestellt, sehr schwierigen Spannungsfeld bewegt.
Auf der einen Seite steht das klare Interesse, möglichst
unkompliziert und reibungslos zu verreisen, und auf der
anderen Seite stehen die berechtigten hohen Sicherheitsinteressen sowohl der Passagiere als auch der Mitarbeiter
an den Flughäfen.
Ich glaube, es ist nun einmal in erster Linie die Aufgabe des Staates - wohlgemerkt, lieber Herr Kollege
Lutze - für Sicherheit zu sorgen: für Sicherheit insgesamt, aber allem voran auch für Sicherheit im Luftverkehr. Diesen Erfordernissen und Bedürfnissen trägt dieser Gesetzentwurf aus meiner Sicht in vollem Umfang
Rechnung.
Wir werden, liebe Frau Kollegin Mittag, eine Sachverständigenanhörung durchführen; das ist auch richtig
und sachgerecht.
({8})
Trotzdem sollten wir den Rat des Bundesinnenministers
immer mit beherzigen. Wir befinden uns in einer erhöhten Bedrohungssituation und sollten das parlamentarische Verfahren zu diesem wichtigen Gesetzentwurf in
der notwendigen Sachlichkeit und Seriosität, aber auch
Zügigkeit durchführen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({9})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion erhält jetzt Arno
Klare das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Unterlage,
die ich in der Hand habe, ist nicht mein Redemanuskript,
sondern die einschlägige Drucksache von heute. Das sind
die 64 Seiten, die gleich noch eine Rolle spielen werden.
Die Kollegin Mittag hat die Summe gerade genannt;
ich nehme als Beispiel den August dieses Jahres: Im August sind 22 Millionen Passagiere - im Jargon der Luftverkehrswirtschaft Paxe genannt - über bundesdeutsche
Verkehrsflughäfen abgewickelt worden. Im Jahr sind
das - in der Tat kommt ungefähr diese Summe heraus zwischen 216 und 218 Millionen Passagiere. Das ist natürlich im Vergleich mit einem anderen Verkehrsträger,
nämlich der Bahn, die 2 Milliarden Passagiere befördert,
relativ wenig. Gleichwohl ist der Sicherheitsaufwand an
Flughäfen gewaltig und äußerst massiert. Kein anderer
Verkehrsträger garantiert heute schon ein so hohes Maß
an Sicherheit wie der Luftverkehr. Das ist auch richtig
und wichtig so; denn Sicherheit im Luftverkehr ist das
oberste Gebot, weil die Paxe, die Kunden, die da fliegen
wollen, genau das von uns auch erwarten. Wir müssen
ihnen das liefern, und dieses Gesetz liefert genau das.
({0})
Wir haben in der Tat bereits einen beachtlichen Aufwand an Sicherheit: Es gibt nach Artikel 10 der Luftsicherheitsverordnung der EU ein nationales Sicherheitsprogramm für Flughäfen. Es gibt einen dazugehörigen
Luftsicherheitsausschuss beim Bund; ich gehe davon
aus, dass er im Innenministerium angesiedelt ist. Und
es gibt an jedem Flughafen einen Sicherheitsausschuss.
Man stelle sich einmal vor, den gäbe es an jedem Bahnhof. Also an jedem Flughafen gibt es den; insofern ist das
schon beachtlich.
Und in Köln/Bonn können Sie zum Beispiel alsbald da ist schon real etwas gebaut - beobachten, wie die
§-5-Kontrollen, die jeder Passagier über sich ergehen
lassen muss, wenn er in ein Flugzeug steigt, wesentlich
perfektionierter ablaufen, wesentlich kundenfreundlicher
und im Übrigen mit einem wesentlich höheren Maß an
Sicherheit. Da steht inzwischen auch kein Holzdummy
mehr, wie früher mal. Nein, das ist real; das ist aus Aluminium und Stahl gebaut und wird alsbald in Betrieb gehen.
Ich möchte das Augenmerk auf zwei Punkte im Gesetzentwurf richten, die vielleicht im Rahmen der parlamentarischen Beratungen noch etwas verändert werden
sollten. Der eine betrifft den § 17a Luftsicherheitsgesetz.
Der § 17a produziert Kosten für die Verkehrsträger in
der Luftfahrt. Ich will die Kosten gar nicht beziffern,
aber die werden sich auf zweistellige Millionenbeträge
belaufen. Ich hoffe, dass man sich irgendwann darüber
verständigen können wird, eine Ausnahmeregelung in
§ 9 Absatz 4 Bundesgebührengesetz zu treffen, sodass
die Gebühren in diesem Fall nicht in voller Höhe erhoben werden. Ich verweise darauf, dass dieser Betrag bei
der Bahn nicht bei 100 Prozent liegt, sondern nur bei
20,83 Prozent. Darauf sollten wir als Verkehrspolitiker
eventuell Wert legen.
({1})
Ein zweiter Punkt betrifft § 8. Dort ist nämlich etwas
geändert worden. Bisher standen dort nämlich die Worte
„Unternehmer eines Verkehrsflughafens“. In der Anpassung an die EU-Richtlinien sind sie durch die Worte „Betreiber eines Flugplatzes“ ersetzt worden. Das ist sehr allgemein. Betreiber eines Flugplatzes ist auch eine Klinik,
die einen Helilandeplatz hat. Und der können wir natürlich nicht zumuten, die gleichen Sicherheitsanforderungen zu erfüllen. Das geht ja gar nicht; wie sollte man zum
Beispiel Luft- und Landseite trennen? Das wird äußerst
schwierig. Diese Änderung muss aber nun vorgenommen
werden. Es gibt jedoch in dem genannten § 8 auch einen
Absatz 2, der die Ausnahmeregelung durchaus zulässt.
Nur wäre es sinnvoll, wenn die Ausnahmeregelung nicht
über die 16 Luftsicherheitsbehörden der Länder liefe,
Stephan Mayer ({2})
sondern bundeseinheitlich geregelt würde. Da mache ich
den Vorschlag, dass wir eventuell § 16 des Luftsicherheitsgesetzes ändern und dort eine Ausnahmegenehmigung für das Luftrettungssystem in Deutschland - es ist
nicht unerheblich groß - unterbringen. Wenn uns das in
den folgenden Debatten und der parlamentarischen Beratung gelänge, würde das Gesetz noch besser, als es jetzt
schon ist.
Danke.
({3})
Vielen Dank. - Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der Kollege Florian Oßner, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir als Verkehrspolitiker der CDU/CSU-Fraktion begrüßen grundsätzlich die Initiative des Bundesinnenministeriums zur Revision des Luftsicherheitsgesetzes; denn eine Anpassung des nationalen Rechts an das
EU-Recht war überfällig.
Die Bombenanschläge - der Herr Bundesminister
hat darauf hingewiesen - an den Flughäfen Brüssel und
Istanbul in diesem Jahr sowie der durch eine Bombe herbeigeführte Absturz der russischen A321 im vergangenen
Jahr haben uns wieder einmal tragisch vor Augen geführt, wie sehr der Luftverkehr im Fokus terroristischer
Angriffe steht. Auch der Name meiner Heimat Landshut
wird immer mit der Entführung einer auf den Namen
„Landshut“ getauften Lufthansa-Maschine durch palästinensische Terroristen im Jahr 1977 tief in der Geschichte
der Bundesrepublik verwurzelt bleiben.
Seitdem ist es immer die oberste Priorität der Politik
von CDU/CSU gewesen, das Schutzniveau unserer Bürgerinnen und Bürger weiter zu verbessern. Gerade für
die Unionsparteien ist das Thema der inneren Sicherheit
ein Kernanliegen. Hier möchte ich ein ganz großes Lob
an unseren Bundesinnenminister Thomas de Maizière,
aber auch an unseren innenpolitischen Sprecher Stephan
Mayer schicken. CDU und CSU stehen gemeinsam für
Recht und Ordnung in unserem Land.
({0})
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein gutes Beispiel
für die konsequente Weiterverfolgung dieses Ziels; denn
er wird zu einer noch größeren Sicherheit des Luftverkehrs in Deutschland führen. Um schnell und effizient auf
mögliche Gefährdungslagen reagieren zu können, erhält
das Bundesinnenministerium zukünftig die Befugnis, ein
Flugverbot für einzelne oder mehrere Luftfahrzeuge zu
verhängen. Abhängig vom konkreten Sachverhalt kann
es sich dabei, wie bereits besprochen, um ein Einflug-,
Überflug-, Start- oder ein Frachtbeförderungsverbot handeln.
Auch die Vorschriften für die Zuverlässigkeitsüberprüfung von Arbeitnehmern in sicherheitsrelevanten Bereichen werden verschärft. Dies betrifft insbesondere das
im Frachtbereich tätige Personal, das damit in Zukunft
einer stärkeren Kontrolle unterliegt. Aus verkehrspolitischer Sicht wäre ein Schnellverfahren dazu wünschenswert.
Das ist unser aktiver Beitrag zur Sicherheit unserer
Fluggäste und an den Flughäfen in Deutschland.
({1})
Ebenfalls im Bereich der Luftfracht wird die sogenannte sichere Lieferkette, also die Zulassung und Überwachung der beteiligten Unternehmen geregelt. Aus
verkehrspolitischer Sicht bedeutsam sind die Verordnungsermächtigungen. Das bedeutet für uns eine transparente Gebührenpraxis in der Luftfahrtbranche. Da bin
ich ganz beim Kollegen Klare, der das in ähnlicher Weise
angesprochen hat. Allerdings müssen wir darauf achten,
bei den einzelnen Gebührentatbeständen mit Vernunft
vorzugehen, um den Luftverkehrsstandort Deutschland
im internationalen Vergleich nicht zu benachteiligen.
Meines Erachtens müssten wir zum Beispiel die Abschaffung der wettbewerbsfeindlichen Luftverkehrsteuer noch stärker ins Auge fassen. Damit könnten wir den
Luftverkehrsstandort Deutschland zusätzlich sichern. Im
Koalitionsvertrag haben wir hierzu festgelegt - ich zitiere -:
Wir werden den Luftverkehrsstandort Deutschland
stärken und setzen uns für den Erhalt seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit ein. Bei der Einführung von fiskal- oder ordnungspolitischen Maßnahmen im Luftverkehr werden wir auf ein positives
Nutzen-Kosten-Verhältnis achten. Die Folgen für
die Mobilität in Deutschland und ihre Wirksamkeit
für einen effektiven Lärm- und Umweltschutz müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinander
stehen.
Ich denke, exakt das trifft es im Kern, meine lieben Kolleginnen und Kollegen. Wir brauchen für unsere Entscheidungen auch das richtige Augenmaß.
Welche herausragende volkswirtschaftliche Bedeutung die Luftverkehrsbranche in Deutschland hat, kann
man sehr gut an meiner Heimatregion Landshut und
Kelheim erkennen, da sie äußerst stark durch ihre direkte Nähe zum Flughafen München profitiert: Mit rund
30 000 Beschäftigten ist der Flughafencampus die größte
Arbeitsstätte der Region. Viele davon haben ihren Lebensmittelpunkt in Landshut und Umgebung, aber auch
eine Vielzahl von Firmen hat sich extra aufgrund der
unmittelbaren Nachbarschaft zum Flughafen dort angesiedelt. Der Flughafen ist ganz klar einer unserer Jobmotoren.
Meine Damen und Herren, die Luftverkehrsbranche
ist für unser Land von immenser Bedeutung, aber Konkurrenz aus den Golfstaaten und der Türkei setzt unsere
Fluggesellschaften und Flughäfen massiv unter Druck.
Wir stehen daher in besonderer Verantwortung: zum einen für die Sicherheit, zum anderen dafür, dass unsere
Luftverkehrswirtschaft nicht über Gebühr belastet wird.
Deshalb möchte ich Sie bitten - trotz aller Zustimmung
zu der sehr guten Gesamtmaßnahme -, im Rahmen weiterer Prozesse die gebührenrechtlichen Regelungen genau zu überprüfen.
Herzliches Vergelts Gott fürs Zuhören.
({2})
Vielen Dank. - Damit ist die Aussprache beendet.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
auf den Drucksachen 18/9752 und 18/9833 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Gibt es von Ihrer Seite aus dazu andere Vorschläge? Ich sehe, das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
- Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Kerstin Andreae, Kai Gehring,
Dr. Thomas Gambke, weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur steuerlichen Förderung von Forschung
und Entwicklung kleinerer und mittlerer
Unternehmen ({0})
Drucksache 18/7872
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({1})
Drucksache 18/9840
- Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/9841
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Auch hierzu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache, und das Wort hat der Kollege Dr. Philipp Murmann, CDU/CSU-Fraktion.
({3})
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Von der Luftsicherheit zur Forschungsförderung: Das Feld im Bundestag ist weit. Der
Forschungsstandort Deutschland ist exzellent, innovativ
und leistungsfähig.
({0})
Dafür haben wir gemeinsam gesorgt. Wir haben das
3-Prozent-Ziel fast erreicht; es sind etwas mehr als
2,9 Prozent, also fast 3 Prozent.
({1})
600 000 Mitarbeiter arbeiten im Bereich Forschung
und Entwicklung. Forscher kommen aus den USA nach
Deutschland zurück.
({2})
Wir haben viele Hidden Champions, die stark technologiegetrieben sind. Wir sind Nummer zwei bei den Exporten forschungsintensiver Waren. Das EFI-Gutachten bestätigt uns, dass wir immer noch Nummer eins in Europa
bei Prozess- und Produktinnovationen sind.
({3})
Insofern stehen wir gut da.
Woher kommt das? Wir haben den Haushalt - wir
nehmen zufällig das Jahr 2005 ({4})
in den Jahren 2005 bis 2016 von 7 auf 17 Milliarden Euro
mehr als verdoppelt. Das schlägt sich natürlich auch darin nieder. Wir haben die Projektförderung stark ausgeweitet. Wir haben erfolgreiche Programme wie ZIM und
KMU-innovativ. Wir haben die AiF als Forschungsgemeinschaft, gerade für den kleineren und mittleren Bereich.
({5})
- Ja, das finden Sie auch gut, Frau Andreae. Wir kommen
gleich zum Thema.
({6})
- Genau. - Wir haben natürlich bei den Unternehmensgründungen das eine oder andere verbessert, was uns
auch in diesem Bereich nach vorne bringt.
Brauchen wir also zusätzlich eine steuerliche Forschungs- und Entwicklungsförderung?
({7})
Das ist die Fragestellung, die Sie uns aufgeben. Es gibt
einiges, was dafür spricht. Ich habe ja schon bei der ersten Lesung gesagt: Wir haben grundsätzlich durchaus
Sympathien dafür. Die Projektförderung erfasst nämlich
nur einen Teil der Unternehmen, etwa 3 000. Man könnte sicherlich noch an die anderen herangehen. Man kann
aber auch fragen: Warum forschen die eigentlich nicht?
Gibt es vielleicht Gründe dafür?
({8})
Gleichzeitig gilt es - das haben uns die Sachverständigen auch mitgegeben -, einige Fragestellungen zu klären. Die steuerliche Forschungsförderung hat den Vorteil,
dass sie frei ist, das heißt, man kann frei entscheiden,
was man mit den Mitteln macht, gleichzeitig ist sie aber
auch nicht zielgenau. Das war andererseits sozusagen
das Gegenargument. Dann wurde die Frage diskutiert:
Kann man eine Doppelförderung völlig ausschließen?
Wie groß ist der Aufwand, das gegenseitig abzugrenzen?
Ist der Bezug auf Personalkosten alleine oder der Bezug
auf Personal- und Sachkosten richtig? In der Anhörung
kam auf jeden Fall heraus, dass der Vorschlag, den Sie
gemacht haben - 15 Prozent Steuerermäßigung auf alle
FuE-Kosten für Unternehmen bis 50 Millionen Euro
Umsatz und bis zu 249 Mitarbeiter -, nach Meinung der
meisten Sachverständigen nicht zielführend ist. Das liegt
insbesondere an der Problematik mit den großen und den
kleinen Unternehmen.
({9})
- Es gab einige, die gesagt haben: „Für alle“; aber es gab
auch Sachverständige, die gesagt haben, dass man die gewünschte Zielgruppe durch eine Begrenzung auf Unternehmen mit bis zu 249 Mitarbeiter wahrscheinlich nicht
erreichen kann. Für die kleineren Unternehmen gilt, dass
die Projektförderung besonders erfolgreich ist.
Die Frage ist immer, ob große gegen kleine Unternehmen ausgespielt werden. Ein wesentliches Argument
war, dass die großen und die kleinen Unternehmen gerade
im Forschungsbereich intensiv zusammenarbeiten, was
wir bei einer solchen Förderung besonders berücksichtigen müssen. Deswegen sollten wir nicht entweder die
kleinen oder die großen Unternehmen berücksichtigen.
Man muss einen ausgewogenen Weg gehen, also sowohl
kleine als auch große Unternehmen berücksichtigen, damit die sogenannten Spill-over-Effekte erzielt werden
können. 1 000 Mitarbeiter könnte - das war zumindest
meine Conclusion aus der Anhörung - vielleicht eine
Richtgröße sein, wobei dann wiederum die Beihilfefrage
zu klären wäre. Insofern ist das insgesamt ein nicht ganz
einfaches Thema.
Ich möchte kurz auf vier andere Aspekte eingehen, die
in der Anhörung eine Rolle gespielt haben:
Erstens. Wie relevant ist die steuerliche Forschungsförderung für Start-ups?
({10})
In der Anhörung kam für mich klar heraus: Wagniskapital ist deutlich sinnvoller und wichtiger. Ich denke,
unser Gesetzentwurf zu den Verlustvorträgen bringt da
einen zusätzlichen Schub. Insofern ist, wie ich denke, die
steuerliche Forschungsförderung an der Stelle nicht unbedingt das richtige Instrument.
Zweitens. Digitalisierung ist für uns alle ein großes
Thema. Kann man mit steuerlicher Forschungsförderung
die Digitalisierung massiv vorantreiben? Meiner Ansicht
nach herrschte diesbezüglich die Meinung vor, dass dafür
die Projektförderung geeignet ist, weil sie zielgerichtet
eingesetzt werden kann. Auch dafür ist die steuerliche
FuE-Förderung also nicht unbedingt geeignet.
Drittens. Die Zertifizierungsstelle, die Sie vorschlagen,
({11})
ist auf der einen Seite natürlich mit Bürokratie verbunden - man müsste überlegen, wie man das aufbaut -, sie
hätte auf der anderen Seite den Vorteil, dass man eine
gewisse Rechtssicherheit bekommt.
Viertens. Die Patentboxen machen uns zunehmend
Probleme. In meinem Wahlkreis sind gerade Gewerbesteuereinnahmen weggebrochen, weil ein Unternehmen
die Patentbox in Holland genutzt hat. Wir müssten uns
im Finanzausschuss einmal überlegen, wie wir damit
umgehen. Ich finde, man kann nicht einfach darüber hinwegschauen.
({12})
Das auf europäischer Ebene zu lösen, wäre am allerbesten. Wenn das aber nicht so schnell geht, sollten wir überlegen, was wir bei uns machen können.
({13})
Fazit: FuE-Förderung ist der wichtigste Standortfaktor
Deutschlands. Die Projektförderung ist ein sehr erfolgreiches Instrument, das uns zu diesem Erfolg verholfen
hat. Die steuerliche FuE-Förderung hat viele Fans - ich
gehöre auch dazu -;
({14})
aber wir haben uns entschieden, dem Gesetzentwurf jetzt
nicht zuzustimmen. Wir haben aber bald wieder Wahlen,
wie Sie vielleicht gehört haben.
({15})
Dann werden wir hoffentlich wieder in Koalitionsverhandlungen eintreten, vielleicht ja sogar mit Ihnen, Frau
Andreae. Schauen wir einmal, was dabei herauskommt.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
({16})
Vielen Dank. - Als Nächste hat Dr. Petra Sitte, Fraktion Die Linke, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um
mal gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es bleibt dabei - das hat auch die Anhörung ergeben -: Die Wirkung
steuerlicher Forschungsförderung ist umstritten. Manche
Studien sehen keine positiven Effekte durch eine Zunahme von Forschungs- und Entwicklungsausgaben auf
volkswirtschaftlicher Ebene. Andere wiederum sehen
immerhin einen Zuwachs an Forschungsausgaben durch
die Privatwirtschaft. Dritte wiederum sehen diesen Effekt
gerade nicht bei den von diesem Gesetzentwurf adresDr. Philipp Murmann
sierten Zielgruppen, und noch weniger angesichts des
vorgeschlagenen Finanzvolumens. Unsicher ist auch, ob
sich der Zertifizierungsaufwand für kleine Unternehmen,
von denen in diesem Gesetzentwurf vor allem die Rede
ist, nach dem vorgeschlagenen Modell überhaupt lohnt.
Die Ökonomieprofessorin Marianne Mazzucato, die
gestern gefeierte Gastrednerin beim SPD-Wirtschaftsempfang war
({0})
- und ich habe ihr Buch gelesen -,
({1})
hat in ihrem Buch Das Kapital des Staates die Ergebnisse
steuerlicher Forschungsförderung wie folgt bilanziert ich zitiere -:
Steuererleichterungen sind eher ein willkommenes
Geschenk für Firmen, die sowieso schon in Forschung und Entwicklung investieren.
Es ist also durchaus verständlich, dass Unternehmerverbände dieses Geschenk gern zusätzlich hätten. Aber
weder ist es besonders geeignet, kleine und mittlere Unternehmen überhaupt zum Forschen anzuregen, noch ist
es ein Mittel - darum müsste es ja auch und gerade den
Grünen gehen -, gezielt Innovationspotenziale einer bestimmten Branche zu stärken.
Frau Mazzucato zeigt an den Erfolgen beispielsweise
von Silicon Valley, der Medikamentenentwicklung und
dem recht jungen Industriezweig Biotech, wer wirklich
die bahnbrechenden Innovationen finanziert.
({2})
Es sind gerade auch in den USA staatliche Förderprojekte, projektbezogene Kredite des Staates und staatliche
Forschungseinrichtungen, die das eben tun, und wir sollten ja nach Ihrer Intention den Blick über den Tellerrand
heben.
