Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Ich
begrüße Sie alle herzlich zur letzten Plenarsitzung des
Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode. Für viele Kolleginnen und Kollegen - auch für mich - ist dies
zugleich die letzte Sitzung als gewählte Abgeordnete hier
im Hohen Haus. Nicht wenige von uns haben in der Zeit
ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag mit der
Überwindung der Teilung unseres Landes die größte,
spektakulärste und zugleich friedliche Veränderung in
der jüngeren Geschichte unseres Landes nicht nur miterlebt, sondern auch aktiv mitgestaltet.
Um zu würdigen, was wir heute längst für selbstverständlich halten, muss man gelegentlich daran erinnern,
wie es vorher war. Als ich 1980 zum ersten Mal in den
Deutschen Bundestag gewählt wurde, war Deutschland
geteilt und Europa auch, in zwei rivalisierenden Militärbündnissen organisiert, die sich bis an die Zähne bewaffnet an einer durch Mauer und Stacheldrahtzäune
befestigten deutsch-deutschen Grenze gegenüberstanden. Damals, Anfang der 1980er-Jahre - Bundeskanzler
war Helmut Schmidt -, wurde innerhalb und außerhalb
des Parlamentes leidenschaftlich über den sogenannten
NATO-Doppelbeschluss gestritten, den die einen für den
Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation hielten
und bekämpften und die anderen für die Voraussetzung
der territorialen Integrität der westlichen Staatengemeinschaft.
Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und - wie
fast alle glaubten - den damit verbundenen unverrückbaren Verhältnissen im eigenen Land wie in Europa haben wir in den 1980er-Jahren im Deutschen Bundestag
vorsichtig damit begonnen, dem zunächst in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie provisorisch untergebrachten Deutschen Bundestag angemessene Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und haben schließlich den
Bau eines neuen Plenarsaales beschlossen, der, als er fertig war, nicht mehr gebraucht wurde. Denn inzwischen
war die Mauer in Berlin gefallen und mit der Mauer zugleich die Verhältnisse, die scheinbar ein für alle Mal in
Beton gegossen waren. Wenn wir, liebe Kolleginnen und
Kollegen, in diesem Jahr, wie in jedem Jahr, am 9. November an den Fall der Mauer 1989 erinnern, dann ist
seitdem so viel Zeit vergangen, wie die Mauer überhaupt
gestanden hat: 28 Jahre.
Der Bau wie der Fall der Mauer waren das Symbol
der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und ihrer
Veränderungen. Auch der Deutsche Bundestag hat sich
in dieser Zeit, vor und nach der Wiederherstellung der
deutschen Einheit und nach dem Umzug von Parlament
und Regierung von Bonn nach Berlin, natürlich immer
wieder verändert, sich immer wieder neu zusammengesetzt; aber im Wesentlichen arbeitet er in Berlin ganz genau so, wie es in Bonn eingeübt worden war. Vieles hat
sich verändert, vieles hat sich bewährt und ist geblieben.
Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen
Parlamenten innerhalb und außerhalb der Europäischen
Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner
Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und
einflussreicher als die meisten Parlamente auf diesem
Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein
Anlass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so
gut, wie er sein könnte und vielleicht auch sein sollte.
Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten;
im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei
der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei
der ersten.
({0})
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages …
sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und
Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen
unterworfen.
({1})
So steht es im Grundgesetz. Und ganz genau so ist es
auch gemeint.
Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das
Parlament, ist unter den Mindestansprüchen,
({2})
die ein selbstbewusstes Parlament für sich gelten lassen
muss.
({3})
Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass
es inzwischen immerhin gelungen ist, sicherzustellen,
dass leibhaftige Mitglieder der Bundesregierung an der
Regierungsbefragung teilnehmen.
({4})
Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem
Haus zweifellos immer wieder herausragende Debatten
erlebt; aber bei selbstkritischer Betrachtung sollten wir
einräumen, dass in der Regel hier im Hause immer noch
zu häufig geredet und zu wenig debattiert wird.
({5})
Wir beraten in jeder Legislaturperiode einige Hundert
Gesetzentwürfe; ich glaube, eher zu viele als zu wenige.
({6})
Dass wir gelegentlich offensichtlich Dringliches vertagen und dafür weniger Wichtiges für dringlich erklären,
dazu fällt mir mindestens ein prominentes Beispiel ein,
das ich jetzt nicht mehr ausdrücklich vortrage.
Wir haben uns, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der Asylgesetzgebung in
den 1990er-Jahren über die Föderalismusreformen bis
hin zum kürzlich verabschiedeten neuen Länderfinanzausgleich einen allzu großzügigen Umgang mit unserer
Verfassung angewöhnt
({7})
und sie häufiger und immer umfangreicher, regelmäßig
auch komplizierter verändert, als es ihrem überragenden
Rang und dem Respekt entspricht, den wir dem Gestaltungsanspruch künftiger Parlamente und ihrer Mehrheiten schulden.
({8})
Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der
Demokratie,
({9})
und hier im Bundestag heißt auch hier im Bundestag,
nicht in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages.
({10})
Verlässlich kann und muss es in dem gemeinsamen, aber
nicht immer präsenten Bewusstsein schlagen, dass eine
vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am
Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf
dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte
wahrnehmen können.
({11})
Dafür zu sorgen, ist die nicht immer einfache, aber nach
meinem Verständnis vornehmste Aufgabe des Parlamentspräsidenten.
Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen dieser wie der beiden vorhergehenden Legislaturperioden, dass Sie mich gleich dreimal, für insgesamt
zwölf Jahre, in dieses Amt gewählt haben. Ich habe es
gerne, nach besten Kräften und gelegentlich auch mit einem gewissen Vergnügen ausgeübt,
({12})
und ich empfinde es als Privileg meiner Biografie - neben
dem Glück, in einem freien Lande zu leben -, meinem
Land an dieser prominenten Stelle dienen zu können.
({13})
Eine schönere, anspruchsvollere Aufgabe hätte es für
mich nicht geben können. Deswegen möchte ich mich
bei allen bedanken, die mich dabei in diesen Jahren begleitet und unterstützt haben: bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Fraktionen, bei den Parteien,
bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, den vielen Unsichtbaren, ohne die dieses Parlament nicht so leistungsfähig sein könnte, wie es
glücklicherweise ist,
({14})
bei den Medien für mal diese und mal andere Berichterstattungen
({15})
und insbesondere bei den Wählerinnen und Wählern.
Vieles aus diesen Jahren wird mir und vermutlich all
denen, die dabei gewesen sind, ganz gewiss in Erinnerung bleiben: die erste Rede eines deutschen Papstes vor
einem gewählten deutschen Parlament,
({16})
- auch das -, die denkwürdige gemeinsame Sitzung des
Deutschen Bundestages mit der französischen Nationalversammlung hier im Reichstagsgebäude aus Anlass
des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages - damals konnte man gewissermaßen besichtigen, wie nahe wir uns
inzwischen sind und wie gründlich sich dieses Europa
verändert hat -, die großen Ansprachen zum Beispiel
des israelischen Staatspräsidenten Schimon Peres oder
Präsident Dr. Norbert Lammert
des damaligen polnischen Staatspräsidenten Bronislaw
Komorowski zur Erinnerung an traumatische Ereignisse
unserer gemeinsamen Geschichte, aber auch die Auftritte
von Navid Kermani und Wolf Biermann zum Geburtstag
des Grundgesetzes und zum Jahrestag des Mauerfalls,
({17})
die sich jeweils auf ihre Weise von dem bei solchen Gelegenheiten im Hohen Haus Erwarteten und Üblichen
deutlich unterschieden.
({18})
Und dass mal den einen dies und mal den anderen jenes
nicht nur gefallen hat, das war zugegebenermaßen eingepreist.
Ich weiß nicht, ob es kühn ist, nach dem Dank zum
Schluss noch eine Bitte vorzutragen - oder am liebsten
gleich zwei.
({19})
Zunächst an die Mitglieder des nächsten und künftiger
Bundestage: Bewahren Sie sich bitte, wenn eben möglich, die nach den Abstürzen unserer Geschichte mühsam
errungene Fähigkeit und Bereitschaft, über den Wettbewerb der Parteien und Gruppen hinweg den Konsens der
Demokraten gegen Fanatiker und Fundamentalisten für
noch wichtiger zu halten.
({20})
Ich habe in den vergangenen Jahren viele, viele Parlamente kennengelernt und erlebt, und wenn ich auf irgendetwas tatsächlich stolz bin, dann darauf, dass dieses
Parlament, mehr als irgendein anderes, das ich je erlebt
habe, bereit und in der Lage ist, wenn es wirklich wichtig
ist, das gemeinsame Suchen und Vertreten gemeinsamer
Lösungen für noch wichtiger zu halten als den üblichen
Konkurrenzreflex.
({21})
Es muss auch in Zukunft möglich sein, bei den ganz großen Problemen und Streitfragen, die polarisieren und das
Land zu spalten drohen, Mehrheiten in diesem Parlament
zu suchen und zu finden, die größer oder anders sind als
die Mehrheiten, über die eine jeweilige Koalition ohnehin verfügt.
Dann habe ich eine Bitte an die Wählerinnen und
Wähler: Nehmen Sie bitte das Königsrecht aller Demokraten, in regelmäßigen Abständen selbst darüber befinden zu können, von wem sie regiert werden wollen, so
ernst, wie es ist.
({22})
Das ist für uns heute scheinbar eine Selbstverständlichkeit; aber dieser Zustand ist, wie wir alle wissen, weder
der Normalzustand der deutschen Geschichte, noch ist es
die Regel für die ganz große Mehrheit der heute auf diesem Globus lebenden Menschen. Viele Millionen Menschen in aller Welt beneiden uns um die Einflussmöglichkeiten, die wir haben und die ihnen vorenthalten sind.
({23})
Autoritäre Regime brauchen kein bürgerschaftliches
Engagement. Sie mögen es nicht, sie behindern es, und
wenn es nicht anders geht, verbieten sie es. Die Demokratie braucht es.
({24})
Und wir wissen aus noch nicht ganz so lange zurückliegenden Phasen der deutschen Geschichte, dass auch Demokratien ausbluten können, dass sie ihre innere Kraft
verlieren, wenn sie die Unterstützung der Menschen verlieren, für die es sie gibt. Die Demokratie steht und fällt
mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das
ist die wichtigste Lektion, die ich in meinem politischen
Leben gelernt habe,
({25})
und dieser Einsicht und dieser Verantwortung werde ich
verpflichtet bleiben. In diesem Sinne bleiben wir ganz sicher miteinander verbunden.
Herzlichen Dank.
({26})
- Herzlichen Dank.
