Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie
herzlich zu unserer 200. Sitzung. Ich hoffe, dass der Jubiläumscharakter dieser Plenarsitzung mindestens die
Stimmung fördert, vielleicht auch die Tonlage besonders
freundlich stimmt.
Der Ältestenrat hat sich in seiner gestrigen Sitzung
darauf verständigt, während der Haushaltsberatungen,
die wir in unserer nächsten Sitzungswoche abschließend
durchführen, wie in den Haushaltswochen üblich, keine
Befragung der Bundesregierung, keine Fragestunde und
auch keine Aktuellen Stunden durchzuführen. Als Präsenztage sind die Tage von Montag, den 21. November
2016, bis Freitag, den 25. November 2016, festgelegt
worden. Ich vermute, dass Sie alle damit einverstanden
sind. - Ich stelle das hiermit fest. Damit ist auch der Ablauf der Haushaltswoche gesichert.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Dritte Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes
zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften
Drucksachen 18/8034, 18/8333, 18/8461
Nr. 1.5, 18/10280
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit ({0})
Drucksache 18/10056
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über den Gesetzentwurf der Bundesregierung werden
wir nachher namentlich abstimmen. Die in der zweiten Beratung am vergangenen Mittwoch beschlossenen
Änderungen des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
können Sie der Zusammenstellung in der Drucksache 18/10280 entnehmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch, also können wir so verfahren. Auf diesem Wege mache ich zumindest akustisch
den größeren Teil der Kolleginnen und Kollegen, der
noch nicht im Plenum ist, über die Lautsprecher in den
Büros vorsichtshalber darauf aufmerksam, dass wir etwa
gegen 9.40 Uhr die namentliche Abstimmung durchführen werden.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Maria Michalk für die CDU/CSU-Fraktion.
({1})
Schönen guten Morgen, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist mir eine besondere Ehre, in
dieser 200. Sitzung die erste Rede halten zu dürfen. Ich
erinnere daran, dass wir Christen heute, am 11.11., den
Martinstag begehen. Da sind Teilen und Nächstenliebe
in unserem Kopf und in unseren Ohren, und mit diesem
Duktus möchte ich gern jetzt meine Rede halten.
({0})
- In den Herzen sowieso, lieber Kollege Tino Sorge. Ich glaube, es ist wichtig, mit diesem Duktus die dritte
Lesung zu einem Gesetz zu beginnen, nämlich, kurz gesagt, der vierten AMG-Novelle, die viele Dinge beinhaltet, die uns in der zweiten Lesung sehr stark beschäftigt
haben, aber auch Einzelregelungen für den Arzneimittelmarkt und die Gesundheitspolitik insgesamt, auf die ich
dann kurz eingehen möchte.
Es ist wichtig, festzustellen, dass wir uns gerade für
dieses Gesetz, das die Umsetzung einer EU-Verordnung
darstellt, sehr viel Zeit genommen haben, uns intensivste
Beratungen - inhaltlich, auch zeitlich - genehmigt haben; das war wichtig und richtig. Deshalb liegt uns heute
eine Beschlussempfehlung vor, über die wir namentlich
abstimmen werden. Als Christin werde ich ihr guten Gewissens zustimmen; das sage ich gleich am Anfang.
Uns ist wichtig, zu sagen, dass es ein nicht alltäglich
vorkommendes Verfahren ist; denn in der Regel haben
wir die zweite und dritte Lesung in einem Block. Insofern finde ich es unfair, wenn immer noch laut gesagt
wird, dieses Gesetz sei nicht ordentlich beraten worden.
({1})
Ich stelle fest: Das kann von denjenigen im Parlament,
die bei diesem Prozess dabei waren, niemand behaupten.
({2})
Die Regeln in diesem Gesetz umfassen unter anderem
Vorgaben aus der EU-Verordnung, deren Umsetzung notwendig ist; denn wenn wir sie nicht geregelt hätten, griffe
sofort die EU-Verordnung durch, und das würde unseren
Standards, vor allen Dingen unseren ethischen Standards,
nicht entsprechen. Wir sind eines der wenigen Länder der
Europäischen Union, die dieses Recht wahrnehmen.
Ich möchte Ihnen aber trotzdem in Erinnerung rufen,
dass in diesem Gesetz ganz wichtige Dinge enthalten
sind, zum Beispiel die Regelung des Status des Apothekers; das stellen wir klar. Die Änderung der Bundes-Apothekerordnung, also im Grunde genommen der
Berufsordnung, die klare Vorgaben vorsieht, ist Bestandteil dieses Gesetzes. Das ist gerade in dieser Zeit ganz
wichtig.
Ich möchte auch darauf hinweisen: Wir haben mit
Änderungen an mehreren anderen Gesetzen die Telemedizin, die Nutzung von elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten, erlaubt und geregelt. Aber - das ist uns
mit Blick auf die Zukunft wichtig - in diesem Gesetz legen wir unter anderem auch fest, dass die Verschreibung
und die Abgabe von verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nur möglich sind, wenn zuvor wenigstens ein erster Arzt-Patienten-Kontakt stattgefunden hat. Es ist uns
wichtig, diese Vertrauensbasis zwischen Patienten und
Arzt in den Mittelpunkt zu stellen. Ansonsten können
die Möglichkeiten der modernen Kommunikation genutzt werden. Ich will aber auch darauf hinweisen, dass
Teleshopping und auch das Werben für Teleshopping in
Deutschland nicht gewünscht, nicht erlaubt sind.
Wir haben im parlamentarischen Verfahren besonders
geregelt, welche Maßnahmen im Falle von gefälschten
Arzneimitteln ergriffen werden müssen - wir denken
immer, das käme nicht vor, aber es kommt leider doch
immer wieder vor -, und sehen ein klares Rückgriffsrecht
und Verfolgungsrecht vor. Auch das ist Bestandteil des
Gesetzes.
In dem Gesetz wird noch einmal klargestellt, wie das
Verhältnis der Arbeit der Ethikkommissionen ist. Wir
haben die Bundesbehörden, und wir haben die Landesethikkommissionen, die in einem Stufenverfahren miteinander in Abstimmung stehen. Wir regeln auch, dass
von den drei Ärzten, die in diesen Ethikkommissionen
sein müssen, mindestens einer ist, der sich mit toxikologischen Dingen auskennt, und mindestens einer ist, der
Erfahrung in klinischer Forschung hat. Das ist deshalb
wichtig, weil der Kern dieses Gesetzes ja darauf abzielt:
Unter welchen Voraussetzungen sind klinische Forschungen an nicht einwilligungsfähigen Personen, die
keinen eigenen Nutzen davon haben, möglich? Einerseits
wollen wir und schaffen wir jetzt ganz strenge Verfahren
und Mechanismen, unter welchen Voraussetzungen das
in Deutschland ermöglicht wird.
Ich füge hinzu: Uns als Union ist es wichtig, dass auch
in Deutschland für Krankheiten, die wir heute kennen,
aber auch für Krankheiten, die heute in unseren Köpfen
noch nicht so präsent sind, für Stadien, die sich später
entwickeln - es ist nicht nur die Demenzerkrankung, die
im späten Stadium in unterschiedlichen Formen auftritt;
es sind auch andere Krankheiten -, Medikamente gefunden werden, die für die betroffenen Menschen eine Heilung oder eine Leidlinderung ermöglichen.
Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn Menschen
sagen: Ich habe Angehörige zu Hause oder Freunde, die
ganz schwer erkrankt sind und die in diesen Situationen
der Demenz auch das Umfeld beeinflussen; sie leben ja
in ihrer eigenen Welt. Viele sagen: Ich möchte, dass dafür
geforscht wird, damit die Krankheit abgewendet werden
kann, die Menschen geheilt werden oder zumindest die
Symptome behandelt werden können, damit die Krankheit einen menschlicheren Verlauf hat. Das ist uns wichtig.
({3})
Ich sage auch: Es ist freiwillig. Niemand muss es
machen. Selbst wenn jemand eingewilligt hat, kann er
jederzeit seine Einwilligung zurückziehen. Das kann er
auch, wenn er nicht mehr im vollen Bewusstsein seines
Geistes ist, wenn er in dieser nebulösen Welt lebt. Durch
körperliche Bewegung, durch Abwehrhaltung kann man
genau erkennen, was dem Menschen guttut und was er
nicht will.
Wir regeln, dass die betroffenen Angehörigen bzw.
Frau Kollegin Michalk.
- sofort ({0})
auch die Betreuer genau diesen Wunsch des erkrankten
Menschen zu respektieren haben. Deshalb ist es ein gutes
Gesetz. Wir senken nicht die Standards. Ich bitte herzlich
um Ihre Zustimmung.
({1})
Ich bitte um Verständnis, dass ich trotz der Jubiläumssitzung nicht jedem Redner eine deutlich erweiterte Redezeit zubilligen kann.
({0})
Die Kollegin Wöllert ist die Erste, die dieser Hinweis
trifft. Das gilt aber auch für alle nachfolgenden Redner.
Bitte schön.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident, ich gebe mir große
Mühe, diesen Hinweis zu beachten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste auf
den Zuschauertribünen! „Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften nach Europarecht“ ist ja
ein ziemlich sperriger Titel, und kaum einer kann sich
vorstellen, worüber wir denn bei diesem Tagesordnungspunkt eigentlich reden. Aber es ist etwas, was uns alle
angeht. Es geht nämlich darum: Wie wird medizinischer
Fortschritt auch künftig gesichert, und wie ist er mit dem
Schutz von Menschen in Einklang zu bringen, die an Studien teilnehmen, um diesen Fortschritt zu ermöglichen?
Um nicht mehr und nicht weniger geht es heute.
Wir haben am Mittwoch 90 Minuten zu einem Ausschnitt aus diesem Gesetz diskutiert. Es war eine der
Sternstunden der Diskussion - so stand in einer Zeitung -, weil freigegeben würde, wie sich die einzelnen
Abgeordneten verhalten. Deshalb werde ich heute auf
diesen Punkt nicht mehr eingehen. In den fünf Minuten,
die mir zur Verfügung stehen, möchte ich über die vielen
anderen wichtigen Aspekte im Gesetz sprechen, die auch
heute zur Abstimmung stehen.
({0})
Klinische Prüfungen sind immer ethisch sensibel. Das
öffentliche Interesse am medizinischen Fortschritt muss
gegen die Risiken für die Menschen, die an Versuchen
oder an Forschungsreihen teilnehmen und sich freiwillig
zur Studienteilnahme bereit erklärt haben, abgewogen
werden.
({1})
Umso wichtiger ist das Vertrauen in der Bevölkerung,
dass die Gesundheit der sogenannten Probandinnen und
Probanden - so nennt man diese Teilnehmer - nicht
unnötig aufs Spiel gesetzt wird. Ein durchweg hohes
Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
zu gewährleisten, bedeutet, dass in jedem einzelnen Fall
eine unabhängige ethische Abwägung getroffen werden
muss. Das bedeutet auch, Menschen zu gewinnen, die
freiwillig und gut informiert ihre Zustimmung zur Teilnahme an einer Studie geben.
Jede Studie, die sich mit einer anderen doppelt, ist
ethisch hochproblematisch; denn Risiken für die Studienteilnehmer und -teilnehmerinnen wären vermeidbar.
Auch aus diesem Grund ist die Forderung nach einem
umfassenden Studienregister in diesem Gesetz so wichtig.
({2})
Aber leider haben Pharmaunternehmen nach wie vor die
Möglichkeit, unliebsame Studienergebnisse der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Das ist eine verpasste Chance.
Das ist das Gegenteil von Transparenz, die für Vertrauen
unabdingbar ist.
({3})
Auch der marketingorientierte Missbrauch von Beobachtungsstudien bleibt weiter möglich und kann die klinische Forschung daher eher diskreditieren oder in Verruf
bringen, wie man so schön sagt. Das bringt für den gesamten Forschungsbereich mehr Schaden als medizinischen Fortschritt.
({4})
Durch das Gesetzgebungsverfahren hatten wir die
Chance, bekannte Missstände abzubauen und damit das
Vertrauen in die Forschung zu erhöhen. Die Änderungen
bei den Meldevorgaben begrüßen wir, doch leider lösen
sie das eigentliche Problem nicht.
Der Probandenschutz ist in Deutschland grundsätzlich gut ausgeprägt. Sicher trägt das auch dazu bei, dass
Deutschland zu den Spitzenreitern bei der Durchführung
von klinischen Studien gehört. Umso mehr müssen alle
Regelungen sehr kritisch hinterfragt werden, die das Vertrauen in die ethische Beurteilung beschädigen könnten.
Ohne Not werden in diesem Gesetz Schritte unternommen, ein gut funktionierendes System in eine problematische Richtung zu verändern. Die zustimmende Empfehlung der Ethikkommission hätte deshalb verbindlicher
Teil des Genehmigungsprozesses bleiben müssen.
({5})
Warum es eine Verordnungsermächtigung für die Einrichtung einer Bundesethikkommission geben soll, erschließt sich nun gar nicht. In der Gesetzesbegründung
wird ausgeführt, eine solche Kommission würde nur
gebraucht, wenn nicht genug Landesethikkommissionen
registriert sind. Warum, zum Teufel, trauen Sie auf einmal den bisher hervorragend arbeitenden Landesethikkommissionen nicht mehr?
({6})
Sowohl die schwächere Bindung an das Votum einer
Ethikkommission als auch die Drohkulisse der Einrichtung einer Bundesethikkommission wird die Länderethikkommissionen spürbar unter Druck setzen.
Die Regelungen, die nichtklinische Forschungen betreffen, sind aus unserer Sicht in Ordnung. Wir begrüßen
etwa das Verbot der Abgabe von Arzneimitteln über Teleshopping und die Neudefinition des Apothekerberufs.
Es lagen uns 17 Änderungsanträge der Koalition vor.
In einem Großteil davon wird die Kritik des Bundesrates
ernst genommen. Positiv hervorzuheben sind die vorgeschriebene Zusammensetzung der Ethikkommissionen,
Frau Kollegin.
- Vorgaben für die Meldung von Beobachtungsstudien
und die Möglichkeit, dass der Ethikkommission Auflagen gemacht werden.
Frau Kollegin.
Ich komme wirklich zum Schluss.
Aha.
({0})
Bei der Einbringung des Gesetzentwurfes sagte meine
Kollegin Kathrin Vogler: Es gibt hier noch viel Änderungsbedarf. - Einiges davon wurde im Gesetzgebungsverfahren umgesetzt, vieles hätten wir uns noch gewünscht. Das Glas ist nicht halb voll und nicht halb leer.
Deshalb empfehlen wir: Enthaltung.
({0})
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin StammFibich das Wort.
({0})
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und
Kollegen! Verehrte Besucher auf der Tribüne! Diese Woche steht voll und ganz im Zeichen des Themas „Arzneimittel und Gesundheit“. Ich kann mich nicht erinnern,
dass wir uns schon einmal in einer Woche so oft im Plenum zusammengefunden haben.
({0})
Wir sind fleißig: Am Mittwoch haben wir über die gruppennützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen
Erwachsenen debattiert. Ich denke - da gebe ich der
Kollegin Wöllert recht -, das war eine ordentliche und
anständige Debatte. Über die vorliegenden Änderungsanträge wurde abgestimmt. Auch ich hätte mir ein anderes Ergebnis gewünscht; aber so ist das in der Demokratie, und die Debatte stand diesem Haus gut an.
({1})
Gestern folgte die erste Lesung des Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetzes. Heute kommen wir zu Teil drei,
zur dritten Lesung des Entwurfs des Vierten Gesetzes zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften, kurz: AMG-Novelle. Auch ich finde diesen Begriff
recht sperrig.
Vieles in diesem Gesetzentwurf ist unstrittig und wird
erhebliche Verbesserungen in unserer Versorgungslandschaft mit sich bringen. Aus meiner Sicht ist die Debatte
über die gruppennützige Forschung ein gutes Beispiel
dafür, wie wichtig es ist, dass Fragestellungen nicht nur
politisch angegangen werden, sondern auch möglichst
frühzeitig gesellschaftlich debattiert werden. Ich möchte zwei Punkte aus diesem Gesetzentwurf herausgreifen,
über die es sich nachzudenken lohnt.
Laut einer aktuellen Umfrage können 94 Prozent der
Apotheker mehrmals pro Woche Medikamente nicht auftreiben. Dann heißt es auf den Zetteln an den leeren Regalfächern und in den Medikamentenlagern: Hersteller
defekt. Besonders davon betroffen sind die Impfstoffe.
Acht sind es laut einer aktuellen Liste des Paul-Ehrlich-Instituts mit Humanimpfstoffen, bei denen es Lieferengpässe gibt. Diese Liste beruht bislang auf einer
freiwilligen Meldung der Arzneimittelhersteller. Doch
Lieferengpässe können Leben gefährden; denn Krankheiten richten sich nicht nach der Verfügbarkeit von Arzneimitteln auf dem Markt.
Mit dieser AMG-Novelle schaffen wir nun die Rechtsgrundlage für mehr Transparenz über die verfügbaren
Arzneimittel. Die Ständige Impfkommission und die
medizinischen Fachgesellschaften sollen künftig Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Lieferengpässen
geben können. Das ist richtig und wichtig; denn wer
nicht weiß, was fehlt, kann auch keine Schritte zur Vermeidung von Lieferengpässen in die Wege leiten. Transparenz und die Veröffentlichung von Informationen sind
ein wichtiger Schritt, um Versorgungsengpässe künftig
zu vermeiden.
Bis zuletzt habe ich mich in der Debatte über diesen
Gesetzentwurf für die Abschaffung des Fernverschreibungsverbots eingesetzt. Ich bleibe dabei, dass ohne
Notwendigkeit eine berufsrechtliche Regelung zur Fernbehandlung in den Gesetzentwurf aufgenommen wurde. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass eine Abgabe von
verschreibungspflichtigen Arzneimitteln nicht erfolgen
darf, wenn vor der ärztlichen Verschreibung kein direkter Kontakt zwischen dem Arzt und der Person, für die
das Arzneimittel verschrieben wird, stattgefunden hat.
Hiervon darf in begründeten Fällen jedoch abgewichen
werden, insbesondere wenn die Person dem Arzt aus
vorangegangenen Kontakten hinreichend bekannt ist
und es sich um eine Wiederholung oder Fortsetzung der
Behandlung handelt. Dem Wortlaut des Gesetzentwurfs
nach muss es zunächst einen nicht definierten begründeten Ausnahmefall geben. Erst dann greift die Wiederholung oder Fortsetzung. Aus meiner Sicht kann das im Fall
einer Schmerztherapie durchaus hinderlich sein. Durch
diese Koppelung wird bereits eine leichte Dosiserhöhung
ausgeschlossen.
Die Neuregelung in § 48 Arzneimittelgesetz weitet
damit das ärztliche Berufsrecht auf weitere Leistungserbringer aus, nämlich auf die Apotheker. Sie werden so
nicht wollend zu einer Kontrollinstanz. Liebe Kolleginnen und Kollegen, kann der Apotheker an der Nasenspitze erkennen, ob ein Patient vorher beim Arzt war? Nein,
das kann er nicht. Aus meiner Sicht ist die Telemedizin
ein wichtiges Instrument zur Aufrechterhaltung, Verbesserung und Verkürzung von Versorgungswegen, gerade
vor dem Hintergrund des demografischen Handelns.
({2})
Erst vor knapp einem Jahr haben wir das E-Health-Gesetz verabschiedet und uns ausdrücklich zum Potenzial
digitaler Anwendungen für die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der Patientenversorgung bekannt. Dies ist
besonders in ländlichen Regionen von Relevanz, in denen Fahrtwege zu Ärzten und Wartezeiten zunehmend zu
Zugangshürden werden. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum dieses Verbot es ins Gesetz geschafft hat. Ich
halte dieses Verbot von Fernverschreibungen für nicht
zielführend. Ansonsten, glaube ich, dass wir mit der vierten AMG-Novelle ein gutes Gesetz gemacht haben, das
für viele Verbesserungen in diesem Land sorgen wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({3})
Das Wort hat nun die Kollegin Schulz-Asche für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hoffe, dass Sie heute Morgen
beim Frühstück den Kommentar von Jan Heidtmann in
der Süddeutschen Zeitung gelesen haben, der sich noch
einmal mit dem Thema befasst, über das wir hier am
Mittwoch namentlich abgestimmt haben, nämlich mit
der Frage, inwieweit die Forschung mit Menschen, mit
Erwachsenen, die nicht mehr einwilligungsfähig sind, erleichtert werden soll, wenn sie keinen individuellen Nutzen mehr davon haben. Die Mehrheit dieses Hauses hat
am Mittwoch ein Gesetz gebrochen: Wenn man bewährte
Gesetze hat, sollte man diese nicht ändern. Das ist hier
leider geschehen. Ich fordere Sie weiterhin auf, dafür zu
sorgen, dass das derzeitige hohe Schutzniveau, das wir
in Deutschland haben, erhalten bleibt. Ich bitte Sie, mit
Nein zu stimmen.
({0})
Nun werden einige von Ihnen sagen: Wir haben bei
uns in den Bundesländern Ethikkommissionen, die sich
ohnehin damit befassen. Sie begutachten diese ganzen
Arzneimittelstudien. Sie machen eine super Arbeit. Ihre
Kompetenzen werden durch das Gesetz noch ausgeweitet. - Aber wenn Sie das Gesetz richtig gelesen haben,
dann wissen Sie, dass die Ethikkommissionen, so wie wir
sie kennen - sie leisten vorbildliche Arbeit in allen Bundesländern -, durch dieses Gesetz entmachtet werden.
({1})
- Dann lesen Sie einmal das Gesetz. - Künftig soll das
Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte
mit einer entsprechenden Begründung vom Votum einer
Ethikkommission abweichen
({2})
und eine Studie unabhängig von der Stellungnahme und
Entscheidung einer Ethikkommission zulassen können.
Ich fordere Sie auf: Stimmen Sie heute mit Nein, damit
die Genehmigung einer klinischen Studie weiterhin von
der positiven bindenden Stellungnahme der zuständigen
interdisziplinären und unabhängigen Ethikkommission
abhängig bleibt.
({3})
Wir brauchen klinische Studien, damit der medizinische Fortschritt bei den Menschen ankommt. Aber wir
brauchen auch Vertrauen in Forschung. Das bindende
Votum von Ethikkommissionen trägt hierzu bei. Die
Ethikkommissionen haben für dieses Vertrauen gesorgt.
({4})
Mit diesem Gesetz zerstören Sie in mehrfacher Hinsicht
das Vertrauen in die Forschungslandschaft in Deutschland.
({5})
Zum Verbot von Fernbehandlungen und Fernverschreibungen hat Frau Stamm-Fibich alles gesagt.
({6})
Die Tatsache, dass die SPD an der Stelle geklatscht hat,
führt vielleicht dazu, dass Sie das Gesetz ablehnen werden.
Ich möchte noch auf ein Thema eingehen, das Sie
nicht angehen, und zwar die sogenannten Anwendungsbeobachtungen. Die Bundesregierung versäumt zum
wiederholten Male - sie lässt die Chance erneut verstreichen -, die Korruptionsanfälligkeit solcher Studien zu
beheben. Solche Studien sind intransparent in Bezug auf
die beteiligten Ärztinnen und Ärzte und auf die mögliche
Beeinflussung von Verschreibungsverhalten. Zuletzt hat
eine gemeinsame Recherche von Correctiv, NDR, WDR
und Süddeutscher Zeitung gezeigt, in welchem Ausmaß
Pharmaunternehmen mithilfe von Anwendungsbeobachtungen Einfluss auf Ärztinnen und Ärzte nehmen. Was
ist mit der Aufklärungspflicht gegenüber den Patientinnen und Patienten? Die Bundesregierung ist bisher nicht
gewillt, diese Lücke zu schließen und Transparenz bei
Anwendungsbeobachtungen zu schaffen sowie zur Gewährleistung von Patientensicherheit beizutragen.
Herr Lauterbach hat kürzlich ein Interview - es umfasst zwei Seiten - zu den Anwendungsbeobachtungen
gegeben. Es trägt die Überschrift: Das ist eine Form der
legalen Korruption.
({7})
Ich frage Sie, wie Sie hier als mitregierende Fraktion
heute einen Gesetzentwurf verabschieden wollen, in dem
Sie genau dieses Thema nicht aufgreifen, in dem Sie die
Korruptionsanfälligkeit dieser Anwendungsbeobachtungen nicht angehen. Das ist meine Frage. Auch deswegen
werden wir mit Nein stimmen.
({8})
Meine Damen und Herren, der Arzneimittelbereich ist
in großer Bewegung. Wir haben es mit vielen InnovatiMartina Stamm-Fibich
onen zu tun und stehen vor großen Herausforderungen.
Umso wichtiger ist es, dass wir die Unabhängigkeit von
Forschung und die Patientenrechte in den Mittelpunkt
stellen.
({9})
Wir sind uns der hohen Bedeutung klinischer Prüfungen bewusst. Das Gesetz zerstört aber Vertrauen, wo wir
Vertrauen brauchen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({10})
Zu einer Kurzintervention erhält Herr Lauterbach
das Wort. Machen Sie es aber bitte wirklich kurz, Herr
Lauterbach.
Weil ich erwähnt wurde, will ich zum einen darauf
hinweisen, dass ich in diesem Interview im Kölner
Stadt-Anzeiger, das angesprochen wurde, ganz konkrete
Vorschläge dazu unterbreitet habe, wie man dem Problem des Missbrauchs der Anwendungsbeobachtungen
begegnen kann. Die Legislaturperiode läuft ja noch.
Zum anderen möchte ich sagen: Das Gesetz, das wir
heute beschließen,
({0})
beschäftigt sich nicht mit dem Problem, das im Interview
angesprochen wurde.
({1})
Darin ging es nicht um dieses Problem. Es kann nicht
angehen, dass hier der Eindruck erweckt wird, als ob ich
dort das Gesetz, das wir heute auch mit meiner Stimme
beschließen werden, aufgrund von Unvollständigkeit kritisiert hätte.
Okay. - Frau Kollegin Schulz-Asche noch einmal.
Bitte schön.
Sehr geehrter Kollege Lauterbach, Sie haben recht,
dass das in dem vorgelegten Gesetzentwurf tatsächlich
nicht enthalten ist. Das habe ich gerade ja auch kritisiert.
Das Arzneimittelgesetz, das heute geändert wird, enthält allerdings die Regelungen zur Anwendungsbeobachtung, und mein Vorwurf war genau, dass Sie dieses
Thema in diesem Gesetzentwurf eben nicht aufgegriffen
haben. Deswegen werden wir mit Nein stimmen.
({0})
Ich halte das einmal als vorbildliches Beispiel für eine
Kurz-Intervention fest und empfehle das als leuchtendes
Beispiel für ähnliche Annäherungen an diese Möglichkeit unserer Geschäftsordnung.
({0})
Jetzt hat der Kollege Erich Irlstorfer für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nach gründlichen Beratungen und intensiv geführten
Debatten beschließen wir heute das Vierte Gesetz zur
Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften. Darin setzen wir unter anderem den Grundstein für
die Weiterentwicklung hochwertiger klinischer Studien.
Mit dem uns vorliegenden Gesetzentwurf nehmen wir
nicht nur beiläufig Anpassungen an die beiden EU-Verordnungen über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vor, sondern bringen wir auch richtungsweisende
Entscheidungen auf den Weg.
An dieser Stelle möchte ich allen Beteiligten parteiübergreifend noch einmal für den konstruktiven Austausch danken. Ich bin der festen Überzeugung, dass
wir mit den beschlossenen Regelungen zur gruppennützigen Forschung einen wichtigen Schritt in Richtung
Forschungsförderung getan haben, ohne unsere hohen
Schutzstandards, verehrte Kollegin Schulz-Asche, in
Deutschland zu gefährden.
({0})
Ich bitte Sie deshalb darum: Schüren Sie weder Angst
noch Verunsicherung. Ich glaube, dass ist nicht angebracht.
Gerade bei neurodegenerativen Erkrankungen wie
Demenzen entstehen bei den Betroffenen Veränderungen im Verhalten und Erleben, die in späteren Stadien oft
Angst, Agitation und Aggression mit sich bringen, also
ganz andere Erscheinungen als bei leichten Demenzen.
Aus diesem Grund bin ich der Auffassung, meine sehr
geehrten Damen und Herren, dass eine Forschung mit
ausschließlich leicht Erkrankten nicht ausreicht, weil die
Ergebnisse nicht auf die Behandlung im fortgeschrittenen Stadium anwendbar sind.
Wie die Redner, die am Mittwoch für den beschlossenen Änderungsantrag gesprochen haben, bereits klargestellt haben, werden auch in Zukunft nichteinwilligungsfähige Patienten in Deutschland nicht an fremdnützigen
Studien teilnehmen dürfen. Bei gruppennützigen Studien
wollen wir Patienten aber die Möglichkeit geben, in einem frühen Stadium selbst zu entscheiden, ob sie zum
Nutzen anderer Betroffener an ihnen teilnehmen wollen.
Und es bleibt dabei, dass nichteinwilligungsfähige Patienten zu jeder Zeit aus gruppennützigen Forschungsstudien aussteigen können, wenn sie ihren Unwillen kundtun.
({1})
Die Voraussetzungen, meine sehr geehrten Damen und
Herren, für eine solche Entscheidung der Betroffenen
sind ganz klar und auch streng geregelt, sodass wir hier
aus meiner Sicht weder ein ethisches noch ein praktisches
Problem haben. Deshalb vertreten wir diese Lösung.