Die bedeutende Eigenleistung der Unternehmen im
Innovationsprozess beginnt erst mit der schlauen Kombination anwendungsreifer Technologien. Führend bei
der Vermarktung dieses Wissenstransfers von der öffentlichen Hand in die Privatwirtschaft ist Apple. Mit dem
iPhone hat Apple 2007 die IT-Branche, unser Kommunikationsverhalten und die Digitalisierung auf den Kopf
gestellt.
({3})
Grundlegend neu und anders und damit den Erfolg des
heutigen Smartphones begründend, waren unter anderem
die Touchscreens und das Scrollen mit den Fingern. Beide Technologien aber wurden wie alle anderen Neuerungen durch programmatische staatliche Förderung entwickelt, das heißt teilweise auch mit jahrzehntelangem
Vorlauf. Das spricht also durchaus für langen Atem auf
der staatlichen Seite.
({4})
Apple selbst wiederum verringerte trotz steuerlicher
Forschungsförderung seine eigenen FuE-Ausgaben zwischen 2001 und 2011 von 8 auf 2,2 Prozent des Umsatzes.
({5})
- Ja, das sei in Rechnung gestellt; aber da haben wir
schon aufgepasst. - Die letzte große Innovation im Apple-Kosmos, die Sprachassistenz Siri, beruht wiederum
auf Projektförderung durch den Staat.
Dass grundlegende Innovation nicht aus der Privatwirtschaft kommt, ist dabei also nur folgerichtig. Das
Ausfallrisiko für solche Investitionen ist von der Grundlagenforschung bis zur Markteinführung schlicht und ergreifend - das wird jeder nachvollziehen können - viel
zu hoch. Was für kalifornische Weltkonzerne gilt - deshalb habe ich das Beispiel auch hier angeführt -, gilt erst
recht für kleine und mittlere Unternehmen. Da helfen die
15 Prozent Steuerbonus auch nicht weiter.
Wir müssen uns also als Gesellschaft angesichts der
globalen ökologischen und sozialen Herausforderungen
fragen, welche Innovationen wir tatsächlich brauchen
und welche wir tatsächlich auch haben wollen,
({6})
und daran sollte sich Forschungsförderung ausrichten.
Diese kann am Ende gerne vermarktbar sein; da sind die
Linken die Letzten, die etwas dagegen haben.
({7})
So können also dann wissenschaftliche Einrichtungen
und Unternehmen durchaus nachhaltige Produkte und
Verfahren herausbringen. Dies unterstützen wir als Politik allerdings nicht durch Steuergeschenke nach dem
Gießkannenprinzip,
({8})
sondern vor allem durch Projektförderung, die eben gerade, wie ich zu belegen versucht habe, für kleine und
mittlere Unternehmen besonders attraktiv ist.
Danke.
({9})
Vielen Dank. - Als Nächster hat Lothar Binding,
SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr verehrte Damen und Herren! Kollege Murmann hat
ja schon die Leistung beschrieben, die in Deutschland in
Forschung und Entwicklung von kleinen und mittleren
Unternehmen erbracht wird. Von René Röspel gab es daraufhin begeisterten Applaus.
Wir sehen, dass auf diesem Gebiet sehr viel passiert.
Dort gibt es enorme Leistungen. Deshalb ist vielleicht
eine Art digitaler Antwort nicht hinreichend, wie sie gestern gegeben wurde - Sie haben sie indirekt zitiert -, als
einerseits von „wasted money“, also Vergeudung von
Geld, und andererseits von Forschungsförderung als
wünschenswertem Instrument gesprochen wurde. Dazwischen könnte die Wahrheit liegen. Es gibt keine digitalen Antworten.
Immerhin entfallen auf KMUs ja im Moment 10 Prozent der gesamten FuE-Ausgaben in Deutschland - das
ist eine ganze Menge - und 15 Prozent der Innovationsausgaben aller deutschen Unternehmen. Dennoch sagt
eine Expertenkommission, dass die Innovationsanstrengungen, also die Intensität von KMUs bei Forschung und
Entwicklung, langfristig nachlassen. Darüber muss man
meines Erachtens nachdenken;
({0})
denn wenn das langfristig andauern würde, würde man
merken, dass wir Probleme bekommen könnten.
Woran liegt das? Hohe Innovationskosten sind ein
Hemmnis; das ist klar. Wirtschaftliche Risiken sind für
kleine Unternehmen schwerer zu tragen. Der Mangel
an Fachkräften ist ein sehr ernstes Problem, ebenso der
Mangel an internen und externen Finanzierungsmöglichkeiten, weil die Innenfinanzierung der Unternehmen
häufig nicht stark genug ist. Deshalb muss man sich die
Situation genau anschauen. Die Projektförderung greift
sehr zielgenau. Deshalb zeigt sie die guten Ergebnisse,
die Sie beschreiben.
Was wir noch nicht haben, ist eine steuerliche Förderung. Deshalb ist es klug, darüber nachzudenken. Wir
finden den Gesetzentwurf der Grünen im Großen und
Ganzen sehr gut.
({1})
Natürlich gibt es ein Aber; sonst würde ich ja gleich sagen, dass wir zustimmen. Übrigens, wenn wir in andere
OECD-Länder schauen, sehen wir, dass es in 28 von 34
eine Forschungsförderung gibt. Es ist also nicht so, dass
das eine Idee wäre, die man von vornherein ablehnen
kann. Sie klingt auch irgendwie attraktiv.
Forschungsförderung für kleine Unternehmen ist immer schwierig. Sie müssen einen Projektantrag stellen
und tragen ein hohes Risiko, dass er abgelehnt wird. Es
ist aufwendig und bürokratisch. Man denkt immer, die
administrativen Kosten bei der Forschungsförderung seien gering. Aber es ist ein Irrglaube, zu meinen, das sei
leicht administrierbar.
({2})
Denn die Abgrenzungsprobleme, die bei der Frage auftreten, was eigentlich förderungswürdig ist, bleiben natürlich bestehen und erschweren den gesamten Prozess.
({3})
Bezogen auf den konkreten Änderungsvorschlag
hinsichtlich § 35c Einkommensteuergesetz sage ich: Er
klingt harmlos, führt aber zu Belastungen von geschätzt
770 Millionen Euro. Das ist kein Pappenstiel. Ich glaube,
darüber muss man wirklich nachdenken. Von den anderen Bedingungen, die die Grünen formulieren, können
wir viele mittragen. Eine Steuerermäßigung in Höhe
von 15 Prozent für alle Aufwendungen zusätzlich zu den
Betriebsausgaben ist eine ganz gute Idee. Eine Begrenzung auf 15 Millionen Euro pro Unternehmen und Forschungsvorhaben finden wir auch in Ordnung. Dass es
für denselben Zweck, also Forschungsförderung, keine
andere Förderung aus öffentlichen Töpfen geben soll,
finden wir ebenfalls gut. Wir merken schon, dass der Gesetzentwurf ganz gut ist.
({4})
- Das brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Sie sind ja
auch in Koalitionen und wissen, wie so etwas funktioniert.
({5})
Wir finden es auch gut, dass es, wenn die Steuerermäßigung höher ist als die Steuerzahlung, Tax Credits gibt.
Die einzelnen Maßnahmen sind also ganz gut.
Was Sie nicht geschafft haben - jetzt sollten Sie zuhören -, ist, die Zielgenauigkeit zu erhöhen und Mitnahmeeffekte zu vermeiden. Das Ergebnis in der Anhörung
war tatsächlich, dass Unternehmen mit bis zu 249 Mitarbeitern möglicherweise die falsche Zielgruppe sind bzw.
dass wir die allerwichtigste vergessen: Unternehmen mit
etwa 250 bis 2 000 Mitarbeitern - ob genau das die richtige Zahl ist, ist egal -;
({6})
denn in diesen Unternehmen wird viel mehr geforscht.
({7})
Die Zielgenauigkeit lässt also zu wünschen übrig. Wenn
wir das noch hinbekommen, glaube ich, können wir einen gemeinsamen Gesetzentwurf machen.
Schöne Zeit.
({8})
Vielen Dank. - Nächste Rednerin ist Kerstin Andreae,
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Lothar Binding ({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist schon außergewöhnlich, wie sich die Vertreter der
Großen Koalition hier winden, um Argumente zu finden,
warum man jetzt nicht zustimmen kann.
({0})
Das ist sehr erhellend.
Wir haben am 15. März 2016 diesen Gesetzentwurf in
diesem Hause eingebracht. Was ist bisher passiert? Am
9. Mai hat die grün-schwarze Landesregierung in Baden-Württemberg die steuerliche Forschungsförderung
in den Koalitionsvertrag geschrieben. Der Bundesrat hat
am 17. Juni eine Entschließung zu diesem Thema verabschiedet. Letzte Woche hat Wirtschaftsminister Gabriel
auf der BMWi-Homepage eine Pressemitteilung des
Bündnisses „Zukunft der Industrie“ veröffentlicht, in
der gefordert wird, dass die Bundesregierung jetzt doch
bitte eine steuerliche Forschungsförderung auf den Weg
bringt.
({1})
Am selben Tag hatten wir eine Sachverständigenanhörung im Finanzausschuss. Es war fast nicht möglich,
einen Sachverständigen zu finden, der die Meinung der
Koalition vertritt. Dies tat nur die Vertreterin des DIW,
die gesagt hat, dass steuerliche Forschungsförderung keine gute Idee ist. Schließlich lesen wir, dass Hubertus Heil
sagt, dass es für einen Forschungsbonus für kleine und
mittlere Unternehmen jetzt endlich Zeit ist. Ja, Himmel,
dann macht es doch endlich. Der Zug ist auf dem Gleis.
Das Thema steht jetzt an.
({2})
Das Zeitfenster für die Einführung einer steuerlichen
Forschungsförderung ist nicht unbegrenzt; es ist schmal.
Wenn Sie jetzt wieder argumentieren, dass wir erst einmal Wahlkampf machen, dass es dann in die Koalitionsverhandlungen geht und dass wir dann erst weiterschauen, muss ich sagen: Das ist genau das Gleiche wie vor
vier Jahren. Ihr hattet beide in euren Wahlprogrammen
stehen, dass ihr eine steuerliche Forschungsförderung
wollt. Jetzt gehen wir auf die Wahl 2017 zu, dann wird
es 2018. Wie lange sollen wir denn noch warten? Macht
es jetzt.
({3})
Alle zusammen beklagen, dass die Forschungsintensität in den KMUs abnimmt. Ja, sie nimmt wirklich ab massiv. Das heißt, wir verzichten auf kreatives Potenzial,
wir verzichten auf Ideen, und wir verzichten auf das, was
in den KMUs entwickelt wird.
({4})
Und: Nein, wir wollen nicht, dass die Forschungsförderung die Projektförderung ersetzt; sie soll sie ergänzen.
Wenn man sieht, dass die Mittel aus dem ZIM, dem Zentralen Innovationsprogramm Mittelstand, zur Jahresmitte 2016 schon komplett abgerufen sind, dann heißt das,
dass es einen großen Bedarf an Forschungsunterstützung
gibt.
({5})
Das könnte doch den Weg dafür freimachen, dass man
sagt: Zur Projektförderung und zum ZIM kommt jetzt
eine steuerliche Forschungsförderung hinzu, die mehr
Freiheit, mehr Freigeist, mehr Innovation möglich macht.
Dass ich der Union das sagen muss, zeigt wieder einmal,
dass Grüne für innovative Wirtschaftspolitik stehen und
nicht Sie.
({6})
Jetzt noch etwas zum Thema „Große und kleine Unternehmen“. Herr Murmann, Sie sagen: Weil wir es nicht
für alle machen können, machen wir es jetzt für keinen.
({7})
Eine Superstrategie, eine ganz tolle Strategie! Dass die
Sachverständigen von BDI und DIHK sagen: „Das ist
uns zu eng gefasst; wir hätten das gern für alle“, hat
mich, ehrlich gesagt, nicht gewundert.
({8})
Wir sagen aber, dass große Unternehmen deutlich besser
in der Lage sind, sich an der Projektförderung zu beteiligen, weil sie die Manpower dafür haben und dies leisten
können, dass aber kleine Unternehmen eher aus der Projektförderung aussteigen, weil sie die ganzen Antragstellungen und die Bürokratie von der Manpower her einfach
nicht stemmen können.
Deswegen sagen wir: Wir wollen für KMUs eine zielgenaue steuerliche Forschungsförderung, um hier Innovationen anzutreiben. Das ist innovative Wirtschaftspolitik. Das sollten Sie jetzt machen.
({9})
Vielen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion spricht
jetzt der Kollege Dr. Philipp Lengsfeld.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
ist ein tolles Timing, dass ich direkt nach Frau Andreae
reden darf.
({0})
Ich möchte zunächst sagen, dass ich anlässlich der zweiten und dritten Beratung dieses Gesetzentwurfs der Antragstellerin, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, ausdrücklich danken möchte. Ich finde es gut, dass Sie einen
Gesetzentwurf zu diesem Thema eingebracht haben.
({1})
Das sage ich nicht nur, weil wir im Grundsatz einer
Meinung sind, sondern auch und vor allem, weil wir auf
Grundlage Ihres Gesetzentwurfes noch einmal ausführlich über diese Thematik diskutieren konnten. Ich finde,
das hat uns alle weitergebracht.
({2})
Zur Wiederholung noch einmal zum Grundsätzlichen - es ist hier schon mehrfach gesagt worden, aber
ich will es noch einmal ganz deutlich aussprechen -: Die
AG Bildung und Forschung der CDU/CSU-Fraktion,
für die ich hier spreche, hat eine glasklare Position. Wir
unterstützen die steuerliche FuE-Förderung. Die Forschungspolitiker der Union sprechen sich übrigens schon
seit Jahren für sie aus, jetzt wieder mit Nachdruck. Wir
sehen hierin - das alles ist schon gesagt worden, aber ich
wiederhole es - einen wesentlichen Hebel, um die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten von Unternehmen
zu stärken. Wir haben dabei für Deutschland ein Ziel von
3 Prozent plus fest im Blick.
Steuerliche Forschungsförderung ist - das ist ihr wichtigstes Prä - im Grundsatz themenoffen, branchenoffen
und breitenwirksam. Wenn sie richtig gemacht wird, generiert sie auch eine starke Hebelwirkung.
({3})
Aber wir reden über Geld, über sehr viel Geld.
({4})
Deshalb sind vermeintliche Detailfragen eben doch sehr
wichtig.
({5})
Im Verfahren haben wir - ich habe es schon gesagt - viel
gelernt. Übrigens war auch das schon zitierte Fachgespräch im Finanzausschuss sehr hilfreich.
Ich möchte zwei Punkte vertiefen.
Erster Punkt. Natürlich müssen wir auf die haushalterische Verhältnismäßigkeit achten, nicht nur - Frau
Andreae, zu Ihrem Punkt komme ich gleich -, aber vor
allem, da wir eine sehr gute, sehr auskömmlich finanzierte direkte Projektförderungsstruktur haben. Diese gilt es
im Kern zu erhalten. Aber die haushalterische Bremse,
die das Bündnis 90/Die Grünen vorschlägt, ist mit großer
Sicherheit - das haben die Diskussionen aus meiner Sicht
gezeigt - nicht die richtige. Wir sollten nicht zwischen
der Forschung in KMUs und der Forschung in größeren
Firmen unterscheiden.
({6})
Frau Andreae, da Sie mich direkt ansehen, wiederhole
ich es: Wir sollten nicht zwischen der Forschung in kleineren und in größeren Firmen unterscheiden.
({7})
Die steuerliche Forschungsförderung kann ihr volles Potenzial innerhalb der deutschen Volkswirtschaft nur entfalten, wenn Unternehmen aller Größenklassen gefördert
werden. Das ist meine feste Überzeugung.
({8})
Die vorgeschlagenen Größenbeschränkungen bilden auch die Unternehmenswirklichkeit in Deutschland
nicht ausreichend ab; wir haben das schon diskutiert. Es
kommt zu Abgrenzungsproblemen. Daneben müssen wir
auch das Thema Standortvorteil im internationalen Wettbewerb - eigentlich haben wir momentan in Deutschland
eher einen Standortnachteil; das habe ich in meiner ersten
Rede auch schon gesagt - im Blick behalten. Das betrifft
vor allem die größeren Unternehmen, und das wissen Sie
ganz genau.
Ich muss Sie jetzt einmal ganz kurz unterbrechen: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Gambke?
Ich gestatte normalerweise immer Zwischenfragen,
aber ich glaube, heute Abend ist es nicht nötig, weil wir
das schon genug ausdiskutiert haben. Ich führe das kurz
zu Ende.
({0})
Es haben sich alternative Ansätze herauskristallisiert.
Es ist ja relativ deutlich geworden, dass es überhaupt
nicht alternativlos ist, diese von Ihnen vorgeschlagene
Unterscheidung einzuführen, sondern wir können andere haushalterische Grenzen einziehen, zum Beispiel über
die Höhe des Fördersatzes oder den Personalaufwand.
({1})
Auch der zweite Punkt ist sehr wichtig, vor allem
für die KMUs, die Sie ja zu Recht im Fokus haben: Die
steuerliche FuE-Förderung ist nur dann attraktiver als die
reine Projektförderung, wenn der bürokratische Aufwand
deutlich geringer ist. Das ist Ihnen vollkommen klar.
({2})
Es gibt in Ihrem Entwurf eine Idee, die sehr viele Fragen aufwirft, nämlich die berühmte Zertifizierungsstelle.
Das mag für kontrollverliebte grüne Ohren harmlos klingen, aber für mich klingt das alles andere als harmlos. Ich
werde da sehr, sehr hellhörig, Frau Andreae; denn es darf
natürlich nicht passieren, dass wir hier ein neues bürokratisches Monster kreieren ({3})
oder noch schlimmer: einen politischen Kontrollfilter.
Mein starker Eindruck ist, dass das die eigentliche Idee
der Zertifizierungsstelle ist; denn Sie - das wissen Sie
noch besser als ich - stehen ja mit der Forschungsfreiheit
in diesem Land - Sie verzeihen mir die militärische Vokabel - teilweise regelrecht auf Kriegsfuß.
({4})
Wir sehen also, dass der vorgelegte Gesetzentwurf
trotz prinzipieller Übereinstimmung zu viele Fragen
aufwirft. Die offenen Punkte müssen und werden wir in
einem neuen Anlauf für die nächste Legislaturperiode
klären, und dann wird es in diesem Land auch eine gute
steuerliche Forschungsförderung geben; da bin ich mir
sicher.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Als Nächster erhält der Kollege René
Röspel, SPD-Fraktion, das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Als Forschungspolitiker kann ich bekennen: Seit
Rot-Grün 1998 die Bundesregierung gestellt hat, hat Forschung und Entwicklung in diesem Land wieder einen
richtigen Stellenwert bekommen. Alle haben es fortgeführt, nicht erst seit 2005.
Tatsächlich ist es so: Wir haben gerade ein Gespräch
mit jungen Nachwuchswissenschaftlern aus Australien,
den USA und Israel geführt, die absolut begeistert vom
deutschen Standort sind und fragen, wie sie eigentlich in
Deutschland ihren Postdoc oder sonst etwas machen können. Das ist ein gutes Zeichen. Wir sind gut aufgestellt.
({0})
Allerdings erhalten wir zu Recht auch immer Mahnungen von Expertenkommissionen, die sagen: Bei
hochwertigen Industriegütern seid ihr hervorragend, aber
bei Spitzentechnologien hat Deutschland Nachholbedarf.
Deutschland droht gelegentlich, gegenüber anderen Ländern zurückzufallen. - Also brauchen wir Instrumente,
um gezielte Impulse zu setzen und solche Technologien
zu fördern.
Das machen wir im Haushalt des Bundesministeriums
für Bildung und Forschung und zum Beispiel auch im
Wirtschaftsministerium mithilfe unglaublich guter Programme wie ZIM und IGF, die bei den Unternehmen
wirklich ankommen
({1})
und mit relativ wenig Aufwand dazu führen, dass kleine und mittelständische Unternehmen beispielsweise
Schrauben und Maschinen entwickeln und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit, aber auch im Bereich „Forschung und
Entwicklung“ wirklich ein Stück weit weiterkommen.
Dafür brauchen wir Geld.
Da jetzt immer wieder gesagt wird, wir müssten
die Projektförderung und die zusätzliche steuerliche
FuE-Förderung miteinander kombinieren, will ich beim
Realitäts-Check sagen: Das glaube ich nicht. Was wäre
denn, wenn der Gesetzentwurf der Grünen jetzt schon
Realität wäre? Dann hätten wir nicht 302 Milliarden Euro
an Steuereinnahmen, sondern nur noch gut 301 Milliarden Euro. Das heißt, die 770 Millionen Euro, die wir für
die Förderung aufwenden müssten, wären nicht mehr in
der Kasse. Dieses Minus von 770 Millionen Euro würde
auf die Ministerien verteilt werden. Bei 14 Ministerien
wären das im Durchschnitt 55 Millionen Euro weniger.
Das Wirtschaftsministerium müsste dieses Geld irgendwo hernehmen.
Sie haben gerade richtig gesagt: ZIM ist so erfolgreich, dass es schon nach einem Dreivierteljahr gar keine
Mittel mehr gibt. Es käme noch die Kürzung von 55 Millionen Euro hinzu. Ich finde, das ist kontraproduktiv. Das
würde das Land nicht weiterbringen.
({2})
Sie glauben, die Regelungen in Ihrem Gesetzentwurf
seien unbürokratisch. Dieses Argument kommt immer,
weil die Förderung für alle gleichermaßen gilt und die
Ausgaben steuerlich geltend gemacht werden können.
Diese Regelung ist aber in Ihrem Gesetzentwurf viel zu
weitgehend. Wenn man es so machen will, wie Sie saDr. Philipp Lengsfeld
gen, dann muss man darüber reden, die Kosten für zusätzlich eingestelltes Forschungspersonal von der Steuer
abzusetzen. Sie fordern aber Forschungsgelder und eine
steuerliche FuE-Förderung für Gebäude, Investitionen
und Instrumente.
({3})
Herr Kollege Röspel, ich darf Sie einmal unterbrechen. Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Kai Gehring?
Gerne.
Bitte schön.
Ich war mitten im Satz. Ich versuche, ihn mir zu merken.