Wir haben aber tatsächlich auch noch ein paar dienstliche Angelegenheiten zu erledigen. Bevor ich zum Ernst
der Dinge komme, habe ich noch einige Geburtstage zu
erwähnen und dafür Gratulationen zu übermitteln. In der
parlamentarischen Sommerpause gab es einige besonders zu erwähnende Geburtstage: Die Kollegin Karin
Binder und der Kollege Klaus Brähmig haben ihren
60. Geburtstag gefeiert.
({27})
- Es sind noch ein paar mehr. - Der Parlamentarische
Staatssekretär Peter Bleser und der Kollege Axel
Schäfer haben ihren 65. Geburtstag gefeiert. Ihren
70. Geburtstag feierten die Kollegin Helga KühnMengel, der Kollege Günter Baumann und der Kollege
Martin Patzelt. Schließlich hat der Kollege Hans-Peter
Uhl seinen 73. Geburtstag gefeiert. Ihnen allen im Namen des ganzen Hauses geballte gute Wünsche und alles
Gute für das neue Lebensjahr!
({28})
Für die ausgeschiedene Kollegin Sabine SütterlinWaack und den ausgeschiedenen Kollegen Alexander
Funk sind der Kollege Thomas Jepsen und der Kollege
Markus Uhl als Mitglieder des Deutschen Bundestages nachgerückt. Wenn sie den Plenarsaal gefunden haben,
({29})
Präsident Dr. Norbert Lammert
möchte ich sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen herzlich begrüßen und für die übersichtliche verbleibende Zeit eine gute Zusammenarbeit wünschen.
({30})
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, nach dem
Tagesordnungspunkt 1 mehrere Beschlussempfehlungen
des Petitionsausschusses ohne Debatte zu beraten. Von
der Frist für den Beginn der Beratungen soll abgewichen
werden. Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Bevor wir nun in die verabredete Tagesordnung eintreten, müssen wir zwei Geschäftsordnungsanträge
behandeln. Die Fraktion Die Linke hat fristgerecht beantragt, die Tagesordnung um die Beratung ihres Antrages
auf der Drucksache 18/13481 mit dem Titel „Aufrüstung
ablehnen und Atomwaffen aus Deutschland abziehen“
zu erweitern und dies in Verbindung mit dem Tagesordnungspunkt 1 zu beraten. - Das Wort zur Geschäftsordnung erhält Herr Korte. Bitte schön.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem alle wieder aus dem TV-Duell erwacht sind,
wollen wir heute vielleicht etwas wirklich Wichtiges entscheiden. Wir wollen die Chance dazu an diesem letzten
Sitzungstag nutzen. Deswegen möchte ich begründen,
warum wir es für sinnvoll halten, unseren Antrag „Aufrüstung ablehnen und Atomwaffen aus Deutschland abziehen“ heute aufzusetzen.
({0})
Sie wissen, die Bundesregierung plant massive Aufrüstungen im Verbund mit der NATO mit einem Volumen
von rund 37 Milliarden Euro. Sie, die Sie jetzt alle in den
Wahlkreisen unterwegs sind, kennen die Situation in den
Kommunen, Sie wissen, wie marode die Schulen und die
Kitas sind, wie unterfinanziert die Kommunen sind. Wir
sagen: Wir haben die Chance, diesen Aufrüstungswahnsinn heute hier zu stoppen und das Geld in die Zukunft
unseres Landes zu stecken.
({1})
Das wäre ein gutes Zeichen für die Wählerinnen und
Wähler so kurz vor der Wahl.
Ich will begründen, warum es sinnvoll ist, das heute
hier zu entscheiden. Wenn die Aussagen stimmen, die
gerade insbesondere von den Freunden von der SPD und
den Grünen und natürlich von uns, den Linken, gemacht
werden, dann gibt es in diesem Hause heute offenbar eine
Mehrheit, um gegen diesen Aufrüstungswahn ein Stoppzeichen zu setzen.
({2})
Der Kollege Oppermann schließt eine Regierungsbeteiligung aus, wenn es diese Aufrüstung gibt. Eine solche
Abstimmung jetzt, vor der Wahl, ist etwas, was die Politik wirklich spannend machen würde.
({3})
Ich knüpfe an die Aussage von Professor Lammert an,
der gesagt hat, wem Sie hier eigentlich verpflichtet sind:
Ihrem Gewissen. Wenn Aufrüstung keine Gewissensfrage ist, dann weiß ich es auch nicht. Deswegen sollten wir
darüber entscheiden.
({4})
Zum Zweiten. Wie Sie alle wissen - auch das spielt gerade eine große Rolle in der Öffentlichkeit und im Wahlkampf -, gibt es in Deutschland zahlreiche US-amerikanische Atomwaffen. Wir alle wissen natürlich - Politik
ist so schnelllebig in dieser Zeit; Sie kennen die Krisen
in der Welt -: Wenn diese jemals zum Einsatz kommen
sollten, dann bliebe von Europa und Deutschland nichts
mehr übrig. Der Kalte Krieg ist zu Ende. Wir haben heute die Chance, mit einer Mehrheit hier im Parlament die
US-amerikanische Regierung aufzufordern, ihre Atomwaffen endlich abzuziehen. Das wäre ein richtiges Zeichen.
({5})
Ich will deutlich sagen: Heute gibt es die Chance,
eine historische Entscheidung in dieser Hinsicht zu treffen. Wie oft wurde darüber diskutiert? Was denken die
Wählerinnen und Wähler, wenn dies nicht geschieht,
obwohl von den drei Parteien, die zusammen in der
Mehrheit sind, immer wieder gesagt wird: „Wir wollen
diese Atomwaffen hier nicht“? Wenn wir heute darüber
entscheiden, würde das die Menschen mobilisieren und
motivieren. Das würde auch zeigen: Hier wird kontrovers gestritten.
Es gibt in diesem Parlament nun einmal folgende
Konstellation: SPD, Linke und Grüne sind gegen die
US-Atomwaffen hier, CDU und CSU sind für die Atomwaffen. Das ist doch eine übersichtliche politische Konstellation. Deswegen wäre es, auch für die anstehenden
Wahlen, ein gutes Zeichen, wenn hier heute nach Überzeugung abgestimmt und so Demokratie erlebbar und
spannend gemacht würde.
({6})
Wir wissen nicht, wie die Wahl ausgeht; keiner weiß
das. Wir wissen nicht, wie die Mehrheiten sein werden;
das ist völlig unklar. Es kann übrigens auch sein, Frau
Bundeskanzlerin, dass Sie nicht mehr Bundeskanzlerin
sein werden.
({7})
All das kann in einer Demokratie passieren. Um das zu
befördern und die Auseinandersetzungen, die es in diesem Hause gibt, spannend zu machen, wäre es sinnvoll,
heute unseren Antrag aufzusetzen. Wenn SPD, Linke und
Grüne zu ihren Worten stehen, dann können wir heute
Taten folgen lassen. Das wäre eine verdammt gute Sache.
Es würde die Demokratie stärken. Es würde übrigens
auch zeigen, dass wir unabhängig - auch von den VereiPräsident Dr. Norbert Lammert
nigten Staaten von Amerika - und souverän sind und hier
unsere eigene Politik machen.
({8})
Sollten Sie es allerdings heute ablehnen, über diesen
Antrag kontrovers zu diskutieren, weil es dazu unterschiedliche Auffassungen gibt, dann haben Sie natürlich
ein Problem mit Ihrer Glaubwürdigkeit, und zwar nicht
nur Sie. Vielmehr glaube ich, dass Sie damit die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt beschädigen würden.
({9})
Lasst uns deswegen heute darüber streiten. Lasst
uns diesen Antrag aufsetzen und ein wichtiges Zeichen
für Abrüstung und den längst überfälligen Abzug der
US-Atomwaffen aus der Bundesrepublik setzen. Das
wäre doch eine wirkliche Motivation für die Wahl; denn
dabei geht es endlich einmal um eine Sachfrage. Darüber
können wir heute entscheiden. In diesem Sinne: Die Linke stimmt zu. Setzen wir es auf. Streiten und entscheiden!
Danke.
({10})
Für die CDU/CSU-Fraktion erhält der Kollege Johann
Wadephul das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Spätestens nachdem der Bundestagspräsident noch
einmal auf den Minderheitenschutz im Deutschen Bundestag hingewiesen hat, ist es notwendig, darzulegen,
warum wir empfehlen, den Antrag heute nicht zu behandeln.
({0})
- Der Antrag wird ja von der Minderheit gestellt.
In dieser Wahlperiode hatte die Große Koalition eine
sehr große Mehrheit von 80 Prozent der Abgeordneten.
Wir haben das im Sinne dessen, was der Bundestagspräsident gerade noch einmal betont hat, als Auftrag empfunden, die Minderheitenrechte zu wahren. In dieser
Wahlperiode sind die Oppositionsrechte in großem Maße
gestärkt worden. Darauf können wir stolz sein. Sie hatten in dieser Wahlperiode jede Möglichkeit, Ihre Anträge
einzubringen und Ihre Untersuchungsausschüsse einzusetzen.
({1})
Es gibt überhaupt keinen Anlass, sich zu beklagen. Sie
hatten alle Möglichkeiten. Wenn Sie sie nach eigenem
Empfinden nicht vollständig genutzt haben, dann müssen
Sie das mit sich selbst ausmachen.
({2})
Wir haben alles getan, was wir tun konnten.
Zweitens. Der Bundestagspräsident hat darauf hingewiesen: Es ist eine gute Sitte, dass wir, auch wenn
Wahlen bevorstehen, noch einmal für eine Sitzung zusammenkommen. Aber jeder weiß, dass das, was wir
normalerweise mit solchen Anträgen machen, nicht mehr
geschehen kann: eine Ausschussüberweisung und eine
erneute Debatte im Bundestag.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, sprechen Sie
in diesem Zusammenhang nicht von Glaubwürdigkeit.
({3})
Machen Sie unseren Bundestag, der ein Arbeitsparlament
ist, nicht schlechter, als er ist.
({4})
Wir tun unsere Arbeit in den Ausschüssen, machen aber
keine Klamauk-Hüftschüsse in der letzten Sekunde vor
der Bundestagswahl.
({5})
Drittens. Es gibt keine Eilbedürftigkeit. Diese Beschlüsse sind nicht neu. Sie sind 2002 unter der Bundeskanzlerschaft von Gerhard Schröder erstmalig in der
NATO vereinbart worden, danach 2006 mit Außenminister Steinmeier und 2014 in Wales auf einem NATO-Gipfel erneut mit Außenminister Steinmeier. Sie sind also
unter höchstrangiger Beteiligung der Sozialdemokraten - darauf darf ich hinweisen, liebe Freunde von der
Koalitionspartei SPD - auf NATO-Ebene beschlossen
worden; auch das soll hier einmal festgehalten werden.