Ein anderer Aspekt, der mir ein wichtiges Anliegen ist
und der in den vergangenen Tagen in der politischen Debatte etwas in den Hintergrund rückte, ist der Patientenschutz, der durch dieses Gesetz auch weiterhin gestärkt
wird. Mit der Umsetzung der AMG-Novelle setzen wir
für die Diagnose und die Indikation bei einem Menschen
einen direkten Arzt-Patienten-Kontakt voraus. Das bedeutet natürlich nicht, liebe Kollegen, dass wir uns Innovationen und der Digitalisierung im Gesundheitswesen
verschließen wollen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen in
der Telemedizin die Chance, den Zugang zu innovativen
Therapien und neuen Beratungsleistungen für Patienten
zu verbessern. Wir haben im E-Health-Gesetz aber einen
behutsameren Ansatz gewählt: Es sollen erst einmal die
notwendigen IT-Strukturen geschaffen werden, bevor der
Markt von Unternehmen aufgerollt wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, ich spreche auch in Ihrem Namen, wenn ich sage, dass die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen hinsichtlich
Dynamik, aber auch hinsichtlich des Abbaus bürokratischer Hürden noch erhebliche Ausbaupotenziale in sich
trägt. Nichtsdestotrotz bin ich der festen Überzeugung,
dass ein direkter Arzt-Patienten-Kontakt für die erste
Diagnose und medizinische Beratung eines Menschen
unabdingbar ist. Es hat seinen Grund, warum der direkte Arzt-Patienten-Kontakt jeher die Grundlage jeglicher
Therapieentscheidung war und auch bleiben wird.
Wir können auch nicht - ganz zu Recht - bei jeder
Gelegenheit die Stärkung der sprechenden Medizin fordern und dann bei so einer grundsätzlichen Frage wie der
Verschreibung von Arzneimitteln komplett auf echten
zwischenmenschlichen Kontakt und die therapeutischen
Effekte der Arzt-Patienten-Begegnung verzichten.
({2})
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit der jetzt
gefundenen Regelung stärken wir die Sicherheit der Patienten, indem wir dem Risiko der Fehldiagnosen aus der
Ferne begegnen; denn in einer Onlinevideosprechstunde
kann der Patient zwar seine Beschwerden äußern, aber
der Arzt kann diese bisher weder überprüfen noch immer mögliche Begleiterscheinungen erkennen. Wir würden als Gesetzgeber Risiken für beide Seiten billigend in
Kauf nehmen, was aus meiner Sicht äußerst fragwürdig
wäre.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, am Mittwoch
haben wir über die strittigen Punkte des Gesetzentwurfes
eine Entscheidung herbeigeführt. Die übrigen Abschnitte der AMG-Novelle halte ich für nicht kontrovers. Sie
bringen wichtige Klarstellungen der Rechtslage. Ich bitte
Sie daher um Ihre Zustimmung zu diesem Gesetz.
Herzlichen Dank.
({3})
Nächster Redner für die SPD-Fraktion ist der Kollege
Edgar Franke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst möchte ich in Richtung von Frau SchulzAsche, die die Anwendungsbeobachtungen angesprochen hat, sagen, dass wir in diesem Haus mit dem § 299a
im StGB einen eigenen Tatbestand der Bestechlichkeit
im Gesundheitswesen geschaffen haben.
({0})
Viele Tatbestände sind in diesem Paragrafen geregelt.
Das war ein Erfolg für die Lauterkeit im Gesundheitswesen.
({1})
Das möchte ich ausdrücklich hier betonen, weil es wirklich schwierig war, das auch durchzusetzen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kollegen, werden in erster Linie Anpassungen
im Arzneimittelrecht vorgenommen. Es geht um klinische Prüfungen und Humanarzneimittel. Das haben
schon mehrere gesagt, auch die Kollegin Stamm-Fibich
hat darauf hingewiesen. Ich möchte noch einmal drei Aspekte erwähnen.
Der erste Aspekt ist ein ganz wichtiger: Arzneimittelsicherheit. Mit diesem Gesetz wollen und werden
wir sicherstellen, dass ein begründeter Fälschungsverdacht ausreicht - auch Maria Michalk hat darauf hingewiesen -, um ein Arzneimittel wieder vom Markt zu
nehmen. Es ist momentan wirklich so, dass überall gefälscht wird, dass gefälschte Arzneimittelpackungen in
legale Vertriebsketten kommen, nicht in erster Linie in
Deutschland, vor allen Dingen aber in Europa. In ganz
vielen Fällen haben Kriminelle sich, teilweise sogar aus
dem Internet, Druckvorlagen von Pharmafirmen beschafft. Das ist ein Problem, das wir in der Praxis haben.
Denn mit bloßem Auge kann man die Fälschungen nicht
erkennen. Die WHO schätzt den Anteil der Fälschungen
auf 10 Prozent. Gerade in der Onkologie, wo Zytostatika eingesetzt werden, geht es um Leben und Tod; es ist
ganz wichtig, dass wir hier handeln. Wir haben eine gute
Regelung geschaffen, meine sehr verehrten Damen und
Herren, und sie wird auch wirksam sein. Denn der Rückruf ist darin ausdrücklich geregelt.
({2})
Wir packen ein weiteres Problem an. Wir alle wissen,
dass immer wieder darüber geklagt wird, dass nicht ausreichend Medikamente und gerade auch Impfstoffe zur
Verfügung stehen. Jetzt ist Herbst, und bald fängt der
Winter an. Wir schaffen insofern Transparenz, als die
Ständige Impfkommission und auch medizinische Fachgesellschaften künftig Handlungsempfehlungen geben
können. Das brauchen die Patienten; denn die Patienten
müssen sicher sein, dass sie im Krankheitsfall Medikamente bekommen; die Patienten müssen sicher sein, dass
sie mit wirksamen Impfstoffen geimpft werden. Das ist
eine wirklich gute Regelung, liebe Kolleginnen und Kollegen, die wir in den Gesetzentwurf aufgenommen haben.
({3})
Lassen Sie mich zum Schluss meiner Rede noch einmal auf einen strittigen Punkt zurückkommen: die beabsichtigte Zulassung gruppennütziger Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen. Meine sehr verehrten
Damen und Herren, der EU war bewusst, dass gerade wir
Deutschen aufgrund unserer Vergangenheit sehr sensibel
mit Forschung an Menschen umgehen müssen, die ihren
Willen nicht mehr eindeutig mitteilen können. Deshalb
hat sie auch den nationalen Parlamenten einen breiten
Spielraum eingeräumt. Seit dem Frühsommer haben
wir in diesem Hause im Ausschuss, aber auch öffentlich
ganz, ganz engagiert das Für und Wider diskutiert. Ich
finde, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Diskussionen
nicht nur in den Anhörungen im Gesundheitsausschuss
haben gezeigt, dass wir uns ernsthaft und mit Niveau und
in der Tiefe mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.
Wir haben vergangenen Mittwoch mehrheitlich entschieden - auch das hat Frau Schulz-Asche angesprochen -, dass nichteinwilligungsfähige Menschen an
gruppennützigen Studien teilnehmen können, wenn sie
im gesunden Zustand, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ihre Einwilligung zur Teilnahme erklärt haben. Dabei
setzen wir enge Grenzen, wann die Teilnahme erlaubt ist
und welche Untersuchungen im Rahmen einer solchen
Studie möglich sind.
Zunächst schreiben wir eine verpflichtende ärztliche
Aufklärung über alle Risiken einer Studienteilnahme vor.
Dann muss auch noch eine eigenständige schriftliche
Einwilligung abgegeben werden. Man kennt zwar den
Forschungsinhalt einer künftigen Studie dann noch nicht,
aber auch die Betreuer müssen später umfassend aufgeklärt werden, bevor sie für den Betreuten in die konkrete
klinische Prüfung einwilligen. Man hat also noch eine
Hürde eingebaut.
Ich glaube, meine sehr verehrten Damen und Herren,
das ist eine gute Regelung. Es ist auch eine ausgewogene
Regelung für die Wissenschaft. Für mich bedeutet diese Entscheidung, dass ich jederzeit die Möglichkeit zur
Ausübung meines Selbstbestimmungsrechtes habe, das
im Grundgesetz verankert ist. Jeder hat ja nach Artikel 2
Grundgesetz das Recht auf die freie Entfaltung seiner
Persönlichkeit. Dies ist nicht geringzuschätzen: Es ist eines der Grundrechte in unserem Grundgesetz.
({4})
Eine Beschneidung dieses Freiheitsrechts, das ganz vorne im Grundgesetz steht, muss immer - das wissen nicht
nur die Juristen - sehr gut begründet sein.
Abschließend: Meine sehr verehrten Damen und Herren, man sollte niemandem verbieten, seine Bereitschaft
zur Teilnahme an Forschungsstudien zu erklären, die das
Schicksal künftig Betroffener lindern könnte. Deswegen
ist das ein guter und ausgewogener Gesetzentwurf, dem
man wirklich zustimmen kann.
Ich danke Ihnen.
({5})
Der letzte Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist
der Kollege Stephan Albani für die CDU/CSU-Fraktion.
({0})
Ich bitte noch einen Augenblick um Aufmerksamkeit,
bis wir dann zu den Abstimmungen über den Gesetzentwurf kommen. - Bitte schön, Herr Kollege Albani.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste auf den Tribünen! Als ich vor einigen Tagen erfuhr,
dass ich heute den letzten Redebeitrag zu dieser Debatte
leisten darf, war ich voller Sorge. Voller Sorge nicht deswegen, weil es immer hart ist, vor einer namentlichen
Abstimmung gegen den allgemeinen Störlärm anzureden. Nein, das war nicht meine Sorge. Meine Sorge war:
Über welchen Gesetzentwurf wird hier heute debattiert?
Vor Ihnen steht nicht nur ein Wissenschaftspolitiker,
der in der heutigen Gesundheitsdebatte sprechen darf,
sondern vor Ihnen steht auch - ich bekenne das - ein
Wissenschaftler, der in seinem Leben zahllose Ethikanträge gestellt hat. Wir haben Experimente mit Menschen
gemacht, glücklicherweise oder einfacherweise für mich
in Bereichen, wo die Patienten einwilligungsfähig waren,
nämlich im Bereich der Fehlhörigkeit. Aber das Ziel der
Wissenschaft ist am Ende, zu heilen. Wir wollen die großen Geißeln der Menschheit überwinden. Insofern habe
ich, als ich überlegte, was ich an dieser Stelle sagen kann,
mich entschieden: Ich möchte genau auf diese Zielsetzung eingehen.
Wir haben eine gute Debatte geführt. Wir haben am
Mittwoch ordentliche Argumente ausgetauscht. Aber es
kamen zwei Dinge vor, derentwegen ich nun konkreter
werden möchte.
Das eine war: Es wurde davon gesprochen, dass Alzheimer-Demenz irreversibel ist. Nach heutiger Kenntnis
ist das so. Aber vor 50 Jahren war auch Taubheit unüberDr. Edgar Franke
windbar. Heute ist nur eine Routineoperation notwendig, um Taube wieder hörend zu machen. Wir können
in Kürze Blinde wieder sehend machen. Wir wollen in
Zukunft solche Geißeln wie Tuberkulose und Kinderlähmung überwinden. So muss es auch das Ziel sein, Alzheimer-Demenz und andere neurodegenerativen Krankheiten zu heilen.
({0})
Wenn wir das tun wollen, dann brauchen wir auch die
Möglichkeit, Studien mit Patienten durchzuführen, die
zum Zeitpunkt der Studiendurchführung nicht mehr einwilligungsfähig sind.
({1})
Es hieß dann am Mittwoch - das war das andere, was
mir aufgefallen ist -, dass, wenn wir das durch das Gesetz
zulassen, Menschen zu medizinischen Versuchsobjekten
gemacht werden. Bei dieser Aussage wird im Deutschen
der passive Aspekt betont: Wir machen die Menschen zu
etwas. - Das ist unwahr. Die Patienten bzw. die Menschen haben zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch im
Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind, die Möglichkeit,
selbst zu entscheiden, ob sie an solchen Studien teilnehmen.
Im Prinzip gibt es zwei Zielgruppen. Die einen sagen:
Okay, ich kenne aus meinem eigenen Umfeld Menschen,
die an der gleichen Krankheit wie ich leiden. Ich selbst
bin noch in einem leichten Stadium der Erkrankung. Deshalb möchte ich mich zur Teilnahme an einer entsprechenden Studie bereit erklären. - Andere sagen so wie
ich: Ich kenne Wissenschaft, ich weiß, wie sie betrieben
wird und dass ich von ihr nicht missbraucht werde. Also
bin ich dazu bereit.
Selbst dann sagen wir: Nein, das reicht nicht. Du bekommst noch eine medizinische Aufklärung darüber, was
mit dir geschehen kann. Du kannst Dinge ausschließen,
du kannst Dinge für Dich nicht in Anspruch nehmen, du
kannst das frei entscheiden. - Wenn danach jemand in
Kenntnis all dieser Dinge sagt: „Ich entscheide mich dafür“, dann ist das eine Sache der Selbstbestimmung. Dafür muss eine Probandenerklärung unterschrieben werden, die genau dies beinhaltet. Die Form für diese muss
jetzt noch erarbeitet werden, damit sie diesem Anspruch
genügt.
({2})
Ich bin der Meinung, mit der Frage der Gruppennützigkeit ist auch die Frage des Altruismus verbunden: Mir
kommt es nicht darauf an, dass es mir hilft. Für mich ist
es völlig in Ordnung, wenn es den nächsten Generationen, meinen Kinder oder anderen, hilft; dafür stelle ich
mich zur Verfügung. - Das generell ist ein Bestandteil
klinischer Studien; denn man kann im Vorhinein niemals hundertprozentig sagen, dass es einem Probanden
nutzt. „Eigennützig“ bedeutet in diesem Fall, dass davon
ausgegangen wird, dass es dem Probanden nutzt. Aber
Wissenschaft und Forschung beinhalten immer auch die
Möglichkeit, dass dies danebengeht.
Diese Debatte haben wir - das möchte ich allen Beteiligten sagen - in weiten Teilen stilvoll und auf vernünftige Art und Weise geführt. Es waren auch geschichtliche
Repliken dabei. Ich möchte an dieser Stelle sagen: Ja,
wir haben in Deutschland vor dem Hintergrund unserer
Geschichte eine besondere Verantwortung, mit diesem
Thema sensibel umzugehen. Wir haben nicht nur in der
Gegenwart, sondern zu allen Zeiten die Verpflichtung,
mit den Menschen, die unseres Schutzes bedürfen, verantwortungsvoll umzugehen. Aber wir haben auch die
Verantwortung für die Gesundheit zukünftiger Generationen. Die nun vorliegende Regelung hilft uns explizit,
diese Verantwortung wahrzunehmen.
Danke schön.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen damit zur
Schlussabstimmung
über den von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Änderung arzneimittelrecht-
licher und anderer Vorschriften. Wir stimmen nun über
den Gesetzentwurf auf Verlangen der Fraktionen der
CDU/CSU und SPD namentlich ab. Ich bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Plätze
einzunehmen. - An mehreren Abstimmungsurnen fehlen
insbesondere noch Vertreter der Opposition. - Sind die
Plätze an den Urnen jetzt besetzt? - Das ist der Fall. Da-
mit eröffne ich die Abstimmung und weise darauf hin,
dass mir zahlreiche persönliche Erklärungen nach § 31
unserer Geschäftsordnung zu dieser Abstimmung vorlie-
gen, die wir, einer guten Übung folgend, dem Protokoll
beifügen.1)
Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das sei-
ne Stimme nicht abgegeben hat? - Jawohl. Das sind er-
schöpfte Haushälter, die unmittelbar nach Beendigung
der Bereinigungssitzung soeben noch mit hängender
Zunge die Abstimmungsurnen erreichen. - Weitere Be-
wegungen sehe ich hier im Plenarsaal aber nicht. Ich
frage noch einmal: Ist noch jemand da, der wegen gleich-
zeitiger Staatsgespräche den Zeitpunkt verpasst, an dem
die Urnen geschlossen werden? - Dann schließe ich jetzt
die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen und
Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Das Er-
gebnis der Abstimmung teilen wir Ihnen später mit.2)
Wir kommen jetzt zu dem Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksa-
che 18/10292. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit
ist der Entschließungsantrag mit der Mehrheit der Koa-
lition bei Enthaltung der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 c
auf:
1) Anlagen 2 bis 4
2) Ergebnis Seite 20006 C
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Nationaler Bildungsbericht -
Bildung in Deutschland 2016
und Stellungnahme der Bundesregierung
Drucksache 18/10100
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({0})
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss Digitale Agenda
Haushaltsausschuss
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zum Anerkennungsgesetz 2016
Drucksache 18/8825
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({1})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss Digitale Agenda
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Özcan
Mutlu, Kai Gehring, Beate Walter-Rosenheimer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationaler Bildungsbericht - Bildungsinstitutionen zukunftsfest machen - Für eine gerechte und soziale Gesellschaft
Drucksache 18/10248
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung ({2})
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Das findet
offenkundig Zustimmung. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Xaver Jung für die CDU/CSU.
({3})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gute Bildung ist ein Menschenrecht und darüber hinaus das wichtigste Kapital unseres Landes. Sie ist eine
gesellschaftliche Notwendigkeit.
({0})
- Ja, da muss man klatschen. - Wir wollen jedem Kind
und jedem Erwachsenen in Deutschland die bestmöglichen Bildungschancen eröffnen, unabhängig von seiner
Herkunft und seinen materiellen Möglichkeiten.
Gute Bildung - das heißt für uns mehr als notwendige Allgemeinbildung. Wir müssen gut auf das spätere
Berufsleben vorbereiten. Wir wollen Aufstieg durch Bildung ermöglichen. Wir stehen dabei für eine Vielfalt an
Bildungsangeboten, auch beim lebenslangen Lernen.
Meine Damen und Herren, zum sechsten Mal wird
uns mit dem aktuellen Bildungsbericht eine umfassende
empirische Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens vorgelegt. Wir haben damit eine wertvolle Datenbasis für Bund und Länder, um weiter die Qualität
des Bildungsangebotes zu verbessern. Dafür vorweg ein
herzliches Dankeschön an die Autorengruppe.
({1})
Ich danke an dieser Stelle auch allen relevanten Bildungsakteuren: Erziehern, Lehrerinnen, Dozenten, Professorinnen und nicht zuletzt den Eltern.
({2})
Der Bericht reicht von der frühkindlichen Erziehung
über den Schulbereich, die berufliche Ausbildung und die
Hochschule bis zu den verschiedenen Formen der Weiterbildung im Erwachsenenalter. In diesem Jahr lautet
das Schwerpunktthema: Bildung und Migration.
Wie bereits im OECD-Bericht wird uns wieder ein positives, ein hervorragendes Zeugnis ausgestellt.
({3})
Bildungsstand und Bildungsbeteiligung sind über einen
längeren Zeitraum kontinuierlich gewachsen und haben
sich positiv entwickelt. Das ist das Ergebnis einer Vielzahl positiver Entwicklungen in allen Bildungsbereichen.
Das ist doch prima. Darüber können wir uns doch freuen.
({4})
Wir Mitglieder im Bildungsausschuss sind ja da meist
von ruhiger Sachlichkeit. Aber wenn es solch positive Ergebnisse gibt, können wir uns auch gerne einmal freuen.
Die Bildungsausgaben des Bundes lagen 2015 gut
80 Prozent über dem Wert von 2008. Dafür haben wir
gesorgt, und darauf sind wir stolz.
({5})
Meine Damen und Herren, wir wissen: Hochwertige
Bildung beginnt in frühen Kindesjahren. Wir fördern seit
vielen Jahren die Kitas. So freut uns, dass wir 2015 einen neuen Höchststand an pädagogischen Fachkräften
verzeichnen können. Wir müssen noch an den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte arbeiten; da sind die Länder
dann gefordert.
({6})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Aber nicht nur der quantitative, sondern auch der qualitative Ausbau der Kindertagesbetreuung ist wichtig.
Hier müssen wir die Lese- und Sprachförderung weiter
ausbauen.
Wir freuen uns, dass die Bildungsbeteiligung der unter Dreijährigen um weitere 3,6 Prozentpunkte auf nunmehr 32,9 Prozent gestiegen ist. Das ist ein guter Zwischenschritt. Auch der Ausbau von Betreuungsplätzen
für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr muss
weiter vorangetrieben werden. Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern müssen bereits im Kindergartenalter besser gefördert werden. Programme wie „Kultur macht stark“ oder
„Lesestart“ der Stiftung Lesen sind hierfür ein richtiger
Ansatz.
Der Bericht bestätigt einen kontinuierlich voranschreitenden Ausbau der Ganztagsangebote in allen Schularten. Das freut uns. Wir sind jetzt schon bei 60 Prozent.
Das muss noch mehr werden.
({7})
Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund haben aufgeholt. Sie konnten ihre Lesekompetenzen bei PISA deutlich verbessern. Immer weniger
Jugendliche verlassen die Schule ohne Hauptschulabschluss. Der Anteil der Schülerinnen und Schüler ohne
Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent 2006 auf
5,8 Prozent in 2014 reduziert. Das sind doch alles gute
Nachrichten.
({8})
Die Situation von Schulabgängerinnen und Schulabgängern bei der Ausbildungsplatzsuche hat sich ebenfalls
deutlich und kontinuierlich verbessert. 686 000 junge
Menschen nahmen 2015 eine duale oder überbetriebliche
Ausbildung auf. Der Rest Europas beneidet uns darum,
auch um unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
({9})
Unser wichtiges und einzigartiges duales Ausbildungssystem trägt weiterhin gute Früchte. Besonders
viele junge Menschen arbeiten nach ihrer Ausbildung direkt im gelernten Beruf, meist sogar im Ausbildungsbetrieb selbst. In Problemfällen brauchen wir individuelle
Unterstützung. Unsere Initiative Bildungsketten bietet da
den richtigen Ansatz.
({10})
Die Übernahmequoten nach erfolgreichem Ausbildungsabschluss sind in den ostdeutschen Ländern gestiegen
und nähern sich langsam den westdeutschen Zahlen. Das
freut nicht nur die Menschen in Ostdeutschland.
2014 erhielten 41 Prozent der Absolventinnen und Absolventen an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es nur
29,6 Prozent. Die Studienanfängerzahlen haben damit
erneut über den von uns geplanten Zahlen gelegen; im
Grunde keine schlechte Sache.
Der Anteil der Personen mit Hochschulzugangsberechtigung oder Studienabschluss ist weiter gestiegen. Im Bereich der Promotionen sind wir sogar spitze in Europa. Da kann man auch mal klatschen; das muss man sogar.
({11})
Gute Nachrichten gibt es auch im Bereich der Weiterbildung. Die Gesamtteilnahmequote ist auf 51 Prozent
im Jahr 2014 angestiegen und liegt damit über dem von
der Bundesregierung gesetzten Ziel. Auch in den Bereichen Migration und Integration werden Erfolge bestätigt;
dazu werden nachher meine Kollegen noch etwas sagen.
Ich könnte noch lange weitere positive Nachrichten
aufzählen. Leider lässt das die Redezeit nicht zu.
Meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass es
nicht noch besser werden könnte. Das gilt selbstverständlich ganz besonders für unser Bildungssystem in
Deutschland - ein System, das von vielen als zu kompliziert und unübersichtlich kritisiert wird, andernorts dagegen als ideologisch einseitig wahrgenommen wird, ein
System, das einerseits als verstaubt, andererseits aber als
zu experimentierfreudig kritisiert wird. Dennoch hält der
Bericht die vielfältigen Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen für geeignet, das Bildungsniveau
in Deutschland weiter zu verbessern.
Den Bundesländern hat der Bericht die Aufgabe aufgetragen, die regionalen Ungleichheiten auszugleichen
und die Erreichbarkeit von Bildungseinrichtungen für
Bildungsangebote vor allem im ländlichen Raum zu ermöglichen. „Kurze Beine - kurze Wege“ muss hier der
Leitsatz sein.
Ebenso brauchen Kinder und Jugendliche aus Risikolagen eine besondere Förderung. So ist es trotz erkennbarer Fortschritte leider noch nicht gelungen, den engen
Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachhaltig aufzubrechen.
Die Stellungnahme des Kabinetts zum Bericht hebt
hervor, dass man folgende Handlungsfelder ausgemacht
hat: einen weiteren Ausbau und bessere Qualität in der
frühen Bildung schaffen, mehr Chancengerechtigkeit
durch bessere Bildung erreichen, Berufsausbildung stärken, Übergänge verbessern, Attraktivität und Qualität des
Hochschulstudiums sichern sowie Weiterbildung stärken
und transparent gestalten.
Wir sehen: Die Regierung kennt die Herausforderungen. Selbstverständlich werden wir als CDU/CSU-Fraktion die Regierung auf ihrem weiteren Weg gern aktiv
und konstruktiv begleiten. Auch für uns steht weiterhin die Qualität des Bildungsangebots im Vordergrund.
Wenn wir es jetzt noch schaffen, die regionalen Bildungsungleichheiten zwischen den einzelnen Bundesländern durch vergleichbare Abschlüsse, durch vergleichbare Lernleistungen auszugleichen und wenn der Abschluss
in Deutschland irgendwann in allen Bundesländern von
der Qualität her gleichwertig ist, dann wird sich auch in
der Bevölkerung Enthusiasmus in Bezug auf unser Bildungssystem zeigen.
({12})
Ich bin sicher, wenn wir all das, was wir geplant haben, umsetzen, dann werden wir uns auch beim nächsten
Bericht wieder so wie heute freuen dürfen.
Vielen Dank.