Ihre Redezeit war abgelaufen. Ich musste Sie mitten
im Satz unterbrechen.
({0})
Gut. Auch ich habe es gemerkt.
Da Herr Lengsfeld leider keine Frage zugelassen hat
({0})
und Ihre Redezeit so kurz ist, möchte ich Sie jetzt unheimlich gerne fragen, wie Sie als SPD-Bundestagsabgeordneter zum Vorschlag von Hubertus Heil stehen, der
gestern im Handelsblatt erklärt hat, dass er einen Forschungsbonus für KMU will. Vieles, was er dort äußert,
kommt mir sehr bekannt vor und ist mit unserem grünen
Gesetzentwurf, der heute zur Diskussion steht, in Einklang zu bringen.
Wenn ich mir die Wahlprogramme von CDU/CSU
und SPD angucke, dann wird klar: Sie hätten sich schnell
zusammentun und einen kleinen Änderungsantrag zu
unserem Gesetzentwurf stellen können. Dann gäbe es ab
jetzt eine steuerliche Forschungsförderung für KMU in
der Republik.
({1})
Wenn man aber Sie und Herrn Lengsfeld reden hört, hat
man den Eindruck, Sie sind dagegen.
({2})
Sie kündigen ein Jahr vor der Bundestagswahl etwas
an, was vielleicht am Sankt-Nimmerleins-Tag kommt.
Deshalb frage ich Sie: Stehen Sie hinter den Vorschlägen von Hubertus Heil zur steuerlichen Forschungsförderung? Wie ist das: Bekommen Sie gemeinsam mit dem
Koalitionspartner noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf hin?
Zum Vorschlag von Hubertus Heil, der anders aussieht
als das, was Sie hier vorschlagen: Auch er löst die Kernfrage, die ich gerade diskutiert habe, nicht. Also: Wie
schaffen wir es, dass wirklich zusätzlich Geld fließt?
({0})
Ich finde, man müsste einen zusätzlichen Betrag ausweisen, den man nicht nur hinterher im Subventionsbericht des Bundes nachlesen kann. Vielmehr soll damit sichergestellt werden, dass diese Mittel nicht zulasten der
Projektförderung gehen.
({1})
Auch da enthält der Vorschlag von Hubertus Heil einen
Punkt, der noch zu klären ist.
({2})
Aber anders als Sie in Ihrem Gesetzentwurf sagt er: Wir
wollen sehen, ob es eine Möglichkeit für zusätzliches
Forschungspersonal gibt.
({3})
An dieser Stelle weist er aber nicht auf die vielen Schwächen Ihres Gesetzentwurfes hin.
Sie müssen sich Folgendes überlegen: Fragen Sie
einmal einen Unternehmer: Was machst du lieber - eine
Antragstellung mit guter Beratung im Rahmen eines Programms wie ZIM oder einen Besuch bei deinem örtlichen Finanzamt? Die Mitarbeiter des Finanzamts sollen
nämlich entscheiden - ich bin mit der Beantwortung der
Frage noch nicht fertig -, ob die Kosten für die Hälfte des
Gebäudes, in dem die Werkzeugmacherei ist, ob die Personalkosten für den Meister, der in Teilen sowohl für die
Entwicklung zuständig ist als auch die Werkzeuge herstellt, abzugsfähige Forschungsausgaben sind. Da kann
ich nur sagen: Jeder Mittelständler freut sich jetzt schon
auf die Diskussion mit seinem Finanzamt vor Ort,
({4})
um die Förderung gemäß Ihrem Gesetzentwurf einigermaßen zum Laufen zu kriegen. Das ist der deutliche Unterschied.
({5})
Letzter Punkt. Ein Blick in die Realität: Bei mir in
der Region in Südwestfalen verstehen sich Betriebe mit
deutlich mehr als 249 Mitarbeitern als Mittelständler.
Es sind familiengeführte Unternehmen, die manchmal
1 000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von mehr als
50 Millionen Euro haben. Das sind innovierende Unternehmen. Sie wären von dieser Förderung überhaupt nicht
betroffen.
({6})
Das heißt, sie hätten von dieser Regelung keinen Nutzen.
Sie profitieren aber von anderen Programmen. Deswegen
glauben wir, dass Ihr Gesetzentwurf überhaupt nicht geeignet ist, unser Land in Sachen Innovation, Forschung
und Entwicklung weiterzubringen.
({7})
Deswegen werden wir ihn heute ablehnen.
({8})
Vielen Dank. - Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur steuerlichen Förderung von Forschung und Entwicklung kleinerer und mittlerer Unternehmen. Der Finanzausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9840, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 18/7872 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist in zweiter
Beratung mit den Stimmen von CDU/CSU-, SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach
unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:
- Beratung der Beschlussempfehlung und
des Berichts des Auswärtigen Ausschusses
({0}) zu dem Antrag der Bundesregierung
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Maritimen
Sicherheitsoperation SEA GUARDIAN im
Mittelmeer
Drucksachen 18/9632, 18/9793
- Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
Drucksache 18/9844
Hierzu liegt jeweils ein Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen vor. Über die Beschlussempfehlung werden wir
später namentlich abstimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich bitte Sie, nun Ihre Plätze einzunehmen.
Bevor ich die Rednerliste eröffne, möchte ich gerne
die Soldatinnen und Soldaten vom Einsatzgruppenversorger „Bonn“, Heimathafen Wilhelmshaven, auf der
Besuchertribüne begrüßen. Herzlich willkommen!
({2})
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Josip
Juratovic, SPD-Fraktion.
({3})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die
Bundeswehr soll im Rahmen der NATO-Mission Sea
Guardian aktiv werden. Das notwendige Mandat möchte
der Deutsche Bundestag heute verabschieden.
Lassen Sie uns einen Blick auf die Einsatzregion werfen. Wir sprechen über 2,5 Millionen Quadratkilometer
im Mittelmeer und den dazugehörigen Luftraum. Das ist
also kein Berliner Hinterhof. Gleichzeitig sprechen wir
über unterschiedliche Typen von Anrainerstaaten. Die
südlichen Anrainer des Mittelmeers sind seit mehreren
Jahren eine instabile Krisenregion. Wir sehen hier gescheiterte Staaten und Staaten in teilweise sehr schwierigen Transformationsprozessen. Das Mittelmeer wird
trotz dieser Situation nach wie vor als Handelsroute stark
genutzt. Es wird zunehmend genutzt von all jenen, die
von den Krisen dieser Welt profitieren und sie damit
weiter schüren, besonders von Menschen- und Waffenschmugglern.
Dieser Entwicklung können wir nicht tatenlos zuschauen. Wir müssen dagegen auf rechtlich einwandfreier Grundlage - auch mit militärischen Mitteln - aktiv sein. Deswegen möchten wir heute die Mission Sea
Guar dian auf den Weg bringen. Die einen bauen Mauern,
die anderen beweinen die Toten, und wir handeln. Wir
und unser Koalitionspartner wollen Sicherheit im und am
Mittelmeer für alle Anrainerstaaten. Dies gewährleistet
Sea Guardian, eine NATO-Mission, die die Zusammenarbeit mit der EU und den Anrainerstaaten des Mittelmeers fördert. Wir unterstützen dieses Mandat, weil es
die Möglichkeit bietet, gegen Menschenschmuggel vorzugehen. Wir unterstützen das Mandat auch, weil es den
Kampf gegen den Waffenschmuggel umfasst. Wir unterstützen das Mandat, weil es die Zusammenarbeit mit den
Anrainerstaaten umfasst, um deren eigenen Küsten- und
Seeschutz aufzubauen bzw. auszubauen. Ganz selbstverständlich unterstützen wir das Mandat, um den noch immer sehr zahlreichen Schiffbrüchigen im Mittelmeer zu
helfen.
Die Kritik an diesem Multifunktionsmandat kann ich
nicht nachvollziehen. Ich halte es für eine Stärke des
Mandats, Sicherheit auf mehreren Feldern zu gewährleisten, gerade im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit
der betroffenen Soldatinnen und Soldaten, die täglich
auf ihren Schiffen mit einer Vielfalt von Schwierigkeiten
konfrontiert sind.
({0})
Neben diesen ganz konkreten Zielen halten wir Sea Guardian politisch für den absolut richtigen nächsten Schritt.
Das Mandat löst die Mission Active Endeavour ab und
schließt vorhandene Lücken im Schutz des Mittelmeers.
Damit wird das Engagement der deutschen Soldatinnen
und Soldaten im Mittelmeer endlich auf eine ordentliche
völkerrechtliche Grundlage gestellt.
Kolleginnen und Kollegen, wir leben nicht mehr im
Jahr 2001, und es war nicht richtig, dass der NATO-Bündnisfall - auch bekannt als Artikel 5 - so lange Grundlage
der Mission war. Mit Sea Guardian vollziehen wir den
Schritt weg von dem höchst problematischen Ansatz aus
der Zeit des Krieges gegen Terror hin zu den heute notwendigen Sicherheitsmaßnahmen im Mittelmeer.
Als Basis für Sea Guardian dienen die Resolution 2292
aus 2016 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen,
das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen
von 1982 und das Protokoll von 2005 zum Übereinkommen zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Schifffahrt. Damit stellen wir das
neue Mandat auf eine rechtliche Grundlage der Weltgemeinschaft.
Kolleginnen und Kollegen, das ist ein wichtiges und
sehr richtiges politisches Signal für die Zukunft der internationalen Zusammenarbeit im Mittelmeerraum und
darüber hinaus. Allerdings ist Sea Guardian nur ein
Baustein der Gesamtstrategie unserer Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssen politisch breit aufgestellt
sein, um der komplexen Herausforderung der Sicherheit im Mittelmeerraum begegnen zu können. Nach wie
vor müssen wir Friedensprozesse unterstützen. An dieser Stelle gilt mein ausdrücklicher Dank Außenminister
Steinmeier, der sich unermüdlich für den Dialog zwischen Konfliktparteien gerade auch im Mittelmeerraum
einsetzt.
({1})
Denn alles, was durch Dialog gelöst wird, benötigt keine
militärischen Mittel.
Wir müssen weiterhin an der Wiederherstellung funktionierender Staaten auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten arbeiten. Gerade labile
Anrainerstaaten brauchen Unterstützung beim Aufbau
ihrer Polizeikräfte und eine Stärkung der Justiz. Auf diesem Gebiet sind wir tätig - und das nicht nur im Rahmen dieser Mission. Außerdem brauchen wir effiziente
Entwicklungspolitik, Entwicklungshilfe, wirtschaftliche
Unterstützung, wirksame Strategien gegen Korruption
und nicht zuletzt fairen Handel, um die Fluchtursachen
zu bekämpfen.
({2})
Wir liefern somit Außen- und Sicherheitspolitik aus einem Guss. Zu all diesen Maßnahmen gehört eben auch
militärische Absicherung.
Kolleginnen und Kollegen, für mich als Abgeordneten
ist die Abstimmung über ein Bundeswehrmandat immer
besonders schwierig. Uns muss bewusst sein, dass unsere
Soldatinnen und Soldaten im Ernstfall ihr Leben riskieren werden. Deshalb gilt ihnen schon heute mein allergrößter Dank und Respekt für ihren Einsatz.
({3})
Sie brauchen als Parlamentsarmee auch ein klares Mandat des Deutschen Bundestages.
Mein Dank gilt ebenso den Vertreterinnen und Vertretern des Auswärtigen Amtes und des Verteidigungsministeriums. Mein Kollege Niels Annen hat es bereits bei
der ersten Lesung gesagt: Die Debatte über Artikel 5 als
Mandatsgrundlage wurde hauptsächlich in Deutschland und hier vor allem von der SPD - geführt. Es bedurfte
vieler überzeugender Gespräche, um auf NATO-Ebene
eine neue Rechtsgrundlage sicherzustellen.
Ich danke allen, die mit dafür gesorgt haben, dass wir
nun eine vernünftige rechtliche Grundlage haben. Mit
dieser Mission tragen wir zu mehr Sicherheit bei, die wir
alle brauchen - in Deutschland, Europa und vor allem
auch im Mittelmeerraum -, um die Zukunft angstfrei gestalten zu können. Daher bitte ich Sie um Ihre Zustimmung für unseren Antrag.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Danke schön. - Für die Fraktion Die Linke spricht
jetzt Dr. Alexander Neu.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der Antrag auf Beteiligung deutscher Streitkräfte an der NATO-Mission Sea Guardian soll heute
verabschiedet werden. Lassen Sie mich dazu ein paar
Anmerkungen machen.
Erste Anmerkung. Deutschland rutscht immer schneller in militärische Abenteuer hinein als wieder heraus,
bzw. man möchte gar nicht mehr aus diesen militärischen
Abenteuern herauskommen. Sea Guardian und die Vorgängermission Operation Active Endeavour sind Musterbeispiele für einen Auslandseinsatz, der nicht enden soll.
Der Antrag der Bundesregierung bezeugt das ja selbst.
Ich zitiere:
Die Maritime Sicherheitsoperation SEA GUARDIAN ... ist die Nachfolgemission der Operation ACTIVE ENDEAVOUR.
Zweite Anmerkung. Worin besteht der Unterschied
zwischen der beendeten Operation Active Endeavour
und der anstehenden Operation Sea Guardian? Im Wesentlichen besteht der Unterschied darin, dass die Beistandsklausel - Artikel 5 der NATO-Satzung - nicht
mehr fixiert wurde. Dass das von Anfang an nicht zulässig war, erklärt die Linke der Bundesregierung schon seit
über zehn Jahren.
({0})
Denn die Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts ist räumlich und zeitlich nur begrenzt möglich. Im
Falle des Terroranschlages von 2001 in New York war
die Berufung auf das Selbstverteidigungsrecht überhaupt
nicht zulässig; denn das war kein militärischer Angriff,
sondern ein Terroranschlag. Somit gab es schon seinerzeit keine Rechtsgrundlage für die Ausrufung des Bündnisfalls nach Artikel 5. Aber die Bundesregierung kapiert
es bis heute und fortgesetzt nicht; das zeigt auch das
Mandat für den Anti-IS-Kampf, in dem mit verschiedenen Hilfskonstrukten gearbeitet wird, unter anderem mit
Artikel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags.
Sea Guardian begründet sich nun unabhängig von
der Selbstverteidigungsnorm und vom Bündnisfall. Sea
Guardian legt gewissermaßen einen universellen Begründungsansatz zugrunde. Um das einmal kurz darzustellen: Solange Instabilität, solange Terrorismus, ob echt
oder vorgetäuscht, bestehen, so lange werden wir mit Sea
Guardian im Mittelmeer bleiben.
Dritte Anmerkung. Der von Ihnen seinerzeit so stolz
verkündete Kampf um die Aufhebung der Beistandsklausel führt zwar dazu, dass sie im neuen Mandat nicht mehr
enthalten ist, aber sie existiert weiter. Sie steht nach wie
vor im Raum; denn sie ist nicht aufgehoben. Sie ist lediglich in eine Art Tiefschlaf versetzt worden und kann
jederzeit wieder reaktiviert werden.
Vierte Anmerkung. Wer den Terrorismus und die
Flüchtlingsherausforderung als Begründung für Sea
Guardian und andere Einsätze militärischer Art heranzieht, ohne auch nur ein Wort über die Mitschuld des
Westens an der Entstehung von Terrorismus, an der Entstehung von Flucht zu benennen, ist schäbig.
({1})
Die fünf Friedensforschungsinstitute verweisen im Jahresbericht 2016 genau auf diesen Zusammenhang, Stichwort „Regimechange“. Diese Praktiken kommen bekanntlich aus dem Westen.
Fünfte Anmerkung. Das Ziel der NATO ist ganz offensichtlich eine expansive Raumkontrolle, das heißt, das
Mittelmeer auf ein NATO-Meer, auf ein EU-Meer zu reduzieren. Das Mittelmeer ist das typische Beispiel einer
imperialen Politik der NATO und der EU. Wo sich NATO
und EU festsetzen, wo sie okkupieren und kontrollieren,
bleiben sie dauerhaft. Der Ausbau der Raumkontrolle
durch die NATO und die EU im Mittelmeer ist über einen
langen Zeitraum beobachtbar.
Es handelt sich jetzt im Mittelmeer um vier Militärmissionen: Operation Active Endeavour seit 2003
bis Mitte 2016, UNIFIL seit 2006 - Ende nicht absehbar -, EUNAVFOR MED seit 2015 - Ende nicht absehbar -, Ägäis-Einsatz ohne Bundestagsmandat seit Anfang 2016 - auch da ist das Ende nicht absehbar. Nun
kommt künftig Sea Guardian, der ganz große Wurf.
Sea Guardian umfasst nichts anderes als die komplette
Kontrolle über das gesamte Mittelmeer plus die Kontrolle der Zugänge zum Mittelmeer sowie des zugehörigen
Luftraums und, das Einverständnis der Anrainerstaaten
vorausgesetzt, deren Territorialgewässer. Ich bin sehr
optimistisch, dass Sie bei den anderen nordafrikanischen
Staaten so handeln werden wie bei Libyen, das heißt
auch auf nordafrikanische Staaten entsprechend Druck
ausüben werden, damit sie ihre Territorialgewässer öffnen werden. Die Linke lehnt diesen Antrag ab.
Danke.
({2})
Danke. - Der nächste Redner ist Jürgen Hardt, CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zu meinem Vorredner möchte ich nur so viel anmerken: Er hat den Eindruck erweckt, die Bundesrepublik
Deutschland würde sich immer tiefer in Militäreinsätze verstricken. Ich sage nur ganz klar: Wir haben im
Jahr 2010 bis zu 10 000 Soldaten in Auslandseinsätzen
gehabt. Nach Stand vom 19. September dieses Jahres,
also vor gut einer Woche, waren es 3 510 Soldaten. Das
ist eine deutliche Reduzierung der Zahl der Soldaten der
Bundeswehr im Einsatz, weil wir in Afghanistan vorangekommen sind und weil wir im Balkan vorangekommen
sind. Ich finde, das ist ein Ausdruck dessen, dass wir mit
unseren Einsätzen tatsächlich erfolgreich sind und dass
wir auch wissen, wie wir diese Einsätze erfolgreich beenden. Das finde ich einfach gut.
({0})
Mit Blick auf das Mandat Sea Guardian möchte ich,
nachdem der Kollege Juratovic schon wesentliche Eckpunkte genannt hat, anmerken, was mir wichtig ist. Die
Entkoppelung von Artikel 5 des NATO-Vertrags war eine
Forderung, die wir hier parteiübergreifend lange erhoben
haben. Es ist in Warschau gelungen, diese Entkoppelung
durchzuführen. Das Mandat stützt sich jetzt auf allgemeines Seerecht und Seerechtsabkommen und ist somit nicht
mehr Teil des Verteidigungsfalls der NATO.
Artikel 5 des NATO-Vertrages wird formal allerdings
nicht aufgehoben, weil der Kampf gegen den Terrorismus natürlich nicht beendet ist. Aber es gibt jetzt mit Sea
Guardian anstelle von OAE keine Operation der NATO
mehr, die sich auf diesen Artikel 5 beruft.
Das Zweite, was für mich bei diesem Einsatz von zentraler Bedeutung ist, ist, dass sich die NATO an der Sicherung der Verhältnisse im Mittelmeer aktiv beteiligt.
Mit dieser neuen NATO-Mission haben wir ein weiteres
verbindendes Element in dem Netzwerk, das sich um die
Sicherheit im Mittelmeer kümmert. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Operation der Europäischen
Union EUNAVFOR MED Sophia und die NATO-Operation in der Ägäis. - Sie ist nicht mandatspflichtig; aber
es ist trotzdem eine Operation der NATO unter maßgeblicher Beteiligung der Bundeswehr. Ich glaube, das
deutsche Kriegsschiff „Bonn“ war in der Ägäis ebenfalls
im Einsatz; sie ist auf jeden Fall ein Einsatzgruppenversorger. Ich betone noch einmal: Von zentraler Bedeutung
ist für mich, dass wir mit der Operation Sea Guardian
ein weiteres verbindendes Element haben, das für mehr
Effizienz, für mehr Übersicht und für ein vollständigeres Bild der Lage im Mittelmeer sorgt. Das halte ich für
eine ganz wichtige Sache. Das hilft uns insgesamt bei der
Grenzsicherung.
Das Nächste, was mir wichtig ist: Selbstverständlich
werden die Einheiten, die unter Sea Guardian im Mittelmeer unterwegs sind, auch ihre humanitäre Pflicht
der Rettung von Schiffbrüchigen wahrnehmen. Die Regel des internationalen Seeverkehrs, dass Schiffbrüchige aufzunehmen und in den nächsten sicheren Hafen zu
bringen sind, gilt natürlich auch für die Einsatzkräfte,
die unter Sea Guardian unterwegs sind, also auch für die
Bundeswehrschiffe. Das ist, wie wir ja wissen, wiederum
eine große humanitäre Aufgabe, die wir damit ein gutes
Stück bewältigen.
Was unser langfristiges Ziel bleibt und was auch im
Zusammenhang mit Sea Guardian angesprochen wird,
wo wir allerdings noch keine konkrete Chance auf Umsetzung haben: Wir müssen dafür sorgen, dass unter den
Mittelmeerstaaten insbesondere der Staat Libyen, der
ohne politische, ohne staatliche Führung dasteht, in die
Lage versetzt wird, selbst seine Küste wirksam zu schützen und gegen Terror, gegen Waffenschmuggel und gegen Menschenschmuggel entsprechend vorzugehen. Wir
haben den Plan, wir haben die Absicht, in schwimmenden Klassenzimmern, wie wir es einmal genannt haben,
Kräfte der Küstenwache Libyens auszubilden. Aber leider ist es bis dahin noch ein weiter Weg.
Wir haben im Bundeshaushalt, den wir in diesen Tagen in den Ausschüssen beraten, Mittel bereitgestellt, die
ermöglichen, dass eine solche Operation wie die Ausbildung von Küstenwachkräften von Partnern am Mittelmeer erfolgreich durchgeführt werden kann. Dafür sind
die Mittel also da; aber es sind angesichts der gegenwärtigen Situation speziell in Libyen die Möglichkeiten, sie
zu investieren, leider noch nicht gegeben.