({6})
Diese Beschlüsse sind in das Weißbuch eingeflossen.
Es handelt sich dabei übrigens - das hat der Wissenschaftliche Dienst bestätigt, und das ist eine Selbstverständlichkeit - um politische Aussagen und politische
Abmachungen im Rahmen der NATO, nicht um bilaterale mit den USA. Es wird ja in den letzten Wahlkampfwochen der Eindruck erweckt, wir würden hier etwas tun,
was die USA von uns verlangen.
({7})
Nein, das sind Vereinbarungen im Rahmen der NATO.
Gerade die von Ihnen oft nicht beachteten Staaten beispielsweise des Baltikums legen größten Wert darauf,
dass diese Vereinbarungen eingehalten werden. Deswegen ist Bündnistreue an dieser Stelle eine wichtige Sache,
jedenfalls für die Union.
({8})
Vierter Punkt. Die Bundesregierung verfolgt eine umfassende und auf Nachhaltigkeit angelegte Außen- und
Sicherheitspolitik, die zunächst auf Diplomatie setzt.
Was haben wir in dieser Legislaturperiode erlebt? Es
kam durch die Bundeskanzlerin zur Eingrenzung des
Ukraine-Konflikts im Normandie-Format, was zu den
Minsker Beschlüssen geführt hat. Außenminister Gabriel
hat - trotz kurzer Amtszeit - auf der Arabischen Halbinsel schon gezeigt, dass deutsche Diplomatie gefragt
ist. Dazu gehört auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Bundesminister Dr. Müller hat das Thema Afrika
in Deutschland präsent gemacht, es in der Bundespolitik
verankert und mit dafür gesorgt, dass wir es mit Zahlen
hinterlegt haben; darauf können wir stolz sein.
Wir haben also eine Sicherheits- und eine Außenpolitik, die auf Diplomatie fußen, die die wirtschaftliche
Zusammenarbeit im Blick haben und in deren Rahmen
unsere Soldatinnen und Soldaten gut gerüstet in die gefährlichen Einsätze geschickt werden, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({9})
Wenn wir über Atomwaffen reden, dann muss man
letztlich sagen: Das Schlimmste, was geschehen ist, war
leider die Annexion der Krim.
({10})
Wir alle kämpfen dafür, dass es weniger Atomwaffen
gibt.
({11})
Aber es war wirklich bedrückend, dass die Ukraine, der
im Budapester Memorandum ihre territoriale Integrität zugesagt wurde, miterleben musste, dass Russland
die Krim rechtswidrig annektiert hat. Dass Sie von der
Linksfraktion auf diesem Auge absolut blind sind, haben
wir festgestellt.
({12})
Sie könnten aber etwas gegen Atomwaffen tun, nämlich
indem Sie an dieser Stelle zu einer klaren Position, auch
gegenüber Russland, kämen. Ihren Antrag brauchen wir
hier und heute nicht zu behandeln.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({13})
Ich will daran erinnern, dass der Sinn von Geschäftsordnungsdebatten darin besteht, darzulegen, ob und warum man eine Debatte führen oder nicht führen will,
({0})
nicht aber darin, die Debatte stellvertretend selber zu beginnen.
({1})
Der Kollege Mützenich ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
({2})
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ihr Antrag ist unseriös und schludrig erarbeitet. Ich muss Ihnen sagen: Das, was Sie eben erzählt haben, stimmt überhaupt nicht mit dem eingebrachten Antrag überein.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie fordern die
Bundesregierung auf, die politische Erklärung eines
2-Prozent-Ziels zurückzunehmen. Ich sage sehr selbstbewusst: Das kann die Bundesregierung vielleicht erklären,
aber wir, das Parlament, beschließen über den Bundeshaushalt. Ich finde, diesem Parlament steht das Selbstbewusstsein, diese Frage im Zusammenhang mit dem
Haushalt zu besprechen, gut zu Gesicht.
({1})
Ich kann Ihnen sagen: Nur eine starke SPD-Bundestagsfraktion kann mit dafür sorgen, dass eine solch ungeheuerliche Steigerung nicht Realität wird, meine Damen und
Herren.
({2})
Deswegen sage ich für meine Fraktion: Die Wahl ist
klar. Auf der einen Seite steht eine Bundeskanzlerin und
CDU-Vorsitzende, die sich dem 2-Prozent-Diktat des
amerikanischen Präsidenten unterordnet
({3})
- Sie hätten sich besser damals aufgeregt, als Ihre Vorsitzende dies erklärt hat; diese politische Debatte wäre auf
Ihrem Parteitag notwendig gewesen -,
({4})
und auf der anderen Seite steht Martin Schulz. Mit ihm
an der Spitze - das sage ich Ihnen als Vertreter einer
selbstbewussten Fraktion - werden wir den Aufrüstungswahn dieser Bundesregierung nicht unterstützen.
({5})
Meine Damen und Herren, die Bundeskanzlerin weiß
vieles, aber sie sagt nicht alles. Am 28. Juni haben die
sozialdemokratischen Minister in einer Protokollnotiz erklärt, dass sie den Entwurf des Finanzministers in dieser
Frage nicht unterstützen. Ich finde, das muss in diesem
Parlament auch einmal gesagt werden, und Sie sollten
das wissen.
({6})
Die Linken sagen, wir müssten Verhandlungen mit
den USA aufnehmen. Wir sagen Ihnen sehr eindeutig:
Auch diese Forderung wird längst erfüllt. Denn es war
der Außenminister Frank-Walter Steinmeier,
({7})
der innerhalb der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eine Verhandlungsrunde auch mit
den USA über die konventionelle Abrüstung in Europa
eingeleitet hat, weil die Disparität in dieser Waffenkategorie - das wissen Sie, und Sie sollten es irgendwann
auch einmal sagen - es bisher verhindert hat, dass man
zu einer Verabredung kommen konnte, wonach alle taktischen Atomwaffen aus Europa abgezogen werden können. Deswegen ist auch dieser Teil Ihres Antrages nicht
realitätsgerecht und, wie ich finde, unseriös.
Wir sind der Meinung, dass dieser Antrag in die Fachausschüsse überwiesen und dort debattiert werden muss.
Am Ende muss in den Haushaltsberatungen hier im
Deutschen Bundestag über ihn abgestimmt werden; denn
das ist Ausdruck der Souveränität dieses Parlaments. Wir
glauben, das ist der richtige Weg, und deswegen sind wir
für die Überweisung.
({8})
In der Tat - alle Abgeordneten haben das angesprochen -: Es legt sich wieder ein nuklearer Schatten über
diese Welt - durch Nordkorea, aber insbesondere auch
durch einen fahrlässig daherredenden US-Präsidenten,
der diesen nuklearen Schatten verstärkt. Frau Bundeskanzlerin, ich finde, es wäre aller Ehren wert, einem solchen amerikanischen Präsidenten in der verbleibenden
Amtszeit deutlich zu widersprechen.
Vielen Dank.
({9})
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Britta Haßelmann das Wort. Danach stimmen wir
über den Geschäftsordnungsantrag ab.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Wir stimmen heute der Aufsetzung des Antrages der Linken zu. - Herr Mützenich, es geht nicht
darum, ob wir den Antrag heute überweisen oder direkt
über ihn abstimmen, sondern bei der folgenden Abstimmung geht es ausschließlich darum, ob wir der Aufsetzung einer Debatte zum Thema Atomwaffenfreiheit hier
im Deutschen Bundestag zustimmen oder nicht.
({0})
Danach können wir ja inhaltlich debattieren.
Wir führen jetzt hier zwar eine Geschäftsordnungsdebatte, aber sowohl die Rede des Vertreters der SPD als
auch die Rede des Vertreters der CDU/CSU haben gezeigt, dass es genug inhaltlichen Stoff gibt, über den wir
diskutieren sollten.
({1})
Da wir heute sowieso zusammengekommen sind - wir
haben gerade Ihre letzte Rede als Bundestagspräsident
hören dürfen, Herr Dr. Lammert, und bedanken uns als
Fraktion sehr herzlich für die Zeit, in der Sie uns begleitet haben -,
({2})
können wir jetzt doch auch inhaltlich über diese so wichtige Frage diskutieren. Deshalb werden wir als Fraktion
der Aufsetzung heute zustimmen.
Wir sind inhaltlich für ein atomwaffenfreies Deutschland und ein atomwaffenfreies Europa.
({3})
Dafür setzen wir uns ein. Darüber könnten wir unserer
Auffassung nach heute und hier gerne diskutieren.
Vielen Dank.
({4})
Wir stimmen über den Geschäftsordnungsantrag ab.
Wer für die Aufsetzung dieses Tagesordnungspunktes ist,
den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist der Aufsetzungsantrag mit den Stimmen der Koalition abgelehnt.
Es gibt einen zweiten Antrag zur Erweiterung der Tagesordnung, den die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
ebenso fristgerecht gestellt hat. Die Fraktion wünscht,
die erste Beratung ihres Gesetzentwurfes auf der Drucksache 18/13426 zur Einführung von Gruppenverfahren
im Anschluss an den Tagesordnungspunkt 2 mit einer
Debattenzeit von 38 Minuten aufzusetzen.
Dazu wird nicht das Wort gewünscht, sodass wir über
diesen Geschäftsordnungsantrag sofort abstimmen können. Wer stimmt diesem Aufsetzungsantrag zu? - Wer
stimmt dagegen? - Bei gleichen Mehrheiten ist auch dieser Aufsetzungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 1:
Vereinbarte Debatte
zur Situation in Deutschland
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
diese Aussprache 180 Minuten, also drei Stunden, vorgesehen. - Das ist offenkundig einvernehmlich. Also können wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Gestatten Sie, lieber Herr Präsident, dass ich Ihnen zu
Beginn im Namen der Bundesregierung meinen herzlichen Dank übermittle; das ist mit dem Vizekanzler abgestimmt.
({0})
Wir haben Ihre Arbeit immer geschätzt. Wenn nötig, haben Sie uns den im Grundgesetz festgelegten Platz zugewiesen, und wir haben nach bestem Wissen und Gewissen versucht, uns daran zu halten.
Ich erinnere mich in den letzten drei Legislaturperioden an dramatische Situationen, etwa in der weltweiten
Finanzkrise, in der Euro-Krise und in der Flüchtlingskrise, als viele Flüchtlinge zu uns kamen. In diesen Krisen
ist es Regierung und Parlament trotz großer Zeitnot und
trotz drängendster Entscheidungen immer gelungen, in
einem guten Einvernehmen und bei einer schrittweisen
Stärkung der Rolle des Parlaments Lösungen zu finden,
die, glaube ich, für uns als Bundesrepublik Deutschland
richtig und gut waren, aber auch Lösungen zu finden, die
uns als verlässlichen Partner in Europa und in der Welt
dargestellt haben. Dafür möchte ich von Herzen danken.