({13})
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort gebe,
möchte ich gern das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Änderung arzneimittelrechtlicher und
anderer Vorschriften bekannt geben: abgegebene Stimmen 542. Mit Ja haben gestimmt 357, mit Nein haben
gestimmt 164. 21 Kolleginnen und Kollegen haben sich
der Stimme enthalten. Damit ist der Gesetzentwurf angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 543;
davon
ja: 358
nein: 164
enthalten: 21
Ja
CDU/CSU
Katrin Albsteiger
Artur Auernhammer
Norbert Barthle
Günter Baumann
Maik Beermann
Manfred Behrens ({0})
Sybille Benning
Dr. André Berghegger
Dr. Christoph Bergner
Ute Bertram
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexandra Dinges-Dierig
Alexander Dobrindt
Michael Donth
Marie-Luise Dött
Hansjörg Durz
Dr. Bernd Fabritius
Hermann Färber
Uwe Feiler
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer ({1})
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Thorsten Frei
Dr. Astrid Freudenstein
Dr. Hans-Peter Friedrich
({2})
Michael Frieser
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Ursula Groden-Kranich
Hermann Gröhe
Klaus-Dieter Gröhler
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Oliver Grundmann
Monika Grütters
Dr. Herlind Gundelach
Fritz Güntzler
Olav Gutting
Christian Haase
Florian Hahn
Rainer Hajek
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Mark Hauptmann
Dr. Stefan Heck
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich ({3})
Mark Helfrich
Jörg Hellmuth
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Dr. Heribert Hirte
Robert Hochbaum
Alexander Hoffmann
({4})
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Dr. Hendrik Hoppenstedt
Margaret Horb
Charles M. Huber
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Sylvia Jörrißen
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Steffen Kanitz
Alois Karl
Anja Karliczek
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Ronja Kemmer
Roderich Kiesewetter
Dr. Georg Kippels
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Markus Koob
Carsten Körber
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Roy Kühne
Günter Lach
Uwe Lagosky
Dr. Dr. h.c. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Barbara Lanzinger
Paul Lehrieder
Dr. Katja Leikert
Dr. Philipp Lengsfeld
Philipp Graf Lerchenfeld
Antje Lezius
Matthias Lietz
Andrea Lindholz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Wilfried Lorenz
Dr. Claudia Lücking-Michel
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Yvonne Magwas
Thomas Mahlberg
Dr. Thomas de Maizière
Gisela Manderla
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer ({5})
Reiner Meier
Jan Metzler
Dr. h.c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Karsten Möring
Marlene Mortler
Volker Mosblech
Elisabeth Motschmann
Carsten Müller
({6})
Stefan Müller ({7})
Dr. Philipp Murmann
Dr. Andreas Nick
Michaela Noll
Helmut Nowak
Dr. Georg Nüßlein
Wilfried Oellers
Florian Oßner
Dr. Tim Ostermann
Henning Otte
Ingrid Pahlmann
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Kerstin Radomski
Alexander Radwan
Alois Rainer
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Johannes Röring
Kathrin Rösel
Dr. Norbert Röttgen
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer ({8})
Dr. Wolfgang Schäuble
Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Jana Schimke
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Christian Schmidt ({9})
Gabriele Schmidt ({10})
Patrick Schnieder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Dr. Klaus-Peter Schulze
Armin Schuster ({11})
Christina Schwarzer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Tino Sorge
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Dr. Wolfgang Stefinger
Albert Stegemann
Peter Stein
Sebastian Steineke
Christian Frhr. von Stetten
Dieter Stier
Rita Stockhofe
Gero Storjohann
Max Straubinger
Matthäus Strebl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Sabine Sütterlin-Waack
Antje Tillmann
Astrid Timmermann-Fechter
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Oswin Veith
Thomas Viesehon
Michael Vietz
Volkmar Vogel ({12})
Sven Volmering
Christel Voßbeck-Kayser
Kees de Vries
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Karl-Heinz Wange
Nina Warken
Dr. h.c. Albert Weiler
Marcus Weinberg ({13})
Dr. Anja Weisgerber
Sabine Weiss ({14})
Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Marian Wendt
Waldemar Westermayer
Kai Whittaker
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Heinz Wiese ({15})
Elisabeth WinkelmeierBecker
Oliver Wittke
Dagmar G. Wöhrl
Tobias Zech
Heinrich Zertik
Gudrun Zollner
SPD
Niels Annen
Ingrid Arndt-Brauer
Ulrike Bahr
Bettina Bähr-Losse
Heinz-Joachim Barchmann
Dr. Katarina Barley
Doris Barnett
Dr. Matthias Bartke
Bärbel Bas
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding ({16})
Burkhard Blienert
Dr. Karl-Heinz Brunner
Dr. h.c. Edelgard Bulmahn
Jürgen Coße
Petra Crone
Bernhard Daldrup
Sabine Dittmar
Martin Dörmann
Dr. h.c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Saskia Esken
Dr. Johannes Fechner
Dr. Fritz Felgentreu
Elke Ferner
Christian Flisek
Gabriele Fograscher
Ulrich Freese
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Ulrike Gottschalck
Bettina Hagedorn
Rita Hagl-Kehl
Hubertus Heil ({17})
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Thomas Hitschler
Christina Jantz-Herrmann
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Ralf Kapschack
Gabriele Katzmarek
Ulrich Kelber
Marina Kermer
Cansel Kiziltepe
Dr. Bärbel Kofler
Helga Kühn-Mengel
Christine Lambrecht
Christian Lange ({18})
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Dr. Matthias Miersch
Susanne Mittag
Thomas Oppermann
Christian Petry
Detlev Pilger
Sabine Poschmann
Joachim Poß
Florian Post
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Dr. Simone Raatz
Mechthild Rawert
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Petra Rode-Bosse
René Röspel
Michael Roth ({19})
Bernd Rützel
Johann Saathoff
Axel Schäfer ({20})
Dr. Nina Scheer
Carsten Schneider ({21})
Swen Schulz ({22})
Frank Schwabe
Stefan Schwartze
Andreas Schwarz
Rita Schwarzelühr-Sutter
Rainer Spiering
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Claudia Tausend
Dr. Karin Thissen
Carsten Träger
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dirk Vöpel
Bernd Westphal
Dagmar Ziegler
Stefan Zierke
Dr. Jens Zimmermann
Manfred Zöllmer
Nein
CDU/CSU
Veronika Bellmann
Michael Brand
Thomas Dörflinger
Iris Eberl
Jutta Eckenbach
Matthias Hauer
Bettina Hornhues
Hubert Hüppe
Kordula Kovac
Dr. Andreas Lenz
Matern von Marschall
Dr. Michael Meister
Julia Obermeier
Sylvia Pantel
Martin Patzelt
Josef Rief
Uwe Schummer
Dr. Patrick Sensburg
Peter Weiß ({23})
Klaus-Peter Willsch
SPD
Rainer Arnold
Heike Baehrens
Willi Brase
Martin Burkert
Dr. Lars Castellucci
Siegmund Ehrmann
Michaela Engelmeier
Dr. Ute Finckh-Krämer
Dagmar Freitag
Angelika Glöckner
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Metin Hakverdi
Ulrich Hampel
Sebastian Hartmann
Michael Hartmann
({24})
Dirk Heidenblut
Gabriela Heinrich
Marcus Held
Heidtrud Henn
Dr. Eva Högl
Frank Junge
Josip Juratovic
Thomas Jurk
Arno Klare
Lars Klingbeil
Daniela Kolbe
Birgit Kömpel
Dr. Hans-Ulrich Krüger
Burkhard Lischka
Hiltrud Lotze
Klaus Mindrup
Bettina Müller
Detlef Müller ({25})
Michelle Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Mahmut Özdemir ({26})
Jeannine Pflugradt
Achim Post ({27})
Martin Rabanus
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dennis Rohde
Dr. Martin Rosemann
Sarah Ryglewski
Annette Sawade
Dr. Hans-Joachim
Schabedoth
Marianne Schieder
Udo Schiefner
Dr. Dorothee Schlegel
Ulla Schmidt ({28})
Matthias Schmidt ({29})
Dagmar Schmidt ({30})
Elfi Scho-Antwerpes
Ursula Schulte
Ewald Schurer
Norbert Spinrath
Svenja Stadler
Kerstin Tack
Michael Thews
Franz Thönnes
Gabi Weber
Dirk Wiese
Waltraud Wolff ({31})
Gülistan Yüksel
DIE LINKE
Jan van Aken
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Eva Bulling-Schröter
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Wolfgang Gehrcke
Dr. André Hahn
Heike Hänsel
Inge Höger
Andrej Hunko
Sigrid Hupach
Kerstin Kassner
Jutta Krellmann
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Dr. Gesine Lötzsch
Birgit Menz
Cornelia Möhring
Dr. Alexander S. Neu
Dr. Kirsten Tackmann
Azize Tank
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Hubertus Zdebel
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Volker Beck ({32})
Agnieszka Brugger
Ekin Deligöz
Katharina Dröge
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Matthias Gastel
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Christian Kühn ({33})
Renate Künast
Steffi Lemke
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Peter Meiwald
Beate Müller-Gemmeke
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Tabea Rößner
Corinna Rüffer
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Wolfgang StrengmannKuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Dr. Julia Verlinden
Doris Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Enthalten
CDU/CSU
Jens Koeppen
Dr. Silke Launert
SPD
Martina Stamm-Fibich
Brigitte Zypries
DIE LINKE
Dr. Dietmar Bartsch
Karin Binder
Christine Buchholz
Roland Claus
Klaus Ernst
Susanna Karawanskij
Katrin Kunert
Caren Lay
Thomas Lutze
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Birgit Wöllert
({34})
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Dr. Valerie Wilms
Abgeordnete, die sich wegen gesetzlichen Mutterschutzes für ihre Abwesenheit entschuldigt haben, sind in der Liste der
entschuldigten Abgeordneten ({35}) aufgeführt .
Nächste Rednerin ist die Kollegin Rosemarie Hein für
die Fraktion Die Linke.
({36})
Vielen Dank. - Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Gäste! Herr Jung hat eben ein Loblied
auf den Bildungsbericht und die vermeintlichen oder tatsächlichen Bildungsfortschritte gesungen. Ich habe den
Bericht anders gelesen.
({0})
Es gibt auch in diesem Jahr sehr viel Grund zu kritischem Nachfragen; der Bericht enthält auch sehr viel
Kritisches. Ich kann nur auf einige wenige Befunde eingehen.
In ihrem Bericht betont die Bundesregierung, dass
sich Investitionen in die Bildung auszahlen. Das stimmt
ohne Zweifel. Sie wollten ja eigentlich 10 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung ausgeben. In dem Bildungsbericht wird nun festgestellt, dass
Sie dieses Ziel auch 2014 nicht erreicht haben. Da fehlen allein über 26 Milliarden Euro, die Bund und Länder
mehr hätten ausgeben müssen.
({1})
Das sind Bund und Länder den Menschen in diesem Lande schuldig geblieben. Selbst das würde nicht ausreichen,
um eine auskömmliche Bildungsfinanzierung sicherzustellen. Allein 34 Milliarden Euro fehlen für die Investitionen in Schulgebäude. Das ist keine Zahl, die die Linken
irgendwie zusammengerechnet haben, sondern eine Feststellung der KfW-Bankengruppe aus einer Studie vom
September dieses Jahres.
Nun ist der Schulbau zwar eine kommunale Aufgabe, aber die Kommunen können das offensichtlich nicht
stemmen.
({2})
Sie tragen ohnehin einen deutlich höheren Anteil als der
Bund an der gesamten Bildungsfinanzierung, nämlich
29 Milliarden Euro, während der Bund 19 Milliarden
Euro trägt. Auch das muss man einmal zur Kenntnis nehmen.
({3})
- Dann wollen wir sie doch einmal ändern. Auch das ist
ein Weg.
({4})
Die Folge ist, dass viele Schulen in unserem Land
unsaniert bleiben und - noch schlimmer - dass viele öffentliche Schulen in der Fläche verschwinden. In der Not
entstehen dort Privatschulen, damit es vor Ort überhaupt
noch ein Schulangebot gibt.
Bildung aber ist eine Aufgabe der öffentlichen Daseinsvorsorge. Dazu gehört eine ordentliche Bildungsinfrastruktur. Wenn Sie jetzt beschließen, sozusagen rückwirkend noch einmal 3,5 Milliarden Euro in den Schulbau
zu geben, dann ist das sicherlich eine schöne Sache, und
die Kommunen werden sich freuen. Aber es hilft nicht,
diesen Investitionsstau aufzulösen. Dazu brauchen wir
eine Gemeinschaftsaufgabe Bildung im Grundgesetz.
({5})
Nicht nur bei Schulen gibt es diesen Bedarf, den wir hier
decken müssen.
Das größte Problem für das deutsche Bildungssystem
ist nach wie vor die große Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft. Das ist kein neuer
Befund. Aber man gewinnt den Eindruck, die Bundesregierung gewöhnt sich langsam daran. Aus der Stellungnahme geht hervor: Es wird analysiert, geforscht, verstetigt, aber viel Neues gibt es nicht.
Kinder aus einem Akademikerhaushalt haben immer
noch um ein Vielfaches bessere Chancen, zum Abitur zu
gelangen. Sie beginnen deutlich häufiger ein Hochschulstudium und erreichen öfter den Masterabschluss. Absolventen mit einem Master haben bessere Beschäftigungschancen in ihrem Fachgebiet als Bachelorabsolventen;
all das kann man im Bildungsbericht nachlesen. Aber es
gibt zu wenige Masterstudiengänge, um überhaupt jedem
Bachelorabsolventen den Master zu ermöglichen. Auch
hier ist die soziale Disparität, die soziale Ausgrenzung
offensichtlich.
({6})
- Ja, das ist nicht Ihre Idee, unsere aber schon.
({7})
Die soziale Ausgrenzung durchzieht alle Bildungsbereiche. Besonders deutlich wird das bei der Armut von
Kindern. Eines von vier Kindern wächst unter Bedingungen mindestens einer von drei Risikolagen auf. Das
heißt, die Eltern sind entweder arbeitslos, oder sie haben
einen niedrigen Bildungsabschluss, oder sie sind schlicht
und ergreifend arm. Vor allem die Zahl armer Familien
mit Kindern ist gegenüber dem Vorjahr angewachsen.
Fast 19 Prozent der Kinder unter 18 Jahren sind davon
betroffen. Meine Damen und Herren, das ist ein Ergebnis
Ihrer Niedriglohnpolitik
({8})
und nicht ein Ergebnis schlechter Bildungspolitik.
({9})
Darunter leiden diese Familien; denn deshalb sind auch
die Bildungschancen ihrer Kinder deutlich schlechter. Es
geht eben nicht nur um Defizite in der Bildungspolitik,
sondern auch um Defizite in der Gesellschaftspolitik.
Hier müssen wir genauso etwas ändern wie im Schulsystem.
({10})
Präsident Dr. Norbert Lammert
Von den Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren haben 1,6 Millionen keinen Berufsabschluss, und die meisten von ihnen werden ihn auch nicht nachholen; auch das
geht aus dem Bildungsbericht hervor. Die vorhandenen
Förderprogramme des Bundes und der Bundesagentur
für Arbeit bieten dafür offensichtlich keine Gewähr. Aber
ein grundlegendes Umdenken findet nicht statt.
Noch schwieriger ist es für junge Menschen mit
Migrationshintergrund, einen Bildungserfolg zu erzielen;
auch das ist kein neuer Befund. Sie erreichen häufiger
nur niedrige Bildungsabschlüsse, erhalten seltener einen Ausbildungsplatz und absolvieren noch seltener ein
Studium. Wenn sie aber einen Studienplatz bekommen
haben, dann erbringen sie genauso gute Leistungen und
haben genauso große Chancen, das Studium zu schaffen,
wie ihre Kommilitonen ohne Migrationshintergrund.
Nun frage ich Sie: Warum gelingt es uns eigentlich
nicht, den Menschen, die nach Deutschland zugewandert
sind, die gleichen Bildungschancen zu geben, die sie hätten, wenn sie hier geboren und aufgewachsen wären oder
deutsche Eltern hätten? Es geht bei weitem nicht nur um
sprachliche Defizite, sondern wir müssen endlich auch
lernen, kulturelle Vielfalt als eine Bereicherung anzuerkennen und nicht Vorurteile zu kultivieren.
({11})
Zu den Unmöglichkeiten gehört leider auch, dass die
Regierung meines Bundeslandes Sachsen-Anhalt einen großen Teil der im vergangenen Jahr eingestellten
Sprachlehrkräfte nicht weiter beschäftigen wollte. Bis
heute ist noch nicht klar, ob sie bleiben können.
({12})
Ich finde das unverantwortlich; denn das Erlernen der
deutschen Sprache ist eine längerfristige Aufgabe. Außerdem droht ein gewaltiger Unterrichtsausfall, weil
diese Lehrkräfte inzwischen auch schon im allgemeinen
Unterricht aushelfen.
Im Bildungsbereich wird man letztlich in kaum einem
Bundesland ohne Seiteneinsteiger bei den Lehrkräften
auskommen. Die Versäumnisse in der Lehramtsausbildung der letzten Jahrzehnte wird man so schnell nicht beheben können. Deshalb muss man Möglichkeiten schaffen, dass diese Lehrkräfte ihren pädagogischen Abschluss
nachholen, berufsbegleitend und im Rahmen besonderer
Programme. Insgesamt muss deutlich mehr getan werden, um pädagogische Fachkräfte für alle Bildungsbereiche auszubilden. Das gilt nach wie vor insbesondere für
Erzieherinnen und Erzieher, Lehrkräfte für Deutsch als
Zweitsprache und sozialpädagogische Fachkräfte.
({13})
Man muss sie besser bezahlen und fest anstellen.
Der Bildungsbericht stellt fest, dass gerade jüngere
Fachkräfte im Kitabereich oft befristet angestellt sind;
({14})
das ist angesichts des wachsenden Betreuungsbedarfs
unglaublich. Wieso eigentlich?
Noch schlimmer ist die Arbeitssituation der Lehrkräfte in der Weiterbildung.
({15})
Sie sind häufig auf Honorarbasis oder in Teilzeit angestellt. Sehr prekär ist auch ihre Bezahlung.
({16})
- Sie müssen sich einmal damit befassen. Dann werden
Sie merken, dass das auch eine Bundesaufgabe ist.
({17})
Wenn Sie einen Handwerker brauchen, werden Sie
feststellen: Sein Arbeitslohn beträgt um die 60 Euro die
Stunde. Lehrkräfte in der Weiterbildung werden aber
mit 14 Euro Mindestlohn abgespeist. Das ist der Stundenlohn, der im Schnitt für Weiterbildungsmaßnahmen
der Bundesagentur für Arbeit zu zahlen ist, und das auch
nur, wenn die Weiterbildungsträger mehr als 50 Prozent
ihrer Maßnahmen im Bereich der beruflichen Bildung
anbieten. Das Innenministerium hat nun die Honorare
für Lehrkräfte in den Integrationskursen auf immerhin
35 Euro erhöht. Aber auch damit bleibt man hinter den
Erfordernissen weit zurück; denn davon müssen sie auch
alle Sozialabgaben und Arbeitgeberanteile zahlen.
Im Bildungsbericht wird festgestellt: Das monatliche
Einkommen von Haupterwerbstätigen in der Weiterbildung liegt weit unter dem Durchschnittseinkommen anderer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland. - Liebe Kolleginnen und Kollegen, Wertschätzung
von Bildungsarbeit sieht anders aus.
({18})
Es ist an der Zeit, den Flickenteppich in der Weiterbildung zu beenden, endlich einen Branchentarifvertrag für
die Weiterbildung auszuarbeiten
({19})
und ihn dann - das ist unsere Aufgabe - für allgemeinverbindlich zu erklären, damit alle in der Weiterbildung
Tätigen ein gutes Einkommen haben.
({20})
Der Bildungsbericht stellt fest, dass die fünf zentralen
Herausforderungen nach wie vor bestehen: Qualitätssicherung in der frühkindlichen Bildung, aber ein Qualitätsgesetz lehnen Sie ab;
Frau Kollegin.
- ich bin sofort am Ende meiner Rede - Ganztagsschulen, aber das Kooperationsverbot erlaubt uns nicht
die Finanzierung; Übergang von Schule in die berufliche
Bildung, aber einen Rechtsanspruch auf einen Ausbildungsplatz wollen Sie nicht usw. usf.
Für all das brauchen wir die gemeinsame Verantwortung von Bund, Ländern und Kommunen. Für ein zukunftsfestes Bildungssystem könnten wir uns überlegen,
ob man nicht ein bundesweites Bildungsrahmengesetz
schafft, in dem die sozialen und rechtlichen Bedingungen
für die Arbeit in der Bildung sowie die Rechtsansprüche
festgeschrieben sind,
({0})
damit die Bildung in allen Bundesländern besser, vergleichbarer und gerechter wird.
Vielen Dank.
({1})
Ernst Dieter Rossmann hat nun das Wort für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit leichter Ironie sagen: Wenn Frau Hein
hier eine tiefschwarze Rede hält und Herr Jung ein Bild
eher in Rosafarben zeichnet, dann ist in der Farbenlehre
hier irgendetwas schiefgelaufen.
({0})
Deshalb möchte ich mich lieber an das halten, was uns
der Nationale Bildungsbericht in differenzierter Weise
vorgibt.
({1})
Wir wollen vor allen Dingen erkennen, dass Bildungspolitik auf dem gemeinsamen Zusammenwirken von
den freien Kräften, von den Kommunen, von den Ländern und vom Bund beruht und dass wir etwas bewirken
können: mehr Bildung in den Krippen, bessere Qualität
in den Kindertagesstätten, mehr Ganztagsschulangebote, mehr Lesekompetenz, mehr Schulabschlüsse, mehr
Möglichkeiten, im Studium anzukommen, mehr Möglichkeiten, das Studium erfolgreich abzuschließen, mehr
Weiterbildung. Dieses Mehr ist doch ein gemeinsamer
Erfolg.
Wenn wir eine weitere Begeisterung im Engagement
für Bildungsveränderung wollen, dann dürfen wir die aktuelle Situation nicht rosarot und auch nicht tiefschwarz
zeichnen, sondern wir müssen die Dynamik positiv hervorheben. Ich finde, diese Große Koalition hat mit vielen
anderen Kräften hier Gutes dazu beigetragen. Das dürfen
wir hier gemeinsam feststellen.
({2})
Darüber hinaus will ich das Augenmerk am Anfang
auf zwei Punkte richten, die uns Sozialdemokraten besonders wichtig sind.
Herr Jung und Frau Hein, Sie haben den engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, sozialer Lage
und Bildungschancen angesprochen, der sich zwar schon
aufzulösen beginnt, aber sich noch weiter auflösen muss.
Dass es immer noch Risikofaktoren gibt - sie wurden
schon genannt: Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne,
Kopplung an die soziale Schicht -, kann uns nicht zufriedenstellen. In diesem Nationalen Bildungsbericht finden
sich Vorschläge und Maßnahmen.
Wir setzen in der Großen Koalition an einer Schlüsselstelle an. Wenn zusätzlich 3,5 Milliarden Euro mobilisiert werden sollen, um in finanzschwachen Kommunen
Bildungsstätten, Bildungsinfrastruktur zu ertüchtigen,
dann ist das keine Kleinigkeit.
({3})
Die 4 Milliarden Euro für die Ganztagsschulen waren
auch keine Kleinigkeit. 3,5 Milliarden Euro mehr für die
Ertüchtigung von Schulen in Regionen, in denen Bildungsarmut und andere Bildungsrisikofaktoren besonders stark ausgeprägt sind, sind entsprechend auch ein
richtig großer Erfolg.
Damit Sie die Kronzeugenschaft für diese Leistung
nicht nur immer sozialdemokratisch verorten: Auch Ole
von Beust, ehemaliger Bürgermeister von Hamburg,
hatte erkannt, wie wichtig es ist, in Problemstadtteilen
Schulen zu Leuchttürmen zu machen, indem sie attraktiver gemacht und aufgewertet werden. Sigmar Gabriel
hat jetzt noch einmal entsprechende Überlegungen in die
Regierung hineingetragen, um dafür zu sorgen, dass es
ein Gemeinschaftsprojekt werden kann.
Denn Bildungsarmut kann man dadurch ganz praktisch bekämpfen, dass finanzschwache Kommunen mit
einem höheren Anteil an Bildungsarmen, an armen Kindern und arbeitslosen Jugendlichen dieses nicht durch
den Zustand ihrer Schulen dokumentieren müssen. Das
ist doch eine Perspektive. Das ist doch etwas, wofür wir
gemeinsam werben.
({4})
Ich möchte auf einen zweiten Punkt hinweisen, an
dem wir noch mehr arbeiten müssen. Das ist das große
Thema Bildungsintegration für Migranten, für Schutzsuchende und für Flüchtlinge. Der Nationale Bildungsbericht weist aus, dass wir in diesem Bereich noch viel
tun müssen und sehenden Auges auch wissen können,
was wir tun müssen. Bitte schauen Sie sich hierzu die
Seiten 201 und 202 an. Dort wird die Schlüsselstelle herausgearbeitet, nämlich: Was passiert beim Einstieg in
die berufliche Bildung? In Sachen Kindertagesstätten, in
Sachen Schule gibt es geregelte Abläufe, und wir werden
dort gute Erfolge erzielen können. Der Einstieg in die berufliche Bildung ist die entscheidende Klippe; denn viele
junge Menschen stehen aktuell ohne die Chance da, in
ein Berufsausbildungsverhältnis einzutreten.
Das Konsortium für den Nationalen Bildungsbericht
empfiehlt uns, für rund 70 000 dieser jungen Menschen
ein- bis zweijährige berufsvorbereitende Maßnahmen zu
ermöglichen und auch für 80 000 bis 90 000 zusätzliche
Berufsbildungsplätze zu sorgen. Und wir wissen alle:
Dies wird im dualen System so schnell nicht geschehen.
Diesbezüglich enthält der Nationale Bildungsbericht
den Vorschlag, dort stärker außer- und überbetriebliche
Kapazitäten zu mobilisieren. Ich glaube auch, dass dies
richtig ist. Wir dürfen nicht geschehen lassen, dass diese
jungen Menschen keine Chance erhalten. Wir müssen an
den Stellen anknüpfen, an denen wir seitens des Bundes
mit Ländern und Sozialpartnern zusammen etwas tun
können.
Ich habe eben Ole von Beust als Vorkämpfer für das
bezeichnet, was Sigmar Gabriel jetzt durchgesetzt hat.
Ebenso erinnere ich mich daran: Roland Koch - ich muss
kein Sympathisant von ihm sein - hat schon früh gesagt
hat, dass wir die jungen Leute, wenn es denn im dualen
System nicht funktioniert, nicht ins Leere laufen lassen
dürfen, sondern ihnen etwas anbieten müssen, was die
Verbindlichkeit einer Ausbildung hat. Er hat nämlich außerbetriebliche und überbetriebliche Ausbildung gefordert, als es schon einmal dieses Problem gab. Daran sollten wir uns erinnern. Da sollten wir auch etwas machen.
Der Bildungsbericht weist an der Stelle aus, dass es
um eine Summe von 1,5 Milliarden Euro geht, die benötigt werden, um den 70 000 jungen Menschen jetzt jeweils Jahr für Jahr eine reale Ausbildungsperspektive zu
geben. Wir müssen zusammen darüber nachdenken, ob
es Ländern, Bund und BA möglich ist, diese Mittel für
ein Perspektivprogramm zu mobilisieren.
Wir haben einen Bericht 2006, in dem schon bestimmte Probleme in Bezug auf die Jugendlichen mit
Migrationshintergrund aufgezeigt wurden, und einen Bericht 2016, in dem insbesondere die aktuelle Flüchtlingssituation aufgearbeitet und angesprochen wird. Aber im
Bericht 2026 darf nicht stehen, es gebe dort eine verlorene Generation, weil wir uns an der Stelle nicht konzentriert darangemacht haben, jetzt hier Mittel aufzubringen,
um eine Perspektive für diese viele tausend jungen Leute
rechtzeitig zu schaffen.
Das Werben der Sozialdemokratie lautet: Machen wir
dies jetzt gemeinsam, und setzen wir jetzt dort ein sichtbares Zeichen! Wer herkommt, soll über den Einstieg in
eine duale, vollzeitschulische oder vorbereitende berufliche Bildung eine Chance erhalten.
Herr Kollege.
Danke schön.
({0})
Katja Dörner spricht nun für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Lieber Herr Kollege Rossmann, auch ich
halte gar nichts von Schwarz-Rosa-Malerei, und deshalb
will ich auch gar nicht bestreiten, dass es in den letzten
Jahren in der Bildungspolitik im Zusammenspiel der
Bundesländer und der Kommunen Fortschritte gegeben
hat. Aber ich bin es eben auch total leid - ich denke,
da stimmen Sie mir auch zu -, dass wir in jedem Bildungsbericht, in jeder Bildungsstudie immer wieder lesen müssen, dass in fast keinem anderen Industrieland
der Bildungserfolg noch immer so sehr von der sozialen
Herkunft abhängig ist wie in Deutschland. Ich finde das
unwürdig für unser Land. Wir verschleudern die Potenziale der Kinder und Jugendlichen, und wir nehmen ihnen
Lebenschancen.
({0})
Ich finde, das muss ein Ende haben. Da könnte und müsste die Bundesregierung tatsächlich mehr tun.
Es ist gut, dass die Anstrengungen der letzten Jahre
beim Kitaausbau mittlerweile Früchte tragen und dass
immer mehr Kinder aus den sogenannten bildungsfernen
Schichten und Kinder mit Migrationshintergrund frühkindliche Bildungseinrichtungen besuchen. Aber auch
das ist bei weitem kein Grund, die Hände in den Schoß
zu legen. Im Gegenteil: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt,
vor allem in die Qualität der Kitas zu investieren. Meine Fraktion versteht überhaupt nicht, warum wir immer
noch hier im Deutschen Bundestag auf ein Kitaqualitätsgesetz warten müssen.
({1})
Wir müssen aber auch alles daransetzen, die hohe
Bildungsbeteiligung, die es in den Kitas schon gibt, auf
die folgenden Bildungsetappen zu übertragen. An den
Übergängen in unserem Bildungssystem ruckelt es nämlich immer noch ganz gewaltig. Da finde ich es schon
fast etwas unredlich, dass sich die Regierungsfraktionen
zwar dafür feiern, dass die Zahl ausländischer Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher im Vergleich zu 2006
gesunken ist, dabei aber verschweigen, dass sich diese
Zahl von 2013 auf 2014 wieder vergrößert hat. Das ist
ein Schritt vor und ein Schritt wieder zurück, und das ist
keine zukunftsweisende Bildungspolitik, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen.
({2})
Sie wissen genauso gut wie ich: Wo ein politischer
Wille ist, gibt es auch ein gerechtes Bildungssystem.
Diesen politischen Willen vermissen wir aber. Das beste Beispiel dafür ist das Geschacher um das Kooperationsverbot. Statt das Kooperationsverbot in der Bildung
beherzt aufzuheben und den Weg beispielsweise über ein
Ganztagsschulprogramm und damit für eine ganz zentrale wichtige Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit
freizumachen,
({3})
einigen sich die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen mit der Bundeskanzlerin auf einen müden Formelkompromiss.
({4})
Statt wenigstens diesen Formelkompromiss ernsthaft
auszufüllen, schaltet die SPD in den Wahlkampfmodus
und feiert sich für die Abschaffung des Kooperationsverbots,
({5})
und die Union tut so, als sei überhaupt nichts Relevantes
beschlossen worden, und geht gleich auf den Koalitionspartner los. Ministerin Wanka spricht noch ganz moderat
von einer Missdeutung seitens der SPD. Über die Wortwahl des bayerischen Kultusministers muss man sich
wirklich extrem wundern, der der SPD dann gleich - Zitat - „feuchte Wunschträume“ andichtet. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, da fehlt offensichtlich jede Ernsthaftigkeit, sich mit zentralen Herausforderungen in unserem
Bildungssystem zu beschäftigen.
({6})
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, die Aufhebung des
Kooperationsverbots muss aus Sicht der grünen Bundestagsfraktion unbedingt kommen. Bis dahin müssen wir
das nun geöffnete Fenster - da spreche ich auch ausdrücklich vom Bildungs- und Teilhabepaket - nutzen. Seit
2010 gibt es dieses mühselig und untauglich gebaute
Konstrukt, mit dem der Bund versucht, seine soziale Verpflichtung bei der Bildungsgerechtigkeit zu erfüllen. Wir
wissen aber alle: Antragshürden, Unwissenheit, Sprachprobleme und Scham verhindern, dass die Kinder das bekommen, was ihnen zusteht, worauf sie ein Recht haben.