Insgesamt trägt Sea Guardian aus meiner Sicht dazu
bei, dass wir zu einem humanitär verantwortbaren, das
Menschenleid im Mittelmeer vermindernden und insgesamt ordnenden Ansatz kommen, wie wir auf diesem
Meer, das in erster Linie ein europäisches Meer ist, das
uns mit Afrika verbindet und auch von Afrika trennt, die
Sicherheit erhöhen. Ich glaube, wir werden im Rahmen
dieses Einsatzes weitere positive Erfahrungen sammeln
in der Zusammenarbeit und in der effizienten Bekämpfung von Terror, von Schlepperunwesen und in der Rettung von Menschenleben dort, wo es dringend geboten
ist.
Herzlichen Dank.
({1})
Vielen Dank. - Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Dr. Tobias Lindner das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ja, Herr Hardt,
es ist richtig: Wir beraten hier heute zum ersten Mal dieses Mandat Sea Guardian. Es wird oft so dargestellt - gerade haben auch Sie es versucht -, als sei es der Nachfolger von Active Endeavour.
Was richtig ist und was hier auch alle Seiten gesagt haben: Es ist gut, dass Artikel 5 des NATO-Vertrages nicht
mehr als Begründung für ein solches Mandat herhalten
muss. Meine Fraktion hat fast mantraartig Jahr für Jahr
genau darauf hingewiesen und als einzige konsequent
gesagt: Wenn Artikel 5 des NATO-Vertrages nicht als
Begründung dienen kann, dann ist ein Mandat nicht zustimmungsfähig.
({0})
Aber wenn es so wäre, Herr Kollege Hardt, dass wir
es hier nur mit einem Nachfolgemandat zu tun hätten,
dass die Erteilung dieses Mandats die größte Errungenschaft dieser Koalition sei, dann frage ich Sie: Warum
ist man nicht hergegangen und hat einfach den Mandatstext genommen und die Begründung mit Artikel 5
des NATO-Vertrages ersetzt, so wie Sie es eben in Ihren
Ausführungen gemacht haben?
Wir haben es hier nicht mit einer Entkoppelung zu tun;
vielmehr bedeutet dieses neue Mandat eine unglaubliche
Entgrenzung der Möglichkeiten, was die Bundeswehr
räumlich und von ihren Fähigkeiten her im und am Mittelmeer tun kann, ohne dass dieses Parlament dafür zuvor
noch einmal befragt werden muss.
({1})
Sie können dann quasi überall in der Region, in den Anrainerstaaten Ausbildung, Luftaufklärung, andere Dinge
betreiben. Sie können ausbilden, ohne den Bundestag zu
fragen; sie brauchen lediglich die Einladung und die Genehmigung des dortigen Staates. Es ist ein Blankoscheck,
den Sie ausstellen wollen. Dieses riesige Aufgabenspektrum hebelt auch parlamentarische Kontrolle aus. Das
verstößt gegen die gebotene Mandatsklarheit, die wir
hier bei Bundeswehrmandaten zu Recht einfordern, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Man kann es auch anders formulieren: Sie haben sich
lange Mühe gegeben, hier ein Parlamentsbeteiligungsgesetz vorzulegen; man kann auch sagen: ein „Parlaments-weniger-Beteiligungsgesetz“; denn das war von
Anfang an das Ansinnen der Union bei den durchgeführten Anhörungen. Dann haben Sie nach langer Zeit, nach
langem Hin und Her zwischen den Koalitionspartnern
etwas aufgeschrieben, eine Anhörung durchgeführt. Bei
dieser Anhörung sind Sie krachend auf die Nase gefallen.
Den Sachverständigen, der sagt: „Das ist ein großer Fortschritt; das Ganze ist verfassungskonform“, müssen Sie
mir noch nennen. Nachdem Sie damit also auf die Nase
gefallen sind, probieren Sie nun einen anderen Weg. Sie
wollen den Parlamentsvorbehalt über solche Mandate
aushöhlen, und da wird meine Fraktion nicht mitmachen,
liebe Kolleginnen und Kollegen.
({3})
Dann gibt es noch einen anderen Punkt. Das können
Sie gern einmal nachprüfen, wenn Sie wollen.
({4})
- Herr Kauder, Sie als Jurist sollten das eigentlich schaffen; ich traue es Ihnen zu.
({5})
Gucken Sie sich einmal die bisherigen Bundeswehrmandate, zum Beispiel UNIFIL, an! Gucken Sie sich
an, was die Bundeswehr in der Ägäis macht! Mögliche
Ausbildung libyscher Kräfte - Herr Hardt, Sie sind darauf eingegangen -, dazu bräuchten Sie dieses Parlament
nicht mehr zu befragen. Sie bräuchten noch nicht einmal
UNIFIL irgendwo zur Abstimmung zu bringen. Dieses
Mandat, das heute vorliegt und über das Sie heute abstimmen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Großen Koalition, soll und wird alles das ersetzen. Ich
kann mir nicht erklären, warum Sie sich als Parlament
in dieser Art und Weise so unglaublich stark selbst beschränken wollen.
({6})
Meine Fraktion - das wissen Sie - prüft jedes Mandat,
das die Bundesregierung vorlegt, gründlich und ernsthaft. Das können Sie auch an unserem Abstimmungsverhalten bei den verschiedenen Mandaten ablesen. Diesen
Blankoscheck, den Sie heute ausstellen wollen, diese
Entgrenzung, diese Vermeidung parlamentarischer Kontrolle werden wir von Bündnis 90/Die Grünen nicht mittragen. Das ist nicht im Sinne des Parlaments und im Übrigen auch nicht im Sinne der Verantwortung gegenüber
den Soldatinnen und Soldaten, die sich in diesen Einsatz
begeben. Wir lehnen den Antrag der Bundesregierung
heute hier ab.
Herzlichen Dank.
({7})
Herzlichen Dank. - Für die CDU/CSU-Fraktion
spricht jetzt die Kollegin Julia Obermeier.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es gibt einige Dinge, die man als Mitglied
des Deutschen Bundestages nicht so schnell vergisst,
zum Beispiel das Thema seiner ersten Rede hier. Darum
kann ich mich noch genau erinnern, wie wir im November 2013 hier einen Antrag der Grünen mit dem Titel
„Operation Active Endeavour beenden“ beraten haben.
Damals haben Sie vor allem die Kopplung des Einsatzes
an den Artikel 5 des NATO-Vertrages kritisiert, obwohl
wir bereits 2013 als unser Ziel erklärt hatten, die Mission
in eine „nicht-Artikel-5-gestützte Mission“ umwandeln
zu wollen.
Dieses Ziel zu erreichen, das war durchaus ein langer und steiniger Weg, da in der NATO alle Beschlüsse stets auf Einstimmigkeit beruhen müssen und wir
mit 27 Bündnispartnern verhandeln. Aber beim letzten
NATO-Gipfel in Warschau im Juli dieses Jahres ist das
schließlich gelungen.
Mit der heutigen Abstimmung werden wir diesen Bundeswehreinsatz endlich auf eine neue rechtliche Grundlage stellen.
({0})
Der Bezug auf Artikel 5 des NATO-Vertrags fällt endgültig weg, und das, meine Damen und Herren, ist ein Erfolg. Aber obwohl wir den Einsatz im Rahmen der neuen
Operation Sea Guardian auf eine neue Rechtsgrundlage stellen, sind Sie nun wieder gegen diesen wichtigen
NATO-Einsatz im Mittelmeer.
({1})
Natürlich werden wir die operativen Ziele des Mandats noch weiter mit Leben füllen. Aber die Ausrichtung
ist ganz klar: Es geht darum, die Sicherheit im Mittelmeer und die Sicherheit der Mittelmeeranrainerstaaten
zu stärken.
({2})
Das hat auch positive Auswirkungen auf ganz Europa.
Dazu stärken wir dieses Mandat gegenüber der Operation
Active Endeavour. Mit Sea Guardian bauen wir die Seeraumüberwachung aus, wir unterstützen den Aufbau von
Fähigkeiten unserer Partner, und wir bekämpfen den maritimen Terrorismus. Im Rahmen der Operation können
verdächtige Schiffe kontrolliert und durchsucht werden.
({3})
Das hilft zum Beispiel auch, um das Waffenembargo gegenüber Libyen durchzusetzen.
Die Operation Sea Guardian ist ein wichtiges Instrument, um Waffenschmuggel, Schleusern und Terroristen Einhalt zu gebieten. Die prekäre Sicherheitslage
der südlichen Mittelmeerstaaten ist uns ja allen bekannt.
Deshalb unterstützt die Operation Sea Guardian auch diese Mittelmeeranrainerstaaten. Wir wollen diese Herausforderungen dort gemeinsam mit den anderen Ländern
meistern. Ja, die Bundeswehr ist bereits im Mittelmeer
vielfältig aktiv: bei der Seenotrettung im Rahmen von
EUNAVFOR MED Sophia, mit UNIFIL vor der Küste
Libanons, mit der NATO-Mission in der Ägäis und mit
der Fregatte „Augsburg“, die aktuell dem französischen
Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ im Einsatz gegen
den IS Geleitschutz gewährt. Unsere Soldatinnen und
Soldaten leisten einen außerordentlichen Einsatz in diesen vielfältigen Missionen. Dafür möchte ich ihnen an
dieser Stelle meinen persönlichen Dank und auch den
Dank der CDU/CSU-Fraktion aussprechen.
({4})
Auch bei der Operation Sea Guardian braucht es die
Deutsche Marine. Der Einsatz schließt Lücken zwischen
den bisher bestehenden Missionen und ist daher eng mit
den Partnern der NATO und der EU abgestimmt. Die
Operation Sea Guardian dient also auch als Kooperationsplattform, sowohl für die maritimen Einsätze von
EU und NATO als auch für die Anrainerstaaten. Die
NATO-Mission im Mittelmeer ist heute noch mehr als
vor drei Jahren ein wichtiger Baustein für Sicherheit im
Mittelmeer. Deshalb bitte ich Sie heute um Ihre Zustimmung zur Operation Sea Guardian.
Vielen Dank.
({5})
Vielen Dank. - Die Aussprache ist damit beendet.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-
rung mit dem Titel „Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der NATO-geführten Maritimen Sicher-
heitsoperation SEA GUARDIAN im Mittelmeer“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/9793, den Antrag der Bundesregierung
auf Drucksache 18/9632 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schrift-
führer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Sind
jetzt alle Urnen besetzt? - Nein, noch nicht. Hier vorne
fehlt noch ein Vertreter der Opposition. Wenn sie schon
dagegen ist, dann sollte die Opposition jetzt auch hier zur
Urne kommen. Sind jetzt alle Urnen besetzt? - Ich sehe,
das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Gibt es jetzt noch einen Kollegen oder eine Kollegin
im Saal, der oder die die Stimmkarte nicht abgegeben
hat? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung
zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung wird Ihnen, wie immer, später bekannt gegeben.1)
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge.
Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 18/9845. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? -
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und des Bündnisses 90/Die Grünen
abgelehnt.
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 18/9846. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthal-
tungen? - Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-
tionsfraktionen abgelehnt.
1) Ergebnis Seite 19268 D
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Rosemarie Hein, Sigrid Hupach, Karin
Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Kein Lobbyismus im Klassenzimmer
Drucksache 18/8887
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Ich sehe hier
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Dr. Rosemarie
Hein, Fraktion Die Linke.
({1})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gute Schule von heute öffnet sich in das gesellschaftliche Umfeld, ist vernetzt in der Region. Gute Schulen
arbeiten zusammen mit Vereinen, Verbänden, regionalen
Unternehmen - kleineren und größeren -, sie bieten Anschauung, wo der Unterricht sonst trocken wäre.
Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen. All diejenigen, die sich noch unterhalten möchten oder etwas
zu bereden haben, bitte ich, den Plenarsaal zu verlassen.
({0})
Danke schön. Bitte, Frau Hein.
Danke schön. - Bis dahin gibt es gar nichts zu beanstanden. Doch in den vergangenen Jahren haben vor allem
große Unternehmen und Wirtschaftsverbände die Schule
als Arbeitsfeld für sich entdeckt. Sie nehmen zunehmend
Einfluss auf das, was in der Schule gelernt werden soll.
Manche Unternehmen und Unternehmensgruppen haben
inzwischen hoch professionelle Bildungsabteilungen
aufgebaut. Sie bieten Unterrichtsmaterial, methodische
Handreichungen und umfangreiche Lehrerfortbildungen
an. Sie beschäftigen sich mit Themen, bei denen sie ein
Eigeninteresse haben - etwa der Umgang mit Geld oder
Abläufe in der Wirtschaft -, aber auch mit ganz anderen
Themen, die überhaupt nicht in ihr Portfolio passen. So
bietet zum Beispiel der Sparkassenverband - der Sparkassen-SchulService - Arbeitsblätter über das Leben der
Schmetterlinge an.
Die Ziele der Unternehmen sind in den wenigsten Fällen uneigennützig - auch dann nicht, wenn Unternehmen
Schulcups in unterschiedlichen Sportarten fördern. Das
poliert nämlich vor allem ihr Image auf.
Aber wir kritisieren bei Weitem nicht nur diese Dinge. Einseitig an Unternehmensinteressen orientierte BilJulia Obermeier
dungsmaßnahmen haben die Bindung von Konsumenten
und künftigen Kunden im Blick. Sie zielen aber auch auf
die Akzeptanz besonderer Unternehmensstrategien ({0})
so etwa, wenn in einer Broschüre mit dem Titel „Energie und Umweltschutz“ die Kritik an Kernkraftwerken
mit dem Hinweis auf die besondere Sicherheit deutscher
Kraftwerke vom Tisch gewischt wird. Einseitigkeiten
sind so vorprogrammiert und gewollt. Das Gleiche gilt
leider auch für das von der Bundesregierung ausgerufene
Programm „Unternehmergeist in die Schulen“.
({1})
An diesem Programm beteiligt sich unter anderem
die Initiative „Wissensfabrik Unternehmen für Deutschland“, zu der 120 Unternehmen gehören. Sie bietet bundesweit Bildungspartnerschaften an und wirbt mit Folgendem - ich zitiere -:
Die Wissensfabrik beziehungsweise ihr Mitglied
stellt Materialien und Lehrerhandbücher sowie die
Fortbildung kostenfrei zur Verfügung.
Wer von Ihnen kann da noch sicher sein, dass im Unterricht nicht versteckte Werbung oder einseitige Sichtweisen den Lernstoff prägen?
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung betont immer, dass sie für Schule nicht zuständig
ist. Dann aber sollte sie von der Beförderung solcher Einflussnahme besser die Finger lassen.
({3})
Für die Zulassung von Schulbüchern sind die Kultusministerien der Länder zuständig - immer noch. Doch
viele Hunderttausend Unterrichtsmaterialien kann kein
Ministerium sachgerecht prüfen.
({4})
Und auch Lehrkräfte können das nicht leisten - schon
aus Zeitgründen nicht. Aber sie benutzen solche Materialen natürlich gerne, wenn zum Beispiel keine modernen
Schulbücher zur Verfügung stehen. Ein gutes Mittel gegen solchen überbordenden Lobbyismus wäre, die Schulen ausreichend mit Lehr- und Lernmaterialien auszustatten.
({5})
Wir fordern aber auch, für Lehrkräfte, Eltern und Lernende einen verlässlichen Orientierungsrahmen, nach
dem man solches Material beurteilen kann, und Prinzipien, an die sich alle - auch die Unternehmen - zu halten
haben, zu schaffen.
({6})
Seit Jahren gilt für die politische Bildung: Was in der
Gesellschaft kontrovers ist, muss auch in der Bildung
kontrovers diskutiert werden. - Das sollte auch für die
Schule gelten.
({7})
Nur so werden Menschen mündig und entscheidungsfähig und nicht einfach nur neue Kunden.
Ich will zum Abschluss noch etwas ansprechen, das
ich erst vor kurzem entdeckt habe: Auf dem Schulportal
für Verbraucherbildung findet sich ein Materialkompass
zur Verbraucherbildung, und in einer Mitteilung vom
24. August dieses Jahres kann man lesen, dass es ein neues Projekt gibt, nämlich ein Serviceportal für Lehrkräfte,
auf dem auch neue Materialien zum Thema Digitale Medien untersucht werden. Wir finden das in Ordnung; der
Bund fördert dieses Projekt. Ich finde: Schneller hat ein
Antrag der Linken noch nie gewirkt.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank.
Als Nächster spricht Xaver Jung, CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ja, wir sind selbstverständlich gegen jegliche
subtile und einseitige ideologische Beeinflussung an
Schulen. Nach dem Durcharbeiten Ihres Antrags, Frau
Hein, bin ich mir aber bei Ihnen nicht mehr so ganz sicher.
Ja, junge Menschen müssen in Schulen einen neutralen
Raum vorfinden, in welchem sie ihr Weltbild entwickeln
können. Hierzu gehört aber auch, dass die Schülerinnen
und Schüler mit Demokratie, sozialer Marktwirtschaft
und Pluralismus vertraut gemacht werden. Dieser Ansatz
ist uns als CDU/CSU besonders wichtig, haben doch NSZeit und DDR gezeigt, wie nachhaltig beeinflussbar Kinder in der Schule sind.
Produktwerbung ist zu Recht in fast allen Bundesländern verboten. Sponsoring ist dagegen erlaubt und
oftmals dringend notwendig. Sie haben darauf hingewiesen: Es gibt zu wenig Geld. In meiner Heimat bemühe
ich mich selbst gerade intensiv bei Verbänden und Unternehmen um Unterstützung bei der schulischen und außerschulischen MINT-Bildung, und das mit sehr gutem
Gewissen, Frau Hein.
({0})
Selbstverständlich bemühen sich Unternehmen und
Verbände wie Greenpeace und der BUND genauso wie
die AOK und die Sparkassen um die Aufmerksamkeit
der Schulen. Im Vordergrund des Engagements steht dabei sicher nicht immer die Kundenwerbung, sondern zu
Recht auch die Sorge, dass Gesundheits- und Finanzbildung nicht ausreichend thematisiert werden.
({1})
Selbstverständlich geht es dabei oftmals nicht ganz uneigennützig auch um die Deutungshoheit bei bestimmten
Themen. Und selbstverständlich gibt es dabei auch große
Unterschiede hinsichtlich der Qualität der Angebote an
die Schulen. Daher ist Kontrolle durchaus sinnvoll. Lehrer und Schulleitungen sind dafür speziell ausgebildet.
Die können das, und die machen das auch, Frau Hein.
Gerade in jüngerer Zeit wird verstärkt über den häufig
naiven und unkritischen Umgang unserer Kinder mit der
Konsumwelt diskutiert. 16-Jährige können heute Begriffe wie „Glyphosat“ rauf- und runterdeklinieren, wissen
aber nicht, was ein Kontokorrentkredit ist. Konsum- und
Verbraucherschutzfragen aus dem Finanz- und Wirtschaftsbereich gehören zweifellos zu den wichtigsten
Herausforderungen einer lebensnahen Schulbildung. Das
kommt meines Erachtens in unseren Schulen immer noch
viel zu kurz.
Sie haben es gesagt: Damit Unterricht begeistert, muss
dieser aktuell sein. Schulbücher verweilen durchschnittlich sieben bis acht Jahre lang im Klassenzimmer. Gehen
Sie acht Jahre zurück! Weder die Krisen in der Finanzwelt oder in der Ukraine, Griechenland und Syrien noch
die Flüchtlingskrise oder den Brexit findet man in einem
aktuell verwendeten Schulbuch. Was spricht also dagegen, sich der Kompetenz von außen zu bedienen? Dass
entsprechende Inhalte fehlen, ist der Grund, warum sich
gute Lehrerinnen und Lehrer auf die Suche nach aktuellen und passenden Referenten und Unterrichtsmaterialien machen. Meist werden aber nur einzelne Seiten ausgewählt; sie müssen kein ganzes Werk prüfen. Da muss
geschaut werden, was für die Schule brauchbar ist, aber
eben auch, was außerhalb der Schule zu bleiben hat.
({2})
Und die Lehrer und die Schulleitungen können das tatsächlich.
({3})
Zwischen dem Horrorszenario der von Ihnen vermuteten einseitigen Manipulation durch die böse Wirtschaftsund Finanzwelt einerseits und der schulischen Realität
andererseits stehen Lehrende und Schulleitungen. Es
zeugt, wie ich finde, von unerträglichem Misstrauen
gegenüber allen Lehrerinnen und Lehrern, dass Sie unterstellen, sie wären nicht in der Lage, Materialien und
Hilfsmittel zu interpretieren und in einem ausgewogenen
Gleichgewicht zu präsentieren, ohne zusätzlichen staatlichen TÜV. Klar, bequemer wäre das. Aber muss es wirklich eine Pflicht sein?
Wenn im Sinne Ihres Antrags alles, was im Unterricht
verwendet wird, von einer Monitoringstelle beleuchtet
und bewertet werden sollte, dann müssten die Lehrkräfte
letztendlich jeden Zeitungskommentar zum aktuellen Tagesgeschehen einschicken und bewerten lassen, bevor er
thematisiert würde.
({4})
Mir ist schon klar, dass Sie das nicht wollen; damit wäre
jede Prüfstelle überlastet. Aber jeder interessante Kommentar ist doch letztlich subjektiv.
({5})
Im Normalfall wird er als solcher vom Lehrer nicht nur
erkannt, sondern oft auch gezielt als provozierender Impuls verwendet, um ihn hinterher mit den Schülern kritisch zu reflektieren.
({6})
In Ihrem Antrag kritisieren Sie die angeblich einseitige Präsentation von Themen. Leider argumentieren auch
Sie dabei sehr einseitig, und leider - wie immer - mit Ihrem gewohnt wirtschaftskritischen Ansatz, der da lautet:
Mehr Sozialismus à la Wagenknecht denn soziale Marktwirtschaft à la Ludwig Erhard.
({7})
Sorry, Frau Hein, Ihr Antrag riecht verdächtig nach staatlicher Zensur.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, eine oft zitierte angeblich afrikanische Weisheit lautet: „Um ein Kind zu
erziehen, braucht es ein ganzes Dorf.“ Dazu gehört nach
unserem Verständnis auch der Teil, der den Wohlstand
unserer Dörfer und ihrer Bewohner garantiert: die soziale
Marktwirtschaft. Da sind die Afrikaner schon weiter.