Für mich war eine der emotionalsten Situationen, als
wir vor kurzem über den Bund-Länder-Finanzausgleich
abgestimmt haben; im Gegensatz zum heutigen Tag war
auch die Bundesratsbank gut besetzt. Das waren wirklich
schwierigste Verhandlungen, in denen es um die Fragen
ging: Welche Rolle spielt der Bund? Welche Rolle spielen die Länder? Dass dies trotz aller Kontroversen in einer so guten Atmosphäre verhandelt werden konnte,
({1})
spricht für unser Land. Daran haben Sie, lieber Herr
Lammert, lieber Norbert, einen ganz entscheidenden Anteil. Danke dafür!
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, wir haben in den letzten vier Jahren vieles erreicht. Unbestritten geht es Deutschland in vielen Bereichen gut. Aber wir dürfen uns auf diesen Erfolgen keinesfalls ausruhen.
({3})
Ich bin der tiefen Überzeugung, dass wir an der Schwelle
zu einer neuen Entwicklungsetappe stehen. Wir müssen
jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Deutschland auch in 10 oder 15 Jahren wirtschaftlich erfolgreich
und sozial gerecht ist und noch mehr Menschen eine gute
und sichere Arbeit haben.
Wir haben eben den Blick auf die Zeit der deutschen
Einheit zurückschweifen lassen. Seitdem sind 27 Jahre
vergangen. Deutschland hatte Anfang der 90er-Jahre die
Kraft, die deutsche Einheit gut zu bewältigen. Ein Jahrzehnt später waren wir der kranke Mann Europas. Es
ist uns dann gelungen - ganz wesentlich mit der Agenda 2010, die wir von CDU/CSU immer unterstützt haben -, wieder die Kraft zu finden, aufzuholen. Wir sind
heute Wachstumsmotor. Wir sind heute ein Land mit der
höchsten Beschäftigungsquote, die wir jemals hatten,
und in Europa erfahren wir dafür sehr viel Anerkennung.
({4})
Aber ich habe das Gefühl, dass wir wieder an einer
Schwelle zu einer neuen Etappe stehen. Diese hat ganz
wesentlich mit dem Treiber unserer heutigen Entwicklung zu tun: mit dem digitalen Fortschritt.
Das, was wir zurzeit in der Automobilindustrie erleben, zeigt - wie in einem Brennglas - die Summe der
neuen Herausforderungen. Die Automobilindustrie ist
eine der Säulen des deutschen wirtschaftlichen Erfolgs.
Die deutsche Automobilindustrie ist weltweit anerkannt.
Die Produkte der deutschen Automobilindustrie verkörpern das, was weltweit unter „Made in Germany“ verstanden wird. In der Automobilindustrie haben im Übrigen 800 000 Menschen und mehr ihren Arbeitsplatz.
Diese Menschen haben sich nichts zuschulden kommen
lassen; sie haben gut, sehr gut oder gar hervorragend gearbeitet. Aber sie sind jetzt in der Gefahr, dass das, was
an Vertrauensverlust durch die Führung von Automobilkonzernen entstanden ist, auf sie zurückschlägt.
Wir haben hier eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe,
Fehler beim Namen zu nennen, aber auch gleichzeitig
die Zukunft der deutschen Automobilindustrie sichern zu
helfen.
({5})
Deshalb müssen wir dafür Sorge tragen - durch vernünftige Rahmenbedingungen, wie wir das auch mit der Industrie 4.0 in unserer Digitalen Agenda getan haben -,
dass die Voraussetzungen für den Übergang der Produktion in ein digitales Zeitalter geschaffen werden, in
dem nicht nur die Menschen durch Smartphones vernetzt
sind, sondern in dem alle Gegenstände miteinander vernetzt werden - das ist das Internet der Dinge -, damit die
Produktion auch weiter erfolgreich erfolgen kann.
Wir werden noch auf Jahre und Jahrzehnte Verbrennungsmotoren brauchen, und trotzdem werden wir
gleichzeitig den Weg in eine neue Mobilität mit neuen
Antrieben gehen müssen. Wir von der Christlich-Demokratischen Union und von der CSU sagen:
({6})
Wir arbeiten nicht mit Verboten, sondern wir wollen solche Übergänge vernünftig ermöglichen, mit Blick auf die
Beschäftigten und auf den technologischen Wandel.
({7})
Ich bin überzeugt, dass dies auch der Ansatz der gesamten Bundesregierung ist.
Meine Damen und Herren, wir haben gestern seitens
der Bundesregierung ein Gespräch mit den Kommunen
gehabt, die unter Grenzwertüberschreitungen leiden und
die von Fahrverboten bedroht sind. Ich sage ausdrücklich
für die ganze Regierung: Wir werden alle Kraft darauf
lenken, dass es zu solchen Verboten nicht kommt.
({8})
Wir müssen den Menschen, die sich im Übrigen im
guten Glauben und von uns auch ermuntert Dieselautos
gekauft haben, die Möglichkeit geben, dass sie diese AuBundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
tos auch nutzen können. Im Übrigen ist es so, dass wir
den Kauf von Dieselautos - davon gibt es etwa 15 Millionen in Deutschland - deshalb empfohlen haben, weil
dadurch CO2-Emissionen eingespart wurden. Gegen den
Diesel vorzugehen, bedeutet gleichermaßen auch, gegen
die CO2-Ziele, die wir uns gesetzt haben, vorzugehen.
Und das darf nicht passieren.
({9})
Deshalb brauchen wir saubere Dieselautos,
({10})
und wir brauchen den Übergang zu einer modernen Mobilität.
({11})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das macht nicht
wieder gut, dass in der Automobilindustrie unverzeihliche Fehler vorgefallen sind. Deshalb können wir auch
nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber das berechtigt uns nicht, sozusagen die gesamte Branche ihrer
Zukunft zu berauben.
({12})
Jetzt geht es darum, mit Maß und Mitte die richtigen
Wege zu finden. Und dafür steht diese Bundesregierung,
meine Damen und Herren, mit Blick auf die Beschäftigten und die Wirtschaftskraft Deutschlands.
({13})
Beim Thema Auto zeigen sich die großen Herausforderungen, denen wir entgegensehen. Ich nenne stichwortartig nur die Bereiche „autonomes Fahren“ und
„neue Antriebe“, die wir technologieoffen fördern sollten. Gleichzeitig gibt es große Herausforderungen hinsichtlich des Klimaschutzes.
Wir werden dies alles natürlich auch mit Blick auf das
Pariser Klimaschutzabkommen vom Dezember 2015 umzusetzen haben. Deshalb hat die Bundesregierung einen
Klimaschutzplan vorgelegt. Es ist schon absehbar, dass
in der nächsten Legislaturperiode, gleich im Jahre 2018,
dieser Klimaschutzplan spezifiziert werden muss. Wieder wollen wir das nicht gegen die Betroffenen machen,
sondern im Gespräch mit den Betroffenen. Wenn wir
zum Beispiel über Braunkohlegebiete sprechen und den
Ausstieg fordern, ohne den Menschen in irgendeiner
Weise eine Perspektive zu geben, dann fördert das nicht
die Bereitschaft, sich für den Klimaschutz einzusetzen,
sondern verhindert sie. Deshalb sind wir dafür, mit den
Betroffenen Alternativen zu erarbeiten und erst dann Entscheidungen zu treffen. Ich finde, das sind wir den Menschen schuldig. So haben wir es im Übrigen auch bei der
Steinkohle gemacht, um es einmal ganz klar zu sagen.
({14})
Wir haben mit der Digitalen Agenda vieles vorangebracht. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode da
ansetzen müssen und manches noch beschleunigen und
straffen müssen. Wir sind nicht in allen Bereichen Spitze
weltweit, was den digitalen Fortschritt und die Einführung entsprechender Maßnahmen anbelangt. Wir haben
im Bereich der Wirtschaft vieles erreicht, insbesondere
bei den großen Unternehmen. Die Bundesregierung hat
mittelständischen Unternehmen viel Hilfestellung gegeben. Sie hat in dieser Legislaturperiode die Start-ups
gefördert, sodass wir sagen können: Wir stehen deutlich
besser da als vor vier Jahren. Aber die Welt schläft nicht.
Die Welt entwickelt sich in rasantem Tempo. Deshalb
wird es notwendig sein, hier weiterzuarbeiten. Wir haben
früher das MP3-Format erfunden. Wir haben den ersten
Computer gebaut. Aber wir wollen als Deutschland nicht
im Technikmuseum enden, sondern wir wollen vorne dabei sein, wenn es um die Entwicklung neuer Güter und
neuer Produktionsmöglichkeiten geht. Da haben wir viel
zu tun.
({15})
Das bedeutet auch, dass wir seitens des Staates und
seitens der Verwaltung vorangehen müssen. Ich bin sehr
dankbar, dass es im Rahmen der Verhandlungen zu den
Bund-Länder-Finanzbeziehungen möglich war, sich zu
einigen und das Grundgesetz so zu ändern, dass Bund,
Länder und Kommunen ein gemeinsames Bürgerportal
erarbeiten werden. Die gesetzlichen Voraussetzungen,
um das umzusetzen, sind von der Bundesregierung geschaffen worden. Wir haben uns einen Zeitraum von fünf
Jahren vorgenommen, in dem wir das erreichen wollen.
Wenn es zum Ende der nächsten Legislaturperiode geschafft ist, wäre es noch besser. Die Bürgerinnen und
Bürger müssen spüren, dass auch ihre Beziehung zum
Staat endlich dem digitalen Fortschritt entspricht. Da haben wir gemeinsam noch sehr viel vor uns.
({16})
- Die geschaffenen rechtlichen Voraussetzungen sind
gut; Herr Heil, das wissen Sie auch.
Wenn wir Hochtechnologieland bleiben wollen, haben
wir die Aufgabe, Forschung und Entwicklung weiter zu
fördern. Die europäischen Staaten haben sich noch in
der Zeit von Bundeskanzler Schröder im Jahr 2000 vorgenommen, dass jedes europäische Land 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung
ausgibt.
({17})
- Das heißt nicht, dass man für Bildung nichts ausgibt.