Deshalb sollten wir die MPK und die Bundeskanzlerin
beim Wort nehmen und zumindest bei dieser Bundesaufgabe die bestehenden Hürden in Bezug auf Bildungsund Teilhabechancen für Kinder beseitigen. Es ist jetzt an
Ihnen, wenigstens an dieser Stelle kleine Schritte zu tun.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat nun die Bundesministerin Frau
Dr. Wanka.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um etwas
über die Situation der Bildung in Deutschland zu erfahren, haben wir den Bildungsbericht. Ich sage, Gott sei
Dank, weil wir deshalb nämlich nicht auf Polemik angewiesen sind, sondern aufgrund handfester Fakten diskutieren können. Nicht nur bezogen auf ein Jahr, sondern
bezogen auf den Zeitraum seit 2006, also im zeitlichen
Längsschnitt, sehen wir: Was hat sich verändert? Was hat
sich verbessert?
Da kann man - egal aus welcher Richtung man
kommt - eine Aussage nicht wegreden: Es ist so, dass
sich der Bildungsstand und die Bildungsbeteiligung in
den letzten Jahren kontinuierlich verbessert haben.
({0})
Herr Rossmann sagte, dass es immer mehr geworden ist.
Damit muss man nicht unbedingt zufrieden sein. Aber es
ist immer mehr geworden. Das ist eine ganz klare Tendenz.
Ich fand nicht, dass Herr Jung eine rosarote Brille aufhatte; er hat nur die Fakten genannt. Da er die Fakten
so schön aufgezeigt hat, will ich nicht alles wiederholen,
sondern nur noch ein, zwei Punkte nennen.
Wir haben zum Beispiel immer mehr Kinder unter drei
Jahren - mittlerweile beträgt ihr Anteil über ein Drittel -,
die Betreuungsangebote in der Kita wahrnehmen. Wenn
wir sagen, wir wollen keine Abhängigkeit vom Hintergrund des Elternhauses, dann ist das genau die richtige
Stelle, um anzusetzen: Die Kinder, die zu Hause Eltern
haben, die viel mit ihnen sprechen, singen oder ihnen
etwas vorlesen, brauchen diese Angebote nicht so sehr.
Wir bieten die Angebote zwar auch für diese, aber vor
allem für diejenigen Kinder an, die das Pech haben, nicht
so ein Elternhaus zu haben. Das ist ein ganz wichtiger
Punkt. Man muss am Anfang ansetzen, und das kann man
nicht mit irgendwelchen Rahmenplänen tun, sondern hier
muss man ganz konkret handeln.
({1})
Ein weiteres Beispiel: Auch die Zahl der Kinder mit
sonderpädagogischen Bedarfen, die inklusiv beschult
werden, hat sich in den letzten Jahren erhöht. Für diese
müssen Ausbildungsplätze etc. geschaffen werden.
Wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Wir sind auf
einem guten Weg. Da sind beide beteiligt, also Bund und
Länder; denn Bildung ist keine Sache, die der Bund alleine verordnet, sondern Bund und Länder müssen zusammenarbeiten. Jeder hat seine Aufgaben. Man kann sagen:
Wir haben hier eindeutige Erfolge.
Es sollte aber keine Selbstzufriedenheit aufkommen das wäre wirklich nicht angemessen -, sondern man sollte auch sehen, dass dieser Bildungsbericht - darin liegt ja
gerade sein Wert - auf Schwächen aufmerksam macht,
dass er die Herausforderungen benennt. Wenn ich im Antrag der Grünen lesen, dass Sie die unverzügliche Umsetzung der Empfehlungen des Bildungsberichts fordern,
dann muss ich sagen: Falsch, es gibt überhaupt keine
Empfehlungen.
({2})
Das ist die dezidierte Absprache. Es gibt eine Darstellung des Sachverhalts. Daraus abzuleiten sind EntscheiKatja Dörner
dungen, die politisch zu treffen sind, zum Beispiel in der
KMK, zum Beispiel hier im Bundestag.
({3})
Ich will einmal ein Beispiel nennen: Ganztagsschulausbau. Der Anteil der Ganztagsschulen - es wird bilanziert, wie die Situation ist - beträgt bei den Integrierten Gesamtschulen 87 Prozent, bei den Schulen mit
mehreren Bildungsgängen 78 Prozent. Dann schreiben
die Autoren in ihrem Bericht: Bislang werden aber die
erweiterten Lern- und Fördermöglichkeiten von einem
Großteil dieser Schulen nicht genutzt. - Ich wiederhole: Sie werden von einem Großteil dieser Schulen nicht
genutzt. Das heißt, hier besteht Bedarf, und wir als Bund
machen auch etwas. Wir geben Millionen dafür aus, dass
Konzepte entwickelt werden, aber nicht an jeder Ecke
neu. Vielmehr sollen sie über die Transfereinrichtungen
oder andere Einrichtungen verbreitet werden. Die dritte Förderphase des Forschungsprogramms „Studie zur
Entwicklung von Ganztagsschulen“ hat in diesem Jahr
begonnen.
Der Grundtenor der Forderungen ist: Der Bund muss
mit einsteigen. Der Gedanke im Hinterkopf ist: Der Bund
muss mitfinanzieren. Das kann man sich ja wünschen.
Aber wenn man wirklich glaubt, dass ein zentrales Bildungssystem, dass eine starke Stellung des Bundes das
Allheilmittel ist,
({4})
dann sollte man sich die Situation in den Ländern anschauen, in denen das so organisiert ist, zum Beispiel
unter anderem in Frankreich. Dann sieht man: Das funktioniert nicht.
({5})
Es soll keiner sagen: Chancengerechtigkeit ist ein
Thema für den Rest der Legislaturperiode. Chancengerechtigkeit ist ein ganz zentrales Thema. Das habe ich
vom ersten Tag an gesagt. In diesem Bereich haben wir
viel erreicht. Ich will gar nicht aufzählen, was wir alles
erreicht haben. Das ist in der Kurzzusammenfassung des
Bildungsberichts gut nachlesbar.
An den Ergebnissen des Bildungsberichts besonders
erschreckend waren für mich die hohen regionalen Unterschiede; denn es ist ja auch ein Stück Ungerechtigkeit,
wenn der Bildungserfolg sehr stark vom Wohnort, von
der Region abhängt. Frau Hein, Sie haben sinngemäß gesagt, es gebe nur noch Privatschulen. Als ob die schlecht
sind.
({6})
- Sie hat es so dargestellt, als ob alles ganz katastrophal
sei. Natürlich ist Daseinsvorsorge eine gesellschaftliche
Aufgabe, der überall nachgegangen werden muss. Aber
die Tatsache, dass gerade in den neuen Bundesländern
christliche oder andere Privatschulen entstanden sind,
zeigt doch, dass der Bedarf und auch der Wunsch danach
vorhanden sind.
({7})
Zum Schwerpunkt Bildung und Migration. Wir, KMK
und Bund, können entscheiden, welche Sonderuntersuchung wir durchführen wollen. 2006 haben wir Maßnahmen gestartet, um die Bildungsleistungen von Menschen
mit Migrationshintergrund zu verbessern. Nach zehn
Jahren haben wir die Ergebnisse evaluiert. Man sieht:
Verbesserungen sind möglich. Aber man sieht auch ganz
deutlich: Das braucht Zeit. Es geht bei der Bildungsbiografie von Migrantinnen und Migranten sichtbar voran,
aber das braucht Zeit.
Es liegen uns Zahlen vor, die wir vor zehn Jahren nicht
für möglich gehalten hätten. 90 Prozent - ich sage es noch
einmal ganz deutlich: 90 Prozent! - der drei- bis unter
sechsjährigen Kinder mit Migrationshintergrund besuchen eine Betreuungseinrichtung. Damit ist für Chancengerechtigkeit gesorgt. Oder, Frau Hein: Vor Jahren war es
so, dass der Anteil der Jugendlichen, die einen mittleren
Abschluss schaffen, bei den deutschen Jugendlichen bei
über 50 Prozent lag, während er bei ausländischen Jugendlichen bei 36 Prozent lag. Jetzt liegen diese Jugendlichen mit den deutschen Jugendlichen gleichauf. Wenn
hier also rhetorisch gefragt wird: „Warum schaffen wir
das nicht?“, dann kann ich nur sagen: Wir arbeiten daran,
aber die Erfolge werden sich nicht von heute auf morgen
einstellen. Ich finde, es motiviert aber immer, wenn es
Erfolge gibt, wenn wir sehen: Der Weg ist richtig. Dafür
und auch wenn wir sehen, wir müssen etwas ändern, ist
der Bildungsbericht ganz entscheidend.
Zu den Leistungssteigerungen bei Jugendlichen mit
Migrationshintergrund bei PISA. Sie haben aufgeholt. Es
gibt zwar immer noch eine große Diskrepanz, aber sie
haben ihre Leistungen schneller gesteigert als die Deutschen in der Zeit. Anhand dieser Fakten könnte man sagen: Wenn das Bildungssystem gut ist, dann ist es für alle
gut, dann erledigt sich das alles von selbst. Schauen wir
nach Finnland. Alle glauben ja, dass Finnland ein super
Schulsystem hat, aber die Diskrepanz zwischen den Leistungen derer mit und ohne Migrationshintergrund ist im
finnischen Schulsystem mit am größten. Das heißt, das
Schulsystem allein kann nicht alles leisten. Deswegen
würde ich darum bitten, die Stellungnahme der Bundesregierung zum Bildungsbericht zu lesen. Wir haben dort
detailliert aufgelistet, was alles gemacht wird, und zwar
ressortübergreifend.
Eine Erkenntnis aus dem Bildungsbericht ist auch
ganz wichtig: Vergleicht man die Bildungsbeteiligung
von 15-jährigen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund, die den gleichen sozioökonomischen
Hintergrund haben, dann stellt man fest: Sie ist in den
jeweiligen Bildungsgängen immer gleich. Das heißt, der
sozioökonomische Hintergrund ist mittlerweile entscheidender als der Migrationshintergrund.
Das Thema Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund ist wichtig, und es beschäftigt uns schon
lange. Es gibt exzellente Forschung in diesem Bereich,
zum Beispiel in Osnabrück, Bielefeld, Mannheim und
Nürnberg, die sich sehr stark mit den Nachkommen der
Arbeitsmigranten beschäftigt. Weniger beschäftigt man
sich mit denen, die im letzten Jahr gekommen sind, die in
einer ganz anderen Konstellation zu uns gekommen sind.
Wir haben hier auch wenig belastbare Ergebnisse. Wir
wissen aber, dass in zwei Jahren ein großer Schwung aus
der Schule kommt. Deswegen haben wir die Mittel für
den Bereich Migrationsforschung, der ohnehin schon gut
aufgestellt ist, sofort erhöht. Allein von 2016 bis 2019
stehen 18 Millionen Euro für diesen Bereich zur Verfügung. Große Projekte laufen bereits. Wir bekommen
repräsentative, aussagekräftige Ergebnisse. Wir werden
auch die Bildungsverläufe derer, die gerade in Deutschland angekommen sind, weiterverfolgen. In der nächsten
Woche veröffentlichen wir eine neue Ausschreibung mit
einem Volumen von 12 Millionen Euro, bei der es um die
Frage geht, wie wir die Herausforderungen hinsichtlich
unseres Zusammenlebens, unserer Werte, unserer Vorstellungen, unserer Kultur, also des gesellschaftlichen
Zusammenhalts unter den jetzt entstandenen Bedingungen bewältigen können. Das sind ganz konkrete Maßnahmen, die auch in diesem Hause registriert werden sollten.
Zum Schluss noch eine Bemerkung: Vor kurzem hat
die britische Regierung eine Untersuchung in Auftrag
gegeben. Die Chancen für junge Menschen auf der ganzen Welt wurden verglichen. Es wurde gefragt: Welche
Bildungschancen und -möglichkeiten haben die jungen
Menschen? Welche Jobchancen haben sie? Wie ist die
gesundheitliche Präferenz? Welche Möglichkeiten haben sie, sich politisch zu beteiligen? Wie ist es um die
Möglichkeiten für ein bürgerschaftliches Engagement
bestellt? - 183 Staaten wurden untersucht. Erster Platz:
Deutschland. Ganz so schlimm kann es also nicht sein.
({8})
Der Kollege Mutlu ist der nächste Redner für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man
sich den aktuellen Bildungsbericht anschaut, kann man in
der Tat einige Fortschritte im deutschen Bildungssystem
feststellen - immerhin. 15 Jahre nach dem PISA-Schock
in einem der reichsten Länder der Welt wurde das auch
Zeit. Von „Bildungsrepublik“ kann allerdings immer
noch keine Rede sein.
({0})
Deswegen dürfen wir uns auch nicht zurücklehnen und
mit den Ergebnissen zufrieden sein, Kollege Jung.
({1})
Zwischenzeitlich sind zwei allgemeine Erkenntnisse
in allen Köpfen angekommen - dabei schaue ich insbesondere in die Reihen der CDU/CSU-Fraktion -, erstens,
dass Bildungsungerechtigkeit das Problem im deutschen
Bildungssystem ist, zweitens, dass unser Land fit für die
Einwanderungsgesellschaft gemacht werden muss. Der
Schwerpunkt des Bildungsberichts - Bildung und Migration - ist auch für die aktuelle Debatte in Deutschland
von großer Bedeutung.
({2})
Deshalb müssen wir die Empfehlungen der Autorinnen und Autoren des Berichts nicht nur ernst nehmen,
Frau Wanka, sondern wir müssen sie auch zügig umsetzen.
({3})
Nur so haben wir eine Chance. Nur so können wir die
Fehler der Vergangenheit vermeiden. Gute Bildungspolitik ist Integrationspolitik, ist Sozialpolitik, ist Wirtschaftspolitik. Gute und gerechte Bildung ist auch eine
Investition in die Sicherheit unseres Landes und schützt
vor Radikalismen unterschiedlichster Art; Salafismus
und Rechtsextremismus wären da zwei Beispiele.
({4})
Die Befunde des Bildungsberichts belegen, wie zahlreiche Studien zuvor, dass das deutsche Bildungssystem
immer noch nicht in der Lage ist, alle Schülerinnen und
Schüler teilhaben zu lassen und soziale Disparitäten auszugleichen. Wir als Grüne sagen: Das können und dürfen
wir nicht länger hinnehmen.
({5})
Wir wollen eine gerechte, offene, demokratische Gesellschaft und keine gespaltene, in der der Geldbeutel der
Eltern über den Bildungserfolg entscheidet. Dass das so
ist, das ist ein großes Problem, und das müssen wir gemeinsam anpacken.
({6})
Segregationsentwicklungen sind auch regional sichtbar. Auch Ministerin Wanka hat das endlich erkannt
({7})
und möchte diese Tendenzen beobachten - ich zitiere -,
„damit nicht neue Ungerechtigkeit entsteht“. Beobachten? Mit Verlaub, Frau Ministerin, das ist keine nachhaltige Strategie.
({8})
Warum warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen
ist? Wir haben kein Erkenntnisdefizit, sondern ein Handlungsdefizit. Hier müssen Sie endlich handeln und Ihren
warmen Worten Taten folgen lassen.
({9})
Wir müssen jetzt etwas ändern. Wir müssen jetzt handeln,
damit nicht weitere Regionen in Deutschland entstehen,
die Kindern und Jugendlichen kaum bis keine Chancen
bieten. Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das sagt auch Ministerin Wanka. Ich sage: Absolut
dʼaccord. Deshalb müssen wir im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen endlich jenseits von ideologischen
Grabenkämpfen schauen,
({10})
dass es bei der Bildung in Deutschland weitergeht.
Mit der Reform der Bund-Länder-Finanzierung und
der Ankündigung des Digitalpakts, der noch nicht haushalterisch unterlegt und wohl eher ein Wahlkampfgeschenk ist, sind erste Schritte getan. Aber das reicht nicht.
Sie mogeln sich mit diesen Maßnahmen am Kooperationsverbot vorbei und belegen damit im Grunde die Absurdität des Verbots der Kooperation in der Bildung.
({11})
Zugleich kommt der Finanzminister um die Ecke und
kündigt zusätzliche 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung an.
({12})
Das ist absolut löblich, Kollege Rossmann, aber in Anbetracht des bundesweit riesigen Sanierungsbedarfs und
Investitionsstaus in den Schulen, der bei 34 Milliarden
Euro liegt, ist das kein allzu großer Wurf. Da muss mehr
geliefert werden.
({13})
Noch immer investieren wir viel zu wenig in unsere
Bildungseinrichtungen. Statt die Zielvorgabe - Kollegin
Dörner hat es schon gesagt -, dass die Bildungsinvestitionen 10 Prozent des BIP betragen sollen, zu erreichen,
stagnieren wir weiterhin bei 9,1 Prozent. Damit liegen
wir im internationalen Vergleich immer noch unter dem
OECD-Durchschnitt. Das reicht nicht.
({14})
Deshalb sagen wir: Lassen Sie es uns gemeinsam anpacken und mehr in die Bildung, also in die Zukunft unseres Landes, investieren.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Lassen Sie
uns gemeinsam eine Bildungsoffensive starten, damit
Bildungsungerechtigkeit in unserem Land endlich der
Vergangenheit angehört. Lassen Sie uns endlich gemeinsam das Kooperationsverbot in der Bildung in Gänze
abschaffen,
Herr Kollege Mutlu.
- damit es nicht immer wieder diese Mogelpackungen
gibt. - Vielen Dank, Herr Präsident, und vielen Dank an
die CDU/CSU-Fraktion. Hoffentlich hat sie gut zugehört
und etwas gelernt.
({0})
Mit der Frage, warum nur immer die grandiosen
Schlusssätze erst deutlich jenseits der verfügbaren Redezeit im Manuskript vorgesehen werden, werde ich einmal
den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages konfrontieren.
({0})
Nächster Redner ist der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
({1})
Herr Präsident! Es hat einen Grund. Es gibt einen
Spruch aus unserer Jugend, der heißt: Wer hat an der Uhr
gedreht? Ist es wirklich schon so spät?
({0})
Das geht uns allen hier manchmal so, und zwar fraktionsübergreifend.
Meine Damen und Herren! Herr Präsident! Ich glaube,
dass dieser Nationale Bildungsbericht in gerade dieser
Zeit Anlass ist, über einen Zusammenhang zu sprechen,
der uns alle bewegt, jedenfalls die demokratischen Parteien von rechts bis links in diesem Hause. Ich meine die
Tatsache, dass wir in einer Zeit leben, in der die Werte
der Aufklärung, die Werte von Freiheit und Gleichheit
und auch Toleranz, die Werte des 17. und 18. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewinnen und uns vor allen
Dingen die rechtspopulistischen autoritären Erscheinungen in verschiedensten westlichen Demokratien ernsthaft
umtreiben müssen.
Es gibt zwei zentrale Sätze der Aufklärung. Der erste
von Immanuel Kant lautet: Besinne dich darauf, dich deines eigenen Verstandes zu bemühen. Der zweite war von
Sir Francis Bacon: Wissen ist Macht. - Erst Wissen und
Bildung befähigen Menschen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Deshalb ist die Förderung von Bildung
und Wissenschaft für das Gelingen von freiheitlichen Demokratien wichtig.
({1})
Warum sage ich das? Die Bundeskanzlerin hat, wie
ich finde zu Recht, darauf hingewiesen, dass das, was wir
beispielsweise im amerikanischen Wahlkampf erlebt haben, nämlich dass Wahrheit und Fakten keine Rolle mehr
spielen, dass Hass, Respektlosigkeit und Lügen - die
Bundeskanzlerin hat es mit dem Begriff „postfaktisch“
beschrieben - zum Kennzeichen der politischen Auseinandersetzung geworden sind. Da müssen wir gegenhalten mit den Werten der Aufklärung, mit Freiheit, mit Toleranz, mit Respekt und eben mit der Idee von gleichen
Chancen für alle. Das gilt auch für den Bildungsbereich.
({2})
Der Nationale Bildungsbericht beschreibt das sehr differenziert. Frau Ministerin Wanka, ja, es gab in vielen
Bereichen Fortschritte, auf die wir gemeinsam stolz sind:
Die frühe und individuelle Förderung von Kindern und in
vielen Bereichen auch das längere gemeinsame Lernen,
der neue Stellenwert frühkindlicher Förderung und Bildung in diesem Land, der Ausbau im Bereich der Kindertagesstätten und Kindergärten und - seit dem Programm
von Edelgard Bulmahn - auch die Fortschritte beim Ausbau von Ganztagsschulen haben mit dafür gesorgt, dass
wir heute, nach diesen Jahren, zu besseren Ergebnissen
kommen als noch vor einigen Jahren.
Aber richtig ist auch - da haben die Kollegin von
der Linkspartei, der Kollege von den Grünen und Ernst
Dieter Rossmann vollkommen recht; auch Sie haben es
erwähnt -, dass sich soziale Ungleichheiten in diesem
Land nach wie vor gerade auch im Bildungssystem konservieren. Wir sind bei dem Vorhaben, dies zu überwinden, weitergekommen, aber noch nicht weit genug.
Wir können das anhand der Zahlen feststellen. Nach
wie vor wächst jedes vierte Kind - 25 Prozent! - unter
mindestens einer Risikolage auf, was zu einer - das bescheinigt der Bildungsbericht - finanziell, sozial oder
durch die Eltern begründeten Bildungsferne führt, mit der
Folge, dass es deutlich schlechtere Bildungschancen und
damit auch deutlich schlechtere Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben hat als andere Kinder und Jugendliche. Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund
sind bei allen Fortschritten deutlich stärker davon betroffen. Frau Ministerin, der Expertenstreit, ob der Migrationshintergrund oder die sozioökonomische Schwäche
der Familie die wichtigere Ursache dafür ist - natürlich
sind es vor allen Dingen soziale und nicht kulturelle Ursachen -, ist am Ende des Tages ein akademischer Streit.
Es geht um konkrete Lebenslagen.
({3})
Frau Ministerin Wanka, man muss hier auch einmal
selbstkritisch feststellen, dass Ziele, die man sich selbst
gesetzt hat, nicht erreicht wurden. Sie erinnern sich an
den Nationalen Bildungsgipfel aus dem Jahre 2008 unter der schönen Überschrift „Bildungsrepublik“. Damals
hat man sich das Ziel gesetzt - das ist nachlesbar -, bis
zum Jahre 2015 die schulischen Leistungen von Kindern
und Jugendlichen mit Migrationshintergrund denen anderer Jugendlicher gleichzustellen. Das haben wir nach
wie vor nicht erreicht, was anhand der Zahl der Schulabschlüsse, der fehlenden beruflichen Bildung und der
Lebensverläufe nach wie vor festzustellen ist.
Das hat etwas mit der Frage zu tun, welche Rolle Bildung für den Zusammenhalt einer Gesellschaft hat. Eine
Gesellschaft, in der soziale Ungleichheit nicht überwunden wird, eine Gesellschaft, die auseinanderdriftet, eine
Gesellschaft, die so funktioniert, wie wir das leider Gottes in anderen Ländern in und außerhalb Europas noch
schlimmer erleben, schafft das Klima für Radikalismus
und Extremismus, schürt Ängste vor der Zukunft und
führt zu Unzufriedenheit. Gerade in solchen Zeiten ist
die Überwindung sozialer Ungleichheiten - auch im Bildungssystem - nach wie vor eine der vordersten Aufgaben, der wir uns für alle Kinder und Jugendlichen in diesem Land - egal welcher Herkunft - zu widmen haben.
({4})
Das heißt konkret: Ja, wir haben auch in dieser Koalition eine ganze Menge auf den Weg gebracht - Herr Kollege Mutlu, jetzt hören Sie einmal genau zu -, auf das wir
zu Recht stolz sind, zum Beispiel die Reform des BAföG.
Wir haben jetzt die Chance, noch mehr zu tun, und zwar
nicht nur im Bereich der frühkindlichen Bildung, für den
sich vor allen Dingen Ministerin Schwesig in den letzten
Jahren sehr erfolgreich engagiert hat, sondern auch im
Bereich der schulischen Bildung, und hier geht es nicht
um irgendwelche Ideologien zwischen Zentralismus und
Föderalismus.
Die Hauptverantwortung für die schulische Bildung in
diesem Land bleibt bei den Ländern. Schulträger sind im
Regelfall die Kommunen; das ist gar keine Frage.
({5})
Ich sage das hier einmal ganz explizit, Frau Ministerin
Wanka, weil Sie denjenigen, die sich für das Aufbrechen
des Kooperationsverbotes engagieren, immer wieder unterstellen, dass sie sich für ein Bundesschulamt einsetzen. Es geht nicht um ein Bundesschulamt. Man kann in
der Bildungspolitik auch zentralistisch ganz viel falsch
machen.
({6})
Das sagt über die Qualität noch gar nichts aus.
Es geht auch nicht um Zentralismus oder Föderalismus, sondern darum, dass Bund, Länder und Kommunen
an einem Strang ziehen und arbeitsteilig so etwas wie
eine nationale Bildungsallianz organisieren können.
({7})
Hubertus Heil ({8})
Ja, die Länder sind nach wie vor verantwortlich für das
Schulsystem und für die Inhalte. Schulträger sind die
Kommunen.
({9})
Der Bund kann mit der jetzt getroffenen Vereinbarung innerhalb der Bund-Länder-Finanzbeziehungen
mithelfen, die schulische Infrastruktur gezielt und nicht
auf Umwegen zu verbessern, mit der Gewissheit, dass
das Geld auch dort ankommt, wo wir es haben wollen.
Dadurch können wir mithelfen, den Sanierungsstau in
den Schulen aufzulösen, Schulen zu sanieren und zu modernisieren - vor allen Dingen in den Kommunen, die
es besonders schwer haben. Das ist ein konkreter Beitrag dafür, Lernorte zu verbessern. Mit der Kombination
der Mittel von Bund, Ländern und Kommunen können
wir dafür sorgen, dass die soziale Herkunft nicht zum
Schicksal für die Bildungschancen in diesem Land wird,
und dafür setzen wir uns ein.
({10})
Herr Mutlu, Frau Dörner, Sie haben von Missverständnissen geredet. Ich kann das aufklären. Der Blick in die
Bund-Länder-Vereinbarung, die übrigens 16 Ministerpräsidenten aller möglichen Parteien dieses Hauses und
die Bundesregierung unterschrieben haben, zeigt, dass
wir 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung stellen - das werden wir über einen Nachtragshaushalt tun -, um entsprechende Möglichkeiten für Investitionen zu schaffen. Das
ist allein das Geld des Bundes. Einige Bundesländer vor allen Dingen Nordrhein-Westfalen - engagieren sich
ganz massiv für zusätzliche Mittel zur Schulsanierung.
({11})
In dieser Kombination müssen wir den Investitionsstau
von 34 Milliarden Euro auflösen.
Wir ermöglichen, dass das Geld gezielt in den Kommunen ankommt, indem wir das Grundgesetz ändern;
auch das steht deutlich darin.
({12})
Wir nennen das das „Aufbrechen des Kooperationsverbotes“, weil es die Chance schafft, Schulen nicht nur zu
sanieren, sondern auch zu modernisieren und über diese
Legislaturperiode hinaus Geld des Bundes zum Beispiel
für Ganztagsschulangebote zur Verfügung zu stellen. Ich
bin dem Koalitionspartner ausdrücklich dankbar dafür,
dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.
({13})
Alle Ministerpräsidenten haben das unterschrieben.
Herr Mutlu, wenn Sie mithelfen wollen, dass wir das
jetzt auch gut hinbekommen - Ihr Parteitag beginnt ja
heute -: Reden Sie einmal mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kretschmann.
({14})
Der ist der Einzige, der dazu eine Protokollerklärung
abgegeben hat. Gemeinsam sind wir stark, Herr Mutlu.
Ich setze auf Ihre Überzeugungskraft gegenüber dem
baden-württembergischen Ministerpräsidenten auf dem
Parteitag.
({15})
Zum Schluss: Wir brauchen angesichts dieses Nationalen Bildungsberichts eine nationale Bildungsallianz,
um die Chancen zu nutzen, die die Digitalisierung bietet.
Frau Wanka, daran müssen wir noch ein bisschen arbeiten. Dass wir 3,5 Milliarden Euro für die Schulsanierung
haben, ist das eine; die 5 Milliarden Euro für digitale Bildung, die Sie angekündigt haben und die wir ausdrücklich
begrüßen, nicht nur weil in einigen Tagen der IT-Gipfel
stattfindet und digitale Bildung ein zentrales Thema ist,
sind das andere. Die Kombination dieser Mittel auf einer
Zeitschiene vom Jahr 2017 bis 2021, ungefähr 8,5 Milliarden Euro, würde einen Riesenschritt bedeuten, mit dem
wir viel Geld hebeln könnten.
Meine herzliche Bitte ist: Machen Sie solche Konzepte nicht für irgendwann oder nach der Bundestagswahl.
Die besten Wahlversprechen sind die, die man vor der
Wahl hält. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass die
3,5 Milliarden Euro der erste Schritt sind, dass wir zusätzlich Geld für Ganztagsschulangebote und digitale
Bildung in diesem Land bekommen, damit auch die Digitalisierung der Bildung nicht zu neuen Ungleichheiten,
sondern zu neuen Chancen führt. Das ist der Weg, auf
den wir uns machen wollen. Alle Gutwilligen sind eingeladen, ihn mitzugehen.
Herzlichen Dank.
({16})
Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Kollegin Cemile
Giousouf die nächste Rednerin.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Da jetzt viel gesagt worden ist, was, ich will
nicht sagen: am Thema vorbeigeht, aber was ein wenig
den Blick vom Bildungsbericht abgelenkt hat, möchte ich
gern auf den Kern der heutigen Debatte zurückkommen
({0})
und die Reden meiner Kolleginnen und Kollegen von der
Opposition, in denen sie viele Dinge kritisiert haben, die
in die Zuständigkeit der Länder fallen, so deuten, dass
der Bund eben seine Hausaufgaben gemacht hat.