({8})
Vielen Dank. - Bevor ich jetzt dem nächsten Redner
das Wort erteile, möchte ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergebnis der
namentlichen Abstimmung zum Antrag der Bundesregierung mit dem Titel „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-geführten Maritimen
Sicherheitsoperation SEA GUARDIAN im Mittelmeer“
bekannt geben: abgegebene Stimmen 559. Mit Ja haben
gestimmt 441, mit Nein haben gestimmt 117, Enthaltungen 1. Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 559;
davon
ja: 441
nein: 117
enthalten: 1
Ja
CDU/CSU
Stephan Albani
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Veronika Bellmann
Sybille Benning
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Hermann Färber
Uwe Feiler
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Axel E. Fischer
({2})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({3})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Cemile Giousouf
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Dr. Herlind Gundelach
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Gerda Hasselfeldt
Matthias Hauer
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({4})
Mark Helfrich
Uda Heller
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Thorsten Hoffmann
({5})
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Bettina Hornhues
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kanitz
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Markus Koob
Carsten Körber
Kordula Kovac
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Uwe Lagosky
Dr. Dr. h. c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Dr. Silke Launert
Dr. Katja Leikert
Dr. Andreas Lenz
Dr. Ursula von der Leyen
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Gisela Manderla
Matern von Marschall
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({6})
Reiner Meier
Dr. Michael Meister
Jan Metzler
Maria Michalk
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Dr. Gerd Müller
Carsten Müller
({7})
Stefan Müller ({8})
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Dr. Martin Pätzold
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Josef Rief
Dr. Heinz Riesenhuber
Iris Ripsam
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({9})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Heiko Schmelzle
Christian Schmidt ({10})
Gabriele Schmidt ({11})
Ronja Schmitt
Patrick Schnieder
Nadine Schön ({12})
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Uwe Schummer
Armin Schuster
({13})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Johannes Steiniger
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Karin Strenz
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Volker Ullrich
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({14})
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr. h.c. Albert Weiler
Marcus Weinberg ({15})
Dr. Anja Weisgerber
Peter Weiß ({16})
Sabine Weiss ({17})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({18})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Barbara Woltmann
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Emmi Zeulner
Dr. Matthias Zimmer
Gudrun Zollner
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Ulrike Bahr
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Dr. Matthias Bartke
Sören Bartol
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({19})
Burkhard Blienert
Willi Brase
Dr. Karl-Heinz Brunner
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Jürgen Coße
Bernhard Daldrup
Dr. Daniela De Ridder
Dr. Karamba Diaby
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Dr. Fritz Felgentreu
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Angelika Glöckner
Ulrike Gottschalck
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Uli Grötsch
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({20})
Hubertus Heil ({21})
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Heidtrud Henn
Gustav Herzog
Thomas Hitschler
Christina Jantz-Herrmann
Frank Junge
Thomas Jurk
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Gabriele Katzmarek
Marina Kermer
Lars Klingbeil
Dr. Bärbel Kofler
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({22})
Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Hiltrud Lotze
Kirsten Lühmann
Dr. Birgit Malecha-Nissen
Caren Marks
Dr. Matthias Miersch
Klaus Mindrup
Detlef Müller ({23})
Dr. Rolf Mützenich
Thomas Oppermann
Mahmut Özdemir ({24})
Markus Paschke
Jeannine Pflugradt
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Achim Post ({25})
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Martin Rabanus
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Andreas Rimkus
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
Dr. Martin Rosemann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Michael Roth ({26})
Susann Rüthrich
Bernd Rützel
Sarah Ryglewski
Johann Saathoff
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Dr. Nina Scheer
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({27})
Matthias Schmidt ({28})
Dagmar Schmidt ({29})
Carsten Schneider ({30})
Ursula Schulte
Swen Schulz ({31})
Ewald Schurer
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rainer Spiering
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Martina Stamm-Fibich
Sonja Steffen
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Claudia Tausend
Michael Thews
Dr. Karin Thissen
Franz Thönnes
Carsten Träger
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Andrea Wicklein
Dirk Wiese
Gülistan Yüksel
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Nein
SPD
Marco Bülow
Dr. Ute Finckh-Krämer
Wolfgang Gunkel
Ralf Kapschack
Hilde Mattheis
Christian Petry
Rüdiger Veit
Waltraud Wolff
({32})
DIE LINKE
Jan van Aken
Herbert Behrens
Karin Binder
Heidrun Bluhm
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Ulla Jelpke
Susanna Karawanskij
Kerstin Kassner
Jan Korte
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Michael Leutert
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Thomas Nord
Petra Pau
Harald Petzold ({33})
Martina Renner
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Halina Wawzyniak
Katrin Werner
Birgit Wöllert
Hubertus Zdebel
Sabine Zimmermann
({34})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Annalena Baerbock
Dr. Franziska Brantner
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Anja Hajduk
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Sven-Christian Kindler
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Stephan Kühn ({35})
Markus Kurth
Monika Lazar
Steffi Lemke
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Cem Özdemir
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth ({36})
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Ulle Schauws
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Kordula Schulz-Asche
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Beate Walter-Rosenheimer
Dr. Valerie Wilms
Enthalten
SPD
Gabriele Hiller-Ohm
Jetzt hat der Kollege Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die
Grünen, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Grundsätzlich kann man sagen: Die Aufsicht über das Schulwesen obliegt dem Staat und ist im Grundgesetz verankert.
Dieser Pflicht müssen wir zum Wohle unserer Kinder und
im Interesse unseres Landes ohne Wenn und Aber nachkommen.
({0})
- Da dürft ihr klatschen; ihr von der CDU/CSU im Übrigen auch.
Es ist zutreffend, dass in den letzten Jahren mit scheinbar unverfänglichen Angeboten wie Broschüren oder attraktiven Wettbewerben einige Unternehmen versuchen,
sich in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler, also
der zukünftigen Konsumentinnen und Konsumenten
festzusetzen. Lobbyismus macht eben keinen Halt vor
Schultoren. Mittlerweile ist dieser Bereich so professionalisiert, dass sich Agenturen ausschließlich darauf spezialisieren, Kinder und junge Menschen im Schulalltag
interessengeleitet zu gewinnen bzw. im Extremfall sogar
zu manipulieren. Das Ziel hierbei ist es oft, eine frühe
Produktbindung zu sichern.
Die Frage ist allerdings, wo Lobbyismus beginnt und
wo die Grenzen zu ziehen sind. Mauern um die Schulen
herum können wir uns nicht leisten. Klar aber ist, dass
systematische und einseitige Beeinflussung nicht ins
Klassenzimmer gehört und verboten ist. Hier müssen wir
Sorge tragen, dass für Lehrkräfte transparent wird, welche Interessen hinter den Materialien stecken, und dass
keine, insbesondere keine finanzielle Abhängigkeit entsteht.
({1})
Die Gefahr ist gegeben, schließlich ist unser Bildungssystem chronisch unterfinanziert. Daher verwundert es
auch nicht, wenn sich Schulen nach anderen Geldgebern
oder Sponsoren umsehen.
Es ist allgemein bekannt, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig in sein Bildungssystem investiert. Eine am Wochenende veröffentlichte KfW-Studie belegt: Der Investitionsstau in deutschen Schulen
beträgt 34 Milliarden Euro. Viele Kommunen und Gemeinden sind nicht in der Lage, die dringend benötigten
Investitionen allein zu tätigen. Stichwort „Kooperationsverbot“ sage ich an dieser Stelle.
({2})
Der Staat ist in der Pflicht, Schulen besser auszustatten,
damit einseitige ökonomische Perspektiven nicht die
Deutungshoheit in Schulen übernehmen.
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
hier sollten Sie genau zuhören: Der öffentliche Bildungsauftrag darf nicht durch geschickt verpackte PR
in Klassenzimmern verwässert werden. Ich habe grundsätzlich nichts gegen Kooperationen. Die Wirtschaft
kann sich gerne in Schulen einbringen: Betriebspraktika,
Betriebserkundungen oder Jobmessen benötigen selbstverständlich das Mitwirken von Unternehmen. Aber im
Unterricht müssen Schüler und Schülerinnen kontrovers
und kritisch diskutieren können. Sie müssen befähigt
werden, sich ihre eigene Meinung zu bilden, um mündige
Bürgerinnen und Bürger zu werden, ohne von bestimmten Unternehmensinteressen geleitet zu werden.
({4})
Nur so können wir unserem Leitbild, dem Humboldt’schen
Bildungsideal, gerecht werden. Daher benötigen wir eine
Monitoringstelle für Unterrichtsmaterialien. Wir fordern
auch eine Verstetigung und Verbreitung des Projekts
„Materialkompass Verbraucherbildung“.
({5})
Wir dürfen Lehrkräfte und Schulen nicht mit der Auswertung der Materialfülle alleine lassen.
In der PISA-Studie 2006 wurde beispielsweise festgestellt, dass in Deutschland der Einfluss von Wirtschaft
und Industrie auf die Lehrinhalte in den Schulen enorm
groß ist, Tendenz leider steigend. Deshalb besteht riesiger Handlungsbedarf seitens des Bildungsministeriums,
der Länderminister und auch der KMK; denn Schule
muss weiterhin ein geschützter Raum für unsere Kinder
bleiben.
Ich freue mich auf die Debatte im Fachausschuss und
hoffe, dass wir kreative und konstruktive Wege der Kooperation mit der Wirtschaft finden, ohne Abhängigkeiten zu schaffen und ohne zuzulassen, dass Lobbyismus
mit dem schlichten Ziel der Produktvermarktung in unseren Schulen Fuß fassen kann.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({6})
Vielen Dank. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die
Kollegin Marianne Schieder.
({0})
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für den vorliegenden Antrag gibt es aus meiner
Sicht keine bessere Zusammenfassung als die Worte von
Kurt Tucholsky: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
({0})
Hört man allein den Titel dieses Antrags - „Kein Lobbyismus im Klassenzimmer“ -, kann man sicher schnell
zu dem Schluss kommen: Ja, das ist doch gut. Wer will
schon, dass der Unterricht an unseren Schulen zu einer - zugespitzt formuliert - verkappten Verkaufsveranstaltung wird? Doch denkt man ein bisschen nach, fragt
man sich sehr schnell: Was für ein Lobbyismus ist denn
gemeint? Ist Lobbyismus wirklich per se schlecht? Wo ist
die Grenze, ab der Lobbyismus nicht mehr zulässig sein
kann? Also wäre es gut bei einer solchen Forderung, ein
wenig zu differenzieren. Der Antrag hat mir aber gezeigt,
dass Sie das nicht tun; denn gleich zu Beginn des Antrags
ist die Rede von einer seit den 90er-Jahren ständig wachsenden Einflussnahme auf die Unterrichtsinhalte.
({1})
Dabei werden in einem Atemzug Wirtschafts- und Finanzverbände, Unternehmen, Stiftungen und Vereine
genannt, selbstverständlich, ohne zu unterscheiden, geschweige denn darzustellen, um welche Form von Einflussnahme es sich handelt.
Später, im Zusammenhang mit dem Vorwurf, dass
wirtschaftliche Interessen in die Schulen getragen werden, wird von der AOK gesprochen. Liebe Kolleginnen
und Kollegen von den Linken, Sie wissen doch ebenso
gut wie ich, dass die AOK in Sachen Gesundheitsprävention eine ganze Menge macht,
({2})
dass sie eine ganze Menge Broschüren und Themenzusammenstellungen herausgibt, die man sehr wohl gut in
der Schule verwenden kann.
({3})
Es kann doch nicht angehen, dass Sie in Ihrem Antrag ein
solches Beispiel anführen.
Was ist dagegen zu sagen, wenn der Landesbund für
Vogelschutz oder der BUND, was oft geschieht, im Rahmen der Nachmittagsbetreuung Projekte und Aktionen
präsentiert, die bei Kindern und Jugendlichen das Interesse für Natur- und Artenschutz wecken sollen?
Wieso ist es schlecht - so stellt Ihr Antrag das dar -,
wenn die Bundesregierung das Anliegen teilt, unternehÖzcan Mutlu
merisches Denken und Handeln in Schulen früh fördern
zu wollen?
({4})
Durch das vom BMWi betriebene Internetportal „Unternehmergeist in Schulen“ entsteht, so schreiben Sie,
„durch den Bund eine Einflussnahme auf Bildungsinhalte an der Verantwortung der Länder vorbei“. Abgesehen
davon, dass dieses Internetportal nur ein Angebot ist und
Sie und die Länder dieses Angebot ganz genau kennen da läuft nichts an den Ländern vorbei -, fordern Sie in Ihrem Antrag selbst von der Bundesregierung eine massive
Einflussnahme auf die Länder. Lesen Sie Ihre Forderungen in Ihrem Antrag. Liebe Frau Kollegin Dr. Hein, was
ist Ihr Rezept gegen den Lobbyismus?
({5})
Der Bund soll die Länder an einen Tisch holen und ihnen
zeigen, wo es langgeht. Das steht in dem Antrag drin, bei
jedem Punkt. Ganz ehrlich, ich glaube, diesen erhobenen
Zeigefinger brauchen die Länder nicht.
({6})
Ich halte es auch nicht für angebracht, unsere Lehrerinnen und Lehrer pauschal als unkritisch und unsensibel
für das Thema Lobbyismus abzustempeln.
({7})
- Das steht so drin. Lesen Sie es nach. In dem Antrag
steht, es sei nicht verwunderlich, dass Lehrkräfte auf
kostenloses Unterrichtsmaterial aus der Wirtschaft zurückgreifen, wenn die eigenen Schulbücher veraltet oder
nicht in ausreichender Menge vorhanden sind. So schreiben Sie das. Ich bin ziemlich sicher, da ich ziemlich viele kenne, dass unsere Lehrerinnen und Lehrer ganz gut
erkennen können, ob kostenloses Lehrmaterial sinnvoll
eingesetzt werden kann oder ob es lediglich der Werbung
dient.
({8})
Wenn es solche Fälle gibt - das will ich ja nicht ausschließen, weil wir viele Schulen in Deutschland haben -,
dann müssen Sie diesen Einzelfällen nachgehen, dürfen
aber nicht pauschal in einem solchen Rundumschlag so
tun, als würde an unseren Schulen nicht differenziert.
({9})
- Ich habe mir schon gedacht, dass Sie sich aufregen. Das
müssen Sie sich halt anhören, wenn Sie solche Anträge
schreiben.
Zu guter Letzt möchte ich betonen: Auch wenn man
mit Leidenschaft Bildungspolitiker ist - das bin ich
auch -, muss man seine Kompetenzen erkennen.
({10})
Alles, was in diesem Antrag steht, fällt sicherlich nicht
unter die Bundeskompetenz, sondern unter die Kompetenz der Länder. Ehrlich gesagt, selbst wenn es kein Kooperationsverbot gäbe, könnte es nicht angehen, dass der
Bund bis in die Details in die Schulgesetze der Länder
hineinregiert.
({11})
Wenn die das hören, dann wollen sie von der Beseitigung
des Kooperationsverbots erst recht nichts mehr wissen.
Vielen Dank.
({12})
Vielen Dank. - Sven Volmering, CDU/CSU-Fraktion,
hat jetzt das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
In Ihrem Antrag, liebe Frau Hein, sprechen Sie ja sehr
viel vom Beutelsbacher Konsens. Es wäre aber wirklich
besser gewesen, Sie hätten im Sinne des Konsenses zumindest im Feststellungsteil Ihres Antrags versucht, ein
wenig mehr Differenzierung statt ideologischer Einseitigkeit einzubringen.
({0})
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die CDU/CSU
mehr ökonomische Bildung an unseren Schulen für notwendig hält, und dazu gehört natürlich die Kooperation
mit der Wirtschaft in Form von Expertengesprächen,
Wettbewerben, Praktika und anderen Projekten, die
selbstverständlich im Sinne des Beutelsbacher Konsenses eben auch pädagogisch gelungene Unterrichtsmaterialien enthalten können.
Ebenso begrüßen wir die Initiative des Wirtschaftsministeriums „Unternehmergeist in Schulen“. Sonst regen
Sie sich immer auf, dass sich der Bund angeblich nicht
im Bildungsbereich engagiere. Hier findet nun - Sie verwenden in Ihrem Antrag den Begriff sogar selbst - eine
vom Bund geförderte Kooperation von Schule und Wirtschaft statt; aber das passt Ihnen aus ideologischen Gründen dann auch wieder nicht. Stringent ist das nicht.
({1})
In Ihrem Antrag zählen Sie dann einige Negativbeispiele für einseitiges Unterrichtsmaterial auf und nennen
zum Beispiel die Deutsche Bank und die Initiative Neue
Soziale Marktwirtschaft. Bei Letzterer wundert mich,
dass Sie deren Urteil anzweifeln, dass die Linkspartei
„aus ... mehr oder weniger großen Skeptikern der Marktwirtschaft“ bestehe. Wenn ich mir Ihre Politik anschaue
und da ich Ihre Rede gerade angehört habe, würde ich
doch sagen, dass diese Initiative recht hat, dass das so ist.
Von daher sollten Sie sich das vielleicht als Orden anhängen, aber nicht als Negativbeispiel sehen.
Was mich allerdings viel mehr stört, ist die Tatsache,
mit welcher Einseitigkeit Sie in diesem Antrag hier hantieren und so tun, als ob praktisch an den Schulen der
Einzug von Wallstreet-Turbokapitalisten droht. Sie sprechen wie in der Kriminalitätsstatistik davon, dass - Zitat - „Die Dunkelziffer … auf etwa eine Million Materialien“ geschätzt wird, und malen mit dieser Formulierung
wirklich einen Teufel an die Wand, der in dieser Form
überhaupt nicht existiert, wie der Kollege Jung gerade
schon dargelegt hat.
Außerdem ist es so, dass andere Organisationen, die
nun nicht aus der Wirtschaft kommen, ebenfalls Lehrmaterialien zur Verfügung stellen: Auch Greenpeace und die
GEW, beides bekennende TTIP-Gegner, bieten beispielsweise Unterrichtsmaterialien zu diesem Thema an, und
es ist sicherlich nur Zufall, dass bei der GEW die Kontra-TTIP-Texte in diesen Materialien fast immer etwas
länger sind als die Pro-Texte.
({2})
Ich habe dann auch noch einmal etwas recherchiert,
was so in Thüringen los ist. Dort existiert nach wie vor
das Fach „Wirtschaft, Recht und Technik“. Da habe ich
festgestellt, dass das von der Linken geführte Ministerium für Bildung, Jugend und Sport heute vor einer Woche zehn bewegungsfreundliche Schulen ausgezeichnet
hat. Wissen Sie, mit wem? Mit der AOK, die Sie hier in
diesem Antrag an den Pranger stellen. Stringent, meine
Damen und Herren, ist das nicht.
({3})
Der Beutelsbacher Konsens wird sowohl in der Schule
als auch durch die KMK sehr ernst genommen. Letztere
hat sich auch intensiv Gedanken zum Thema „Verbraucherschutz und Verbraucherbildung“, das auch in der
Schule behandelt wird, gemacht. Dabei werden explizit
abzulehnende Geschäftsmethoden und Tricks, die es ja
ebenso in der Wirtschaft gibt, zu Recht kritisch thematisiert.
Aber als am erschreckendsten empfinde ich wirklich,
dass Sie in Ihrem Antrag Direktoren, Lehrern, Schülern
und Eltern überhaupt nichts zutrauen und ihnen de facto unterstellen, dass sie nicht in der Lage seien, kritisch
zu denken, sondern jedes x-beliebige Unterrichtsmaterial unreflektiert einsetzten oder bei Kooperationen und
Sponsoring nur das Euro-Zeichen sähen.
Sie stellen die These auf, dass kontroverse Auseinandersetzungen in der Schule überhaupt nicht mehr möglich
seien, und das weise ich entschieden - auch als Lehrer zurück. Die überwältigende Mehrheit meiner Kollegen
lebt den Beutelsbacher Konsens. Sie evaluiert kritisch
Unterrichtsmaterialien und deren Inhalte, und falls dies
nicht passiert, gibt es immer noch Schüler, die sehr wohl
in der Lage sind, kritisch zu denken und zu handeln. Es
gibt immer noch Eltern, die Fachkonferenzen, das Kollegium, die Schulleitung, die Schulkonferenz, die Ministerien und auch Lobbycontrol, die wirklich alle sehr rasch
reagieren, wenn etwas schiefläuft. Gott sei Dank ist es
wirklich so, dass die KMK im Gegensatz zu Ihnen unseren Lehrern mehr zutraut
({4})
und grundsätzlich davon ausgeht - Zitat -, dass Lehrkräfte bei Angeboten Dritter die Anbieter- und Veröffentlichungsabsicht quellenkritisch einordnen können.
Ergänzend dazu wird schon seit Jahren und nicht erst
seit dem Antrag der Linken auf den Materialkompass der
Verbraucherschutzzentrale hingewiesen, der, wie schon
gesagt worden ist, durch das BMJV in diesem Jahr noch
um Materialien ergänzt wird.
Für die CDU/CSU halte ich fest, dass wir die bisherige
Praxis der Länder, den Schulen in einem angemessenen
Rahmen Freiräume bei Kooperationen und Sponsorings
zu geben, wenn sie den Bildungsauftrag nicht gefährden,
befürworten und nicht einschränken wollen, schon gar
nicht durch den nicht zuständigen Bund. Lassen Sie bitte
auch die Finger vom Beutelsbacher Konsens. Er ist so,
wie er ist, gut.
Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({5})
Vielen Dank, Herr Kollege. - Schönen guten Abend!
Bevor ich der letzten Rednerin, Elfi Scho-Antwerpes,
das Wort gebe, begrüße ich recht herzlich die Realschule
Weißenburg. Ich begrüße euch recht herzlich und hoffe,
ihr findet diese Debatte spannend.
({0})
Letzte Rednerin: Elfi Scho-Antwerpes für die SPD.
({1})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Schulbücher und
Unterrichtsmaterialien werden von den Ländern streng
kontrolliert und unterliegen starken qualitativen Auflagen. Sie müssen frei von Indoktrination sein und auch
frei von Werbung. Das ist gut so, und das muss auch so
bleiben.