Das heißt einfach, dass man für Forschung und Entwicklung 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausgibt, und
das ist auch richtig so. Wir freuen uns, dass wir 17 Jahre
später dies erreicht haben
({18})
und eines der wenigen Länder in der Europäischen Union
sind, die das geschafft haben. Allerdings müssen wir auch
zur Kenntnis nehmen, dass es skandinavische Länder
gibt, die bereits 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
für Forschung und Entwicklung ausgeben, genauso wie
Südkorea und Israel. Deshalb dürfen wir uns auch hier
nicht ausruhen, sondern müssen das weiterentwickeln.
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der
Bund - die Bundesregierung und das Parlament haben
dem zugestimmt - die BAföG-Zahlungen voll übernimmt.
({19})
- Herr Heil, ich achte sehr wohl die Zahl der Abgeordneten Ihrer Fraktion. Aber gegen meinen Willen und den
Willen der Unionsfraktion konnten Sie in diesem Parlament echt nichts durchsetzen. Das muss man jetzt einfach
akzeptieren.
({20})
Vielleicht, Herr Heil, waren Ihre Argumente so gut, dass
sie mich überzeugt haben. Oder besser gesagt: Es waren
die Argumente des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz,
die mich schlussendlich überzeugt haben. Daran sehen
Sie, wie gut ich zuhören kann, wie ich auf gute Argumente eingehen kann.
({21})
Insofern ist es ein guter, gemeinsamer Erfolg von uns allen.
Hier haben wir viel Wert darauf gelegt, dass möglichst
alle Länder die freiwerdenden Mittel anschließend wieder für Bildung in den Hochschulen eingesetzt haben. Da
waren wir nicht vollständig erfolgreich. Aber für die unionsregierten Länder kann ich sagen: Da hat es so stattgefunden, und darauf sind wir stolz.
({22})
Meine Damen und Herren, wir haben durch gute Wirtschaftspolitik, auch durch die Tatsache, dass wir vier Jahre lang keine Schulden gemacht haben, zeigen können,
dass solide Haushaltspolitik und Wirtschaftswachstum
Hand in Hand gehen können, dass dadurch nachhaltiges
Wirtschaftswachstum entstehen kann. Die letzten vier
Jahre sind dadurch gekennzeichnet, dass der Wachstumsmotor in Deutschland nicht mehr der Export ist, sondern
der Binnenkonsum. Das sieht man auch an den Lohnsteigerungen.
({23})
- Erstens sind Sie nachher noch an der Reihe. Und zweitens: Freuen Sie sich doch mit uns oder mit mir.
({24})
Ich kann überhaupt nicht verstehen, was Sie hier machen.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten gar nichts gemacht
in dieser Regierung. Das wäre auch nicht schön gewesen.
Wir haben gemeinsam eine Regierung gestellt. Wir
haben uns im letzten Wahlkampf eine Lohnuntergrenze
vorgenommen. Sie haben den einheitlichen Mindestlohn
angestrebt. Wir haben uns zum Schluss darauf geeinigt,
dass wir den einheitlichen Mindestlohn einführen. Millionen von Menschen haben heute mehr in der Tasche,
und darüber können wir uns alle freuen. Auch die Facharbeiterinnen und Facharbeiter haben mehr. Die Reallöhne
sind gestiegen; das drückt sich auch in der Steigerung der
Renten aus.
({25})
Ich glaube, darüber freuen sich viele Menschen in unserem Land.
Meine Damen und Herren, die vernetzte Welt, die sich
im digitalen Fortschritt zeigt, spiegelt sich natürlich auch
in der Außenpolitik wider. Die Grenzen von Wirtschafts-,
Finanz-, Handels- und Sicherheitspolitik verschwimmen
immer mehr; das sehen wir an vielen Krisenherden dieser Welt. Deshalb beschäftigt uns im Augenblick leider
natürlich in ganz besonderer Weise die Situation im asiatischen Raum, wo die Nukleartests Nordkoreas eine
flagrante Verletzung aller internationalen Gegebenheiten
sind. Es ist richtig, dass der UN-Sicherheitsrat klare Positionen bezieht. Ich sage ausdrücklich, auch im Namen
der ganzen Bundesregierung: Hier kann es nur eine friedliche diplomatische Lösung geben, für die wir allerdings
mit allen Kräften eintreten müssen.
({26})
Deshalb, meine Damen und Herren, habe ich am
Sonntag mit dem französischen Präsidenten telefoniert.
Der Bundesaußenminister ist im Kontakt mit seinem
Kollegen. Es wird am Wochenende ein Außenministertreffen in Gymnich geben, wo wir über weitere Sanktionen von europäischer Seite gegenüber Nordkorea beraten werden; das ist auch dringend erforderlich. Ich habe
darüber gestern mit dem südkoreanischen Präsidenten
und auch mit dem amerikanischen Präsidenten Donald
Trump gesprochen. Beide unterstützen diese europäischen Bemühungen außerordentlich. Die Tatsache, dass
Nordkorea eine gewisse Entfernung zu uns hat, sollte uns
nicht davon abhalten, mit aller Entschiedenheit hier für
eine diplomatische Lösung einzutreten. Europa hat eine
wichtige Stimme in der Welt und muss diese Stimme in
dieser Situation nutzen.
({27})
Meine Damen und Herren, uns beschäftigt aus traurigem Anlass - zwölf deutsche Staatsbürger befinden sich
aus politischen Gründen in der Türkei in Haft - die Entwicklung in der Türkei in ganz besonderer Weise. Diese
Entwicklung ist mehr als besorgniserregend. Die Türkei
verlässt immer mehr den Weg der Rechtsstaatlichkeit,
und das zum Teil in einem sehr schnellen Tempo. Wir
haben die Aufgabe - das Auswärtige Amt und wir alle
tun alles dafür -, die deutschen Staatsbürger freizubekommen.
Ich will exemplarisch Frau Tolu nennen, die mit einem
zweijährigen Kind im Gefängnis sitzt; auch ihr Mann befindet sich in Untersuchungshaft. Ich kann genauso Deniz
Yücel und Herrn Steudtner und andere nennen. Erstens
sollten wir niemanden von ihnen vergessen. Zweitens
sollten wir allen die bestmögliche Betreuung zukommen
lassen. Drittens sollten wir auf allen Ebenen alles in unserer Macht Stehende versuchen - und zwar Tag für Tag -,
um diese Menschen, die nach unserer Überzeugung unschuldig in Untersuchungshaft sitzen, freizubekommen.
Ich glaube, das ist unser aller Anliegen.
({28})
Dieser Umgang mit deutschen Staatsbürgern, aber
auch die Gesamtsituation in der Türkei veranlassen uns
natürlich, darüber nachzudenken, wie wir die Beziehungen zur Türkei neu ordnen. Die Bundesregierung hat
erste Schritte unternommen; das hat der Bundesaußenminister anlässlich der Verhaftung von Herrn Steudtner
ausführlich dargelegt. Wir haben die estnische Präsidentschaft gebeten, in den nächsten Monaten, solange die Situation so ist, keinerlei Verhandlungen über eine Erweiterung der Zollunion auf die Tagesordnung zu setzen; das
schließt sich aus. Wir werden auch über die zukünftigen
Beziehungen zur Türkei beraten - ich werde dazu vorschlagen, dass das im Oktober auf dem Europäischen Rat
stattfindet -, eingeschlossen auch die Frage, die Verhandlungen zu suspendieren oder zu beenden. Hierzu braucht
man Mehrheiten in Europa. Dies ist ein Vorgang, der natürlich entschieden, aber auch wohlbedacht durchgeführt
werden sollte.
Die Beziehungen zur Türkei sind strategischer Natur. Wenige Tage bevor ich Bundeskanzlerin wurde,
am 3./4. Oktober 2005, sind durch meinen Vorgänger
Gerhard Schröder die Beitrittsverhandlungen mit der
Türkei aufgenommen worden. Dem ging ein langer
Diskussionsprozess voraus; die Grundentscheidung war
schon Ende 2004 gefallen. Wir von der Unionsfraktion
waren immer skeptisch oder dagegen, diese Beitrittsverhandlungen aufzunehmen.
({29})
Ich habe dennoch im Sinne einer großen außenpolitischen Kontinuität - pacta sunt servanda - immer diese
Verhandlungen geführt. Wir haben Kapitel eröffnet. Wir
haben seit langem keine Kapitel mehr geschlossen. Die
Beziehungen zur Türkei sind von großer Bedeutung.
Deshalb werde ich mich dafür einsetzen, dass wir
entschieden vorgehen, dass wir aber mit unseren europäischen Partnern vorgehen und darüber sprechen; denn
nichts wäre erstaunlicher, als wenn wir uns in Europa
über die Frage des zukünftigen Umgangs mit der Türkei
vor den Augen des Präsidenten Erdogan öffentlich zerstreiten. Das würde Europas Position dramatisch schwächen. Davon kann ich uns nur abraten.
({30})
Die gleiche Entschiedenheit, die wir im Umgang mit
der türkischen Regierung, mit dem Präsidenten haben,
müssen wir auch haben, wenn es darum geht, den Blick
auf die vielen zu haben, die in der Türkei mit der augenblicklichen politischen Entwicklung nicht zufrieden
sind. Wir müssen den Blick auch auf die vielen türkischstämmigen Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland haben, weil es unsere Bürgerinnen
und Bürger sind, auch auf diejenigen, die mit türkischer
Staatsbürgerschaft seit langem hier leben. Sie tragen zum
Wohlstand unseres Landes bei. Wir dürfen sie nicht vor
den Kopf stoßen. Wir müssen auch mit ihnen das Gespräch über die weiteren Entwicklungen führen; denn
sie sind Teil unseres Landes, und das sollten wir ihnen
auch deutlich machen. Insofern ist es eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die vor uns liegt und der wir uns
natürlich stellen werden.
Meine Damen und Herren, ein Weiteres, in dem sich
auch wieder symbolhaft die Situation, die globalen Herausforderungen spiegeln, das ist die Lage der Flüchtlinge weltweit. Hier haben wir vieles unternommen.
Ich will darauf heute im Einzelfall nicht eingehen, will
allerdings sagen, dass mir die Partnerschaft mit Afrika
besonders wichtig ist. Wir haben jüngst mit dem italienischen und dem spanischen Premierminister sowie dem
französischen Präsidenten über die Partnerschaft mit der
Einheitsregierung in Libyen, über die Partnerschaft mit
Niger, über die Zusammenarbeit mit Tschad und anderen
afrikanischen Ländern gesprochen.
({31})
- Ich habe nicht behauptet, dass es sich um eine Demokratie nach unserem Vorbild handelt. Trotzdem müssen
wir mit diesen Ländern reden.
({32})
Es hat keinen Sinn, zu glauben, dass durch simple Verurteilung im Deutschen Bundestag die Welt sich zum
Besseren ändert, sondern wir müssen Menschen im Blick
haben:
({33})
Menschen, die durch die Sahara fliehen, Menschen, die
durch Niger gehen, Menschen, die nach Libyen kommen.