({1})
Hubertus Heil ({2})
Uns liegt ein guter Bericht vor. Deshalb erlauben Sie
mir, kurz die guten Ergebnisse und Fakten zusammenzufassen. Die Ausgaben für Bildung, Forschung und
Wissenschaft sind im Jahr 2013 auf 257,4 Milliarden
Euro und nach vorläufigen Berechnungen auf 265,5 Milliarden Euro im Jahr 2014 gestiegen. Das sind jeweils
9,1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.
Das Ergebnis: Der Bildungsstand der Bevölkerung hat
sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Bei den
Abschlussquoten an Schulen bleibt der Trend zu höheren
Schulabschlüssen ungebrochen.
({3})
Im Jahr 2014 erhielten 41 Prozent der Schülerinnen und
Schüler an allgemeinbildenden und beruflichen Schulen die allgemeine Hochschulreife. 2006 waren es noch
29,6 Prozent der gleichaltrigen Bevölkerung. Der Anteil der Schülerinnen bzw. Schüler ohne Hauptschulabschluss hat sich von 8 Prozent in 2006 auf 5,8 Prozent
in 2014 reduziert. Wir sind linker Schwarzmalerei zum
Trotz auf einem sehr guten Weg,
({4})
nicht zuletzt dank der guten Arbeit unserer Ministerin
und ihres Hauses.
({5})
Die Bildungsbeteiligung und der Bildungserfolg von
Menschen mit Migrationshintergrund haben sich verbessert. Mehr unter Dreijährige mit Einwanderungsgeschichte besuchen Betreuungsangebote.
({6})
Das ist eine Verdoppelung seit 2009 auf 22 Prozent. Das
resultiert aus der Tatsache, dass wir Dinge, die Ländersache sind, mit unterstützen.
({7})
Es stellt sich nur die Frage, warum Sie die positiven
Ergebnisse der Bundesebene nicht anerkennen. Die Bildungsbeteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund
im Kindergartenalter liegt 2015 sogar bei 90 Prozent. Darüber hinaus haben sich sowohl im Grundschul- als auch
im Sekundarbereich die Kompetenzen der Schülerinnen
und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte verbessert.
Die Rede unserer Ministerin hat gerade sehr deutlich
gemacht, dass sich das integrationspolitische Schlüsselministerium dieser Aufgabe nicht nur im aktuellen
Kontext stellt; bereits seit vielen Jahren setzt die unionsgeführte Bundesregierung bei der Integration auf
den Bildungsbereich. Für uns ist kulturelle Vielfalt eine
Bereicherung. Das müssen wir uns von den Linken bestimmt nicht erklären lassen.
({8})
Dennoch dürfen wir uns nicht auf unseren Erfolgen
ausruhen. Da sind wir uns auch alle einig; denn dieser
Bericht zeigt eben auch, dass immer noch ein Zusammenhang von sozioökonomischem Status und schulischer Bildung besteht.
({9})
Ich glaube, es ist ein Unterschied - da bin ich nicht Ihrer Meinung, Herr Kollege Heil -, ob Kinder aus einem
Akademikerhaushalt stammen oder ob sie ausländische
Wurzeln haben. Letztere sind benachteiligt. Die Zahlen
des Berichts zeigen, dass ausländische Kinder mehr als
doppelt so häufig die Schule ohne Hauptschulabschluss
verlassen. Sie erreichen dreimal seltener die Hochschulreife.
({10})
Bei den Drei- bis Fünfjährigen haben insbesondere
Kinder aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss
sowie mit nichtdeutscher Muttersprache Sprachförderbedarf. Der Anteil liegt bei jeweils 39 Prozent. Auch in
der Berufsausbildung ist die Abbruchquote 50 Prozent
höher als die der Deutschen. Bei der dualen Ausbildung
liegt der Anteil der Lehrlinge mit Migrationshintergrund
mittlerweile bei 24 Prozent. Hier gibt es laut dem Bericht
aber starke regionale Unterschiede. Ministerin Wanka ist
darauf eingegangen.
Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahr
steht das deutsche Bildungssystem nach Ansicht der
Forscher vor zusätzlichen Herausforderungen. Für die
Integration der im Jahr 2015 Zugewanderten fallen der
Studie zufolge jährlich zusätzliche Kosten von 2,2 bis
3 Milliarden Euro an. Aber diese Ausgaben werden sich
lohnen. Auch wenn dies nicht kurzfristig der Fall sein
sollte, so zeigt sich doch immer wieder in der Bildungspolitik: Wir müssen langfristig investieren. Wir werden
sehen - auch das sagen die Forscher; auch wenn es bei
ihnen unterschiedliche Einschätzungen gibt -, dass sich
eine nachhaltige Bildungspolitik natürlich auch bei denjenigen, die neu zu uns kommen und Asyl suchen, mittelund langfristig auszahlen wird.
Wir müssen die Weichen stellen. Hier müssen wir ansetzen und weiter daran arbeiten.
Auf dem Weg dorthin - das möchte ich noch einmal
betonen - haben wir viel geschafft. Als Berichterstatterin für die Begabtenförderung bin ich hier in besonderer
Weise involviert. Die Begabtenförderwerke und Stiftungen machen es sich mehr und mehr zur Aufgabe, auch
jungen Erwachsenen aus weniger gut betuchten Familien
die Möglichkeit eines Stipendiums zu geben. Jeder hat
in Deutschland die Möglichkeit, ungeachtet seines sozialökonomischen Status eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erhalten.
({11})
Nehmen wir exemplarisch das BMBF-Förderprogramm „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Wir
werden bald im Hohen Hause einen Antrag zur kulturellen Bildung für Geflüchtete diskutieren. Derzeit profitieren von dem Programm 300 000 bildungsbenachteiligte
Kinder und Jugendliche. Eine Zwischenbegutachtung
des Programms ergab, dass 92 Prozent der Bündnisse
Kinder und Jugendliche erreichen, die ansonsten nicht an
Angeboten der kulturellen Bildung teilgenommen hätten.
Das BMBF hat nunmehr auch zusätzliche Angebote
für junge Flüchtlinge im Programm. So können junge
Menschen beispielsweise auch in meinem Wahlkreis im
Emil Schumacher Museum in Hagen die Kraft der Kunst
und Bilder kennenlernen. Kinder und Jugendliche werden in Workshops aktiv an kulturelle Bildung herangeführt.
({12})
Von 2013 bis 2017 stellt der Bund insgesamt bis zu
230 Millionen Euro für das Programm bereit. On top
werden im Rahmen von „Kultur macht stark Plus“ Maßnahmen der kulturellen Bildung für geflüchtete junge Erwachsene bis einschließlich 26 Jahre angeboten.
Zum Ende meiner Rede möchte ich noch einmal auf
das Instrument des Anerkennungsgesetzes hinweisen.
Auch da bin ich gemeinsam mit meinem Kollegen Diaby
dabei, die Bedingungen und Möglichkeiten des Anerkennungsgesetzes weiter auszuschöpfen. Die Anerkennung
von Abschlüssen ist ein wichtiges Instrument, um Menschen das Ankommen in unserem Land zu erleichtern.
Wir haben - das möchte ich abschließend sagen bisher deutlich gemacht, dass Deutschland jedem diese
Chancen geben will. Wir werden trotz aller polarisierenden, populistischen und auch politischen Entwicklungen weiter daran arbeiten. Wir können eine Gesellschaft
schaffen, in der es eben nicht zählt, ob man aus einem
Akademikerhaushalt kommt oder nicht.
Vielen Dank.
({13})
Der Kollege Dr. Karamba Diaby spricht jetzt für die
SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Die Ergebnisse des Bildungsberichts
zeigen, dass wir weiterhin vor großen Herausforderungen stehen. Wir brauchen eine gemeinsame Kraftanstrengung für Bildung. Wir brauchen eine nationale Bildungsallianz.
({0})
Denn Bildung ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen später gute Arbeit finden und an der Gesellschaft
teilhaben. Wir wissen: Investitionen in Bildung lohnen
sich für jeden Einzelnen und für unsere Gesellschaft.
({1})
Investitionen in Bildung verbessern die Chancen auf
Teilhabe der Menschen an der Gesellschaft, und Investitionen in Bildung stärken den sozialen Zusammenhalt.
Ich verdeutliche das anhand von vier Maßnahmen:
Erstens. Es beginnt damit, dass wir die Schulen sanieren müssen. Sigmar Gabriel hat es gut auf den Punkt
gebracht: Die Schulen müssen die Kathedralen unserer
Städte und Gemeinden werden. Sie müssen lebenswerte
und lebensnahe Lernorte sein. Dafür stellen wir ab 2017
rund 3,5 Milliarden Euro zur Verfügung.
Zweitens. An einigen Schulen gibt es soziale Probleme. Diese müssen wir in den Griff bekommen. Der Bund
muss die Länder und Kommunen hier unterstützen. Das
Ziel muss sein: Keine Schule ohne Schulsozialarbeiter!
({2})
Drittens. Wir müssen die berufliche Bildung stärken;
denn sie hat eine enorm wichtige Bedeutung für die Teilhabe der Menschen. Sie ist der Schlüssel zur persönlichen Entwicklung, und sie ist die Voraussetzung, um in
einer digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt zu
bestehen. Die Schüler müssen sich in den Berufsschulen
wohlfühlen. Die Schulen brauchen eine bessere Ausstattung. Und die Berufsschullehrer müssen bei ihrer wichtigen Arbeit besser unterstützt werden.
({3})
Unsere Forderung lautet: Kein Schüler darf künftig ohne
einen Abschluss unsere Schulen und Berufsschulen verlassen.
({4})
Viertens. Auch für die Integration ist gute Bildungspolitik ein zentraler Baustein. Die Anerkennung der beruflichen Qualifikationen ist von großer Bedeutung für die
Teilhabe an der Gesellschaft. Wir haben diese Bedeutung
erkannt. Aber auch hier gibt es Verbesserungsmöglichkeiten. Das zeigt der Bericht zum Anerkennungsgesetz.
Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bundesregierung
künftig die Kosten für die Verfahren finanziell unterstützen wird. Dafür stehen 5 Millionen Euro im Haushalt bereit. Das finden wir sehr gut.
({5})
Es ist aber auch kein Geheimnis, dass die SPD mehr
will. Wir müssen die Menschen unterstützen, die keine
Leistungen nach SGB II oder SGB III beziehen. Wenn
das Anerkennungsverfahren dazu führt, dass man sein
Essen oder seine Miete nicht bezahlen kann, werden
die Menschen das Anerkennungsgesetz leider nicht nutzen. Wir wissen also, was zu tun ist. Im nächsten Schritt
müssen wir auch die Lebenshaltungskosten unterstützen,
zum Beispiel durch ein Stipendium oder ein Darlehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen, dass alle
Menschen an der Gesellschaft teilhaben. Investitionen in
Bildung sind dafür der Schlüssel.
Danke schön.
({6})
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Wolfgang Stefinger für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir verfügen über ein qualitativ hochwertiges
Bildungssystem sowie über gute Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Das bescheinigt uns der Nationale
Bildungsbericht. Es ist ein Bildungssystem, um das uns
viele beneiden. Es ist ein Bildungssystem, das Deutschland zu einem attraktiven Standort macht. Wir alle wissen: Eine gute Bildung ist eine unabdingbare Voraussetzung für wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolg,
aber auch für gelungene Integration. Dass wir eine solche
Erfolgsgeschichte schreiben können, verdanken wir vor
allem drei Dingen: erstens umfangreichen Investitionen
in Bildung und Forschung, zweitens einer Vielzahl von
Programmen, Maßnahmen und Initiativen und drittens
den vielen Menschen, die sich im Bildungsbereich engagieren. Vielen Dank dafür!
({0})
Es wurde an dieser Stelle schon mehrfach gesagt:
Noch nie wurde hierzulande so viel in Bildung und damit
in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes investiert wie
heute. In den letzten elf Jahren haben sich die Ausgaben
des Bildungs- und Forschungsministeriums mehr als verdoppelt. Für das nächste Jahr sind im Bundeshaushalt
über 17,5 Milliarden Euro veranschlagt, also noch einmal
über 1 Milliarde Euro mehr als im laufenden Jahr.
({1})
Ich möchte den Haushältern danken, die bis heute früh
um drei Uhr den neuen Haushalt festgezurrt haben, über
den wir in der nächsten Sitzungswoche beraten dürfen.
({2})
Auch im diesjährigen OECD-Bericht schneidet
Deutschland gut ab. Als eine seiner großen Stärken gilt
die berufliche Bildung, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg beiträgt und vielfältige Aufstiegschancen
ermöglicht. In kaum einem anderen Land gehen so viele junge Menschen zur Schule, machen eine Ausbildung
oder haben einen Job. Kein anderes europäisches Land
hat eine so geringe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland.
({3})
Ich finde, das alles kann sich wahrlich sehen lassen und
zeigt: Wir sind auf einem erfolgreichen Kurs. Natürlich
dürfen wir uns nicht ausruhen, und das tut von uns auch
keiner. Die Herausforderungen für unser Bildungswesen
sind komplexer und vielschichtiger geworden, vor allem
seit letztem Jahr, als mehrere Hunderttausend Menschen
aus anderen Ländern nach Deutschland gekommen sind.
Diese Herausforderungen gelten natürlich auch für die
berufliche Ausbildung; denn immer weniger Jugendliche beginnen eine duale Berufsausbildung. Nach wie vor
bleiben viele Lehrstellen unbesetzt. Viele Ausbildungsbetriebe klagen über Lehrlingsmangel. Zugleich suchen
viele junge Menschen nach einer Ausbildungsmöglichkeit. Sie fragen sich, wie das zusammenpasst? Demografische Faktoren und mitunter ausgeprägte regionale und
berufsspezifische Unterschiede spielen dabei eine wichtige Rolle.
Dies alles kann weitreichende Folgen für unsere Wirtschaft und die Gesellschaft mit sich bringen. Ohne eine
ausreichende Anzahl bestens qualifizierter Fachkräfte
geht es nicht. Was wir daher brauchen, ist eine Ausgewogenheit von akademischer und beruflicher Bildung. Das
Leben beginnt nicht erst mit dem Abitur.
({4})
Wir brauchen Ingenieure und Ärzte, aber eben auch
Handwerker und Mittelständler. Ich möchte noch auf
immer wieder geäußerte Begrifflichkeiten eingehen, an
denen ich mich massiv störe. Ein solcher Begriff ist zum
Beispiel der des Bildungsabsteigers oder des Bildungsverlierers. Warum ist ein Kind, das aus einem Akademikerhaushalt kommt und eine berufliche Lehre machen
möchte, ein Bildungsabsteiger?
({5})
Das kann nicht so weitergehen.
Auch deswegen sind wir gefordert, das Image der
beruflichen Ausbildung nicht schlechtzureden; bei jeder
Auslandsreise wird man darauf angesprochen. Ich darf
darauf hinweisen: Nicht umsonst wollen viele andere
Länder von uns lernen, wie die duale Ausbildung funktioniert. Denn sie wissen: Deutschland kann Berufsausbildung.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten Jahren auch viel für die Durchlässigkeit der
beruflichen Ausbildung getan und tun dies weiterhin. Ich
möchte nur ganz kurz an die Allianz für Aus- und Weiterbildung erinnern, an die Studiengänge für Handwerksmeister, die in Zusammenarbeit mit den Handwerkskammern entstanden sind, oder auch an die Novelle zum
Meister- bzw. Aufstiegs-BAföG.
Ich habe die Herausforderungen durch die Digitalisierung erwähnt. Wir stärken mit einem Sonderprogramm
zur Digitalisierung die überbetrieblichen Bildungsstätten. Wir haben das Programm „Digitale Medien in der
beruflichen Bildung“ fortgeführt; um nur einige Beispiele aus diesem Bereich zu nennen.
Sie sehen, wir haben die Herausforderungen im Blick.
Wir kennen unsere Stärken, und wir dürfen darauf auch
stolz sein. In diesem Sinne lassen Sie uns weiterarbeiten
und dieses Land noch besser machen.
Danke schön.
({6})
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 18/10100, 18/8825 und 18/10248
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Widerspruch sehe ich keinen. Deshalb sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 sowie den Zusatzpunkt 11 auf:
38. Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Petra Pau,
Martina Renner, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Umsetzung der Empfehlungen des 2. Parlamentarischen Untersuchungsausschusses der
17. Wahlperiode zur Verbrechensserie des Nationalsozialistischen Untergrundes
Drucksachen 18/6465, 18/9331
ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Aufenthaltsrecht für Opfer rechter Gewalt
Drucksache 18/2492
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
Drucksache 18/10288
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
sehe ich keinen. Dann ist das somit beschlossen.
Ich eröffne damit die Aussprache und erteile als erster
Rednerin das Wort der Kollegin Petra Pau für die Fraktion Die Linke.
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Das Kürzel NSU steht für Nationalsozialistischer Untergrund, mithin für eine bislang beispiellose rechte Terrorserie und ein tödliches Staatsversagen. Das alles wurde
vor fünf Jahren offenbar.
Ebenso zum fünften Mal jährt sich demnächst das
Versprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach
bedingungsloser Aufklärung. Doch davon kann bisher
keine Rede sein. Es wird geschwiegen, geleugnet und
vertuscht - auf Landes- und Bundesebene.
Beim Verfassungsschutz werden Belege geschreddert,
wird also Recht gebeugt. Die Justiz hält, wie im Fall
„Lothar Lingen“, die schützende Hand darüber. Damit
wird die Bundeskanzlerin in den Meineid getrieben. Was
noch schlimmer ist: Die Betroffenen werden ein weiteres
Mal verhöhnt. Das ist eine Schande!
({0})
Der erste NSU-Untersuchungsausschuss hat im September 2013 fraktionsübergreifend einen Bericht mit
47 Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin ging es um
rechtliche und strukturelle, auch um mentale Änderungen in den Sicherheitsbehörden. Alle diese 47 Vorschläge
wurden vom Bundestag einstimmig, einmütig bestätigt.
Nun wollte die Linke wissen, was davon umgesetzt
wurde. Die Antwort der Bundesregierung liegt vor. Sie
ist auch für alle, die uns im Netz folgen, nachlesbar.
Ich konzentriere mich jetzt auf drei Aspekte, die
durchaus strittig sind.
Erstens. Ob Kriminalämter oder Justizbehörden fast niemand wollte oder konnte erkennen, dass die
NSU-Morde rassistisch motiviert waren. Auch deshalb
gibt es die Forderung nach dem Mentalitätswechsel. Nun
kann man Mentalitäten schlecht messen. Aber allein ein
Blick nach Sachsen zeigt, wie viel noch zu tun bleibt.
Naziaufmärsche werden goutiert, Gegenkundgebungen
dagegen düpiert - und das alles von Amts wegen -, und
Politiker beschwichtigen. Konsequenzen sehen anders
aus.
({1})
Im Untersuchungsausschuss waren wir uneins, ob wir
es mit institutionellem Rassismus zu tun haben, also auch
in Behörden. Die Linke meint Ja, CDU/CSU und Teile
der SPD meinen Nein. Wir sollten dies nicht als Mehrheitsentscheidung abhaken, sondern vom Deutschen Institut für Menschenrechte untersuchen lassen. Die Linke
hat dafür Mittel bei den finalen Haushaltsberatungen beantragt. Ich hoffe auf die Zustimmung aller Fraktionen
und Kolleginnen und Kollegen.
Zweitens. Im Zentrum des Staatsversagens agierten
die Ämter für Verfassungsschutz. Damit wäre ich beim
zweiten großen Dissens.
CDU/CSU und SPD haben 2016 ein neues Gesetz
für das Bundesamt für Verfassungsschutz beschlossen.
Es erhält dadurch mehr Geld, mehr Personal und mehr
Kompetenzen.
Zugleich wurde die schmierige V-Mann-Praxis, also
die Kumpanei mit Nazis, legalisiert. Die Linke bleibt dabei: Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen. Die V-Mann-Praxis ist sofort zu beenden.
({2})
Drittens. Wir waren uns einig, dass Initiativen zur Opferberatung, für Demokratie und Toleranz umfangreicher
unterstützt werden müssen. Die Bundesmittel dafür wurden inzwischen erheblich aufgestockt. Das ist gut so. Die
Linke hat dem zugestimmt.
Gleichwohl erfahre ich auf meinen Wegen über das
Land zu häufig, dass von den zusätzlichen Millionen
bei den Initiativen kaum etwas ankommt. Hier muss
die Bundesregierung gemeinsam mit den Ländern dringend prüfen, woran es liegt, dass die Mittel, die wir hier
einmütig beschlossen haben, nicht ankommen. Denn
entscheidend ist letztlich nicht das, was vorne hineingesteckt wird, sondern das, was hinten herauskommt - und
dies umso mehr, da niemand garantieren kann, dass nicht
längst neue Nazizellen raubend und mordend unterwegs
sind, allemal da das rassistisch aufgeheizte Klima von ihnen als regelrechter Auftrag gedeutet werden könnte, wie
damals beim NSU.
Danke.
({3})
Der Kollege Armin Schuster spricht als Nächster für
die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 4. November nicht lange her -: fünfter Jahrestag des Auffliegens der
NSU-Mordserie. Das ist ein guter Termin für diese Debatte, drei Jahre nach dem Abschlussbericht, den der erste NSU-Untersuchungsausschuss erarbeitet hat, und gut
drei Jahre nachdem wir uns hier in aller Form persönlich
bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt haben. Wir
haben im September 2013 zwei Versprechen abgegeben,
nämlich erstens, alles zu unternehmen, damit sich das
nicht wiederholt, und zweitens, alles zu unternehmen,
um diese Serie aufzuklären.
({0})
Das erste Versprechen mündete in 47 Empfehlungen
des NSU-Untersuchungsausschusses für Exekutive, Legislative und Judikative. Alle hatten ihr Päckchen zu tragen. Heute ziehen wir Bilanz.
Das zweite Versprechen, alles zu tun, um aufzuklären:
Das sehen Sie in München vor Gericht. Das sehen Sie in
zwölf NSU-Untersuchungsausschüssen von Ländern und
im Bund. Sie sehen es an der akribischen intensiven Arbeit des Bundeskriminalamts, des Bundesamts für Verfassungsschutz und vieler Ländersicherheitsbehörden.
Meine Damen und Herren, diametral anders als Sie,
Frau Pau, halte ich das, was wir seit Ende 2011 in diesem
Land tun, um das alles zu klären, für historisch beinahe einmalig. Ich hätte mir gewünscht, dass wir so konsequent auch nach der RAF-Mordserie oder nach dem
Oktoberfest-Attentat gehandelt hätten; da wäre das vielleicht auch notwendig gewesen.
Was wir in Sachen NSU-Aufklärung tun, ist ein ganz
schlechter Anlass, Frau Pau, um uns selbst zu beschimpfen. Sie haben sich ja gerade eben selbst beschimpft. Das
halte ich nicht für angemessen. Es ist über Parteigrenzen hinweg, gerade im Untersuchungsausschuss, in den
Untersuchungsausschüssen, alles unternommen worden.
Warum? Wir haben alle regiert, Sie auch. Wir waren alle
betroffen, nicht nur der Verfassungsschutz. Ich sage es
Ihnen ganz offen: Es ist ein Ausdruck von Feigheit, wenn
wir hier mit dem Finger auf den Verfassungsschutz zeigen und selbst nie in einem Innenausschuss eines deutschen Parlaments die Mordserie als Tagesordnungspunkt
aufgerufen haben. Wer selbst so viel Grund hat, über sich
nachzudenken, sollte nicht mit dem Finger andauernd auf
andere zeigen.
({1})
Ich habe damals, im September 2013, von einem kompletten Systemversagen gesprochen: der Justiz, der Exekutive, aber auch der Legislative. Deswegen finde ich die
Schuldzuweisungen ein bisschen billig, meine Damen
und Herren.
({2})
Lassen Sie uns mal über die 47 Empfehlungen sprechen! Wir haben in diesem Haus 47 Empfehlungen verabschiedet. Ich kenne keinen anderen Politikbereich, in
dem man in einem solchen Fall nach drei Jahren sagen
kann: Beinahe alles abgeräumt, meine Damen und Herren. - Ein Mammutreformprogramm haben wir gemacht.
({3})
Wie Frau Pau kann auch ich nicht alles aufzählen. Ich
bräuchte 90 Minuten Redezeit, um zu erklären, was wir
alles getan haben. Sie haben auch nur 3 Punkte von 47
herauspicken können.
({4})
Meine Damen und Herren, das ist auch ein Stück Erfolg: konsequente Umsetzung. Ich nenne es eine staatliche Entschuldigung. Wir haben uns bei den Angehörigen
der Opfer persönlich entschuldigt. Es gibt aber auch eine
staatliche Entschuldigung, weil wir wahrmachen, was
wir versprochen haben: mit der Einrichtung von Abwehrzentren gegen rechts, mit der Rechtsextremismusdatei,
mit anderen polizeilichen Informations- und Analysesystemen, mit der Verfassungsschutzreform.
Die Abschaffung von V-Leuten, Frau Pau: Nicht mal
Ramelow setzt das um.
({5})
Seien Sie ehrlich: Er ist als großer Tiger gestartet und
landet jetzt als Bettvorleger. Ich bin froh darüber, dass
Sie das Amt für Verfassungsschutz nicht aufgelöst haben.
Ich bin auch froh darüber, dass die Thüringer erkennen,
dass es V-Leute braucht. Das war ein Vorschlag zur Unzeit.
({6})
Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand draußen
versteht, dass Sie das Amt jetzt, zur Hochzeit des Terrorismus, auflösen wollen.
({7})
Bundesjustizminister Maas hat ein umfangreiches
Justizreformpaket verabschiedet. Wir haben hier letzte
Sitzungswoche die Reform des Parlamentarischen Kontrollgremiums verabschiedet. Das Parlamentarische Kontrollgremium schon wieder zu reformieren, war nicht
leicht. Aber es war eine Kernforderung des Empfehlungskatalogs des NSU-Untersuchungsausschusses aus
der letzten Legislaturperiode. Meine Damen und Herren,
so schlimm all das, was passiert ist, war - wir sind in der
Lage, zu sagen: Wir haben enorm viel geleistet. Deswegen ist mein Befund ein völlig anderer als der der Linken.
({8})
Jetzt gehe ich auf die Frage ein: Was bringt eigentlich der NSU-Untersuchungsausschuss dieser Legislaturperiode? Meine Damen und Herren, es geht um die
Ehre der Opfer. Es geht um Schmerz, Wut und Trauer
von Angehörigen, und es geht um die Frage der Haltung
unseres Staates. Solange wir nicht wissen, warum diese
Menschen zu Opfern wurden, solange wir nicht genau
wissen, ob es genau diese drei Täter waren, solange wir
nicht genau wissen, wer wirklich geholfen hat, ist es eine
Frage der Haltung, niemals aufzugeben, diese Fragen beantworten zu wollen.
({9})
Mit einem kleinen Augenzwinkern richte ich mich
jetzt an die Mitarbeiter vom Bundeskriminalamt, vom
Generalbundesanwalt, vom Bundesamt für Verfassungsschutz und vieler Länderbehörden. Ja, wir Untersuchungsausschussmitglieder sind manchmal verdammt
müde. Es ist hart, vor allen Dingen donnerstagabends;
das gebe ich zu. Auch ich habe dann Selbstzweifel. Aber
ich glaube, wir tun das Richtige. Wir werden uns nicht
wie bei der RAF in 10 oder 15 Jahren davon überraschen
lassen, dass plötzlich noch drei dieser Täter in der Gegend herumlaufen und ein paar Raubüberfälle begangen
werden. Das wird uns nicht passieren.
Der Auftrag, den wir uns gegeben haben, ist nicht,
das x-te Behördenversagen zu identifizieren. Nein, wir
wollen jede Chance nutzen, dass eine der spektakulärsten
und schlimmsten Mordserien der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht unaufgeklärt bleibt.
Noch ein Augenzwinkern. Wir wissen nicht, wie viele
Nachermittlungen wir durch unsere Arbeit im Untersuchungsausschuss auslösen. Aber wir ahnen es. Allein die
Tatsache, dass es Nachermittlungen gibt, ist ein Erfolg,
ebenso die Tatsache, dass wir mit etlichen Theorien, teilweise auch Verschwörungstheorien, aufräumen können.
Auch ich hatte Theorien, die sich zerbröselt haben. Und
es ist wichtig, dass sie sich zerbröseln. Es ist wichtig,
dass wir auf den Kern der Sache kommen.
Meine Damen und Herren, Wolfgang Wieland, der
Fraktionssprecher der Grünen in der letzten Legislaturperiode, sagte - ich gebe ihn sinngemäß wieder -: Wir
haben uns alle Mühe gegeben, herauszufinden, ob die
Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind sind. Sein Befund war: Sie sind nicht auf dem rechten Auge
blind, aber in einem gehörigen Maße betriebsblind, ja.
Frau Dr. Högl, die hier sitzt, sagte damals, es sei ein Versagen mit strukturellen Ursachen gewesen; Rechtsextremismus sei als Gefahr nicht gesehen worden. Aber die
SPD-Fraktion und auch wir, die Union, haben nicht den
Befund erhoben: Hier gibt es institutionellen Rassismus.
({10})
Das ist ein ganz schlimmer Vorwurf, der von den Grünen
und Linken leider immer wieder erhoben wird.