({0})
Zur Realität gehört auch, dass Lehrerinnen und Lehrer Material zum Unterricht hinzuziehen, das über das
staatliche Angebot hinausgeht. Das müssen sie zum Teil
sogar, wenn sie auf aktuelle Themen oder Entwicklungen
eingehen wollen. Nehmen Sie die schnelllebige Digitalisierung als Beispiel. Das Internet bietet hier eine tausendfache Zahl an Unterrichtsmaterialien, in aller Regel
staatlich ungeprüft und vielfach durch Unternehmen und
die Industrie gerne kostenlos zur Verfügung gestellt. Man
kann leider nicht davon ausgehen, dass externe UnterSven Volmering
richtsmaterialien von hoher pädagogischer oder didaktischer Qualität sind. Im Gegenteil: Die Verbraucherzentrale hat nachgewiesen, dass drei Viertel der durch die
Wirtschaft bereitgestellten Materialien für den Unterricht
ungeeignet sind. Es ist nicht hinzunehmen, dass dieses
Material an Schulen eingesetzt wird und erst recht nicht
für Marketing, Kindermarketing.
({1})
Es bedarf hier einer stärkeren Kontrolle. Wir müssen
gemeinsam mit den Ländern überlegen, wie wir ein Monitoring hinbekommen. Nordrhein-Westfalen ist hier als
positives Beispiel zu nennen. Eine Sensibilisierung für
dieses Thema ist nicht nur in der Aus- und Weiterbildung
der Lehrer und Lehrerinnen nötig, sondern auch bei Eltern und Jugendlichen selbst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, wir
wollen auch nicht, dass Schulen Arbeitsblätter der Energiewirtschaft nutzen, die die Braunkohleförderung als
Nonplusultra verkaufen
({2})
und gleichzeitig erneuerbare Energien verdammen.
({3})
Wir wollen nicht, dass Schulen zu Werbeträgern werden
und Unternehmen die Bildungspolitik beeinflussen.
({4})
Wir wollen allerdings auch nicht in ein Schwarz-WeißDenken verfallen. Gut gemachte, kontrollierte externe
Unterstützung an Schulen kann durchaus positiv sein.
Beispiele wurden genannt. Was spricht eigentlich dagegen, wenn ein Naturwissenschaftler in einer Schulklasse
neutral aus der Praxis berichtet,
({5})
wenn die jungen Menschen hören, wie spannend die
MINT-Fächer sein können, in denen wir so dringend
Nachwuchs brauchen - wir rufen immer danach -, oder
wenn ein Elektromeister, der auch dringend Nachwuchs
braucht, seine Berufswelt spannend darstellt? Was spricht
dagegen, wenn NGOs oder die Bundeszentrale für politische Bildung einbezogen werden, wenn es im Sinne einer Partnerschaft, die transparent ist, zwischen externen
Anbietern und Schulen zu einem sinnvollen Mehrwert
bei den Lehrinhalten und der Schulausstattung kommt?
Niemand will tendenziöse Inhalte oder Reklame an den
Schulgebäuden. Aber wir wollen auch keine Verbote, die
an der Realität vorbeigehen.
({6})
Übrigens rate ich den Schulen: Nutzen Sie das Ihnen
vorliegende Werbe- und Lobbymaterial, um es im Unterricht gegen Lobbyismus zu verwenden. So ist das Zeug
doch noch zu etwas nutze.
({7})
Liebe Linksfraktion, lassen Sie uns Ihren Antrag sinnvoll ergänzen. In dieser Schwarz-Weiß-Variante ist er jedenfalls nicht zustimmungsfähig.
Herzlichen Dank.
({8})
Vielen Dank, Elfi Scho-Antwerpes. - Ich schließe damit die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/8887 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Berufskraftfahrer-Qualifikations-Gesetzes
Drucksache 18/8183
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({0})
Drucksache 18/9851
Die Reden sollen zu Protokoll genommen werden. -
Auch damit sind Sie einverstanden. Dann kommen wir
jetzt gleich zur Abstimmung. 1)
Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
empfiehlt unter Nummer 1 seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 18/9851, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 18/8183 anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol-
len, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen
und die Linke.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erhe-
ben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben
CDU/CSU und SPD, dagegen war niemand, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen und die Linke.
Unter Nummer 2 seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/9851 empfiehlt der Ausschuss, eine
Entschließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Be-
1) Anlage 4
schlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist damit von allen angenommen.
Ich rufe den Zusatzpunkt 3 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten SvenChristian Kindler, Tabea Rößner, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Telekomanteile veräußern - In Breitbandausbau investieren
Drucksache 18/9799
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss ({1})
Ausschuss für Wirtschaft und Energie
Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 Minuten vorgesehen. - Sie sind damit
einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort SvenChristian Kindler, Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen
und Kollegen! Wir Grüne machen heute einen Vorschlag
für schnelles Internet. Das Internet und der Zugang zu
schnellem Internet sind mehr als ein reines Vergnügen.
Da geht es um mehr als um Katzenbilder bei Facebook
oder um Musikvideos bei YouTube. Das Internet ist mittlerweile für viele Menschen ein zentraler Ort der Kommunikation, Quelle von Wissen und der Arbeitsplatz.
Die soziale und ökonomische Teilhabe ganzer Regionen
hängt daran.
Trotzdem gibt es Landstriche, die völlig abgeschnitten
sind, in denen die Geschwindigkeiten extrem gering sind.
Das liegt nicht daran, dass die Menschen kein schnelles
Internet wollen, sondern daran, dass es die entsprechende Infrastruktur nicht gibt. Ganze Landstriche in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen
sind abgehängt. Da reicht es gerade noch für eine E-Mail;
wenn man ein Foto anhängt, wird es schon schwer. Ich
sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Diese
Rückständigkeit dürfen wir uns nicht länger leisten. Das
muss sich dringend ändern.
({0})
Die Fragen sind: Was tut die Bundesregierung dagegen? Was macht eigentlich das Bundesministerium für
Verkehr und digitale Infrastruktur?
({1})
Was macht der zuständige Bundesminister Dobrindt? Er
hat eine neue Abteilung für digitale Infrastruktur eingerichtet. Das klingt erst einmal gut. Aber dann folgten:
kein Plan, kein Sachverstand und großes Chaos. Das hat
der Bundesrechnungshof im Hinblick auf den Aufbau
dieser Abteilung scharf kritisiert. Die Quittung dafür haben Sie jetzt bekommen. Ihre Förderprogramme werden
kaum abgerufen. Das Geld fließt nicht ab.
({2})
Es gibt extrem hohe Ausgabereste im Haushalt; sehen Sie
sich den Haushalt an! Klar ist: Diese Programme sind
ohne Plan und kommen viel zu spät. Schnelles Internet in
der Fläche - das ist ein großes Problem, und das ist auch
das Versagen von Bundesminister Dobrindt.
({3})
Was hat die Bundesregierung außerdem gemacht? Sie
hat die Entscheidung der Bundesnetzagentur unterstützt,
einen Exklusivvertrag mit der Telekom zu schließen, bei
dem es um das Vectoring geht. Das Vectoring ist eigentlich eine überholte Technik, die mit alten Kupferkabeln
arbeitet. Dies macht die Telekom im Nahbereich zu einem Monopolisten. Die Verliererinnen und Verlierer sind
hier die Verbraucherinnen und Verbraucher, Verlierer
sind auch die kleinen und mittleren Unternehmen. Was
aber noch viel schlimmer ist: Der wichtige schnelle Ausbau von Glasfasernetzen wird dadurch verzögert. Ich
sage Ihnen: So kann das mit dem Ausbau des Internets
nicht weitergehen.
({4})
Warum ist das so gekommen? Man muss sich einmal
das strukturelle Problem anschauen, das wir haben: Es
gibt extreme Interessenskonflikte zwischen der Telekom
und dem Bund, weil der Bund trotz der Privatisierung
der Telekom noch immer einen großen Aktienanteil hält,
weshalb die Telekom noch immer als staatsnaher Konzern agiert. Der Bund ist einerseits Anteilseigner, und
andererseits kann er Aufträge vergeben. Aufgrund dieser
Doppelrolle des Bundes gibt es einen Interessenskonflikt.
Das kann auf Dauer nicht gut gehen, weil der Bund als
Aktionär natürlich auch ein Interesse daran hat, zum Beispiel Dividende einzufahren.
Wir sehen beim Vectoring, dass diese Verquickung ein
großes Problem ist, aber wir sehen das zum Beispiel auch
bei Toll Collect, an der die Telekom beteiligt ist. Toll Collect - indirekt also die Telekom - und der Bund streiten
sich über Milliarden, und seit über zehn Jahren läuft ein
Schiedsverfahren, in dem der Bund seine Interessen aus
meiner Sicht nicht richtig wahrnimmt. Deswegen sagen
wir Grüne: Wir wollen diese Interessenskonflikte, diese
Verquickung, endlich auflösen. Das muss sich ändern.
({5})
Deswegen haben wir heute einen Antrag vorgelegt,
mit dem wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen
können: Erstens wollen wir die Interessenskonflikte auflösen, und zweitens wollen wir durch die Veräußerung
der Telekom-Anteile 10 Milliarden Euro für den schnellen Glasfaserausbau bereitstellen. Deswegen schlagen
wir einen Vermögenstausch im Haushalt vor.
Hier geht es nicht um das Verscherbeln von Tafelsilber. Das ist uns ganz wichtig. Wir wollen das Vermögen
Vizepräsidentin Claudia Roth
des Bundes neu ausrichten und dafür sorgen, dass neue
Werte geschaffen werden und dass die Menschen und die
Unternehmen hier im Land neue Möglichkeiten durch
schnelles Internet erhalten. Deswegen sagen wir: Das
Vermögen des Bundes muss für die Zukunft neu ausgerichtet werden.
({6})
Wir haben uns auch ein Konzept überlegt, wie man
das umsetzen kann. Wir wollen, dass die Aktien erst einmal an die KfW verkauft werden. Der Erlös von rund
10 Milliarden Euro für den Bund soll direkt in eine Breitbandgesellschaft fließen. Diese Breitbandgesellschaft
bleibt zu 100 Prozent in Bundesbesitz. Zusammen mit
den Kommunen vor Ort wird sie die Infrastruktur im Bereich Glasfaser ausbauen, und zwar an den Stellen, an
denen es sich für Private nicht lohnt, nämlich im Bereich
der weißen Flecken, im ländlichen Raum.
({7})
Der Bund baut also selbst die Infrastruktur, aber
Diensteanbieter - das ist auch wichtig - bleiben die
kommunalen und privaten Unternehmen. So können wir
einen echten Breitbandausbau erhalten und schnelles Internet in die Fläche bringen.
Ich fordere Sie auf, sich jetzt konstruktiv mit unserem
Antrag auseinandersetzen. Wir haben einen Vorschlag
dafür gemacht, wie man das schaffen, Interessenskonflikte auflösen und schnelles Internet voranbringen kann.
Ich freue mich auf die Debatte im Parlament und in
den Ausschüssen. Lassen Sie uns doch diese Chance für
schnelles Internet in den Beratungen jetzt auch nutzen!
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Kollege Sven-Christian Kindler. - Der
nächste Redner ist Dr. André Berghegger für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Der
Antrag, der gerade eingebracht und vorgestellt wurde,
veranlasst mich zu einer Bemerkung: Man kann ja unterschiedlicher Meinung sein, lieber Herr Kindler, aber ich
glaube, wir sollten bei der Sachlage bleiben. Ich versuche
einmal, das zumindest für meine Fraktion zu beschreiben.
Ich denke, im Kern enthält der Antrag zwei Punkte,
wie Sie es richtig beschrieben haben:
Punkt eins. Die bis jetzt noch beim Bund verbliebenen
Anteile an der Deutschen Telekom AG sollen an die Kreditanstalt für Wiederaufbau veräußert werden.
Punkt zwei. Mit den Verkaufserlösen soll der Breitbandausbau durch eine noch zu gründende staatliche Gesellschaft angeschoben werden.
In der Situationsanalyse sind wir sogar durchaus einer
Meinung, nur die Wege, wie wir das Ziel erreichen wollen, unterscheiden sich deutlich. Zwei Gedanken dazu:
Erstens. Der Bund hält aus meiner Sicht grundsätzlich
an der Strategie fest, dass die Deutsche Telekom AG privatisiert wird.
Zweitens. Deutschland muss sich natürlich sputen
und bewegen und in die digitale Zukunft investieren.
Der Breitbandausbau ist zu beschleunigen. Hier sind wir
völlig einer Meinung: Das ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Erfolg in unserem
Land.
Aber wir sollten diese beiden Gedanken nicht vermischen. Als Haushälter wissen Sie, dass es den haushalterischen Grundsatz der Gesamtdeckung gibt. Das heißt,
spezielle Einnahmen darf ich nicht für spezielle Ausgaben nutzen. Auch wenn man dafür andere Begriffe wie
„Vermögenstausch“ verwendet: Es gilt die Gesamtdeckung. Einnahmen sind für die Gesamtdeckung, für die
Erfüllung aller staatlichen Aufgaben, vorzusehen.
({0})
Jetzt aber im Einzelnen zur Privatisierungsstrategie.
Was Mitte der 90er-Jahre durch den Börsengang und
mit der Werbung von Manfred Krug - wir alle erinnern
uns - anfing und in vielen Schritten fortgesetzt worden
ist, hat jetzt einen Zwischenstand erreicht. Derzeit liegt
der Bundesanteil an der Deutschen Telekom AG bei rund
32 Prozent, aufgeteilt in die Anteile des Bundes und die
Anteile der KfW-Bank.
Natürlich wird immer wieder nach weiteren Möglichkeiten der Privatisierung gesucht; das wird ständig geprüft. Aber die Kapitalmarktsituation muss berücksichtigt werden. Die wirtschaftliche Situation der Telekom
und natürlich auch die Interessen des Bundes müssen im
Blick behalten werden; Stichwort ist hier: Netzsicherheit.
Deswegen glaube ich: Ein Verkauf komplett an die KfW
darf nicht übers Knie gebrochen werden. Außerdem - das
als Anmerkung - ist das gar keine echte Privatisierung;
denn die KfW wird wirtschaftlich dem Bund zugerechnet; das steht außer Frage.
Aber selbst bei einer echten Privatisierung sollten wir
einige Überlegungen berücksichtigen. Wenn wir ein Drittel des Aktienbestandes der Telekom AG an den Markt
bringen, sorgt das natürlich für Unsicherheit.
({1})
Im Zweifel bewegt sich der Aktienkurs nach unten. Das
wollen wir vermeiden. Wir müssen umsichtig handeln,
Schritt für Schritt, und unsere Strategie zur Privatisierung der Telekom fortsetzen.
Das anzustrebende Ziel ist die Investition in den Breitbandausbau. Bei dem Fachgespräch Ihrer Fraktion zu
diesem Thema ist eines deutlich geworden: dass die Forderung nach Gründung einer Breitbandgesellschaft - ich
formuliere es höflich - überwiegend keine sehr positive
Resonanz gefunden hat.
({2})
Ich stelle auch infrage, ob überhaupt eine staatlich zu
gründende Gesellschaft den Innovationsschub und die
Dynamik auslöst, wie wir sie gerade in diesem Themenfeld benötigen. Ich glaube nämlich, dass neue Marktstrukturen und die Gründung von Gesellschaften das Risiko bergen, den Markt für mehrere Jahre lahmzulegen.
({3})
Das können wir uns in diesem Themenfeld überhaupt
nicht leisten.
({4})
Deshalb glaube ich, dass die Zwischenlösung - so nenne ich sie einmal -, wie wir sie anstreben, die Förderung
der Vectoring-Technologie und der Breitbandausbau im
Wege des Glasfaserausbaus, den Fortschritt bringt, den
wir jetzt brauchen.
({5})
Überall Glasfaser zu verlegen, wäre ja technisch wünschenswert; gar keine Frage. Aber das ist doch realistischerweise kurzfristig nicht zu erreichen. Deswegen
brauchen wir diesen sinnvollen Schritt.
Viele von uns waren in den letzten Wochen im Verkehrsministerium bei der Übergabe der Förderbescheide
entweder für die Untersuchungskosten oder für die Baumaßnahmen im Rahmen der Breitbandförderung. Da haben wir doch gesehen, dass staatliche Subventionen in
der Situation, wie wir sie vorfinden, das beste Mittel sind,
um den Breitbandausbau voranzubringen.
Die individuelle Situation und der Sachstand vor Ort
werden berücksichtigt. Wirtschaftlichkeitslücken in den
unterschiedlichsten Modellen werden vor Ort geschlossen.
({6})
Als ein Vertreter des ländlichen Raums sage ich: Der
ländliche Raum wird so gut wie möglich erschlossen,
und weiße Flecken im Hinblick auf die Breitbandversorgung werden beseitigt.
Sie können doch auch sagen, dass sich das Förderprogramm, das seit geraumer Zeit in der Welt ist - 4 Milliarden Euro für dieses Themenfeld bis 2020 -, sehen lassen
kann.
({7})
- Lassen Sie mich doch ausreden. - Dieses Förderprogramm mit den 4 Milliarden Euro orientiert sich am potenziellen Bedarf. Es ist vor allen Dingen durch die Finanzplanung abgesichert. Es ist auch nicht auf eventuelle
Verkaufserlöse angewiesen. Mich stimmt die Dynamik,
die wir in dieser Legislaturperiode erleben - noch nie
haben wir da so viel gemacht wie jetzt -, positiv. Lassen Sie uns diese Strategie Schritt für Schritt weiterverfolgen. Deswegen empfehle ich, den Antrag der Grünen
abzulehnen.
({8})
Vielen Dank, Dr. Berghegger. - Nächster Redner:
Roland Claus für die Linke.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der
Breitbandausbau und die damit verbundene Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft werden wohl nicht
zu Unrecht mit der Elektrifizierung im 20. Jahrhundert
verglichen. Ich finde es immer total fantastisch, wenn früher geborene Menschen zu ihrem 70. oder 80. Geburtstag
einen neuen PC und einen Computerkurs geschenkt bekommen. Deshalb ist es lobenswert, dass die antragstellende Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen die Absicht
verfolgt, die Digitalisierung und den Breitbandausbau
schneller auf den Weg zu bringen. Es ist richtig - darin
stimmen wir überein -, dass dies bitter nötig ist, weil die
Bundesregierung bislang ihre Hausaufgaben überhaupt
nicht gemacht, sondern auf diesem Gebiet versagt hat;
das muss man so deutlich sagen.
({0})
Sie von der Bundesregierung können sich zwar mit
den jüngsten Zahlen ein bisschen ins Schaufenster stellen. Aber bis vor kurzem hatte selbst der Agrarminister
mehr für digitale Entwicklung in seinem Etat als der zuständige Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur.
Wir reden also nicht über Dinge, die schon ewig geplant
gewesen sind. Deshalb geht der Antrag der Grünen in die
richtige Richtung.
Natürlich kann jeder in den Statistiken das herauslesen, was ihm gefällt. Aber im europäischen Vergleich
liegen wir als das Land der Ingenieure und Erfinder auf
einem bedauernswert weit hinten angesiedelten Platz.
({1})
Das muss sich, verdammt noch mal, ändern.
({2})
Deshalb haben wir Ihnen vorgeschlagen, die digitalen Investitionen vorwiegend im ländlichen Raum zu tätigen.
Sie haben gesagt, dass Sie das machen. Das ist in Ordnung; denn wir verstehen das als eine Art digitale Wiedergutmachung wegen entgangener Daseinsvorsorge. Es
gibt inzwischen eine gesellschaftliche Spaltung zwischen
Metropolen und ländlichem Raum, die wir nicht schnell
beseitigen können. Aber mit einem vernünftigen und
schnellen Breitbandausbau ist das durchaus zu machen.
Nun gibt es auch eine Differenz zum Antrag der Grünen, die ich nicht verschweigen will. Datenautobahnen
werden schneller veralten als die Autobahnen, auf denen
die meisten Menschen gelegentlich durch das Land reisen. Trotzdem ist die Deckung des vorhandenen Investitionsbedarfs eine Aufgabe, die zunächst einmal einen
großen, einmaligen Aufwand erfordert. Den Weg, den
die Grünen vorschlagen, halten wir für nicht richtig. Ich
glaube, liebe Grüne, ihr habt einfach zu lange bei der
Schuldenbremse mitgewirkt und leidet seitdem an ein
paar Nachwirkungen.
({3})
Den Staatsanteil an der Telekom in eine staatliche Breitbandgesellschaft zu überführen, ist nichts anderes als
eine Privatisierung um sieben Ecken; darum kann man
sich nicht herumdrücken. Nun habt ihr den Begriff der
staatsnahen Monopolisten von den Linken übernommen.
Das finden wir in Ordnung; denn wir alleine schaffen es
nicht, ihn gesellschaftsfähig zu machen. Aber ich sage
dir, Sven Kindler: Staatsnahe Monopolisten werden nicht
dadurch gezähmt, dass man aus einem zwei macht. Das
ist keine Lösung des Problems.
({4})
Zudem ist es ein bisschen schwer verständlich. Aus der
Telekom soll der besagte Anteil herausgelöst werden und
via KfW in eine staatliche Breitbandgesellschaft, sozusagen in eine Good Bank, überführt werden. Dann soll diese Bank investieren. Die Investitionen sollen irgendwie
durch - wie habt ihr das genannt? - Verpachtung bzw.
Vermarktung dieser Anteile refinanziert werden. Das
scheint uns ein wenig umständlich zu sein.
({5})
Es gäbe doch eine viel einfachere Alternative. Da wir
uns hier um eine einmalige, große Investition Gedanken
machen: Folgt doch unserem Vorschlag, eine geringe
prozentuale Einmalabgabe auf Vermögen - sagen wir: ab
der zweiten Million - zu erheben.
({6})
Das würde uns dann nicht 10 Milliarden Euro, sondern
die notwendigen 40 Milliarden oder 50 Milliarden Euro
einbringen, die wir laut den Berechnungen der Fachverbände für den gesamten Glasfaserbreitbandausbau in der
Bundesrepublik brauchen. Das wäre doch ein Weg, auf
dem wir gehen könnten.