All diese Länder sind sicherlich nicht Demokratien, wie
wir sie uns vorstellen, und trotzdem müssen wir mit diesen Ländern reden und Partnerschaft mit ihnen aufbauen.
({34})
Meine Damen und Herren, wir werden am Jahresende
einen EU-Afrika-Gipfel haben, und auf diesem EU-Afrika-Gipfel werden die Weichen für mehr fairen Handel
mit Afrika und für mehr wirtschaftliche Entwicklung in
Afrika gestellt werden müssen ({35})
so wie Wolfgang Schäuble das mit seinem Compact
with Africa im Rahmen der G-20-Präsidentschaft vorgeschlagen hat; darauf zielen auch viele Initiativen der
Wirtschaftsministerin und anderer Minister, die von uns
eingeleitet wurden. Insofern gibt es in der gesamten Bundesregierung eine sehr vernetzte Zusammenarbeit, um
diesen afrikanischen Ländern zu helfen.
Meine Damen und Herren, wenn es um Sicherheit in
der Welt geht, dann spielt natürlich auch das Thema Verteidigung eine Rolle. Wir hatten hierzu heute Morgen ja
schon eine bemerkenswerte Diskussion. Deshalb möchte
ich dazu auch etwas sagen.
Im Jahre 2002 hat die NATO beschlossen, dass neue
Mitgliedstaaten nur dann in die NATO aufgenommen
werden, wenn sie sich vorher verpflichten, bereits im
Zuge des Membership Action Plans, also vor dem eigentlichen Beitritt, 2 Prozent ihres Budgets für die Verteidigung auszugeben. Dies blieb natürlich nicht ohne Folgen
für die Diskussion über die Höhe der Verteidigungsausgaben der bereits langjährig der NATO angehörenden
Mitgliedstaaten. Deshalb haben die Verteidigungsminister 2006 diesen Beschluss wiederholt, deshalb spielt es
seitdem eine zentrale Rolle. Und in der gesamten Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Barack Obama gab
es ein immer wiederkehrendes Thema, und das hieß: Ihr
Deutsche könnt nicht davon ausgehen, dass auf Dauer
andere für euch ein Stück Sicherheit schaffen, ohne dass
ihr den Anstrengungen, zu denen wir uns gemeinsam
verpflichtet haben, folgt.
({36})
Daraufhin hat man sich dann in Wales - auch sehr
stark unter dem Eindruck des Ukraine-Konflikts - entschieden, zu sagen - und diese Position hat die Bundesregierung gemeinsam getragen -: Auch die Länder, die
das 2-Prozent-Ziel heute noch nicht einhalten - die neuen Mitgliedstaaten tun das ja weitestgehend -, sollen den
Richtwert 2 Prozent in Betracht ziehen und sollen sich
deshalb bis 2024 in Richtung von Verteidigungsausgaben
in Höhe von 2 Prozent des Budgets entwickeln.
({37})
Dieses wiederum spiegelt sich wider in dem Weißbuch,
das von der gesamten Bundesregierung verabschiedet
wurde, und zwar im Juli 2016. Das sind alles Beschlüsse, die vor der Wahl in den USA gefasst wurden, in der
Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten
von Amerika gewählt wurde.
({38})
Meine Damen und Herren, wir haben dann moderate
Erhöhungen des Verteidigungsetats vorgenommen, regelmäßig begleitet von Kommentaren unserer Verteidigungsexperten sowohl aus der Fraktion der CDU/CSU
als auch aus der Fraktion der SPD, dass dies dringendst
notwendige Erhöhungen seien, allerdings immer noch
nicht ausreichende Erhöhungen,
({39})
weil uns alleine schon die Ausrüstung der Bundeswehr
in vielerlei Hinsicht fordert. Da rede ich noch gar nicht
über Blauhelmeinsätze und Hilfe für andere Länder, zum
Beispiel bei der Ausrüstung und beim Training von Soldatinnen und Soldaten.
Dann habe ich zu meiner Nicht-Freude gehört,
({40})
dass dieses Ziel nicht mehr akzeptiert wird. Dann habe
ich, diesmal zu meiner Freude, gehört, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei sich bei seinen
Experten für Verteidigung Rat gesucht hat, zum Beispiel
bei Rainer Arnold, und dass der ihm empfohlen hat, dass
man pro Jahr 3 bis 5 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr einsetzen sollte. Da habe ich meine mathematischen Fähigkeiten zusammengenommen
({41})
und habe mir gedacht: Wenn es 3 Milliarden sind, bewegen wir uns schnell in Richtung 2-Prozent-Ziel. Wenn
es 5 Milliarden sind, haben wir das 2-Prozent-Ziel wahrscheinlich 2024 erreicht. - Also: kein Problem, kein Dissens. Ich bin froh und hoffe, dass das Wort des Kanzlerkandidaten Martin Schulz gilt.
({42})
Um die Quelle zu nennen, Herr Heil: Es war beim Forum
von Deutschlandfunk und Phoenix. - Da wurde darüber hinaus noch behauptet, ich wolle 30 Milliarden Euro
mehr einsetzen, was von einem Jahr aufs andere ergeben
hätte, dass wir das 2-Prozent-Ziel erfüllt hätten, was ja
nun - - Nur, damit alles klar ist.
({43})
Meine Damen und Herren, jetzt möchte ich nur noch
kurz darauf hinweisen, weil meine Zeit nämlich so gut
wie vorbei ist, dass wir - ({44})
- Ich meine meine Redezeit hier. Mein Gott, wie weit
sind wir jetzt eigentlich schon gekommen? Leute,
kommt, es sind noch wenige Tage bis zur Wahl! Lassen
Sie uns diese erfolgreiche Regierungsarbeit wenigstens
am heutigen Tage einigermaßen gelten lassen! Wir haben
nämlich wirklich eine Menge miteinander erreicht.
({45})
Wir haben eine Menge Unterschiede; das ist überhaupt
keine Frage. Diese zeigen sich auch in den Regierungsprogrammen; das ist auch keine Frage. Aber das, was wir
geschafft haben, sollten wir den Menschen schon sagen.
Und damit schließe ich.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({46})
Nächste Rednerin ist die Kollegin Sahra Wagenknecht
für die Fraktion Die Linke.
({0})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident!
Lieber Herr Dr. Lammert, als Erstes möchte ich Ihnen,
natürlich auch im Namen meiner Fraktion, unsere Anerkennung und unseren Dank für Ihre faire Amtsführung
aussprechen. Wir wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles
Gute.
({0})
Der französische Präsident Macron ist bekanntlich mit
der Bewegung La République en Marche an die Macht
gekommen. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, eine Wahlplattform gründen würden, müsste die wohl eher „La République en transe“ heißen. Wer in Trance ist, der nimmt
bekanntlich die Realität nur noch sehr eingeschränkt
wahr, und der neigt ab und an zu anlassloser Euphorie.
({1})
Einlullend, inhaltsleer, demobilisierend - so beschreiben viele Journalisten Ihren Wahlkampf, Frau Bundeskanzlerin. Dass Sie in einer Zeit, in der auch im reichen
Deutschland unzählige ungelöste Probleme den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger bedrohen, in einer Zeit
großer weltpolitischer Gefahren versuchen, mit einem
Schönwetter-Wohlfühl-Wahlkampf eine demokratische
Debatte über die Lösung dieser Probleme von vornherein zu verhindern, das finden wir - ich glaube, nicht nur
wir - wirklich empörend.
({2})
Sie erzählen den Leuten, Deutschland ginge es so gut
wie nie zuvor.
({3})
Wer aus der Trance aufwacht, der stellt fest: Nach den
Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
haben heute sage und schreibe 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland weniger Einkommen als Ende der
90er-Jahre. Gehört für Sie fast die Hälfte der Bevölkerung nicht zu Deutschland? Was ist denn das für eine
Anmaßung!
({4})
Da plakatiert die Union allen Ernstes: „Für gute Arbeit und gute Löhne.“ Ja, es gibt in Deutschland viele
erfolgreiche Unternehmen. Es gibt hochqualifizierte Arbeitskräfte, und es gibt zum Glück auch viele gut
bezahlte Arbeitsplätze; aber das war früher auch schon
so. Neu ist, dass selbst im Wirtschaftsboom immer mehr
ungesicherte, schlecht bezahlte Jobs entstanden sind und
dass sich inzwischen sogar die Bundesbank angesichts
der schwachen Lohnentwicklung in Deutschland Sorgen
macht. Neu ist, dass sich der Anteil derer, die trotz Arbeit
ein Einkommen unterhalb der Armutsschwelle beziehen,
in den letzten zehn Jahren - also genau in Ihrer Amtszeit,
Frau Merkel - mehr als verdoppelt hat. Ich finde, mit so
einer Bilanz „Für gute Arbeit und gute Löhne.“ zu plakatieren, ist eine Verhöhnung der Wählerinnen und Wähler.
({5})
Wenn Sie gute Löhne wollen, dann hätten Sie doch
zwölf Jahre lang die Möglichkeit gehabt, den von RotGrün unter Gerhard Schröder geschaffenen Niedriglohnsektor wieder einzudämmen. Sie hätten doch unsere
Vorschläge umsetzen können, grundlose Befristungen
zu verbieten und der Lohndrückerei über Leiharbeit und
Werkverträge die gesetzliche Grundlage zu entziehen.
Sie hätten dafür sorgen können, dass der Mindestlohn
mehr ist als ein Armutslohn, den der Steuerzahler mit
10 Milliarden Euro an Aufstockerleistungen jedes Jahr
subventionieren muss.
({6})
Aber nichts davon haben Sie getan. Stattdessen erzählen Sie uns gemeinsam mit der SPD das Märchen, die
Agenda-2010-Gesetze hätten die Arbeitslosigkeit dramatisch verringert. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger
hat Ihnen daraufhin zu Recht „ökonomische Ignoranz“
vorgeworfen.
({7})
„Familien sollen es kinderleichter haben.“, lese ich
auf Ihren Plakaten. Wunderbar! Warum haben Sie denn
nichts daran geändert, dass Kinder das Armutsrisiko
Nummer eins in diesem Land sind? Warum lassen Sie
es seit Jahren zu, dass steigende Mieten gerade Familien
aus den Innenstädten vertreiben, weil sie schlicht keine
bezahlbare Wohnung mehr finden können? Und warum
stört es Sie nicht, dass bundesweit 350 000 Kitaplätze
fehlen und viele Kinder in maroden Schulen lernen müssen, wo wegen chronischen Lehrermangels noch nicht
einmal der Schulstoff geschafft wird?