Meine Damen und Herren, in diesen Zeiten braucht
es Politiker in Regierungen und Parlamenten, die Verantwortung vor Gesinnung stellen. Verantwortung vor
Gesinnung heißt, Frau Pau, dass Sie sich hier am Rednerpult genauso verhalten wie im Ausschuss. Warum Sie
hier teilweise anders sprechen, weiß ich nicht.
({11})
Ich weiß auch nicht, welche Kundschaft Sie bedienen
müssen. Aber die kooperative und konstruktive Zusammenarbeit im Ausschuss gefällt mir sehr gut. Es passt
aber nicht zu dem, wie Sie hier reden.
({12})
Zum Abschluss. Meine Damen und Herren, ein wahrscheinlich in diesem Haus einmaliger Reform- und Aufklärungsmarathon im Bereich Rechtsextremismus und
Rechtsterrorismus erfordert Ausdauer und Geduld. Diese
sollten wir bewahren. Ich glaube, dass das angesichts des
Leids, das die Menschen, die Opfer wurden, erfahren haben, nicht zu viel verlangt ist.
Ich danke Ihnen.
({13})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt
die Kollegin Irene Mihalic.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Bundesregierung! Wenn man Ihre
Antwort auf die Große Anfrage der Linken liest, dann
wird schon sehr deutlich, was für Sie die Aufarbeitung
des NSU-Terrors in der Praxis bedeutet. Herr Schuster
hat sie ein „Mammutreformprogramm“ genannt. Ich nenArmin Schuster ({0})
ne sie ganz viel Kosmetik, ganz viel Bestandspflege, wie
beim Bundesverfassungsschutzgesetz, ganz viel Augenwischerei, und mein Eindruck ist ein wenig „Haken dran
und fertig“.
({1})
Das sage ich bei aller fraktionsübergreifenden Einigkeit,
die ich im Untersuchungsausschuss erlebe.
Aber wir sehen das ganz anders. Für uns ist das Ende
der Aufarbeitung dieser beispiellosen Terrorserie noch
lange nicht in Sicht. Wir sehen ja auch aktuell, wie gefährlich eine solche Haken-dran-Mentalität heutzutage
ist. Allein in diesem Jahr gab es 832 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, und die Zahl der rechten Gewaltdelikte
hat sich gegenüber dem Jahr 2015 bereits heute mehr als
verdoppelt. Da ist es schon ein heftiger Kontrast, wenn
die Bundesregierung in ihrer Einschätzung aktuell nur
20 Gefährder im rechten Spektrum ausmacht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Zahl zerschellt doch krachend an der Realität.
({2})
Dass der analytische Blick an den Tatsachen hart vorbeigeht, hat auch etwas damit zu tun, dass das Bundesamt
für Verfassungsschutz bei der Aufklärung des NSU-Terrors weiter mauert. Gesetzlich wird das Eigenleben des
Verfassungsschutzes sogar noch gefördert. So können
immer noch schwerstkriminelle Neonazis als V-Leute
angeworben werden und mit staatlicher Unterstützung
rechnen. Wie gefährlich das sein kann, sehen wir bei
unserer Untersuchungsausschussarbeit laufend. Deshalb
kann ich Ihnen sagen: Ich vertraue diesen sogenannten
Vertrauensleuten nicht.
({3})
Aber was Regierung und Parlament zu dieser Praxis
sagen, zählt laut Gesetz leider überhaupt nicht. Am Ende
entscheidet der Verfassungsschutzpräsident im Alleingang. Aber das kann doch kein Zustand sein, an dem wir
ernsthaft festhalten wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({4})
Wir brauchen die Novelle der Novelle des Bundesverfassungsschutzgesetzes. Erst gestern hat eine ehemalige
Leiterin einer Verfassungsschutzbehörde im Untersuchungsausschuss treffend gesagt: So kann es nicht weitergehen. - Auflösen und neu starten, das wäre das, was
man mit dem Verfassungsschutz machen müsste.
({5})
In der Antwort auf die Große Anfrage kann man auch
etwas über Reformbemühungen lesen. Ich will einen
Satz zitieren:
Einen wesentlichen Beitrag zur Transparenz des
Verfassungsschutzes stellen die zahlreichen öffentlichen Ausführungen der Amtsleitung des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Medien, bei Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen dar.
Ja, das stimmt. Im Fernsehen und in überregionalen
Interviews ist Herr Maaßen ein häufig gesehener Gesprächspartner. Im Innenausschuss des Bundestages hat
er sich dagegen schon lange nicht mehr blicken lassen.
Ich ahne auch, warum. Schließlich sagt er ja selbst, dass
wir hier im Parlament nur die Arbeit seiner Behörde erschweren würden. Ja was ist das denn für eine Haltung,
liebe Kolleginnen und Kollegen?
({6})
Herr Schuster, Sie haben völlig recht: Das, was wir
tun - mit zwölf Untersuchungsausschüssen, die gearbeitet haben, ihre Arbeit abgeschlossen haben oder heute
noch an diesem Thema dran sind -, ist in der Tat historisch. Aber angesichts dieser Haltung des Behördenleiters
einer Verfassungsschutzbehörde ist es doch kein Wunder,
dass wir in dieser Logik bei der Aufklärung der Rolle des
Verfassungsschutzes keinen Schritt weiterkommen.
Die Bundeskanzlerin hat vor fast fünf Jahren rückhaltlose Aufklärung versprochen. Heute, am fünften
Jahrestag des vorsätzlichen Aktenschredderns, erwarte
ich endlich ein unmissverständliches Wort der Kanzlerin an den Verfassungsschutz, diese Blockadehaltung
endlich aufzugeben und die Aufklärung nicht weiter zu
blockieren. Wir jedenfalls machen dieses Spiel auf Zeit
nicht mit. Auch wenn die x-te Akte verspätet, gar nicht,
geschwärzt, durcheinander oder nur teilweise geliefert
wird oder wichtige Zeugen krank oder im Urlaub sind:
Es dauert so lange, wie es dauert. Nicht abhaken, sondern
vollständig aufklären und verändern - das muss das Ziel
sein.
Herzlichen Dank.
({7})
Nächster Redner ist der Kollege Uli Grötsch für die
SPD-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
19 Monate intensive Aufklärungsarbeit, 107 vernommene Zeugen und Sachverständige in fast 350 Stunden
Sitzungszeit, rund 12 000 als Beweismittel beigezogene Akten: Für all das und noch viel mehr steht der erste
NSU-Untersuchungsausschuss, den der Bundestag im
Januar 2012 eingesetzt hat, für eine in der Geschichte des
Parlaments wohl einmalige Art der Aufklärung und der
Arbeitsweise. Und doch, Herr Schuster, der Ausschuss
hat damals deutlich gemacht, dass es sich auch um instiIrene Mihalic
tutionellen Rassismus handelte und nicht nur um Ermittlungspannen.
({0})
Der Untersuchungsausschuss wurde als Erster in der
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland aufgrund
eines gemeinsam formulierten Antrags aller Fraktionen einstimmig - mit dem einen Ziel eingesetzt, eine lückenlose, gründliche und vollständige Aufklärung staatlichen
Versagens bei einer der schwersten Verbrechensserien zu
erreichen, die dieses Land je gesehen hat - eine Verbrechensserie, die uns alle angeht und deren Aufarbeitung
andauert, bis heute. Denn die Taten, die die Opfer und
ihre Angehörigen unfassbares Leid haben erfahren lassen, waren ein Anschlag auf uns alle, auf uns, für die es
selbstverständlich ist, dass Deutschland ein weltoffenes
und vielfältiges Land ist und bleibt.
({1})
Dieser Untersuchungsausschuss steht nicht nur für
den umfassenden Aufklärungswillen, sondern auch für
47 Handlungsempfehlungen. Diese 47 Empfehlungen
sind die Botschaft über die rund 1 300 Seiten Abschlussbericht hinaus. Eine derartige Verharmlosung der Gefahr
aus dem rechtsextremen Lager und das multiple Versagen von Polizei, Justiz, Verfassungsschutz, Politik, von
Medien und Gesellschaft dürfen sich niemals wiederholen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
({2})
Wo stehen wir heute, gut fünf Jahre nachdem sich
die rechtsextreme Terrorgruppe NSU selbst enttarnt
hat? Als SPD-Bundestagsfraktion haben wir uns insbesondere für eine bessere Schulung und Sensibilisierung
von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Sicherheitsbehörden eingesetzt. Wir haben die notwendige Reform
des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Gang gesetzt
sowie klarere und strengere Regeln für die Anwerbung
und Führung von V-Personen und die Ausweitung der
parlamentarischen Kontrolle erreicht. Dabei war es uns
auch wichtig, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger
in funktionierende Sicherheitsbehörden wiederherzustellen.
Außerdem haben wir zentrale Vorgaben mit Blick auf
den Einsatz von Vertrauenspersonen in den Sicherheitsbehörden aufgegriffen. Klare gesetzliche Regelungen
haben wir nun nicht nur hinsichtlich der Bezeichnung
menschlicher Quellen. Wir haben diese darüber hinaus
auch mit Blick auf deren Auswahl, Führung und deren
Befugnisse. Mit dem Gemeinsamen Extremismus- und
Terrorismusabwehrzentrum etwa haben wir eine wichtige Plattform für den Informationsaustausch geschaffen.
Innerhalb des Verfassungsschutzverbundes bilden die
Inbetriebnahme eines runderneuerten nachrichtendienstlichen Informationssystems und dessen kontinuierliche Weiterentwicklung einen wichtigen Schritt, um die
Analyse- und Koordinierungsfähigkeit der Verfassungsschutzbehörden fortlaufend zu verbessern.
Darüber hinaus haben wir durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus neben dem Aufbau der Rechtsextremismusdatei auch die
Verarbeitung von Texten in NADIS-Verbunddateien
durch Einbezug des Bereichs rechtsextremistischer Bestrebungen erleichtert. Diese Ergänzung hat die Auswertungs- und Analysefähigkeit in diesem Bereich deutlich
verbessert.
Aber all diese gesetzgeberischen und technischen
Maßnahmen können eines nicht ersetzen: Der vielbeschworene Mentalitätswechsel, die Sensibilität für Rassismus und Menschenverachtung, ist und bleibt der zentrale Hebel dafür, dass alle Menschen in Deutschland
wieder mehr Vertrauen in ausnahmslos alle Sicherheitsbehörden in Deutschland haben. Ich spüre das Bemühen
der Sicherheitsbehörden bei meiner täglichen Arbeit im
Bundestag. Aber ich möchte an dieser Stelle schon auch
sagen, dass ich es für utopisch halte, in Behörden mit
Tausenden von Mitarbeitern keine schwarzen Schafe zu
haben. Aber auch wenn es wie eine Utopie klingt: Das
muss das Ziel sein. Diejenigen, die sich in den Sicherheitsbehörden dafür einsetzen, die sich mit uns auf den
Weg dahin gemacht haben, verdienen jede Unterstützung
von uns.
({3})
Auch wenn durch die Umsetzung der Empfehlungen
des ersten NSU-Untersuchungsausschusses ein umfassender Reformprozess bei Polizei, Verfassungsschutz
und Justiz im Bund und in den Ländern angestoßen worden ist, will ich an dieser Stelle gar nicht abstreiten, dass
wir uns keinesfalls darauf ausruhen dürfen. Wir haben
vielmehr noch ein gutes Stück der Wegstrecke vor uns.
Dass wir noch lange nicht am Ende unserer Reformbestrebungen angekommen sind, wird uns immer wieder
in den Zeugenvernehmungen des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses vor Augen geführt. Wir merken
seit geraumer Zeit beinahe jeden Tag beim Lesen der
Zeitung, dass diese Notwendigkeit weiterhin besteht:
Ein rechtsgesinnter „Reichsbürger“ erschießt einen Polizisten; ein katholischer Bischof bekommt Todesdrohungen, weil er einen muslimischen Bundespräsidenten für
vertretbar hält; 832 Angriffe gegen Flüchtlingsheime in
Deutschland in den ersten zehn Monaten des Jahres 2016
zählt das Bundeskriminalamt - nur drei vermeintliche
Höhepunkte der menschen- und demokratiefeindlichen
Zeit, in der wir offenbar leben.
Weil bereits latent vorhandene rechtsextreme Einstellungen ein erhebliches Risiko für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft darstellen, haben wir
uns als SPD-Bundestagsfraktion im Zusammenhang mit
den Empfehlungen des ersten NSU-Untersuchungsausschusses vehement dafür eingesetzt, die Zivilgesellschaft
zu stärken und die Präventionsarbeit endlich zu verstetigen
({4})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, weder mit den
47 Handlungsempfehlungen des ersten Bundestagsuntersuchungsausschusses zu den Taten des selbsternannten
Nationalsozialistischen Untergrunds noch mit unserer
aktuellen Befassung im Nachfolgeausschuss kann diese
Arbeit jemals abgeschlossen sein. Sie muss für uns alle
eine Daueraufgabe sein. Ich darf in diesem Zusammenhang an die Worte der Bundeskanzlerin erinnern, die im
Rahmen der Trauerfeier für die NSU-Opfer und deren
Angehörige im Februar 2012 Folgendes sagte:
Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit
sich so etwas nie wiederholen kann.
Daran, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen wir
uns messen lassen. Dies sind wir nach wie vor dem ganzen Land schuldig, aber vor allem jenen, die meiner Meinung nach aktuell zu sehr im Hintergrund stehen, nämlich
den Ermordeten Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru,
Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut,
Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik,
Halit Yozgat, der getöteten Polizeibeamtin Michèle
Kiesewetter, dem schwerverletzten Kollegen, allen Angehörigen der Opfer sowie den bei den Sprengstoffanschlägen in Köln zum Teil schwer verletzten Menschen.
Vielen Dank.
({5})
Nächster Redner ist der Kollege Thorsten Hoffmann
für die CDU/CSU.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Pau, Frau Mihalic, einige Sachen sehe ich wirklich
komplett anders als Sie. - Das nur am Anfang.
({0})
Am 4. April 2006 wurde Mehmet Kubasik in der
Dortmunder Nordstadt heimtückisch ermordet. Zu dieser
Zeit - jetzt werde ich mal persönlich - verrichtete ich als
Polizeibeamter meinen Dienst in dieser Stadt. Und wer
sich dort ein wenig auskennt, der weiß, dass der Tatort,
der Kiosk der Kubasiks, auf der Mallinckrodtstraße liegt
und diese Gegend als eher schwierig zu beurteilen ist.
In die Ermittlungen zum Mord an Mehmet Kubasik
war ich nicht eingebunden. Aber ich kannte und kenne
alle Ermittler aus der damaligen Mordkommission. Jeder von ihnen war mit ganzem Herzen dabei und hat versucht, diese schreckliche Tat aufzuklären, um den oder
die Täter zu ermitteln oder dingfest zu machen.
Als am 14. Juni 2000 Michael Berger, ein Neonazi aus
Dortmund, auf der Flucht einen Kollegen erschoss, war
ich im Dienst. Mit meinem damaligen Partner und vielen
anderen Kolleginnen und Kollegen verfolgten wir Berger
durch Dortmund, Waltrop und einige andere Städte des
Ruhrgebiets. Im Bereich von Waltrop erschoss er zwei
weitere Kollegen. Dann nahm er sich in einem Waldstück
selbst das Leben.
An dieser Stelle möchte ich an meine Kollegen
Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias
Larisch von Woitowitz erinnern. Sie haben sich für unsere Sicherheit eingesetzt. Sie verloren im Dienst ihr Leben. Es wurde ihnen von einem Wahnsinnigen genommen.
Ich möchte auch noch einmal an Mehmet Kubasik erinnern, dessen Familie bis heute nicht weiß, warum diese
irren Neonazis gerade den Ehemann, Vater und Freund
Mehmet Kubasik ermordet haben. In beiden Fällen war
das Opfer keine gezielt ausgesuchte Person. Berger
kannte die Polizisten nicht. Mundlos und Böhnhardt,
von denen wir heute wissen, dass sie Mehmet Kubasik
erschossen, kannten ihn nicht.
Meine Damen und Herren, die Arbeit des ersten
NSU-Untersuchungsausschusses war unheimlich wichtig. Es waren viele Fragen offen; daran besteht gar kein
Zweifel. Das dürfen wir nicht verschweigen, und das
machen wir ja auch nicht. Wir sind es den Hinterbliebenen und der Bevölkerung schuldig, die Geschehnisse
lückenlos aufzuklären; denn ich und wir alle - davon bin
ich überzeugt - möchten, dass die Familien und Angehörigen der Opfer des NSU-Terrors Ruhe finden, endlich
Ruhe finden. Ich möchte, dass sie wissen, dass wir als
Staat und Gesellschaft alles tun, um diese grausamen
Taten aufzuklären. Ich möchte, dass sie wissen, dass in
Deutschland jedes Leben gleich viel wert ist, sei es das
eines Polizisten oder das eines türkischen Kioskbesitzers.
({1})
Meine Damen und Herren, ich sage das hier auch deshalb so deutlich, weil unser Staat und seine Institutionen nicht fremdenfeindlich und nicht rechtsradikal sind.
Wenn hier jemand meint, er könne die Taten des NSU
missbrauchen, um fragwürdige politische Ansichten zu
verbreiten, so erteilen wir ihm hier gemeinsam eine Absage.
({2})
Wer dem Staat pauschal und vielleicht auch aus politischen Erwägungen heraus ohne jeden Nachweis abspricht, sich ernsthaft um die Aufklärung bemüht zu haben, spielt den Extremisten in die Karten. - Sie ziehen
sich den Schuh ja möglicherweise an; ich weiß es nicht.
Das haben Sie gerade gemacht.
({3})
Auch der NSU wollte den Staat treffen. Die Taten
richten sich nicht nur gegen die Opfer, gegen Ausländer
in Deutschland und Mitbürger mit Migrationsgeschichte, sondern auch ausdrücklich gegen unseren Staat. Der
Mord an Michèle Kiesewetter, der versuchte Mord an
dem Polizisten Martin Arnold, meine drei von Michael
Berger ermordeten Kollegen, das waren gezielte MorUli Grötsch
de und keine Kollateralschäden. Die Terroristen hassen
den Staat. Sie hassen, dass unser Staat jedem die gleiche
Heimat gibt. Sie hassen, dass unserem Staat Ethnien und
Glaubensrichtungen gleich sind. Sie hassen, dass unser
Staat und seine Institutionen alle seine Bürger schützt
und allen Freiheiten gewährt.
Meine Damen und Herren, es ist wahr, dass unser
Staat durch den NSU eine herbe Niederlage erlitten hat.
Durch die Ergebnisse des ersten NSU-Untersuchungsausschusses wurden Schwachstellen erkannt, weil wir
einvernehmlich und gut zusammengearbeitet haben, und
das machen wir jetzt auch im zweiten NSU-Untersuchungsausschuss. Größtenteils wurden diese Schwachstellen behoben. Wenige Lücken müssen wir noch schließen, und da sind wir dran.
Die tatsächlich gemachten Fehler bei den Ermittlungen im NSU-Fall dürfen aber nicht dazu führen, dass
wir denken, dass ganze Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften, Gerichte, Verfassungsschutzämter und sonstige
staatliche Institutionen über Jahrzehnte hinweg schlecht
gearbeitet haben. Das ist definitiv nicht richtig. Das
stimmt einfach nicht.
Wir haben in Deutschland eine hervorragende Aufklärungsquote, wenn es zum Beispiel um Kapitaldelikte
geht. Wir haben einen Verfassungsschutz, der auf rechtlicher Grundlage immer wieder detailliert über die Gefahren von rechts und links und auch aus dem religiös
motivierten Extremismus berichtet. Wir sind doch jetzt
qualitativ an einer ganz anderen Stelle.
({4})
Gerade auch das Bundesamt für Verfassungsschutz
hat in den letzten Wochen und Monaten sehr gute Erfolge vorzuweisen. Denken wir nur an die Zerschlagung des
IS-Anwerbernetzes um Abu Walaa. Diese Erfolge sind
eben auf diese veränderten Arbeitsweisen, die Verbesserungen in der Informationsstruktur und auf die sensibilisierte Arbeitsweise zurückzuführen.
Um dies leisten zu können - das zeigt doch die Antwort der Bundesregierung ganz klar -, brauchen wir auch
und vor allem mehr Personal. Die Maßnahmen, die im
Rahmen des personell Möglichen und im Rahmen des
Zuständigkeitsbereichs der Bundesregierung vollständig umgesetzt werden, verbessern die Arbeit der Ermittlungsbehörden weiter. Warum ist das wichtig? Zum einen dürfen wir von unseren ausgebildeten Beamten im
Einsatz nicht erwarten, dass sie die tägliche Arbeit wie
zuvor leisten und zusätzlich noch zahlreiche Lehrgänge
und Fortbildungen machen, wenn wir nicht durch zusätzliches Personal Zeit dafür schaffen.
Richtig und wichtig ist, dass dieses Personal ausdrücklich bei Menschen mit Migrationshintergrund gesucht
wird. Dass die Bundespolizei in die Zukunft denkt - das
macht sie übrigens innovativ -, zeigt sich daran, dass sie
bei der Anwerbung von Nachwuchs verstärkt das Potenzial der sozialen Medien nutzen wird.
Zum anderen braucht es allerdings Zeit, bis sich Veränderungen durchsetzen. Wir können nicht erwarten und
verlangen, dass sich alles von heute auf morgen ändert.
Es braucht Zeit, bis sich Änderungen durchsetzen, bis sie
in Fleisch und Blut übergehen. Veränderungen müssen
im Übrigen auch verarbeitet werden. Glauben Sie mir,
ich weiß, wovon ich rede; schließlich habe ich selbst einmal dort gearbeitet.
Wir können aber nicht beim Thema Personal stehenbleiben, das dürfen wir auch nicht. Zur Verbesserung der
Struktur haben wir mit dem Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum gegen Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus ein hervorragendes
Instrument zur Früherkennung von politisch motivierten Straftaten geschaffen. Mit dieser Einrichtung sind
wir am Puls der Zeit; denn es ist nicht einfach nur eine
neue Behörde, sondern es ist eine dauerhafte Kooperationsplattform von Bund und Ländern. Sie vereinfacht die
oft schwierigen und länderübergreifenden Ermittlungen.
Denn wie in anderen Kriminalitätsbereichen gilt auch
hier: Der Rechtsextremismus macht nicht vor Ländergrenzen halt.
Die Einrichtung des Polizeilichen Informations- und
Analyseverbundes PIAV war deshalb notwendig. Es ist
gut, dass bis 2020 ein ambitionierter Ausbau von PIAV
angedacht ist. Zugleich wird dadurch in den kommenden
Jahren auch der Informationsfluss weiter verbessert. Zeiten und Ressourcen werden dadurch deutlich eingespart.
Mit all diesen Maßnahmen wollen wir die Zusammenarbeit der Polizeien der Länder, der Bundespolizei, des
BKA und der Geheimdienste noch weiter verbessern.
Dies ist der einzig richtige Weg, den größtmöglichen
Schutz vor Verbrechen und insbesondere vor Hasskriminalität zu gewähren.
Ich komme zum Gesetzentwurf der Linken. Ich sage
es von vornherein: Wir können ihm nicht zustimmen.
({5})
- Das haben Sie sich gedacht; das habe ich mir wiederum
gedacht. - Wir können ihm nicht zustimmen, weil wir
Opfer von Gewalttaten nicht belohnen wollen, sondern
wir wollen die Straftaten im Vorfeld verhindern. Das ist
für uns der richtige Ansatz. Dazu haben wir die richtigen
Maßnahmen eingeleitet. Deswegen haben wir im Bundeskriminalamt die „Task Force Gewaltdelikte“ und die
Clearingstelle „Straftaten gegen Asylunterkünfte“ eingerichtet. Das ist der richtige Weg. Man braucht nicht einmal böse von Menschen zu denken, wenn man erwartet,
dass diese versuchen würden, das von Ihnen angedachte
Gesetz zu missbrauchen. Deshalb müssen wir Ihren Gesetzentwurf ablehnen.
Ich bin der Überzeugung, dass wir in der Umsetzung
der Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses
wirklich weit gekommen sind. Die Bundesregierung hat
hier ihre Aufgaben gemacht. Deshalb möchte ich an dieser Stelle - das ging fast unter - herzlichen Dank sagen
an alle ermittelnden Behörden, die uns tatkräftig bei der
Verbrechensaufklärung unterstützen. Herzlichen Dank
dafür an dieser Stelle.
({6})
Thorsten Hoffmann ({7})
Ich möchte noch kurz auf die Länder zu sprechen
kommen. Auch diese sind auf dem richtigen Weg. Ich
bin zuversichtlich, dass auch hier zeitnah alle möglichen
Verbesserungen umgesetzt werden. Wir sind nämlich
nur im Verbund stark. Und wir leben - das darf man an
dieser Stelle ruhig einmal sagen - in einem der sichersten Länder der Welt. Wenn man bedenkt, dass in Cali
in Kolumbien rund 1 600 Morde passieren und in ganz
Deutschland mit knapp 81 Millionen Einwohnern - in
Anführungszeichen; jeder ist zu viel - nur 282 Morde
passieren, dann zeigt das die Dimension. Wir wohnen in
einem der sichersten Länder der Welt. Darauf können wir
stolz sein, und das dürfen wir ruhig auch mal sagen.
Herzlichen Dank.
({8})
Der Kollege Frank Tempel spricht jetzt für die Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und
Herren! Seit gut anderthalb Jahren sitze ich im zweiten
Parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum NSU.
Im Abschlussbericht des ersten Untersuchungsausschusses wurden Empfehlungen ausgesprochen, verfestigte
Einstellungen und Kurzsichtigkeit gegenüber rechtsextremen und rassistischen Gewalttätern bei Polizei und
Gerichten zurückzudrängen.
Rechtlich wurde auch einiges gemacht. Es wurden
„rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende“ Beweggründe und Ziele von Gewalttaten
ausdrücklich in den Katalog der Strafzumessungsumstände aufgenommen. Diese sollen von Staatsanwaltschaft
und Gericht strafverschärfend berücksichtigt werden.
({0})
Doch was, Herr Schuster, sind solche Empfehlungen
wert, wenn es keinen Mentalitätswechsel bei den staatlichen Strukturen gibt? Empfehlungen alleine reichen
eben nicht;
({1})
Petra Pau hat das in ihrer Rede bereits angesprochen.
Als Kriminalbeamter aus Thüringen schaue ich natürlich ganz besonders auf die Polizei. Ich erinnere mich mit
Unbehagen an ein konkretes Beispiel aus dem jetzigen
Untersuchungsausschuss. Ich wohne nun einmal in der
Nähe von Zwickau, also der Stadt, in der das Mordtrio so
viele Jahre, völlig unbehelligt von den staatlichen Strukturen, untertauchen konnte, und ich weiß als Beobachter von einer ausgeprägten rechtsextremen Szene, von
Nazikonzerten, von einem rechten Hooliganmilieu. Wir
durften eigentlich erwarten, dass bei verantwortungsvoller Problemanalyse ganz besonders der zuständige
Dienststellenleiter der Kriminalpolizei diesen Schwerpunkt kennt und beachtet. Mein Erstaunen war vor wenigen Monaten im Untersuchungsausschuss jedoch sehr
groß, als ich feststellen musste, wie gering das Wissen
des Zwickauer Kripochefs zur rechten Szene ist. Ich erinnere an seine Antwort: Wir haben keine Schwerpunktlage rechts.
Dieses Desinteresse findet sich nicht nur in der Polizei
von Zwickau, und es ist schon gar nicht ein rein polizeiliches Problem; wir finden es auch beim Verfassungsschutz und bei der Justiz immer wieder.
Ich muss es leider sagen: Viele Polizeibeamte, nicht
alle, aber viele Polizeibeamte in den verschiedensten Bereichen, mit denen ich gerade in den letzten Wochen persönlich gesprochen habe, sehen nach wie vor in Flüchtlingen in erster Linie erst einmal potenzielle Straftäter,
nicht Opfer.
({2})
- Das ist tatsächlich so. In ganz vielen persönlichen Gesprächen war das immer wieder die Antwort.
Von Rechtsextremisten werden augenscheinlich in
erster Linie Linke, die Zivilgesellschaft und Menschen
mit Migrationshintergrund bedroht. Viele Bürger, auch
Polizeibeamte, fühlen sich davon selbst nicht betroffen.
Sie haben keinen Blick dafür. Ich unterstelle da nicht einmal bösen Willen. Verzerrte Wahrnehmung kennen wir
aus der Psychologie; wir wenden das hier nur nicht an.
({3})
Wenn wirklich Vorurteile und verzerrte Wahrnehmungen bei der Polizei abgebaut werden sollen, dann reichen
Empfehlungen nicht, dann liegt sehr viel Arbeit vor uns.
({4})
Ein parlamentarischer Polizeibeauftragter könnte, nebenbei bemerkt, als Frühwarnsystem gegen solche Entwicklungen durchaus wirksam sein. Einseitige Wahrnehmung
entsteht nun einmal durch subjektive Wahrnehmungen
im Dienstalltag. Dem muss entgegengewirkt werden, um
wiederkehrende Schieflagen bei der Einschätzung rechtsextremer Straftaten zu beseitigen.
Es ist falsch, wenn Innenminister de Maizière auf die
Aufforderung der Gewerkschaft der Polizei nach mehr
politischer Bildung in der Bundespolizei antwortet, politische Bildung sei Privatpflicht der Beamten und nicht
von der Polizei zu leisten. Hier ist der Dienstherr gefragt,
meine Damen und Herren, und damit auch wir.