({7})
Der kleine Unterschied ist also: Die Grünenfraktion
will Privatisierung um die Ecke. Die Linke will eine
gerechte Besteuerung zur Lösung des Problems. Einen
schnellen Breitbandausbau wollen wir alle gemeinsam.
Wenn wir den vorliegenden Antrag noch besser verstanden haben - ich bin sofort fertig, Frau Präsidentin -, werden wir uns in den Ausschussberatungen mit den Beweggründen weiter auseinandersetzen.
Vielen Dank.
({8})
Vielen Dank, Roland Claus. - Nächster Redner: Klaus
Barthel für die SPD.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
schon gut, dass wir heute über den Antrag der Grünen
diskutieren; denn ich stelle fest, dass der Vorschlag für
viele sehr populär ist. Selbst die Linken finden diesen
Ansatz überdenkenswert. Mich überrascht das etwas.
Als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Wo sind die
Grünen mit dieser Mischung aus neoliberaler Ideologie,
Widersprüchlichkeiten, geweckten falschen Erwartungen und vor allen Dingen Nichtrealisierbarkeit plötzlich
gelandet?
({0})
Also, ich muss sagen: Seitdem die FDP nicht mehr in
diesem Haus ist, habe ich einen solchen telekommunikationspolitischen Unfug nicht mehr gelesen.
({1})
Auch machen Sie eine 180-Grad-Kehrtwende.
({2})
- Ich werde das darstellen. - Bisher haben Sie in Ihren
Anträgen, Anfragen und Reden immer gefordert, dass der
Staat seine Rolle als Eigentümer bei der Telekom ernster
nehmen und verantwortungsvoller sein sollte.
({3})
Denken Sie an die Debatte über die Standorte, die Callcenter und auch über den Infrastrukturausbau. Dafür
hätte ich ja noch Verständnis. Aber das, was Sie hier
vorlegen, würde zu geplantem und organisiertem Staatsversagen führen.
Ich will das erklären. Fangen wir bei der Realisierbarkeit an. Sie wollen mit den Verkaufserlösen von 10 Milliarden Euro eine Breitbandinfrastrukturgesellschaft
schaffen. Sie fordern die Bundesregierung - ich zitiere
wörtlich - auf, „mit der Breitbandinfrastrukturgesellschaft in Zusammenarbeit mit den Kommunen europarechtskonform“ in die flächendeckende Breitbandversorgung zu investieren.
Erstens ist die Frage, wie das europarechtskonform
gehen soll. Darüber gehen Sie souverän hinweg, obwohl
man schon aus der Debatte über die von Ihnen ja zu Recht
als schwer umsetzbar bezeichneten Förderprogramme
wissen müsste, wie kompliziert das Ganze europarechtlich gesehen ist. Kompliziert sind ja schon die Zuschussprogramme. Wenn man das weiß, bekommt man erst den
Hauch einer Ahnung, was es bedeuten würde, wenn der
Staat jetzt selber in diesem Bereich unternehmerisch tätig
werden würde.
({4})
Zweitens sind - das muss man doch auch wissen 10 Milliarden Euro für Glasfaserbreitbandausbau ein
Tropfen auf den heißen Stein.
({5})
- Jetzt rufen Sie auch noch dazwischen, Herr Kindler.
Sie wollen ja die 10 Milliarden Euro gar nicht auf einmal, sondern auch noch stückweise; denn man kann die
Aktien ja nicht in einem Schwung auf den Markt bringen.
({6})
Das bringt also nicht mehr als den Tropfen auf den heißen Stein.
Drittens können Sie - man muss sich doch einmal vorstellen, wie das praktisch gehen könnte - überhaupt nicht
darstellen, wie diese Breitbandgesellschaft flächendeckend arbeiten soll. Denn wir haben doch heute schon für
viele Haushalte viel mehr als 50 Megabit oder 100 Megabit Geschwindigkeit. Da brauchen wir die Breitbandgesellschaft nicht.
({7})
Selbst in Teilen des ländlichen Raums brauchen wir sie
nicht.
({8})
Im Rest der Republik aber ist der Breitbandausbau gerade nicht rentabel. Wenn Sie dann fordern, die geschaffene
Breitbandinfrastruktur durch Verpachtung zu refinanzieren, dann scheinen Sie zu glauben, dass hier plötzlich das
Geld vom Himmel regnet, obwohl es sich bisher für die
privaten Investoren gerade nicht rentiert, weil das keine
Erträge abwirft.
({9})
Viertens komme ich, was die Realisierbarkeit betrifft,
zu den Kommunen. Das Problem für die Kommunen ist
doch gerade, dass sie gar nicht über die entsprechenden
Komplementärmittel verfügen. Dort, wo der höchste Bedarf an Breitbandausbau besteht, sind die Finanzierungsmöglichkeiten, nämlich die Kofinanzierungsmöglichkeiten der Kommunen, am schlechtesten. Das heißt, dass
uns nach einem Bruchteil der notwendigen Investitionen
die Puste ausgehen würde. Es gäbe dann keine Erlöse,
sondern nur Kosten. Und die Gelder würden dann auch
nicht dahin fließen, wo man sie wirklich braucht.
Ich komme dann zu den Widersprüchen Ihres Antrags.
Sie geißeln ja zuerst einmal die Interessenkonflikte, in
denen sich der Staat als Miteigentümer des Unternehmens Telekom befinden würde. Ich frage Sie erst einmal:
Wie stellen Sie sich denn Netzzugangsregulierungen
bei der - das wird von Ihnen gefordert - zu 100 Prozent
staatlichen Breitbandgesellschaft vor, wo Sie ja Geld
bzw. Einnahmen zur Refinanzierung sehen wollen, wenn
Sie schon den 14-prozentigen Anteil an der Deutschen
Telekom als große Gefahr für die Unabhängigkeit des
Staates und die Regulierung proklamieren?
Wenn man Ihren Hypothesen folgt, hätte ja in den
Ausbauregionen Ihre Breitbandgesellschaft ein hundertprozentiges Monopol. Da würde es dann - das ist doch
komisch - nach Ihrer Ansicht keinen Interessenkonflikt
geben.
({10})
Das muss aber auch irgendwie reguliert werden.
Damit sind wir bei der Ideologie, die Sie neuerdings
vertreten. Mir kommt das bekannt vor. Wir hatten vor
2009 gefühlt jeden Monat einen FDP-Antrag auf dem
Tisch, in dem auch immer von Ordnungspolitik die Rede
war. Das steht auch in Ihrem Antrag.
Jetzt kommen wir zur Ordnungspolitik. Sie verstricken sich schon im Text Ihres Antrags - ich verstehe
nicht, wie einem so etwas nicht auffallen kann - innerhalb weniger Zeilen in Widersprüche. Innerhalb dieser
Zeilen kommen drei Bezeichnungen für die Rolle der
Telekom vor. Einmal sagen Sie, das ist ein marktbeherrschendes Unternehmen. Zwei Zeilen weiter sprechen Sie
von einem staatsnahen Oligopolisten. Und auf der nächsten Seite bezeichnen Sie die Telekom dann als Monopolisten. Also, was ist sie nun?
({11})
Realität ist: Die Telekom ist allerhöchstens auf wenigen Teilmärkten noch marktbeherrschend. Das kann man
alles nachlesen. Dort unterliegt sie einer rigiden Regulierung. Dies führt dazu, dass die Telekom von Jahr zu
Jahr Marktanteile verliert. Wir haben auch beim Vectoring-Genehmigungsprozess gesehen, wie schwierig die
Regulierung europarechtlich ist. Das heißt, Sie gehen von
falschen Grundannahmen aus. In Ihren Reden findet die
Digitalisierung gar nicht statt; denn die Digitalisierung
führt dazu, dass es eine Konvergenz all dieser Bereiche
in der Internetwirtschaft gibt: Kabel, Glasfaser, Kupfer,
Mobilkommunikation usw. In dieser Gesamtlandschaft
ist die Telekom nur noch ein Player von ganz vielen, und
deshalb kann von Monopol oder Ähnlichem überhaupt
nicht mehr die Rede sein.
Dann kommt die Krönung. Sie wollen diese Breitbandgesellschaft im Eigentum der KfW sehen.
({12})
Wem gehört denn bitte die KfW? Die KfW gehört zu
vier Fünfteln dem Bund und zu einem Fünftel den Ländern, sie ist also ein reiner Staatsbetrieb. Warum soll es
dann diese Interessenkonflikte nicht mehr geben, zumal
der Staatsmonopolist Deutsche Telekom - Sie beklagen
doch das Staatsmonopol - zu einem privaten Monopolisten würde? Wie passt das ordnungspolitisch zusammen?
Es wäre in der Tat sinnvoll, sich daran zu erinnern,
warum die Liberalisierung und Privatisierung im Telekombereich stattfinden sollte. Man hat es gemacht, um
private Investitionen in diesen Bereich zu locken. Da
muss es andere Hebel geben, zum Beispiel in der Regulierungspolitik, zum Beispiel aber auch in der Umsetzung des Auftrags des Grundgesetzes zu einer flächendeckenden Versorgung. Da sage ich nur: Ein Blick in das
Telekommunikationsgesetz wirkt Wunder. Da findet man
eine Universaldienstmöglichkeit, die auch eine Finanzierung ohne Steuergelder vorsieht.
({13})
Im Übrigen, wenn Ihr Ansatz sein sollte, 10 Milliarden Euro für schnelles Internet zu mobilisieren, dann
sage ich Ihnen: Diesen Weg muss ich doch gar nicht gehen in Zeiten, in denen so eine Geldschwemme auf den
Finanzmärkten ist. Ich muss doch nicht auch noch das
staatliche Tafelsilber verscheuern, um zu Investitionen in
die Infrastruktur zu kommen.
Darf ich Sie auf die Redezeit aufmerksam machen?
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin.
Gut, danke schön.
Vielen Dank. - Ich bin gespannt auf die Beratungen
im Ausschuss und darauf, ob Nachbesserungen kommen
oder der Unfug so stehen bleibt.
({0})
Vielen herzlichen Dank. - Ich weise noch einmal
darauf hin: Wenn die Lampe dort vorne leuchtet, dann
bedeutet das etwas. Das ist jetzt blöde; denn es betrifft
Herrn Holmeier. - Der letzte Redner in der Debatte: Karl
Holmeier für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Herr Kindler, was Sie erzählt haben, nämlich dass der
Breitbandausbau in Deutschland nicht funktioniert, kann
man Märchenstunde nennen. Das Internet und die digitalen Technologien sind unverzichtbar; ich glaube, darin
sind wir uns alle einig. Sie sind Wachstumstreiber für
unser Land. Das digitale Zeitalter ist eine neue Chance
für den Standort Deutschland, gerade für den ländlichen
Raum.
Wir wollen und werden Deutschland immer weiter
zum führenden digitalen Standort in Europa ausbauen.
Jeder in unserem Land soll - ich sage: muss - die Vorteile des schnellen Breitbandes nutzen können. CDU,
CSU und SPD haben daher im Koalitionsvertrag 2013
vereinbart, dass es in Deutschland bis 2018 eine flächendeckende Grundversorgung mit mindestens 50 Mbit/s
geben soll, vor allem im ländlichen Raum.
Nach der Frequenzversteigerung im Rahmen der Digitalen Dividende II hat unser Bundesminister Alexander
Dobrindt im Herbst 2015 den Startschuss für das milliardenschwere - ich betone: milliardenschwere - Bundesförderprogramm für den Breitbandausbau gegeben. Obwohl Deutschland bis dahin im europäischen Vergleich
bereits höchste Dynamik beim Breitbandausbau hatte,
hat Minister Dobrindt 2,7 Milliarden Euro in die Hand
genommen, um Deutschland mit einem schnellen Internet zu versorgen. Wir werden den Breitbandausbau damit
weiter vorantreiben.
Dank unserer hervorragenden Haushalts- und Finanzpolitik ist es möglich, noch mehr Geld in die bessere
Entwicklung der Gigabitgesellschaft zu investieren. So
haben wir das Bundesförderprogramm für den flächendeckenden Ausbau der schnellen Netze im Haushalt 2017
um zusätzliche 1,3 Milliarden Euro auf insgesamt 4 Milliarden Euro aufgestockt.
Das Bundesförderprogramm für schnelles Internet
ist ein Riesenerfolg. Bis zum jetzigen Zeitpunkt wurden
bundesweit knapp 750 Anträge auf Beratungsleistungen
zum Breitbandausbau bewilligt. Das Bundesministerium
für Verkehr und digitale Infrastruktur hat zudem in über
170 Fällen Fördermittel für konkrete Infrastrukturprojekte zum Breitbandausbau bewilligt. Das Fördervolumen
beläuft sich zum jetzigen Zeitpunkt auf 1,33 Milliarden
Euro.
Zusätzlich zum Breitbandförderprogramm des Bundes wird das „Sonderförderprogramm Mittelstand“ in
Höhe von 350 Millionen Euro aufgelegt werden.
({0})
Mit diesem Sonderförderprogramm sollen Gewerbegebiete mit superschneller Glasfaser im Gigabitbereich
angeschlossen werden, die über den regulären Markt
keinen Zugang bekommen. Mit diesen Fördermitteln erKlaus Barthel
möglichen wir Investitionen in den Glasfaseranschluss
von kleinen und mittleren Unternehmen, vor allem im
ländlichen Raum, wo 60 Prozent der deutschen Wirtschaft ansässig sind.
Auch die Länder sind gefordert. Als Beispiel nenne ich
den Freistaat Bayern: Bayern hat Mitte 2014 ein landeseigenes Breitbandförderprogramm mit Mitteln in Höhe
von 1,5 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Damit
steht jeder Gemeinde ein Betrag von etwa 900 000 Euro
zu. Bayern macht vor, wie es geht. Andere Länder sollen
oder könnten nachziehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
Ihnen dargelegt, dass die Bundesregierung viel Geld in
die Hand nimmt, um den Breitbandausbau in Deutschland weiter auf europäischem Spitzenniveau fortzuführen. Ihren Antrag, die Aktienbeteiligung des Bundes an
der Deutschen Telekom zu verkaufen, kann ich nicht unterstützen. Das Telekom-Aktienpaket des Bundes hat im
Geschäftsjahr 2015 je Aktie eine Dividende von 55 Cent
gebracht. Bei einem aktuellen Aktienkurs von 14,96 Euro
entspricht dies einer Rendite von 3,68 Prozent. Gerade in
einer Niedrigzinsphase wie jetzt sind 3,68 Prozent eine
tolle Verzinsung. Der Bundeshaushalt profitiert jährlich
von den Dividenden aus dem Telekom-Aktienpaket.
2013 waren es 452 Millionen Euro. 2014 und 2015 waren
es jeweils 323 Millionen Euro. 2016 stieg die Dividende auf 363,3 Millionen Euro. In nur vier Jahren hat der
Bund somit über 1,46 Milliarden Euro an Dividende eingenommen. Es scheint daher nicht sehr vernünftig, dieses
Telekom-Aktienpaket zu verkaufen und mit diesem Geld
eine Breitbandinfrastrukturgesellschaft auf Bundesebene
zu gründen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich fasse
zusammen - geben Sie mir bitte noch eine Minute, Frau
Präsidentin -: Unser Bundesminister Dobrindt hat das
erste Breitbandförderprogramm des Bundes aufgelegt. Er
ist bei null gestartet, und jetzt stehen 4 Milliarden Euro
zur Verfügung. Dieses Programm wird von den Kommunen sehr gut angenommen, ist unbürokratisch und wird
schnell umgesetzt.
({1})
Unser Breitbandförderprogramm ist zukunftsgerichtet;
denn allein mit den ersten beiden Förderperioden wird in
Deutschland der Bau von 120 000 Kilometern Glasfaserleitung auf den Weg gebracht. Über 1 Million Menschen
und knapp 100 000 Unternehmen können davon profitieren und schnelles Internet bekommen. Hinzu kommt das
Mittelstandsförderprogramm, für das 350 Millionen Euro
zur Verfügung gestellt werden. Das ist zukunftsgerichtet.
Meine Damen und Herren, wir sind auf einem guten
Weg, das Ziel von 50 Megabit bis 2018 zu erreichen. Der
Verkauf der Telekom-Aktien ist dazu nicht notwendig.
Deshalb ist der Antrag der Grünen abzulehnen.
Vielen Dank.
({2})
Vielen Dank, Karl Holmeier. - Damit schließe ich die
Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 18/9799 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
über die elektromagnetische Verträglichkeit
von Betriebsmitteln ({0})
Drucksache 18/8960
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie ({1})
Drucksache 18/9848
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 25 - ich betone: 25 - Minuten vorgesehen. - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe Klaus Barthel das
Wort für die SPD.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heute hier
zur Verabschiedung stehenden Entwurf eines Gesetzes
über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln schaffen wir kein neues Gesetz, sondern
ersetzen das geltende EMVG. Es geht hier nicht um die
auch oft diskutierte gesundheitliche Verträglichkeit von
solchen Betriebsmitteln, sondern im Wesentlichen um
technische Fragen. Erstere werden wir nicht aus den Augen verlieren; aber heute geht es um etwas anderes.
Ich will darauf hinweisen - ich glaube, das muss man
an einer solchen Stelle tun -, dass wir hier wieder einmal
europäisches Recht umsetzen, was in diesem Fall nicht
zu beklagen, sondern sehr zu begrüßen ist. Man muss
sich nur einmal vorstellen, was es bedeuten würde, wenn
jeder der 27 oder 28 Staaten seine eigenen Standards und
Maßstäbe für elektromagnetische Verträglichkeit setzen
würde und wir die deutschen Regelungen allein gegenüber dem Rest der Welt durchsetzen müssten, wenn wir
unsere Geräte im Ausland nicht verwenden könnten oder
wenn wir Geräte aus dem Ausland hier nicht verwenden
könnten.
Technische Fragen finden immer erst dann größere
Aufmerksamkeit, wenn die Technik nicht funktioniert.
Das ist hier nicht zu beklagen. Der Gesetzentwurf bietet relativ wenig Anlass zu Kontroversen. Ich bin jetzt
auf die Diskussion gespannt; denn auch in der Fachwelt
gab es wenig Aufregung - mit einer Ausnahme, und die
haben wir durchaus zur Kenntnis genommen. Ich denke,
dazu wird auch noch gesprochen.
Wir haben viele Zuschriften, Gesprächswünsche, Petitionen aus dem Bereich des Amateurfunks bekommen.
Ich würde mir manchmal wünschen, dass in anderen Bereichen betroffene Bürgerinnen und Bürger sich ähnlich
intensiv und kompetent in parlamentarische Verfahren
einbringen würden, gerade als ehrenamtliche Community und nicht als bezahlte Lobbyisten. Die Amateurfunker sind naturgemäß bestens vernetzt und auch politisch
engagiert, in verschiedenen Parteien. Sie haben uns alle
irgendwie kontaktiert.
Wir haben die Kritiken, die Vorschläge, die Änderungswünsche der Amateurfunker sorgfältig geprüft soweit wir als Abgeordnete das technisch und im Einzelfall überhaupt beurteilen können. Es geht dabei vor allen
Dingen um folgende Punkte:
Erstens. Die Bundesnetzagentur soll stärker in die
Pflicht genommen werden, die notwendigen Maßnahmen
zur Klärung von elektromagnetischen Unverträglichkeiten zu ergreifen. Deswegen sollten ihre Befugnisse noch
einmal erweitert werden. - Aus unserer Sicht, muss ich
allerdings sagen, handelt es sich hier vor allen Dingen
um Probleme mit dem Vollzug der gesetzlichen Vorgaben, die auch durch eine schärfere Formulierung des Gesetzes nicht ohne Weiteres behoben würden.
Zweitens. An mehreren Stellen des Gesetzes sollten ausdrücklich alle Funkdienste erwähnt werden und
beim Funkschutz absolut gleichgestellt sein, also auch
der Amateurfunk den öffentlichen Telekommunikationsnetzen und den Sende- und Empfangsanlagen, die zu
Sicherheitszwecken in definierten Frequenzspektren betrieben werden, gleichgestellt werden. - Die Frage der
völligen Gleichstellung des Amateurfunks mit öffentlichen Telekommunikationsnetzen war schon beim ersten
EMVG und bei der letzten Novelle Gegenstand der Debatten. Das Ergebnis war schon damals, dass eine völlige
Gleichstellung, wenn man die Bedeutung der anderen
Bereiche sieht, nicht gerechtfertigt erscheint,
({0})
auch nicht im europäischen Kontext. Von dort kann man
das auch nicht herleiten.
Drittens. Das Auskunftsrecht der Bundesnetzagentur und die Beteiligungspflichten der Betreiber von Betriebsmitteln bei der Störungsbearbeitung sollten erweitert werden. - Auch hier scheint es uns hauptsächlich
um Probleme beim Vollzug der Störungsbearbeitung zu
gehen und nicht um Probleme, die man durch eine Gesetzesnachschärfung lösen könnte.
Außerdem sagen die Amateurfunker, die Neufassung
dieses Gesetzes sei nicht die Umsetzung der Vorgaben
der Richtlinie der Europäischen Union vom 26. Februar
2014 zur Harmonisierung dieser Rechtsvorschriften, also
der Richtlinie 2014/30/EU. - Wir sind zu dem Ergebnis
gekommen, dass die Richtlinie eins zu eins, also inhaltsgleich, umgesetzt wird und die Kritik insofern überzogen
ist. Die Regelungen zur Störungsbearbeitung im EMVG
sind unserer Auffassung nach fair und verstoßen gerade
nicht gegen internationales Recht.
Aber wie bei vielen anderen Gesetzen auch - da, glaube ich, haben die Amateurfunker schon recht - geht es
am Ende um die Kontrolle und die Durchsetzung von
geltendem Recht, und dafür ist die Bundesnetzagentur
verantwortlich. Wir sehen es deswegen als unsere Aufgabe an - darüber diskutieren wir immer wieder mit der
Bundesnetzagentur, zum Beispiel im Beirat -, uns dafür
einzusetzen, dass sie diese Verantwortung auch wahrnehmen kann. Dafür braucht die Bundesnetzagentur die
entsprechende technische, aber auch personelle Ausstattung - auch in den Außenstellen -, zum Beispiel für die
Bearbeitung von Störungen in der Fläche; denn die finden ja gegebenenfalls überall in der Republik statt. Hier
müssen wir die Spitze der Bundesnetzagentur beim Wort
nehmen, dass diese Außenstellen entsprechend ausgestattet werden.