({8})
Natürlich wissen auch wir, dass Bildung Ländersache
ist. Wir wissen aber auch, dass die Finanzen, die die Länder zur Verfügung haben, von der Steuerpolitik des Bundes abhängen und dass Ihre Steuerpolitik, Frau Merkel,
immer darauf hinauslief, die Mittelschicht zu belasten,
aber Konzerne und Superreiche steuerlich zu schonen.
({9})
So hat man auf die Milliardeneinnahmen verzichtet, die
man aber braucht, wenn man gute Bildung, gute Pflege
und eine gute Gesundheitsversorgung finanzieren will.
„Für Sicherheit und Ordnung.“ werben Sie auf Ihren
Plakaten. Was ist das für eine Ordnung, in der Großbetrüger in Banken und Konzernen immer wieder damit
durchkommen, die Allgemeinheit massiv zu schädigen,
ohne für die Folgen zur Verantwortung gezogen zu werden?
({10})
Das jüngste Beispiel dafür ist doch der Dieselskandal.
Ich finde, es ist wirklich blamabel, dass die Große Koalition nicht das Rückgrat hat, Autobauer, die in den letzten
fünf Jahren 111 Milliarden Euro Gewinn gemacht haben,
zur Nachrüstung der Motoren zu verpflichten.
({11})
Auch mit Ihrer Außenpolitik haben Sie die Sicherheit in unserem Land nicht erhöht. Im Gegenteil: Sie
haben die gute Tradition der Entspannungspolitik aufgegeben und sich - anders als Ihre Vorgänger Willy
Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und auch Gerhard
Schröder - von den USA in eine Konfrontationspolitik
gegenüber Russland
({12})
hineintreiben lassen, die unsere Sicherheit gefährdet und
unsere Wirtschaft schädigt.
({13})
Herr Lammert hat vorhin an die deutsche Wiedervereinigung erinnert. Es hatte doch auch einiges mit Entscheidungen in Moskau zu tun, dass das alles auf diese
Art so friedlich geschehen konnte.
({14})
Frau Merkel, Sie haben unsere Soldaten immer wieder in neue gefährliche Kriege geschickt, obwohl wir seit
dem Beginn des Krieges in Afghanistan erleben - ich erinnere an Kunduz -, dass Bomben und zivile Opfer die
Dschihadisten stärken und nicht schwächen. Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass es 2001, vor Beginn des ersten
sogenannten Antiterrorkrieges, weltweit wenige Hundert gefährliche islamistische Terroristen gab und dass
es heute Hunderttausende sind? Der „Islamische Staat“,
dessen Anschläge jetzt immer öfter auch Europa treffen,
ist doch das Produkt des verbrecherischen Irakkrieges, an
dem Sie sich damals sogar noch beteiligen wollten.
({15})
Während viele Menschen vor neuem Terror flüchten,
liefern Sie den Chefs der islamistischen Gefährder, den
Kopf-ab-Diktatoren am Golf und dem türkischen Despoten Erdogan unverändert Waffen und Kriegsgerät frei
Haus. Ich finde, das ist wirklich überhaupt nicht akzeptabel.
({16})
Insoweit ist es auch Ihre Verantwortung, Frau Merkel,
dass sich die Lebensunsicherheit und die Zukunftssorgen
vieler Bürgerinnen und Bürger in den zurückliegenden
zwölf Jahren erheblich gesteigert haben. Und dennoch
soll es keine Wechselstimmung geben? Ich denke, es ist
eher so, dass die meisten Menschen die Hoffnung auf einen echten Wechsel aufgegeben haben. Wo soll denn eine
Wechselstimmung herkommen, wenn alle Parteien außer
der Linken signalisieren, dass sie eigentlich gar nichts
Grundlegendes ändern wollen,
({17})
und wenn man insbesondere die Unterschiede zwischen
SPD und CDU wirklich mit der Lupe suchen muss.
({18})
Das wurde ja beim Kanzlerduell, das alles andere als ein
Duell war, mehr als deutlich.
({19})
Wie groß die Sehnsucht nach einem Wechsel tatsächlich ist, das konnte man, denke ich, nach der Nominierung von Martin Schulz erleben. Warum sind denn die
Umfragewerte der SPD damals so nach oben gegangen?
Weil viele Menschen die Hoffnung hatten, die SPD würde mit dem neuen Kanzlerkandidaten auch ihre Politik
verändern, sie würde wieder eine sozialdemokratische
Partei werden. Und das hat ihre Umfragewerte hochgetrieben. Aber danach haben Sie wirklich alles dafür getan, diese Hoffnung zu zerstören.
({20})
Dazu muss ich sagen: Wer an Leiharbeit, an Niedriglöhnen, an Hartz IV überhaupt nichts mehr ändern will,
wer sich nicht einmal traut, eine Vermögensteuer für Superreiche zu fordern, der sollte wirklich aufhören, von
sozialer Gerechtigkeit zu reden.
({21})
„Damit die Rente nicht klein ist …“, das lese ich auf
SPD-Wahlplakaten, illustriert durch das Bild einer fröhlichen Rentnerin. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der
SPD, meinen Sie wirklich, die Wähler haben vergessen,
dass die schlimmsten Rentenkürzungen unter Ihrer Verantwortung stattgefunden haben, dass Sie mit der Absenkung des Rentenniveaus, mit dem Riester-Betrug und mit
der Rente erst ab 67 dafür gesorgt haben, dass die Renten
für viele verdammt klein geworden sind? Jeder sechste
Rentner lebt heute unter der Armutsgrenze. Daran wollen Sie noch nicht einmal etwas ändern. Der einzige Unterschied zur Union ist, dass Sie die Rente nicht noch
weiter kürzen wollen. Das ist wirklich eine hinreißende
Alternative. Dabei können wir in unserem Nachbarland
Österreich sehen, wie man den Menschen einen sorgenfreien Lebensabend ermöglichen kann. Dort zahlen alle
in einen Rententopf ein: Selbstständige, Beamte und Politiker. Im Ergebnis bekommt ein Durchschnittsrentner
800 Euro mehr im Monat. Das wollen Sie den Menschen
in unserem Land vorenthalten?
Bei der Außenpolitik würden wir uns natürlich darüber
freuen, wenn die Übernahme unserer Forderungen nach
Abrüstung und nach einem Abzug der Atomwaffen aus
Deutschland durch Martin Schulz ernst gemeint gewesen wäre. Niemand braucht diese gefährlichen Waffen in
Deutschland. Niemand braucht weitere Aufrüstung. Das
ist völlig richtig. Aber das, was Sie heute früh wieder hier
abgezogen haben, zeigt doch, wie wenig ernst Sie das
meinen, was Sie jetzt auf den Marktplätzen und auf den
Straßen erzählen. Sie haben verhindert, dass ein Antrag
von uns nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt wurde, mit dem wir mit der jetzt noch vorhandenen Mehrheit
im Bundestag genau das hätten beschließen können. Ich
finde das wirklich traurig.
({22})
So gesehen wäre es tatsächlich ungerecht, der Bundeskanzlerin die alleinige Verantwortung dafür zu geben,
dass dieser Wahlkampf in gepflegter Langeweile dahinplätschert. Wer hat denn die SPD daran gehindert, ein
glaubwürdiges Alternativangebot zum Weiter-so-Wahlkampf der Kanzlerin zu unterbreiten? Sie haben es nicht
getan.
({23})
Und damit sind Sie mitverantwortlich dafür, dass die
Wählerinnen und Wähler wieder nicht zwischen alternativen Regierungen mit klar unterschiedenem Programm
entscheiden können. Das untergräbt tatsächlich die Demokratie.
({24})
Wer sich ein Deutschland wünscht, in dem wirklich
alle gut und gerne leben können, ein Deutschland ohne
Niedriglöhne und Altersarmut, in dem Politiker sich
nicht mehr von Konzernen kaufen lassen und Geld für
Bildung statt für Panzer ausgegeben wird, der kann heute
tatsächlich nur noch die Linke wählen.
({25})
Ich bin auch überzeugt: Nur ein Weckruf durch eine
deutlich gestärkte Linke kann vielleicht verhindern, dass
sich die SPD nach ihrer Wahlniederlage in der nächsten Großen Koalition verkriecht - Herr Mützenich hat
Martin Schulz schon einmal nur zum Fraktionsvorsitzenden gemacht; ich fand interessant, was Sie vorhin gesagt
haben - und so der Union ein Zeitlosticket für die Fahrt
im Schlafwagen an die Macht verschafft. Wir wünschen
uns, dass sich das endlich verändert.
({26})
Für die SPD-Fraktion erhält jetzt der Kollege Thomas
Oppermann das Wort.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist die
voraussichtlich letzte Bundestagssitzung des Präsidenten, aber auch der Vizepräsidenten Johannes Singhammer
und Edelgard Bulmahn. Ich möchte Ihnen, auch im Namen meiner ganzen Fraktion, für viele Jahre souveräner
Sitzungsleitung ganz herzlich danken.
({0})
Lieber Norbert Lammert, Sie haben in drei Wahlperioden mit Witz, Ironie und Charme durch die Tagesordnung geführt, dabei aber vor allem immer den Rang
dieses Parlamentes verteidigt. Sie haben klargestellt, dass
hier das Herz der Demokratie schlägt und dieses Haus
Auftraggeber und nicht Vollzugsorgan ist.
({1})
Dass es dabei nicht nur steif und trocken zugehen muss,
haben Sie in vielen launigen Bemerkungen und Reden
bewiesen. Dabei haben Sie manchmal selbst die Regierungserklärung gleich miterledigt. Das hat nicht immer
alle in Ihrer Fraktion erfreut
({2})
und Ihnen den Beinamen „der Unfehlbare“ eingebracht.
({3})
Das mit dem Unfehlbaren würden wir so nicht unterschreiben, aber fehlen werden Sie uns schon.
({4})
Ich wünsche Ihnen für die Zukunft alles erdenklich Gute.
Meine Damen und Herren, diese Regierung hat in den
letzten vier Jahren viel bewegt. Wir haben zahlreiche
Gesetze beschlossen, die das Leben vieler Menschen in
diesem Land spürbar besser gemacht haben.
({5})
Wir haben den gesetzlichen Mindestlohn eingeführt und
die Leih- und Zeitarbeit begrenzt. Wir haben eine Frauenquote für die Besetzung von Aufsichtsräten in großen
Unternehmen durchgesetzt, aber auch die Situation der
Alleinerziehenden deutlich verbessert. Wir haben die
Renten in Ost und West angeglichen,
({6})
und wir haben das erste Integrationsgesetz in der Geschichte dieses Landes verabschiedet. Ich muss sagen:
Ich bin stolz darauf, was wir gemeinsam erreicht haben.