Danke schön.
({5})
Als Nächstes spricht die Kollegin Susann Rüthrich für
die SPD.
({0})
Thorsten Hoffmann ({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die rechtsextreme Terrorgruppe NSU hat zehn
Menschen umgebracht, mit Bomben Menschen verletzt
und Banken überfallen. Davon wissen wir jetzt genau seit
fünf Jahren.
Aber sind das alte Geschichten? Na ja, eher nicht. Es
gab über 800 Angriffe allein in diesem Jahr. Es wird im
Moment Anklage gegen eine mutmaßliche Terrorgruppe
aus Freital erhoben, die rassistische Überfälle umgesetzt,
politische Gegner angegriffen, Angst verbreitet hat. Mitglieder der Gruppe Oldschool Society sind angeklagt.
Sie haben Angriffe auf Kirchen, Kindergärten und Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen geplant.
Diese Angriffe wollten sie Musliminnen und Muslimen
und politischen Gegnern in die Schuhe schieben, um einen Krieg in Deutschland anzustacheln. Diese Gruppen
konnten Gott sei Dank daran gehindert werden, Menschen zu töten. Ist das ein Beleg dafür, dass wir aus den
Fehlern im Zusammenhang mit dem NSU gelernt haben?
Reagieren unsere Behörden schneller? Ich will es hoffen.
Trotzdem, liebe Kolleginnen und Kollegen, bleibt bei
mir ein flaues Gefühl. Wie würden wir reagieren, wenn
diese Taten nicht von rechten Menschenfeinden geplant
worden wären, sondern etwa von Islamisten? Wie würden wir reagieren, wären Kirchen oder Kindergärten von
denen bedroht worden, wären Bomben in Freital vom IS
gelegt worden, wären in diesem Jahr 800 weiße Deutsche aus Hass angegriffen worden? Meine Vermutung
ist: Dieses Land würde kopfstehen, und zwar völlig zu
Recht. Das wäre in Politik und Medien das Topthema.
Wir würden es als das erkennen und benennen, was es
ist: als Terror.
({0})
Dieser rechte Terror sendet eine Botschaft an die eh
schon oft an den Rand gedrängten Gruppen: Ihr seid hier
nicht sicher. Geht! - Aber wir fühlen uns viel zu oft nicht
angegriffen, sondern das sind Menschen, die zu viele von
uns für „andere“ halten. Genau das ist das Problem.
Die Taten des NSU können wir nicht rückgängig machen. Wir können die Toten nicht lebendig machen, genauso wenig wie die vielen anderen Opfer rechtsextremer
Gewalt. Was wir aber den Opfern, den Angehörigen und
Freunden schuldig sind, ist, aus den Taten zu lernen. Wir
mögen seit der Selbstenttarnung des NSU aufmerksamer
geworden sein und vieles verändert haben, wir mögen
auch vieles aufgeklärt haben: Aber haben wir bereits genug getan? Ich denke: nein.
Ich nenne zwei Bereiche, in denen ich noch Handlungsbedarf sehe. Zum einen sehe ich ihn bei der Stärkung der Zivilgesellschaft; dies ist eine der Handlungsempfehlungen. Denn was den NSU zu einer solchen
Tragödie gemacht hat, ist aus meiner Sicht, dass nicht
nur die Behörden versagt haben, sondern wir alle. Die
dafür nötige Haltung, um es zu erkennen, ist zu ändern.
Dies fördern viele Vereine, viele Initiativen, viele Organisationen mit seit Jahren wirksamer Aufklärung und
Bildung quer durch die Republik. Betroffene rechter
Gewalt können sich an Opferberatungen wenden. Damit
wurden unverzichtbare Strukturen geschaffen, um nach
einem Angriff handlungsfähig zu sein. Zum Glück wird
der Wert all dieses Engagements zunehmend verstanden
und anerkannt. Wir sagen dafür Danke.
({1})
Demokratieförderprogramme gehören deswegen auch
für uns mittlerweile zum Repertoire, um gegen menschenverachtende Gewalt vorzugehen. Das ist selbstverständlich. Wir werden die Mittel allein für das Programm
„Demokratie leben!“ in diesem Jahr von 50 Millionen
Euro auf 100 Millionen Euro verdoppeln. Damit ist eine
wesentliche Forderung aus dem NSU-Abschlussbericht
erfüllt. Das ist auch nötig; denn wir wissen mittlerweile, was funktionieren kann. Vieles ist vor Ort entstanden.
Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass das, was in Kommune A funktioniert, auch in die Gemeinde B übertragen
werden kann, und zwar ohne dass Kommune A aus der
Förderung fällt, weil kein Geld mehr da ist. Außerdem
sind die Bedrohungen der Demokratie vielfältig, und
neue Phänomene entstehen. Darauf müssen wir reagieren können, und zwar nicht auf Kosten des Bewährten.
Viele der Träger klagen seit Jahren darüber, dass eine
Daueraufgabe in zeitlich begrenzte Projekte gepresst
werden muss. Beratungsarbeit, Bildungsarbeit, Demokratieentwicklung, Radikalisierungsprävention - das
alles ist Beziehungsarbeit. Vertrauen zwischen den Menschen und zwischen den Gruppen muss wachsen können.
Daueraufgaben müssen daher dauerhaft gefördert werden.
({2})
Der nächste Schritt muss also noch in dieser Legislaturperiode eine gesetzliche Lösung sein: ein Demokratiefördergesetz. Das haben wir einstimmig im
NSU-Abschlussbericht bestätigt, und das steht auch im
Koalitionsvertrag. Also machen wir das jetzt bitte auch.
Ein weiterer Punkt wurde am Fall NSU deutlich, und
er ist bis heute problematisch. Es geht mir um die Opfer und Betroffenen von rassistischer Gewalt nach einem
Angriff. Viele Punkte im Abschlussbericht beziehen sich
auf einen angemesseneren Umgang mit den Opfern und
Hinterbliebenen. Eines aber bleibt offen - das wurde im
Gesetzentwurf der Linksfraktion erwähnt -: die Frage,
ob die Menschen, die angegriffen wurden, oder die Hinterbliebenen, wenn es denn zum Strafprozess kommt,
überhaupt noch in unserem Land sind, überhaupt noch
hierbleiben dürfen. Es geht also um die Frage, ob ein
Heilen der oftmals auch unsichtbaren Wunden überhaupt
möglich ist, wenn die Bleibeperspektive unsicher ist. Das
ist tatsächlich ein Problem. Zum Teil wird die Bleibeperspektive genau durch den Angriff erst genommen. Wenn
etwa eine eigenständige Existenzgrundlage Voraussetzung für ein Bleiberecht ist und genau diese durch den
Angriff zerstört wurde, dann drängen wir Opfer leider
wieder an den Rand. Wie oft geschieht das, ohne dass
eine so engagierte Ombudsfrau wie Frau John im Fall der
NSU-Hinterbliebenen darauf hinweisen kann?
Der Verband der Beratungsstellen für Betroffene
rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt macht
in einem Papier, das mich gestern erreicht hat, auf genau diese Frage der Bleibeperspektive aufmerksam. Allzu oft sind diejenigen, die in einem Strafprozess gegen
einen rassistisch motivierten Täter aussagen könnten,
zum Zeitpunkt des Prozesses bereits zur „freiwilligen“
Ausreise bewegt oder abgeschoben worden. Die strafprozessualen Rechte der Betroffenen können so nicht mehr
verwirklicht werden. Die Verurteilung des Täters wird
massiv beeinträchtigt.
Ich weiß nicht, ob dieses Problem über das Aufenthaltsrecht zu lösen ist, wie Sie es vorschlagen. Strafrechtliche Probleme über das Aufenthaltsrecht zu lösen,
erscheint mir zumindest fragwürdig. Man kann die Situation aber auch nicht so belassen, wie sie ist. Es geht darum, Schlagkraft durch die so oft erwähnte ganze Härte
des Rechtsstaates gegen die Täter zu entfalten. Deswegen brauchen wir mindestens eine Regelung, die Opfern
rechter Gewalt zusichert, dass sie während des laufenden
Strafverfahrens hierbleiben können. Es muss das klare
Signal an Täter und potenzielle Täter geben: Ihr erreicht
euer Ziel nicht! Eure Gewalt wird bestraft!
({3})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn bereits
viel erreicht wurde, haben wir noch viel zu tun. Immer
noch werden Menschen wie ich am Bahnhof so gut wie
nie kontrolliert, Menschen mit dunklem Bart oder Kopftuch aber schon eher. Dieses Racial Profiling ist nicht
in Ordnung. Immer noch wird bei Hakenkreuzschmierereien, zum Beispiel bei einem Angriff auf ein Bürgerbüro, nach einem Beleg für eine rechtsmotivierte Straftat
gesucht, als wenn nicht die Tat an sich das Bekenntnis
wäre. Immer noch werden Menschen, die angegriffen
wurden, im Anschluss gefragt, wie sie die Nazis denn
provoziert hätten, worauf sie sie angegriffen haben. Teilweise werden Jugendliche, die sich zum Zwecke der Gewalt zusammentun, auch als eventorientierte Jugendliche
bezeichnet.
({4})
Nein, es ist nicht erst dann jemand wirklich rechts,
wenn er den Staat angreift. Nazis und Rassisten greifen Menschen an. Deren Würde ist durch Artikel 1 des
Grundgesetzes geschützt. Da sie geschützt ist, müssen
wir jeden einzelnen Menschen gleich schützen.
Frau Kollegin, denken Sie an die vereinbarte Redezeit.
({0})
Solange sich nicht alle Menschen durch Gesetze und
Strukturen gleich geschützt fühlen, müssen wir weiter
vermuten, dass es institutionellen Rassismus gibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, denen, die ich gestern im Untersuchungsausschuss gesehen habe, muss ich
nicht erklären, warum ich das so betone: Unsere Aufgabe
ist es, nicht nur staatliche Institutionen zu schützen, sondern Menschen.
Vielen Dank.
({0})
Als Nächste spricht die Kollegin Monika Lazar für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU sind noch
immer viele Fragen unbeantwortet. Wurde seitdem genügend dafür getan, um rechten Terror künftig zu verhindern? Was hat sich seitdem in den Behörden und unserer
Gesellschaft verändert?
Positiv ist, dass die Sensibilität für rechte Gewalt an
vielen Stellen gewachsen ist. Die mediale Berichterstattung über Rassismus und Gewalt erfolgt kontinuierlicher
als noch vor einigen Jahren. Strukturen gegen rechts
werden solider gefördert, auch wenn im Detail weiterhin
Luft nach oben ist. Dennoch ist die Gefahr nicht gebannt.
Im Gegenteil: Die aktuellen Entwicklungen geben Anlass zur Sorge.
2015 stieg die Zahl rechter Gewalttaten laut BKA um
mehr als 44 Prozent auf 1 485 Fälle. Die Dunkelziffer ist
höher, wie Erhebungen aus der Zivilgesellschaft belegen.
Neonazis schlagen immer brutaler zu. Bis Anfang Oktober dieses Jahres gab es bereits elf versuchte Tötungsdelikte und damit vier mehr als im gesamten Jahr 2015.
Mehrere Delikte richteten sich gegen Geflüchtete und
Migranten, die zu den Hauptzielen rechter Attacken gehören.
Die Brutalisierung und Häufung rassistischer Gewalt
kommt aus einer Gesellschaft heraus, in der die Abwertung bestimmter Menschengruppen zunehmend salonfähig erscheint. Im Juni wurden mit der aktuellen „Mitte“-Studie wieder alarmierende Ergebnisse präsentiert.
Demnach hat eine deutliche Radikalisierung stattgefunden, vor allem in Bezug auf Asylsuchende, Muslime
sowie Sinti und Roma. Ein zentraler Befund der Studie
ist die enthemmte Gewalt in den zu Rechtsextremismus
neigenden Milieus. Diese haben in AfD und Pegida eine
politische Heimat gefunden, sodass sie massiver und organisierter auftreten können.
Wenn rechter Terror künftig verhindert werden soll,
müssen rechtsstaatliche Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft werden.
({0})
Ebenso brauchen wir wirksame Maßnahmen zum Schutz
der Menschengruppen, die besonders von Abwertung
betroffen sind. Ein strukturierter Dialog zwischen staatlichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Initiativen
zur Bekämpfung von Rassismus und Gewalt gehört zu
den Maßnahmen, die die Bundesregierung fördern sollte.
Aber es gehört auch unsere gesamte Gesellschaft in den
Blick. Rassistischer Hass und Gewalt gehen uns alle an,
nicht nur die direkt davon Betroffenen.
Die diesjährige Friedenspreisträgerin des Deutschen
Buchhandels Carolin Emcke sagte darüber in ihrer Dankesrede - ich zitiere -:
Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht
nur diejenigen, die er sich zum Opfer sucht, sondern
alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen,
Reinen, Völkischen verengt die Welt. … Es versieht
die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden.
Wer in einer so engen Gesellschaft nicht leben will, muss
aktiv gegensteuern.
Um Taten wie die des NSU zu verhindern, muss viel
getan werden; aber es genügen nicht Überwachung und
Repression. Notwendig sind außerdem die Stärkung der
zivilgesellschaftlichen Kräfte, die eindeutige Distanzierung von rechtspopulistischen Diskursen sowie eine lebensnahe Vermittlung unserer demokratischen Werte und
politischer Bildung.
Danke.
({1})
Ich möchte auch Dankeschön für die vorbildliche Einhaltung der Redezeit sagen.
Abschließender Redner in dieser Aussprache ist der
Kollege Dr. Volker Ullrich für die CDU/CSU.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU
haben wir heute eine gute Gelegenheit, über die Aufarbeitung und die Konsequenzen dieser Mordserie zu sprechen. Die Kernfrage ist, ob der Rechtsstaat, dem wir in
diesem Lande den Begriff „wehrhafter Rechtsstaat“ zubilligen, sich als wehrhaft und lernend erwiesen hat. Die
Frage ist also: Haben wir das Versprechen dieses Staates,
zur Aufklärung beizutragen, eingehalten oder nicht?
Der Ausgangspunkt ist die Fassungslosigkeit und das
Entsetzen des Staates, aber auch der Zivilgesellschaft
über diese beispiellose Mordserie. Die Aufklärung hat
zwei wichtige Komponenten: Wir müssen und sollen
wissen, was passiert ist, nicht im Sinne einer historisch
richtigen Geschichtsschreibung, sondern wir sind es den
Opfern und ihren Angehörigen schuldig, dass sie wissen,
warum sie Opfer geworden sind und was die Beweggründe für diese Taten waren. Aber der Staat hat auch zu lernen, damit er zukünftig Gefahren besser erkennen kann
und durch diese Erkenntnis der Gefahren neue Mordserien möglicherweise verhindern kann. Das ist unser Auftrag.
Wo stehen wir heute? Wir haben einen Blick auf die
gesamtstaatliche Aufklärungsarbeit zu werfen. In München geht der NSU-Prozess mittlerweile über 300 Verhandlungstage. Insgesamt zwölf Parlamentarische Untersuchungsausschüsse in sieben Ländern und zwei im
Bund haben zur Aufklärung beigetragen. Ich will heute
aber auch nicht verschweigen, dass es eine große gesellschaftliche Beschäftigung mit dem Thema NSU gibt: im
Bereich Kunst und Kultur, durch Filme und Theaterstücke, aber auch durch das Engagement der Bürgergesellschaft. Auch das sollten wir an dieser Stelle würdigen.
Bürger des ganzen Landes fragen sich, wie das passieren
konnte.
({0})
Wir haben uns die Frage zu stellen, wie weit wir gekommen sind. Der Blick geht dabei zunächst auf die
Empfehlungen des ersten Untersuchungsausschusses des
Deutschen Bundestages. Dieser hat insgesamt 47 Empfehlungen abgegeben. Die Empfehlungen sind breit gefächert. Sie betreffen Fragen der Sensibilisierung der Behörden für rassistische und rechtsextremistische Gewalt.
Es geht um Fragen des Datenaustausches, um stärkere
Befugnisse und, ja, auch um die Änderung unseres Strafrechts. Wir haben heute festzustellen - darauf kann dieser
Bundestag stolz sein -, dass praktisch alle Empfehlungen
umgesetzt sind.
({1})
Wir müssen uns aber auch die Frage stellen, wie wir
zu der tatsächlichen Aufklärung stehen. Ja, es sind noch
Fragen offen. Wir haben bislang nicht auf alle Vorkommnisse Antworten gefunden, die uns zufriedenstellen. Aber
möglicherweise müssen wir auch akzeptieren - selbst
wenn wir es nicht akzeptieren wollen, weil wir innerlich
dagegen sind -, dass vielleicht manche Fragen ungeklärt
bleiben werden, weil es nicht mehr menschenmöglich
ist, sie aufzuklären. Trotzdem kann ich heute sagen: Was
dieser Staat an Aufklärung geleistet hat, das ist historisch
und beispiellos. Diese Aufklärung beweist eine starke innere Kraft unseres Staates, daraus zu lernen und es für
die Zukunft besser zu machen.
({2})
Wir benötigen auch weiterhin eine wehrhafte Demokratie und einen starken Rechtsstaat; denn die Feinde unserer Verfassung und eines friedlichen Zusammenlebens,
die Feinde desjenigen, der anders aussieht oder eine andere Herkunft hat, und die, die nicht akzeptieren möchten,
wie wir leben, werden sicherlich nicht ruhen. Deswegen
muss dieser Staat konsequent gegen Verfassungsfeinde
jeglicher Couleur vorgehen: gegen Rechtsextremisten,
Linksextremisten und gegen den islamistischen Terror.
Dafür brauchen wir die entsprechenden Handlungsmöglichkeiten des Staates.
Wir brauchen weiterhin einen starken Verfassungsschutz, und wir brauchen auch V-Leute in einem richtigen rechtlichen Rahmen, damit wir erkennen können,
was passiert. Wer V-Leute abschaffen möchte und den
Verfassungsschutz schwächt, der wird am Ende des Tages auch dieses Land und seine Wehrhaftigkeit schwächen. Das können wir nicht zulassen.
({3})
Herr Kollege Dr. Ullrich, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Tempel?
Bitte.
Herr Dr. Volker Ullrich, vorhin hat der Kollege
Schuster gesagt, dass die Kollegin Pau hier teilweise anders spricht als im Untersuchungsausschuss. Bei Ihnen
habe ich den Eindruck, dass Sie da komplett durchschlafen. Das gilt für die Sitzung des Untersuchungsausschusses gestern genauso wie für die ganze Historie.
Sie verteidigen den Einsatz von V-Leuten gerade in
diesem Bereich. Gerade die VP-Führer des Verfassungsschutzes tun sich durchweg schwer, V-Leute überhaupt
als Extremisten einzuschätzen. Da kommt etwa als Definition, dass V-Leute, wenn sie mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten, gar keine Extremisten sein
können. Es wird von „guten Jungs“ gesprochen, die
vielleicht etwas abenteuerlustig oder hibbelig sind. Wir
sehen aber im Gegensatz dazu, dass dort mit Menschen
gearbeitet wurde, die ganze Paletten von Straftaten begangen haben und Gewalttäter waren, im Waffenhandel
tätig waren oder im Bereich gewalttätiger politisch motivierter Straftaten aktiv waren. Das sind gerade die Leute,
von denen Sie eben hervorgehoben haben, wie wichtig
sie für das Sicherheitssystem sind. Wir vernehmen diese
Leute im Untersuchungsausschuss, und Sie bekommen
dort dieselben Antworten wie wir. Das sind die Leute,
die uns eine Gefahrenanalyse geben sollen und die die
rechtsextremen Strukturen aufklären und in ihrer Gefährlichkeit einschätzen sollen.
Wenn Sie genauso wie wir die Antworten von diesen
Personen und von den Beamten des Verfassungsschutzes
im Untersuchungsausschuss hören, wie können Sie dann
ernsthaft den Einsatz der V-Leute und dieses System
rechtfertigen?
({0})
Herr Kollege Tempel, es ist gar keine Frage, dass im
Umfeld der Terrorzelle NSU zahlreiche V-Leute und
auch ihre V-Leute-Führung schwere Fehler gemacht haben. Diese schweren Fehler hat der erste Untersuchungsausschuss aufgedeckt. Bei diesen Verfehlungen sind wir
im zweiten Untersuchungsausschuss auch nicht stehen
geblieben. Aber das Versagen Einzelner und fehlerhafte
Zusammenarbeit zwischen Behörden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir insgesamt zur Aufrechterhaltung der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie dieses
Instrument brauchen. V-Leute sind kein Selbstzweck.
Vielmehr brauchen wir sie, damit wir Einblick in gefährliche Strukturen haben, in den rechtsterroristischen und
den linksterroristischen Bereich, aber auch in den Bereich des islamistischen Terrors. Ohne V-Leute wären wir
weniger wehrhaft. Deswegen hat der Bundestag, Herr
Kollege Tempel, im letzten Jahr mit großer Mehrheit
eine Reform des Bundesamtes für Verfassungsschutz beschlossen und hat als Konsequenz aus dieser Mordserie
und den Untersuchungsausschüssen wesentlich stärkere
Restriktionen für V-Leute erlassen. Diese Beschränkungen funktionieren in der Praxis.
({0})
Nicht nur der Staat ist gefragt, sich für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzusetzen. Vielmehr
ist jeder gefragt, an einem aktiven Eintreten für die Werte
unseres Grundgesetzes, die körperliche Unversehrtheit,
die Würde des Menschen und die Freiheit des Einzelnen
teilzunehmen. Wir müssen außerdem in Bezug auf die
Sprache sensibel sein. Kritik ist erlaubt. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Wir müssen aber verhindern, dass
die Verrohung der Sprache in der Gesellschaft weiter um
sich greift. Wir haben die Verpflichtung, uns dem entgegenzustellen. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber
den Opfern und ihren Angehörigen.
Abschließend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass
wir uns, obwohl die unternommene Aufarbeitung noch
nicht zu Ende ist, auf einem guten Weg befinden. Ich bitte diejenigen, die sich mit diesem Thema befassen, und
die Angehörigen der Opfer, uns abzunehmen, dass unsere
Haltung zu Aufklärung und Aufarbeitung als das gewertet werden kann, was sie ist, nämlich ein wichtiger Beitrag, um unsere Verfassungsordnung, die Freiheit und die
Würde des Menschen noch stärker zu machen.
Vielen Dank.
({1})
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Fraktion Die Linke eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Aufenthaltsgesetzes - Aufenthaltsrecht für
Opfer rechter Gewalt. Der Innenausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 18/10288,
den Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke auf Drucksache 18/2492 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke zustimmen
wollen, jetzt um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Das ist nicht der Fall.
Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen von CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung
die weitere Beratung.
Wir kommen nun zu Tagesordnungspunkt 39:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen
in der Grundsicherung für Arbeitsuchende
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und
in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch
Drucksache 18/10211
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales ({0})
Innenausschuss
Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. - Widerspruch
wird dagegen nicht erhoben. Dann ist das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Rednerin für die Bundesregierung der Parlamentarischen
Staatssekretärin Anette Kramme das Wort.
({1})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir leben in besorgniserregenden Zeiten. Politiker mit nationalistischen Parolen erhalten Zulauf, und
Institutionen wie die Europäische Union, die für Völkerverständigung und für internationale Kooperation stehen,
sind schwer unter Beschuss geraten. Deshalb gilt jetzt
mehr als jemals zuvor: Wir dürfen uns nicht aus Europa
zurückziehen. Wir dürfen nicht zurückfallen in Abschottung und Kleinstaaterei; denn der Rückzug auf das Nationale befördert Europa- und Ausländerfeindlichkeit.
({0})
Genau das wird uns fälschlicherweise vorgeworfen im
Zusammenhang mit den Regelungen zu Sozialleistungen
für Bürgerinnen und Bürger aus anderen EU-Staaten, die
wir heute debattieren. Aber gerade das tun wir nicht, liebe Kollegen und Kolleginnen. Im Gegenteil: Wir setzen
auf Europa. Wir wollen, dass wir gemeinsam in Europa zu Problemlösungen kommen, die für alle tragen. Es
geht uns um die Stärkung der europäischen Idee. Dieses
Ziel erreichen wir aber nur, indem wir die Akzeptanz der
Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der fundamentalen
Grundlagen der Europäischen Union schützen, und dazu
dient die Klarstellung des Zusammenhangs von Arbeitnehmerfreizügigkeit einerseits und Ansprüchen auf Sozialleistungen andererseits.
Ich will hier noch einmal betonen: Durch das geplante Gesetz bekräftigen wir die Intention des europäischen
Gesetzgebers. Er stellt nämlich einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und
Sozialleistungsansprüchen her. Die Kehrseite ist - darum
geht es hier -, dass klar sein muss, dass Personen, die
kein Freizügigkeitsrecht und kein Aufenthaltsrecht aufgrund der Freizügigkeitsrichtlinie haben, diese Ansprüche gegenüber dem deutschen Sozialstaat nicht haben.
Gleichzeitig verlieren wir aber nicht aus dem Blick, warum Menschen aus anderen EU-Staaten nach Deutschland kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Frieden und Wohlstand sollte Europa bringen. Vor allen Dingen im Süden
des Kontinents, aber nicht nur dort sehen wir, dass das
Wohlstandsversprechen Europas brüchig geworden ist.
Dieses Problem müssen wir angehen, gemeinsam in Europa. Dafür brauchen wir Handlungsfähigkeit, und zwar
dort, wo die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag betroffen sind.
Wir müssen zum einen glaubhaft und erfahrbar machen, dass sich die Gemeinschaft als soziale Wertegemeinschaft versteht und nicht als bloße Wirtschaftsgemeinschaft.
({1})
Von der Politik der vergangenen Jahre haben eben nicht
alle Menschen in Europa profitiert. Die Verbesserung sozialer Standards stand ebenfalls nicht oben auf der Prioritätenliste. Die schwierige soziale Lage in einigen Mitgliedstaaten verschärft die Armutsmigration innerhalb
Europas, und diese greift die Solidaritätsbereitschaft der
Zielländer an. Dem steuern wir mit unserem Gesetzentwurf entgegen, indem wir klarstellen: Wer kommt, um
hier zu arbeiten, genießt selbstverständlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa, mit den daraus folgenden
Ansprüchen an Sozialversicherung und Sozialstaat. Wer
dagegen nur kommt, um hier höhere Sozialleistungen als
in einem anderen Staat zu erhalten, der hat keinen Anspruch darauf; denn die Antwort auf soziale Probleme
in Europa kann nicht mehr Armutsmigration sein. Dafür
dürfen wir keine Anreize setzen. Das Ziel muss doch eine
Anpassung der sozialen Mindeststandards nach oben
sein. Für den Aufbau einer europäischen Säule sozialer
Rechte, die ihren Namen verdient, lohnt es sich, zu streiten. Ich lade alle Kritiker ein, ihre Energie in den aktuellen Diskussionsprozess einzubringen.
({2})
Ich bin überzeugt: Unsere Regelung dient dem sozialen Fortschritt in Europa. Zugleich gibt sie den Kommunen Klarheit und Rechtssicherheit, und sie stärkt die
Akzeptanz für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa.
Vielen Dank.
({3})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sabine
Zimmermann, Fraktion Die Linke.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wenn das Bundessozialgericht urteilt, dass
EU-Bürgerinnen und -Bürger Anspruch auf Sozialleistungen haben, dann geht die Bundesregierung nicht etwa
daran, dieses höchstrichterliche Urteil umzusetzen. Nein,
Sie machen sich das ganz einfach: Sie verändern die
Rechtslage. Ich frage Sie: Mit welchem Ziel? Doch ganz
ausdrücklich mit dem Ziel, dass EU-Bürgerinnen und
-Bürger Deutschland wieder verlassen, wenn sie hier in
finanzielle Nöte geraten. Ich sage Ihnen: Das ist unsozial.
({0})
Das heißt, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges
Existenzminimum wird geopfert. Frau Nahles macht den
Seehofer und denkt, so bekommt sie die Wählerinnen
und Wähler wieder zurück.
({1})
Ich sage Ihnen: Das funktioniert nicht.
({2})
Vor einigen Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht zum Asylbewerberleistungsgesetz zu urteilen.
({3})
- Hören Sie mir doch zu! Dann können Sie vielleicht
noch etwas lernen. - Damals sprach der Verfassungsrichter Ferdinand Kirchhof die denkwürdigen Worte an die
Bundesregierung:
Das Motto, ein bisschen hungern, dann gehen die
schon, könne es doch wohl nicht sein.
Aber genau diesem Motto folgen Sie in dem vorliegenden Gesetzentwurf ein weiteres Mal. Unsozialer geht es
wirklich nicht, meine Damen und Herren!
({4})
Wahrscheinlich müssen wir ein weiteres Mal damit
rechnen, dass das Gesetz, das Sie jetzt entworfen haben,
vor dem Bundesverfassungsgericht oder sogar vor dem
Europäischen Gerichtshof landet. Das ist schon beschämend genug. Schlimmer noch ist aber das Signal, das Sie
mit diesem Gesetz aussenden. Sie hauen damit genau in
die Kerbe der Brexit-Befürworter in Großbritannien. Sie
bestätigen das Vorurteil, dass angeblich Hunderttausende nach Deutschland kommen wollen, um hier Sozialleistungen abzukassieren. Sie bestätigen die verbreitete
Wahrnehmung, dass die europäische Einigung im Interesse der Unternehmen vorangetrieben wird. Aber wenn
es um die kleinen Leute geht, die sich dort auf die Suche nach Arbeit machen wollen, wo es wirtschaftlich gut
läuft, dann ist Schluss mit der europäischen Idee. Dann
zählen auf einmal wieder nationale Interessen.
Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ihren Solidaritätsschein für Europa verbrannt. Mit diesem
Gesetz gießen Sie Benzin in das gleiche Feuer. Das darf
doch wohl nicht wahr sein.
({5})
Wachen Sie endlich auf! Stellen Sie sich den sozialen
Verpflichtungen, die ein zukunftsfähiges Europa mit sich
bringt!
Das menschenwürdige Existenzminimum ist im
Grundgesetz festgeschrieben.
({6})
- Ich bin ja auch noch gar nicht fertig. - Es gilt für deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger und ebenso für
ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die hier in
Deutschland leben. Darüber sind wir alle uns doch wohl
einig.
Mit Ihrem Gesetz schließen Sie Tausende von EU-Bürgerinnen und -Bürgern von jeder öffentlichen Hilfe aus.
Diese EU-Bürger leben bereits hier. Sie leben hier, weil
sie in ihren Heimatländern keine Perspektive für sich und
ihre Familien sehen. Diese Menschen werden aber auch
nicht einfach abreisen, wie Sie es wollen. Wo sollen sie
denn auch hin? Wenn Sie den Menschen alle Möglichkeiten und Perspektiven rauben, verrohen sie irgendwann
und resignieren. Ich weiß nicht, ob Sie es merken: In diesem Klima sind wir schon längst angekommen. Auch die
Folgen spüren wir. Wir spüren sie immer mehr und tagtäglich. Ich frage Sie: Können Sie das noch länger verantworten?
({7})
Die Kommunen haben zu Recht darauf hingewiesen,
welche Kosten durch das BSG-Urteil auf sie zukämen.
Viele Kommunen stehen finanziell bereits mit dem Rücken an der Wand. Das ist ein Problem, das wir alle kennen. Die Linke fordert: Die Gemeinden müssen endlich
wieder genug Mittel an die Hand bekommen, damit sie
ihren Aufgaben wieder nachkommen können.
({8})
Sie wissen doch, wie in diesen Bereichen gekürzt wird.
Mit Ihrem Gesetzentwurf nehmen Sie den Ausländerfeinden und den Rechtspopulisten nicht den Wind
aus den Segeln, sondern, im Gegenteil, verschärfen die
Schlagseite des europäischen Einigungsprozesses. Wachen Sie endlich auf, ändern Sie den Kompass, oder Sie
fahren uns in einen Sturm hinein, in dem wir am Ende
alle als Schiffbrüchige enden werden.
Meine Damen und Herren, sozial geht anders.
- gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen
Weiler, bevor Ihre Redezeit zu Ende ist?
Er kann ja auch eine Kurzintervention machen.
Sie gestatten also keine Zwischenfrage.
Nein. Ich bin jetzt fertig.
({0})
Ich will Ihnen nur noch einmal sagen: Sozial geht anders, und sozial geht nur mit der Linken.
Danke.
({1})
Dann kommen wir zum Kollegen Dr. Martin Pätzold,
der als nächster Redner für die CDU/CSU spricht.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Die bisherige Debatte hat deutlich gemacht,
dass es am Ende um die Frage geht, wie wir die soziale
Waage in Europa gestalten, wie wir sie ausbalancieren.
Zur Freizügigkeit ist erst einmal festzustellen, dass sie
eine große europäische Errungenschaft ist.
({0})
Es sind 4 Millionen EU-Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten.
({1})
Von diesen sind 1,68 Millionen sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie leisten mit ihrer Erwerbstätigkeit einen wichtigen, einen ganz entscheidenden Beitrag
zur wirtschaftlichen Dynamik, zur Entwicklung in unserem Land.
({2})
- Vielen Dank an die SPD! - Sie leisten damit einen
Beitrag dazu, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland heute eine Rekordbeschäftigung haben. In meinem
Bundesland Berlin sind insgesamt 73 000 EU-Ausländer
sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Sie werden vor
allen Dingen im Bereich der Kreativwirtschaft, in den
Start-ups gebraucht und leisten hier ihren Beitrag zur
wirtschaftlichen Entwicklung.
Es gibt aber noch eine andere Seite. Das ist der Grund,
warum wir dieses Gesetz in der Form heute hier diskutieren. Auch die Staatssekretärin hat sehr deutlich gemacht,
was die Beweggründe sind. Wir diskutieren es deswegen, weil es auch 440 000 EU-Ausländer gibt, die über
Hartz IV, über aufstockenden Leistungen, Sozialleistungen in der Bundesrepublik Deutschland beziehen.
({3})
Es sind 46 000 Personen in meinem Bundesland Berlin.
Daran sieht man, dass dieses Thema vor allen Dingen in
Ballungsgebieten eine große und bedeutende Rolle spielt.
Laut meiner Kollegin Jutta Eckenbach aus Essen,
mit der ich mich zu diesem Thema auch intensiv ausgetauscht habe, gibt es auch dort Herausforderungen für die
Kommunen, die wir gemeinsam gestalten und meistern
müssen. Das, was von Ihnen, Frau Zimmermann, angesprochen wurde, dass wir die Kommunen entlasten müssen, das machen wir mit diesem Gesetz.
({4})
Ein Viertel der Kosten, die da anfallen, werden bisher
von den Kommunen getragen, und die werden in Zukunft
nicht mehr anfallen. Ich sage Ihnen: Sie haben es richtig
angesprochen. Wir setzen es auch um.
({5})
In Berlin erleben wir, dass es in einigen Bezirken,
etwa in Neukölln oder Friedrichshain-Kreuzberg, zu einer Ballung kommt, wodurch sich Probleme herausbilden, die - das wurde von der Staatssekretärin angesprochen - durchaus denen Raum geben, denen wir keinen
Raum geben wollen. Deswegen müssen wir handeln, und
wir handeln an dieser Stelle auch sehr sachlich und sehr
abgewogen. Wir werden noch im Laufe dieser Debatte,
in einer Anhörung im Ausschuss und in der weiteren parlamentarischen Befassung herausarbeiten können, wen
es an dieser Stelle betrifft und für welche Personen es
keine Änderungen gibt.
Wir sind auch deswegen zum Handeln gezwungen,
weil es diese beiden bekannten großen Fälle Alimanovic und Dano gibt, in denen der Europäische Gerichtshof
festgestellt hat, dass es richtig ist, von SGB-II-LeistunSabine Zimmermann ({6})
gen auszuschließen, dass es aber über einen verfestigten
Aufenthalt dazu kommen kann und nach sechs Monaten
muss, dass die Kommunen unterstützen müssen, um das
Existenzminimum zu finanzieren.
Deswegen regeln wir mit diesem Gesetzentwurf, dass
Personen, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschland
kommen, in den ersten fünf Jahren von Sozialleistungen
nach dem SGB II oder SGB XII ausgeschlossen werden.
Das ist eine sehr vernünftige und abgewogene Entscheidung, auch wenn man bedenkt, dass wir für diejenigen,
die schon da sind oder die mit großen Hoffnungen zu uns
kommen, einmalige Überbrückungsleistungen festsetzen.
Diese sehr soziale Gesetzgebung hat das Ziel, für denjenigen kurzfristig, nämlich innerhalb von vier Wochen
und einmalig innerhalb von zwei Jahren, die Deckung
der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, die Deckung der Bedarfe für Unterkunft und
Heizung sowie die Kosten für die notwendigen Arztbehandlungen zu übernehmen. Das Wichtigste ist, diesen
Menschen ein Darlehen zu geben, wenn es darum geht,
in ihre Heimat zurückzugehen und sich wieder eine Perspektive aufzubauen. Ich glaube, dass der Gesetzentwurf,
den wir machen, sehr sozial und abgewogen ist. Es ist
richtig, dass wir bestimmte Gruppen nicht einbeziehen.
({7})
Ich habe den Zwischenruf aus der Grünenfraktion von
vorhin über die aufstockenden Leistungen vernommen.
Wir ändern - das ist vollkommen richtig - an dieser Stelle nichts, weil es eben darum geht, dass Personen, die als
Arbeitnehmer aus Europa, aus der Europäischen Union,
vielleicht mit Familie, hierherkommen und arbeiten, weiterhin eine Unterstützung bekommen, wenn die Bezahlung im Beruf nicht auskömmlich ist.
Worüber wir reden müssen - das sehen wir dezidiert
anders als der Koalitionspartner, da gibt es inhaltlich
durchaus andere Auffassungen -, ist die Frage: Wie geht
man mit Selbstständigen um? Ich spreche von Selbstständigen, die aus Griechenland, Spanien oder Italien nach
Deutschland kommen, hier aufstockende Leistungen beantragen und deren Gewinnabsicht nicht immer so klar
ist.
({8})
Die Frage ist: Gibt es in diesem Sinne eine Selbstständigkeit? Um diese Frage zu beantworten, brauchen wir noch
viel stärker die Unterstützung der Behörden und auch die
Möglichkeit, zu überprüfen, ob eine Selbstständigkeit
mit dem Ziel einer Gewinnabsicht vorliegt.
Abschließend die Frage: Warum machen wir diesen
Gesetzentwurf? Erstens. Wir wollen unser Sozialsystem vor Missbrauch schützen. Zweitens. Wir stellen
fest und klar - dabei geht es um Rechtssicherheit -, wer
anspruchsberechtigt ist und wer vor allen Dingen nicht
anspruchsberechtigt ist. Drittens. Es gilt dann nach fünf
Jahren der Grundsatz „Fordern und Fördern“. Ich glaube,
das ist eine richtige und gute Ableitung aus diesem Gesetzesvorschlag.
Wir freuen uns auf die Debatte und leisten damit unseren Beitrag dafür, dass Europa, so wie es die Staatssekretärin gesagt hat, sozialer wird und die Regeln klarer
werden. Wir lassen nicht zu, dass Populisten die Oberhand gewinnen.
Vielen Dank.
({9})
Der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Bündnis 90/Die Grünen, spricht als Nächster.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein
soziales Europa ist dringender denn je notwendig. Der
Zusammenhalt zwischen den Ländern und den Menschen in Europa ist gefährdet. Nach der Wahl in Amerika
in dieser Woche ist es vielleicht noch wichtiger, die europäische Einheit zu stärken und das soziale Europa stark
zu machen.
({0})
Es ist wichtig, dass das nicht nur in Sonntagsreden
und in Gastbeiträgen passiert, sondern dass dem auch Taten folgen. Es ist schon ziemlich scheinheilig, dass die
Ministerin an dem Tag, an dem dieser Gesetzentwurf im
Bundeskabinett beschlossen wurde, einen Gastbeitrag
für die FAZ geschrieben hat, in dem sie für einen stärkeren sozialen Zusammenhalt in Europa plädiert hat; denn
dieser Gesetzentwurf ist das genaue Gegenteil.
({1})
Er setzt europapolitisch ein völlig falsches Signal. Er ist
sozialpolitisch verfehlt, und er erschwert die notwendige
Integration vor Ort. Ausbaden vor Ort müssen das letztendlich die Kommunen. Deswegen ist Ihr Vorschlag für
die Kommunen nur eine Scheinlösung.
Einig sind wir uns darin, dass es Handlungsbedarf
gibt. Es gibt das Urteil des Bundessozialgerichts. Es stellt
auch keine gute Lösung dar, weil es keine Rechtsklarheit
schafft. Dafür sind wir als Gesetzgeber verantwortlich.
Es ist auch keine Lösung, zu sagen: Die Menschen sollen,
um ihr Existenzminimum zu sichern, was ein Grundrecht
ist - da hat die Kollegin Zimmermann völlig recht -, Sozialhilfe beziehen können. Sozialhilfe ist keine Leistung
für erwerbsfähige Menschen, und sie muss komplett von
den Kommunen bezahlt werden. Das ist keine gute Lösung, da besteht Handlungsbedarf.
({2})
Es besteht aus einem zweiten Grund Handlungsbedarf, nämlich aufgrund der sozialen Situation vor Ort.
Mein Wahlkreis ist Offenbach. Offenbach ist die Stadt
mit dem höchsten Anteil an Bulgaren und Rumänen
in ganz Deutschland. Man kann bei mir vor Ort sehen,
welche Folgen es hat, wenn Menschen keine soziale
Absicherung haben. Von irgendetwas müssen sie leben.
Sonst leben sie in teilweise unwürdigen Verhältnissen. In
Frankfurt gibt es ein Zeltcamp, in dem fast slumartige
Zustände herrschen. In Offenbach müssen manche Menschen in Schrottimmobilien wohnen; andere suchen auf
anderen Wegen nach Geld, durch illegale Tätigkeiten wie
Schwarzarbeit oder schlimmere Aktivitäten. Wir brauchen soziale Unterstützung, um den Menschen zu helfen, integriert zu werden. Sie dürfen nicht ausgegrenzt
werden, sondern müssen möglichst schnell Teil dieser
Gesellschaft werden und eine echte Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen.
({3})
Unser Vorschlag, unsere Alternative ist: Weil wir dafür
sorgen müssen, dass die Menschen eine Chance auf dem
Arbeitsmarkt bekommen, sollten sie Leistungen nach
dem Sozialgesetzbuch II, vulgo Hartz IV, bekommen.
Denn dann hätten sie eine Unterstützung, was Sozialleistungen, finanzielle Leistungen und Arbeitsmarktintegrationsleistungen angeht. Wir sagen: Nach drei Monaten
soll es die Möglichkeit geben, Hartz IV zu beantragen.
Wenn die Betroffenen wirklich nach Arbeit suchen und
eine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, dann müssen
sie unterstützt werden.
({4})
Wir sagen auch, dass in Einzelfällen - aber nur in
Einzelfällen -, wenn nachgewiesen wird, dass die Menschen gar nicht nach Arbeit suchen oder dass sie trotz
aller Bemühungen der Jobcenter keine Chance auf dem
Arbeitsmarkt haben, die Leistung wieder entfallen kann,
weil dann auch das Recht auf Freizügigkeit entfällt. Aber
dies soll im Einzelfall entschieden werden und nicht eine
pauschale Diskriminierung darstellen, wie Sie sie in Ihrem Gesetzentwurf vorsehen; auch das ist uns wichtig.
Natürlich muss man auf EU-Ebene endlich dafür sorgen, dass die Menschen nicht aus finanzieller Not zu uns
kommen. Auch da - die Staatssekretärin hat das eben
zwar erwähnt - fehlen noch Aktivitäten auf bundespolitischer Ebene. Es gibt noch keine Stellungnahme der Bundesregierung zur Säule sozialer Rechte. Hier müssen wir
aber ansetzen. Wir müssen eine Mindesteinkommensrichtlinie haben, damit es überall angemessene Grundsicherungssysteme gibt und die Menschen überall in
Europa vor Armut geschützt werden. Wir brauchen auch
Mindeststandards bei den sozialen Sicherungssystemen,
um zu verhindern, dass Menschen aus finanzieller Not
auswandern und ihr Land verlassen.
({5})
Wenn die Menschen aber zu uns kommen, dann müssen wir sie unterstützen - und zwar besser als bisher und den pauschalen Ausschluss, den es jetzt im SGB II
gibt, abschaffen. Wir brauchen eine bessere soziale Absicherung der Freizügigkeit. Wir brauchen mehr und nicht
weniger soziales Europa.
({6})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Schmidt
für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist zunächst einmal daran gebunden, dass man seinen Lebensunterhalt selbstständig
bestreiten kann und möchte, und das ist auch richtig so.
({0})
Sozialleistungen erhält dann, wer Rechte aus Arbeit und
aufgrund von Sozialbeiträgen erworben hat. Ich glaube, so ist das Gerechtigkeitsempfinden der allermeisten
Menschen. Jeder und jede, egal aus welchem EU-Land,
der oder die in einem anderen Land arbeitet, sich für
längere Zeit dort niederlässt und dort seinen oder ihren
Beitrag leistet, muss die gleichen sozialen Rechte haben.
Die Arbeitsnehmerfreizügigkeit ist eine der größten Errungenschaften der EU.
({1})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer noch - obwohl die Sensibilität für soziale Fragen in der EU zunimmt - ist das Wohlstandsgefälle sehr groß. Immer
noch sind in verschiedenen Ländern die nationalen sozialen Sicherungssysteme unzureichend. Immer noch werden Minderheitenrechte, zum Beispiel die der Sinti und
Roma, nicht geachtet und vonseiten der EU mit zu wenig
Nachdruck durchgesetzt. Das führt zu Wanderungsbewegungen, nicht nur aufgrund von Arbeit und Arbeitssuche.
Der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch
Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“ - ein schöner Titel - stellte fest: Die Zuwanderung aus anderen EU-Staaten nach Deutschland hat zugenommen. Der sogenannte Sozialmissbrauch ist aber gering. Ganz überwiegend
profitieren wir von der Zuwanderung, müssen aber auch
mit den sozialen Problemen und Spannungen umgehen,
wie sie in einigen Städten Deutschlands entstanden sind.
Wir haben damals die Unterstützung für diese Städte verstärkt. Das war auch gut so; denn Integration ist die beste
Antwort auf Zuwanderung.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir befinden uns mit
dem Gesetzentwurf in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Recht auf Existenzsicherung für jeden Menschen, der sich in Deutschland aufhält, und der Kontrolle
darüber, wer sich aus welchem Grund rechtmäßig oder
nicht rechtmäßig bei uns aufhält. Ich bin dem Ministerium dankbar dafür, dass es gerade nach den verschiedenen Urteilen zu dieser Frage mit diesem Gesetz eine
Klarstellung herbeiführen möchte.
Dennoch bleiben für uns einige Fragen offen: Wie genau und mit welchem Verfahren unterscheide ich Wanderung zur Arbeitssuche oder Wanderung allein zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen?
({3})
Wie gehen wir mit Härtefällen um? Was passiert zum
Beispiel, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennt
oder trennen muss, aber beide noch keine fünf Jahre in
Deutschland waren? Was ist zukünftig der Status ihrer
Kinder, die hier in die Schule gehen oder eine Ausbildung machen? In welchem Verhältnis steht das Gesetz
zur EU-Verordnung zu Wanderarbeitern? Wie wirken
sich Unterbrechungen des Aufenthalts auf die Fünfjahresfrist aus?
Es sind also noch einige Fragen offen, die wir im
Gesetzgebungsprozess zu beantworten haben. Ich freue
mich auf eine gute und konstruktive Debatte.
Glück auf!
({4})
Für die CDU/CSU spricht jetzt der Kollege Stephan
Stracke.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Deutschland hat sich für viele Menschen zum Sehnsuchtsort entwickelt; außerhalb der Europäischen Union,
aber auch innerhalb der EU. Seit der Wirtschaftskrise
kommen immer mehr EU-Ausländer zu uns und bleiben
hier in Deutschland.
({0})
Waren es 2010 über 87 000, so sind es seit 2013 jedes Jahr
knapp 300 000, im letzten Jahr sogar fast 400 000 Menschen. Diese europäische Zuwanderung hat sicherlich
Gründe: die Strahlkraft Deutschlands. Wir sind ein
weltoffenes Land, uns geht es gut, die Wirtschaft brummt
und der Wohlstand steigt. Weil das so ist, können wir uns
hier in Deutschland ein höheres Sicherungsniveau leisten als viele andere Staaten in Europa. Das löst natürlich
auch einen Sogeffekt aus. Diesen wollen wir nicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren - ich zitiere -: „Wirbel um Sozialhilfe für EU-Bürger“ und „Seid
umarmt, ihr Rumänen!“ Das waren einige Reaktionen
der Presse nach dem Urteil des Bundessozialgerichts
Anfang Dezember 2015. Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist abenteuerlich. Sie besagt, dass jeder
EU-Ausländer sich Sozialleistungen ersitzen kann, er
muss bloß sechs Monate hier in Deutschland sein.
({1})
Dieses sozialpolitische Ergebnis der Rechtsprechung
ist nicht hinnehmbar. Deswegen korrigieren wir es. Es ist
auch nicht mit dem Grundgesetz kollidierend. Wir tun es
deshalb, weil wir unsere Kommunen vor ungerechtfertigten Mehrbelastungen schützen wollen. Darüber bestand
auch recht schnell Einigkeit innerhalb der Koalition.
Dass es am Ende fast ein Jahr gedauert hat und es vor
der Kabinettsbefassung noch einmal zur Diskussion zwischen dem Bundesarbeitsministerium und dem Bundesinnenministerium gekommen ist, zeigt, dass es zwischen
Union und SPD durchaus noch Unterschiede gibt, mit
welcher Intensität Armutszuwanderung in die sozialen
Sicherungssysteme wirksam begrenzt werden soll.
Die Haltung der CSU-Landesgruppe und der Union
war eindeutig. Wir setzen alles daran, die Einwanderung
in unsere Sozialsysteme zu verhindern. Jeder Missbrauch
in diesem Bereich gefährdet die Akzeptanz der Freizügigkeit. Es ist vor allem auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber unseren Bürgern; denn sie sind es, die mit
ihrer Arbeitsleistung einen Beitrag für unsere Sozialsysteme leisten.
({2})
Deshalb gilt für uns der Grundsatz: Nur diejenigen
sollen in den Genuss von Sozialleistungen kommen, die
hier leben, arbeiten und Beiträge zahlen. Wer jedoch zu
uns kommt und hier nie gearbeitet hat, aber dennoch Sozialleistungen begehrt, für den soll es ein klares Stoppschild geben: existenzsichernde Leistungen ja, aber nicht
unsere Leistungen, nicht auf unserem Niveau, sondern
die des Heimatlandes.
Das ist das Signal, das wir mit diesem Gesetz in die
Herkunftsländer aussenden: Armutsmigration nach
Deutschland lohnt sich nicht. Gleichzeitig senden wir ein
klares Signal an unsere Bürgerinnen und Bürger: Zuwanderung in unsere Sozialsysteme wollen wir nicht. Denn
unsere Bürger sind es, die mit ihrer Arbeitsleistung unsere Sozialsysteme im Wesentlichen tragen.
Wir haben in der Vergangenheit in diesen Bereichen
schon viel erreicht: befristete Wiedereinreisesperren,
stärkere Bekämpfung von Schwarzarbeit und Scheinselbstständigkeit und die Verhinderung des Doppelbezuges von Kindergeld - alles Maßnahmen, die wir als CSU
eingefordert, durchgesetzt und umgesetzt haben. Wir
werden ja häufig für unsere klare Sprache gescholten, für
pointierte Zuspitzungen,
({3})
Dagmar Schmidt ({4})
beispielsweise in Wildbad Kreuth. Aber letztlich kommt
es bei der Bekämpfung der Armutszuwanderung auch
immer auf klare Worte an.
Am Ende zählt vor allem das Ergebnis. Wir sind erfolgreich, im Interesse unserer Bürgerinnen und Bürger.
Die Maßnahmen, die wir in der Vergangenheit in der
Großen Koalition umgesetzt haben, sind richtig, und
auch der vorliegende Gesetzentwurf ist richtig und dringend erforderlich, um die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in diesen Fällen zu korrigieren.
Was ist nun vorgesehen? Zum einen werden die bestehenden Leistungsausschlüsse eindeutig geregelt. Damit
werden dem Erfindungsspielraum Kassels entsprechende
Grenzen gesetzt. Für die von den Leistungsausschlüssen
betroffenen Personen gibt es Überbrückungsleistungen,
also sehr wohl Leistungen,
({5})
bis hin zur Ausreise, zur Übernahme der angemessenen
Kosten der Rückreise in das Heimatland. Die damit verbundene Botschaft ist auch klar: Den Weg nach Deutschland, allein um hier Sozialhilfe zu kassieren, kann man
sich von vornherein sparen. Erst nach fünf Jahren gewöhnlichen Aufenthalts ohne wesentliche Unterbrechung wird ein Leistungsanspruch gewährt,
({6})
unabhängig davon, ob sich die Betroffenen rechtmäßig
oder unrechtmäßig aufgehalten haben.
Das war am Ende letztlich auch der kitzelige Punkt
zwischen Union und SPD. Wir wollten allein auf einen
rechtmäßigen Aufenthalt abstellen. Das ist auch sinnvoll.
Der Gesetzentwurf stellt nun auf den tatsächlichen Aufenthalt ab und differenziert nicht mehr zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Aufenthalt. Allerdings
werden Zeiten, in denen sich Personen nicht rechtmäßig
in Deutschland aufhalten, weil sie ausreisepflichtig sind,
nicht auf den Fünfjahreszeitraum angerechnet. Am Ende
kann man sagen: Warum einfach, wenn es auch kompliziert geht?
Der gefundene Kompromiss mag eine Einigung erleichtert haben; rechtssystematisch ist es dennoch nicht
der beste Weg. Bedauerlich ist auch, dass durch den Gesetzentwurf die bisherige Systemabgrenzung zwischen
SGB II und SGB XII aufgehoben wird. Im Hinblick auf
Überbrückungsleistungen bedeutet dies einen nicht unerheblichen bürokratischen Mehraufwand für Sozialämter
und Jobcenter. Das wäre vermeidbar gewesen.
Trotz dieser Schwächen stimmt die Zielrichtung des
Gesetzentwurfs. Wir schließen mit dem Gesetzentwurf
die durch das Bundessozialgericht geschaffenen erheblichen Lücken im nationalen Recht. Die Kommunen werden von Mehrbelastungen verschont. Und was natürlich
auch schön ist: Ein zentrales Anliegen der CSU-Landesgruppe wird umgesetzt.
Herzliches Dankeschön.
({7})
Zum Abschluss der Aussprache spricht der Kollege
Markus Paschke für die SPD.
({0})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II und Unterstützung bei der Arbeitsuche erhalten diejenigen, die ihren
Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik haben. Grundsätzlich sind da auch alle Europäer gleichzubehandeln.
Das ist richtig, und das ist auch gut so.
({0})
Keinen Anspruch haben jedoch Ausländerinnen und Ausländer, die sich nur zur Arbeitsuche hier aufhalten.
({1})
Auch das ist richtig, denn deren Lebensmittelpunkt liegt
bisher nicht in Deutschland.
Nun hat das Bundessozialgericht den Betroffenen
in mehreren Fällen Anspruch auf Sozialhilfe nach dem
SGB XII zugestanden. Das Ziel dieses Ausschlusses im
SGB II war jedoch nicht, die Betreffenden in die Sozialhilfe zu drängen; denn da gehören sie auch nicht hin.
Die Freizügigkeit innerhalb Europas ist an zwei Voraussetzungen gebunden. Es lohnt sich, das einmal wieder nachzulesen. Das sind nämlich erstens eine bestehende Krankenversicherung und zweitens ausreichend
Mittel für den Lebensunterhalt. Bisher war der Anspruch
auf Leistung nach dem SGB II dauerhaft ausgeschlossen, wenn jemand nicht gearbeitet hat. Wir haben jetzt
Rechtssicherheit. Nach fünf Jahren gilt Deutschland als
Lebensmittelpunkt. Damit es in Europa keine Migration
in die Sozialsysteme gibt, brauchen wir verbindliche europäische Mindeststandards in der sozialen Sicherung,
Mindeststandards, die allen Bürgerinnen und Bürgern
Europas an dem Ort ihres Lebensmittelpunktes das
sozio einer Bundesethikkommission kulturelle Existenzminimum sichert.
Es muss außerdem sichergestellt sein, dass alle Europäer - egal, ob aus Portugal, Rumänien, Finnland oder
Luxemburg, und egal, welcher Volksgruppe sie angehöStephan Stracke
ren - die gleichen Chancen auf Bildung, Gesundheitsversorgung und Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
({2})
Für mich ist deshalb klar: Wir brauchen eine europäische
soziale Sicherung.
Beim vorliegenden Gesetzentwurf sind für mich noch
einige Fragen offen, die sich auf Situationen beziehen,
die Härtefälle für die Betroffenen bedeuten können. Es
kann gute Gründe geben, warum man, auch wenn man
seinen Lebensmittelpunkt inzwischen hier hat, das Land
zwischendurch für eine gewisse Zeit verlassen muss,
zum Beispiel weil es gilt, Familienangehörige zu pflegen
oder andere Probleme zu lösen, die ein bisschen länger
dauern und wofür man durchaus seine Wohnung hier aufgibt. Solche Unterbrechungen sind bisher nicht berücksichtigt. Auch kann es eine Härte bedeuten, wenn zum
Beispiel eine Ehe - aus welchen Gründen auch immer zerbricht und nur ein Partner Arbeit hat.
Zusammenfassend kann man, glaube ich, sagen: Der
Grundsatz in dem Gesetzentwurf ist okay. Über Details
und offene Fragen müssen wir dann noch reden.
Danke schön. Ich wünsche, bevor es der Präsident tut,
allen ein schönes Wochenende.
({3})
Das ist sehr fürsorglich gegenüber den Kolleginnen
und Kollegen und dem Präsidenten.
Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 18/10211 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. - Andere
Vorschläge sehe ich nicht. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Wir sind damit zugleich am Schluss unserer heutigen
Tagesordnung und am Schluss der 200. Sitzung dieser
Legislaturperiode.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages, die 201., auf Dienstag, den 22. November 2016,
10 Uhr, ein. Kommen Sie alle gesund wieder.
Die Sitzung ist geschlossen.