Ansonsten will ich darauf hinweisen, dass wir die
Einwände des Bundesrats aufgenommen und umgesetzt
haben. Diese waren im Wesentlichen redaktioneller Art.
Aus gegebenem Anlass will ich noch darauf hinweisen, dass ich das Gesetz an einer Stelle für vorbildlich
halte - das sollte man für andere Gesetze im Hinterkopf
behalten -: In den §§ 7 bis 15 werden die Verantwortlichkeiten von Produzenten, Einführern und Händlern
von Betriebsmitteln lückenlos benannt, das heißt über
die ganze Wertschöpfungskette. Bei Unterlassungen und
Zuwiderhandlungen gibt es Bußgelder. Ich würde mir
wünschen, dass solche Verantwortlichkeiten auch in anderen Wertschöpfungsketten gesetzlich und verbindlich
geregelt werden, zum Beispiel in der Handelspolitik.
Hier, beim EMVG, geht das trotz der hohen Komplexität
vieler Geräte. Ich kann mir vorstellen, dass man das zum
Beispiel bei Rohstoffen, Textilien, um nur zwei aktuelle
Beispiele der Debatte zu nennen, auch tun sollte.
Zum EMVG. Wir sind dafür, diesen Gesetzentwurf in
zweiter und dritter Lesung mit den bedeutenden Änderungen der Koalitionsfraktionen anzunehmen, und bitten
alle um Zustimmung zu diesem Gesetz.
({1})
Vielen Dank, Klaus Barthel. - Nächster Redner: Ralph
Lenkert für die Linke.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen
und Kollegen! Sie haben leider nicht auf die Details
geachtet, zumindest bei diesem Gesetz. Hätten Sie die
EU-Richtlinie 2014/30 richtig gelesen, wäre das Gesetz
zur elektromagnetischen Verträglichkeit von Betriebsmitteln, EMVG genannt, auch im Detail gelungen. Gestatten Sie mir, die Bedeutung von Details an einem
tragischen Beispiel zu erläutern: Über 99,9 Prozent der
Raumfähre „Columbia“ funktionierten einwandfrei. Nur
ein kleines Schaumstoffteil riss beim Start ab. Das kostete sieben Menschenleben.
Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Sie legen Ihr Smartphone neben die Stereoanlage, und es pfeift unerträglich.
Das ist elektromagnetische Unverträglichkeit.
({0})
Das EMVG fordert, dass alle Betriebsmittel und Geräte
so gebaut und genutzt werden, dass sie keine ungewollten Störungen verursachen.
({1})
Gut so! Wird eine Videoüberwachung gestört, reagiert
die Bundesnetzagentur - vielleicht. - Denn laut Gesetz
kann die Bundesnetzagentur eingreifen, muss aber nicht.
Wird die Mobiltelefonie gestört, kann die Bundesnetzagentur eingreifen, muss aber nicht. Wird Ihr Radioempfang gestört, kann die Bundesnetzagentur eingreifen,
muss aber nicht. Macht die Bundesnetzagentur nichts,
bleibt den Betroffenen nur der Rechtsweg offen. Sie gehen zum Anwalt, der geht zum Gericht, aber das Gericht
kann ohne Bundesnetzagentur keinen Verursacher feststellen. Pech gehabt!
Auch der Amateurfunk wird entgegen den Vorgaben
der Europäischen Union und des Internationalen Fernmeldevertrages mit diesem Gesetz, das im Entwurf vorliegt, nicht ausreichend geschützt. Bei großen Naturkatastrophen wie Stürmen, Überschwemmung, Erdbeben
fallen oft die Kommunikationssysteme aus. Funkamateure sind oft die Ersten, manchmal die einzigen, die dann
Informationen aus den Katastrophengebieten senden.
Verlieren die Amateurfunker wegen zu starker Störungen
die Lust an ihrem Hobby, dann verlieren wir alle dieses
Notfallsystem.
So etwas kann nicht passieren, meint die Regierung.
Alle Hersteller müssen ihre Produkte so bauen, dass diese keine Störungen verursachen; denn so steht es im Gesetz. Alle Nutzer werden Geräte nur verwenden, wenn
keine Störungen entstehen; denn so steht es im Gesetz.
Und alle Pkw-Fahrer halten sich stets an die zulässige
Geschwindigkeit; denn so regelt es ein Gesetz. Falsches
Beispiel, Entschuldigung!
({2})
Die Hersteller bestätigen sich selbst, alle elektromagnetischen Grenzwerte einzuhalten; denn dies fordert das
Gesetz. Die Einhaltung der Abgasgrenzwerte von Dieselmotoren wurde von den Pkw-Herstellern auch stets bestätigt; denn so verlangte es das Gesetz. Entschuldigung,
schon wieder falsch!
Geehrte Kolleginnen und Kollegen, noch immer zu
glauben, dass Gesetze ohne Kontrollen eingehalten werden, ist naiv. Die Bundesnetzagentur muss bei Störungen
zum Handeln verpflichtet sein,
({3})
und sie muss die notwendigen materiellen und personellen Mittel dafür erhalten. Die Linke wollte deshalb
eine Anhörung vor Verabschiedung des EMVG. Warum lehnten Sie von der Union, Sie von der SPD und
Sie von den Grünen dies ab? Hatten Sie keine Lust? War
es Ihnen zu kompliziert? Oder wollten Sie einfach nur
den Schreibtisch freimachen? Ich garantiere Ihnen: Der
Bundestag wird nachsitzen müssen, entweder weil die
EU diese Mängel moniert oder Ihnen Amateurfunker
und Radiohörer aufs Dach steigen. Noch können Sie die
Mängel beheben; Sie müssen nur mit uns diese Version
des EMVG ablehnen und nachbessern.
({4})
Vielen Dank, Ralph Lenkert. - Der nächste Redner: Hansjörg Durz für die CDU/CSU-Fraktion, Augsburg-Land.
({0})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen
und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Der freie Verkehr von Waren ist einer der wesentlichen
Grundpfeiler des europäischen Binnenmarktes. Dazu gehört auch der freie Verkehr von elektrischen und elektronischen Geräten, ein Markt, der gerade auch für deutsche
Unternehmen und Verbraucher von großer Bedeutung ist.
Es hat sich gezeigt, dass das Funktionieren des Binnenmarktes für elektrische Betriebsmittel am besten durch
Regelungen auf Ebene der Europäischen Union gewährleistet wird. Eine nationale Regelung durch die jeweiligen Mitgliedstaaten ist einer gemeinsamen Regelung auf
Unionsebene weit unterlegen, da hier ein erheblich größerer Aufwand nötig wäre, um Konformität und Verträglichkeit von Geräten herzustellen. Daher ist die Regelung
ein gutes Beispiel für Subsidiarität, wie sie Artikel 5 des
Vertrages von Lissabon vorsieht.
Die Europäische Union hat bereits im Jahr 1989 eine
erste EMV-Richtlinie veröffentlicht. Mittlerweile hat
die EU die Richtlinie zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die elektromagnetische Verträglichkeit im Jahr 2014 neu gefasst, um die
Harmonisierung innerhalb Europas weiter voranzutreiben. Das Ziel ist ein möglichst störungsfreier Betrieb
aller elektrischen Geräte und Anlagen europaweit. Es
soll damit verhindert werden, dass beim Betrieb elektronischer Geräte andere Geräte in ihrer Funktionsfähigkeit
gestört werden. In Deutschland ist das Gesetz über die
elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln,
kurz: EMVG, grundlegend.
Das Gesetz, das uns heute im Entwurf vorliegt, novelliert das aus dem Jahr 2008 geltende EMVG, um den
Vorgaben der neuen EU-Richtlinie nachzukommen. Es
geht dabei in erster Linie um eine Anpassung des Gesetzes an neue Gegebenheiten. Entsprechend werden
neue Definitionen und Pflichten der Wirtschaftsakteure
aufgenommen sowie die Instrumente und Verfahren der
Markt überwachung überarbeitet und zur Harmonisierung der Verfahren an die entsprechenden Vorschriften
des Gesetzes über die Bereitstellung von Produkten auf
dem Markt angeglichen. Die grundlegende Konzeption
des EMVG mit seiner abgestuften Verantwortung einzelner Wirtschaftsakteure sowie der Privilegierung bestimmter Anwendergruppen bleibt dagegen unverändert.
Ich komme nachher darauf zurück und werde kurz auf
den Kollegen Lenkert eingehen.
Grundsätzlich ist es Ziel des EMVG, ein verträgliches
Nebeneinander der wachsenden Vielfalt elektrischer Betriebsmittel wie zum Beispiel Rasierer, Küchenmaschinen, TV-Geräte sowie Industrie- oder Breitbandkabelanlagen zu schaffen. Das EMVG erfasst daher alle Geräte,
die elektromagnetische Störfelder verursachen können,
wie zum Beispiel Netzteile, Festplatten und Lautsprecher, und alle Geräte, die solche Komponenten enthalten,
also zum Beispiel Computer, Radios, Stereoanlagen und
Fernseher.
Damit diese Geräte störungsfrei genutzt und betrieben
werden können, müssen sie bestimmte Anforderungen
erfüllen. Das EMVG regelt sowohl die Bereitstellung auf
dem Markt als auch das Lagern, Weitergeben, Ausstellen,
In-Betrieb-Nehmen und Betreiben von Betriebsmitteln.
Betriebsmittel sind Geräte und ortsfeste Anlagen, die
elektromagnetische Störungen verursachen können oder
durch elektromagnetische Ausstrahlungen gestört werden können.
Prinzipiell verfolgt das Gesetz zwei Wege, wie der
möglichst störungsfreie Betrieb von Betriebsmitteln
gewährleistet werden kann. Zum einen sollen sie so
beschaffen sein, dass sie andere Geräte und Anlagen
möglichst wenig stören. Zum anderen sollen sie selbst
zugleich von anderen Geräten möglichst wenig gestört
werden können. Dies geschieht anhand europaweit harmonisierter technischer Normen, denen die Betriebsmittel entsprechen müssen - EU-Konformität und CE-Kennzeichnung -, bevor sie auf dem Markt bereitgestellt und
betrieben werden dürfen. Zur Sicherung des freien Warenverkehrs in Europa halte ich es für absolut sinnvoll,
dass diese Anforderungen europaweit weiter harmonisiert werden.
Ich komme nun kurz auf das parlamentarische Verfahren zu sprechen. Wir haben im Wirtschaftsausschuss
einen Änderungsantrag zu vier Punkten beschlossen, den
wir heute als Beschlussempfehlung vorlegen. Dabei handelt es sich durchweg um sprachliche Klarstellungen und
Anpassungen des Gesetzestextes an die Vorgaben der europäischen Richtlinie.
Die wichtigste Änderung betrifft dabei den Absatz 4
des § 13. Darin werden Pflichten von Händlern formuliert, falls diese feststellen, dass ein von ihnen angebotenes Gerät nicht den grundlegenden Anforderungen des
EMVG entspricht. Hätten wir es bei der ursprünglichen
Formulierung des Gesetzentwurfes belassen, wäre dem
Handel eine Verpflichtung zum Abstellen eines Zustandes auferlegt worden, deren Erfüllung den Händlern
ohne Mitwirkung Dritter, wie zum Bespiel der Hersteller,
nicht möglich gewesen wäre. Die nun gefundene Formulierung stellt genau dies sicher und sorgt für Rechtssicherheit bei den Beteiligten.
Im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses haben sich
vor allem - das haben meine beiden Vorredner erwähnt die Funkamateure engagiert eingebracht. Auch wir als
Union haben uns intensiv mit ihren Forderungen auseinandergesetzt, da wir die Arbeit der rund 70 000 aktiven
Funkamateure in Deutschland wertschätzen. Dies bezieht
sich nicht zuletzt auf die Bemühungen, die zum Beispiel
vonseiten der Funkamateure unternommen werden, um
junge Menschen für Technik zu begeistern.
Nach Prüfung der eingegangenen Stellungnahmen sind
wir aber zu dem Ergebnis gekommen, dass das bestehende Instrumentarium einen sinnvollen und vor allem verhältnismäßigen Ausgleich zwischen unterschiedlichen
Interessen darstellt. Dass die gegenwärtige Regelung
funktioniert, wird nicht zuletzt durch die Statistik belegt;
denn trotz der zunehmenden Verbreitung von EMV-relevanten Produkten - sprich: Produkten, die prinzipiell
dazu neigen, als Störquelle zu fungieren - bleibt die Zahl
der Störungsmeldungen aufseiten der Funkamateure in
den letzten Jahren konstant. Es gibt also keine zusätzlichen Störungsmeldungen in diesem Bereich.
Die Zusammenarbeit der im Fall von Störungsmeldungen zuständigen Bundesnetzagentur sowie der Amateurfunker hat sich in der Praxis bewährt. Und da der
Kollege Lenkert vorhin angesprochen hat, dass dann nur
noch der Klageweg bleibt: Es gab im letzten Jahr meines
Wissens genau zwei Klagen.
Gleiches gilt für die im EMVG angelegten Ermessensspielräume für die Bundesnetzagentur bei Abwägung kollidierender Interessen. Hier ist das EMVG eindeutig und befindet sich damit in Einklang mit der neuen
Richtlinie. Sowohl der europäische Richtliniengeber als
auch der deutsche Gesetzgeber trifft eine Abwägung, in
welchen Fällen ein Betriebsmittel Vorrang vor anderen
genießt und folglich eine Anordnung gegen jenen zu ergehen hat, der als Störquelle identifiziert wird. In diesem
Sinne kann ein Vorrang insbesondere zum Schutz öffentlicher Telekommunikationsnetze und zum Schutz von
Leib oder Leben festgestellt werden. Diese Fälle - und
eben nur diese Fälle - sind bei der Störungsbeseitigung
privilegiert.
Der Amateurfunk fällt nicht unter diese Kategorie.
Hier geht es beispielsweise um Fälle, in denen ein Fernsehgerät durch seine elektromagnetische Aussendung
das Amateurfunkgerät eines Nachbarn stört. Das EMVG
gewährleistet hier auch in Zukunft, dass die Bundesnetzagentur eine Abwägung der Interessen vornimmt und in
Zusammenarbeit mit den Beteiligten hilft, eine Lösung
zu finden. In einem gemeinsamen Gespräch mit Funkern
und auch mit der Bundesnetzagentur konnte man deutlich
heraushören, dass das in den allermeisten Fällen absolut
gelingt. Dieses Vorgehen hat sich in der Praxis bewährt.
Dem Wunsch der Funkamateure, eine darüber hinausgehende Privilegierung zu erlangen, konnten wir uns aus
Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht anschließen. Wir
sind allerdings überzeugt, dass die Zusammenarbeit von
Bundesnetzagentur als zuständiger Stelle für Marktüberwachung und Störungsbearbeitung auf der einen Seite
sowie den Funkamateuren auf der anderen Seite weiter
konstruktiv sein wird und in der Praxis zufriedenstellende Lösungen gefunden werden. Um es klar zu sagen:
Durch die Neufassung des EMVG, wie wir sie heute vornehmen, findet keine Schlechterstellung des Amateurfunks im Vergleich zu seiner bisherigen Stellung statt. Es
bleibt bei der gleichen Stellung wie im EMVG aus dem
Jahre 2008.
Bei dem vorliegenden Gesetz handelt es sich um eine
nahezu inhaltsgleiche Umsetzung einer EU-Richtlinie in
nationales Recht. Ich bitte Sie um Zustimmung.
Vielen Dank.
({0})
Vielen Dank, Hansjörg Durz. - Der letzte Redner in
dieser Debatte: Dieter Janecek für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr
geehrter Herr Lenkert, auf Ihre Äußerungen möchte ich
direkt eingehen. Ich finde ja, dass Sie in diversen Debatten immer einen sehr technikverständigen und manchmal auch sehr kreativen Ansatz pflegen. So war es beim
Smart-Metering-Gesetz, wo es um das Thema Schwarmintelligenz ging, und so ist es jetzt auch. Ich finde es richtig und gut, dass Sie hier explizit auf die Einwendungen
der 70 000 Amateurfunker eingehen, weil wir sie in der
Tat ernst nehmen sollen; das tun wir auch.
Allerdings heißt das nicht zwangsläufig, dass wir dann
zur gleichen Abwägung kommen wie Sie und im Sinne
der Äußerungen bei einer Anhörung einzelne Interessen
über das Gemeinwohlinteresse stellen. Wir haben gelesen, was der Deutsche Amateur-Radio-Club e. V. über
den Runden Tisch Amateurfunk geschrieben hat. Wir
haben allerdings auch Gerichtsurteile gelesen - vom
Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Bezug
nehmend auf den Verwaltungsgerichtshof Gelsenkirchen, wo jemand versucht hat, gegen die Bundesnetzagentur zu klagen; am Ende hat das Gericht entschieden,
dass die momentanen Regelungen sachgemäß sind. Das
ist die Ausgangslage. Noch einmal das klare Signal von
hier aus: Wir schätzen es wert, was die Amateurfunker
machen, und wollen wirklich jegliche Diskriminierung
abwehren.
({0})
Aber das wird mit diesem Gesetz gewährleistet. Deswegen sind die Bedenken so nicht berechtigt.
Natürlich gibt es auch kein Recht auf Störungsfreiheit
in jeder Region Deutschlands; das ist nicht möglich, einfach aufgrund der Betriebsmittel, die wir heute haben.
Ihre Zahl wird weiter zunehmen. Vielleicht werden wir
in einigen Jahren neue Diskussionen führen müssen, weil
die Strahlungsintensität in Deutschland natürlich nicht
abnimmt; das ist so. Aber auch deswegen nehmen wir
heute eine Novellierung vor. Sie ist im Kern auch richtig.
Es ist übrigens eine europäische Richtlinie, die wir hier
im Sinne der Vereinheitlichung umsetzen wollen. Insofern ist das EMVG in der jetzigen Umsetzung im Kern
zu begrüßen.
Ich will jetzt auch gar nicht mehr im Detail ausführen,
was Sie zu den Umsetzungstatbeständen gesagt haben.
Vielleicht ganz kurz ein paar Punkte.
Entscheidend bei den Neuerungen für bestimmte
Wirtschaftsakteure ist, dass alle Akteure einer Handelskette formal als Hersteller gelten und zum Beispiel alle
Dokumente wie Betriebsanleitungen zu einem Produkt
vorhalten müssen. Damit soll gewährleistet werden, dass
sich Zwischenhändler nicht durch einen Verweis auf Produzenten in Übersee entlasten können, wenn ein Verstoß
gegen die Vorgaben des EMVG vorliegt. Ganz entscheidend ist auch, dass die Händler dadurch zur Kooperation
mit der Bundesnetzagentur als Marktüberwachungsbehörde verpflichtet sind. Das bedeutet zum Beispiel: Sobald ein Händler bei Inbetriebnahme eines Gerätes ein
Risiko feststellt, muss er unverzüglich die Bundesnetzagentur informieren. Das ist in dieser Form gut geregelt.
Wir achten, was den Amateurfunk angeht, natürlich
trotzdem darauf, dass wir hier nicht in eine Schieflage
geraten. Die ist momentan aber nicht gegeben. In diesem
Sinne sind wir bei Ihnen, dass das im Kern der richtige
Weg ist.
Danke schön.
({1})
Vielen Dank, Dieter Janecek. - Dann schließe ich die
Aussprache.
Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den von der
Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes
über die elektromagnetische Verträglichkeit von Betriebsmitteln. Der Ausschuss für Wirtschaft und Energie
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9848, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 18/8960 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
in der Ausschussfassung zustimmen wollen, jetzt um ihr
Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, und die Grünen haben sich
enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich jetzt zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Es bleibt
dabei: Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt
haben CDU/CSU und die SPD, dagegengestimmt hat die
Linke, enthalten haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
({0}) zu dem Antrag der Abgeord-
neten Jutta Krellmann, Klaus Ernst, Susanna
Karawanskij, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion DIE LINKE
Befristungen im öffentlichen Dienst stoppen
Drucksachen 18/7567, 18/8376
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Sie
sind damit einverstanden.1)
Dann kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/8376, den Antrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/7567 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? - Wer
stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU und SPD, dagegengestimmt hat die Linke, enthalten
haben sich Bündnis 90/Die Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Artikel 8 und 39 des
Übereinkommens vom 8. November 1968 über
den Straßenverkehr
Drucksache 18/8951
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr und digitale Infrastruktur
({1})
Drucksache 18/9780
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Sie
sind einverstanden.2)
Dann kommen wir jetzt zur Abstimmung. Der Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9780,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/8951 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und SPD, dagegengestimmt hat niemand, enthalten haben sich die Linken
und Bündnis 90/Die Grünen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU
und SPD, dagegen war niemand, enthalten haben sich
Bündnis 90/Die Grünen und die Linken.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz,
Bau und Reaktorsicherheit ({2}) zu
der Verordnung der Bundesregierung
Verordnung zur Umsetzung der Richtli-
nie 2014/99/EU und zur Änderung und An-
passung weiterer immissionsschutzrechtlicher
Verordnungen
Drucksachen 18/8879, 18/9129 Nr. 2.1, 18/9713
1) Anlage 5
2) Anlage 6
Auch hier sollen die Reden zu Protokoll gegeben
werden. - Sie sind damit einverstanden.3)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/9713, der Verordnung der Bundesregierung auf
Drucksache 18/8879 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? - Wer ist dagegen? - Wer enthält
sich? - Die Beschlussempfehlung ist angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU, SPD und die Linke, dagegen war niemand, enthalten haben sich Bündnis 90/Die
Grünen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Kommunalinvestitionsförderungsgesetzes und zur Änderung
weiterer Gesetze
Drucksache 18/9231
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({3})
Drucksache 18/9849
Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. - Sie
sind einverstanden.4)
Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 18/9849, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 18/9231 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. - Stimmt jemand dagegen? - Enthält sich jemand? - Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. Niemand stimmt dagegen? - Niemand enthält sich? Damit ist dieser Gesetzentwurf tatsächlich einstimmig
angenommen.
Damit sind wir am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 30. September 2016,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Wir wünschen Ihnen von
Herzen noch einen schönen Restabend.