({7})
Aber zur Wahrheit gehört auch: All diese Vorhaben
mussten von uns hart erkämpft werden, und zwar gegen
die Kollegen und Kolleginnen von CDU und CSU,
({8})
und viel zu häufig auch gegen Sie selbst, Frau Merkel.
Ich räume ein: Nicht immer haben wir uns gegen Sie
durchsetzen können. Einige der Projekte, die mehr Gerechtigkeit bringen sollten, haben Sie bis zur Unkenntlichkeit beschädigt, zum Beispiel die Mietpreisbremse.
Sie, Frau Merkel, haben vor einigen Wochen beklagt,
dass die Mietpreisbremse nicht funktioniert,
({9})
aber Sie haben nicht gesagt, warum sie nicht funktioniert.
Das ist so, weil Sie als Bundeskanzlerin ganz persönlich
dafür gesorgt haben, dass es für die Vermieter heute ganz
leicht ist, das Gesetz zu umgehen.
({10})
Deshalb tragen Sie persönlich Mitverantwortung für viele unangemessene Mieterhöhungen in diesem Land.
({11})
Sie reden von Zusammenhalt, aber Ihr Handeln sieht
anders aus. Eine solidarische Mindestrente ist mit Ihnen
nicht zu machen.
({12})
Sie lassen die Leute mit den kleinen Renten im Stich.
Ich finde: Wer ein Leben lang gearbeitet hat, der hat eine
anständige Rente verdient.
({13})
Die Union ist nicht bereit, über ein Einwanderungsgesetz auch nur zu verhandeln. Stattdessen tragen Herr
Seehofer und Frau Merkel einen jahrelangen Streit über
die Obergrenze aus. Ich sage Ihnen: Dieser Streit ist einer
der Tiefpunkte der politischen Kultur in dieser Wahlperiode.
({14})
Sie haben verhindert, dass Arbeitnehmer das Recht
bekommen, von der Teilzeit in die Vollzeit zurückzukehren. Es ist Ihre Verantwortung, dass Millionen Frauen in
der Teilzeitfalle festsitzen.
({15})
Nicht zuletzt gilt das für die Öffnung der Ehe. Da haben Sie sich erst offen gezeigt, dann aber, als es darauf
ankam, dagegengestimmt. So was kommt vor. Dumm ist
nur, wenn das innerhalb einer Woche passiert; denn dann
merkt es jeder.
({16})
Deshalb, meine Damen und Herren: Dieses Land braucht
keine Bundeskanzlerin, die nur sozialdemokratisch redet,
dieses Land braucht einen Bundeskanzler, der sozialdemokratisch handelt.
({17})
Deutschland hat eine starke Wirtschaft, aber das kam
nicht von selbst, und das bleibt auch nicht automatisch
so. Da braucht man schon den Mut, die Zukunft zu gestalten, und diesen Mut sehe ich bei Ihnen nicht.
({18})
Seit Monaten bunkert Ihr Finanzminister Schäuble
6 Milliarden Euro Überschuss aus 2016. Wir wollen dieses Geld für Investitionen zur Verfügung stellen, zum
Beispiel für den Breitbandausbau.
Frau Merkel, Sie sind jetzt 12 Jahre Bundeskanzlerin.
({19})
Deutschland als Industriemacht liegt bei der Übertragungsgeschwindigkeit im Internet weltweit auf Platz 25
hinter Lettland, Rumänien und Bulgarien. Sie haben eben
gesagt: Wir müssen aufpassen, dass wir nicht im Technikmuseum enden. Beim Thema Internet, Frau Merkel,
müssen Sie aufpassen, dass Sie aus dem Technikmuseum
herauskommen, in dem wir uns im Augenblick befinden.
({20})
Sie haben dieses Zukunftsthema total verschlafen.
Völlig verschlafen haben Sie auch das Thema „digitale Bildung“. Es ist unfassbar, dass Bildungsministerin Johanna Wanka erst ein 5-Milliarden-Programm für
die Computerausstattung an den Schulen ankündigt und
dann - ich kann es immer noch nicht glauben - einräumen muss, dass sie vergessen hat, das Geld beim Finanzminister zu beantragen. So, Frau Merkel, verspielen Sie
die Zukunft dieses Landes.
({21})
Sie reden von „Bildungsrepublik Deutschland“, aber
Sie weigern sich, mehr Geld in die Bildung zu investieren, stattdessen verteidigen Sie das Kooperationsverbot. Aber dieses Kooperationsverbot ist ein unseliger
Anachro nismus und muss endlich abgeschafft werden.
({22})
Wir wollen, dass der Bund mehr in Bildung investiert: in Ganztagsschulen und in gebührenfreie Bildung
von der Kita bis zur Meisterprüfung, und zwar flächendeckend; denn das ist eine Investition in Menschen, in
Werte, eine Investition in die Zukunft, aber auch in Gerechtigkeit. Alle Kinder müssen unabhängig von ihrer
Herkunft oder von ihrem Wohnort die Chance auf einen
guten Schulabschluss und eine gute Ausbildung in diesem Lande haben.
({23})
Wir brauchen einheitliche Bildungsstandards überall
in Deutschland. Es kann doch nicht sein, dass der Umzug mit Kindern in ein anderes Bundesland regelmäßig
in einem schulischen Chaos endet, weil jedes Land völlig
andere Lehrpläne und Standards hat. Diese Kleinstaaterei
auf dem Rücken von Eltern und Kindern muss endlich
ein Ende haben.
({24})
Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein wohlhabendes Land, aber dieser Wohlstand kommt nicht bei
allen an. Wir brauchen ein gerechteres Steuersystem.
Deshalb wollen wir den Soli für kleine und mittlere
Einkommen, für Normalverdiener sofort abschaffen.
Finanzminister Schäuble will sich dafür zehn Jahre Zeit
nehmen.
Wir wollen eine gerechte Finanzierung der Krankenkassenbeiträge. Sie hingegen wollen an der ungerechten
Finanzierung der Zusatzbeiträge festhalten und damit die
Kosten für den gesamten medizinischen Fortschritt allein
den Arbeitnehmern aufbürden; da war ja Bismarck schon
fortschrittlicher. Deshalb müssen die Arbeitgeber endlich
wieder die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge zahlen.
({25})
Aber am meisten hat mich erstaunt, wie Sie mit den
Sorgen der Menschen um eine sichere Rente und der
Angst vor Altersarmut umgehen, Frau Merkel. Sie haben
gesagt, dass Sie da überhaupt nichts machen wollen.
({26})
Aber schon in wenigen Jahren wird das System der Rentenversicherung durch die Alterung der Gesellschaft in
eine Schieflage geraten. Wenn wir nicht gegensteuern,
sinkt das Rentenniveau von 48 auf 43 Prozent. Sie wollen
an der Rente bis zum Jahr 2030 nichts ändern. Sie wollen
nichts tun, wenn das Niveau absinkt, und Sie nehmen bewusst steigende Beiträge in Kauf. Ich sage Ihnen: Das ist
eine Kampfansage an die jüngere Generation.
({27})
Meine Damen und Herren, es gibt nur ein großes Ziel,
für das CDU und CSU viel Geld ausgeben wollen. Dieses
Ziel heißt Aufrüstung.
Herr Kollege Oppermann, darf der Kollege Birkwald
eine Zwischenfrage stellen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Präsident. - Vielen Dank, Herr
Oppermann, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Sie
haben gerade völlig korrekt dargestellt, dass, wenn es
nach CDU und CSU geht, die zukünftigen Rentner immer weniger Rente bekommen werden und bald viele,
viele Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet haben, in
die Nähe der Grundsicherung im Alter, also in die Nähe
des Rentner-Hartz-IV kommen werden. Sind Sie erstens
bereit, zuzugestehen, dass Sie diese Regelung, nach der
das Rentenniveau bis 2030 auf bis zu 43 Prozent absinken darf, mitbeschlossen haben? Und sind Sie zweitens
bereit, zuzugestehen, dass Sie Ihre jetzige Aussage, das
Rentenniveau solle bei 48 Prozent bleiben, nicht freiwillig tätigen, sondern weil wir Linken immer wieder vorgerechnet haben, was passieren wird, wenn das Rentenniveau auf 43 Prozent sinkt?
({0})
Was Sie jetzt mit Ihrer sogenannten Stabilisierung des
Rentenniveaus vorschlagen, bedeutet nichts anderes, als
dass Sie die Rentenkürzungen der vergangenen 15 Jahre festschreiben. Das wiederum bedeutet, dass ein Standardrentner oder eine Eckrentnerin 139 Euro brutto im
Monat weniger Rente hat, als sie haben könnten, wenn
wir wieder ein Rentenniveau von 53 Prozent hätten. Das
wäre auch finanzierbar. Sind Sie bereit, das zuzugestehen? Dann bin ich auch bereit, zu konzedieren,
({1})
dass Sie wenigstens nicht den Unsinn der Union mitmachen, das Rentenniveau weiter abzusenken.
({2})
Sehen Sie, durch unsere gute Arbeitsmarktpolitik haben wir im Augenblick folgende Situation: Der Stand
der Beschäftigung ist heute so hoch wie nie zuvor in
Deutschland. Die Zahl der Beitragszahler ist gestiegen.
({0})
Dadurch haben wir ein Rentenniveau von 48 Prozent.
Das ist ein relativ gutes Niveau.
({1})
Wir sagen ganz klar: Wir wollen dieses Niveau stabilisieren; aber das bedeutet eine Kraftanstrengung.
({2})
Dazu müssen wir, wenn nicht gleichzeitig die Beiträge
uferlos steigen sollen, einen steuerfinanzierten Demografiezuschuss in unsere Rentenversicherung einzahlen. Das
ist das Konzept von Andrea Nahles: die doppelte Haltelinie, für das Rentenniveau und für die Rentenbeiträge.
Das ist ein fairer Ausgleich zwischen den Generationen.
Dafür arbeiten wir. Das ist die Politik der SPD.
({3})
Was Sie vorschlagen, sind völlig unrealistische Versprechen.
({4})
Sie stellen Summen in den Raum, die überhaupt nicht zu
finanzieren sind. Machen Sie erst einmal Ihre Hausaufgaben, und dann melden Sie sich wieder.
({5})
Die Union will Geld für Aufrüstung ausgeben. Frau
Merkel, Sie wollen den deutschen Wehretat - das haben
Sie eben noch einmal bestätigt - bis zum Jahr 2024 von
heute 1,2 Prozent auf 2 Prozent anheben. Das wäre fast
eine Verdoppelung der Militärausgaben.
({6})
Das bedeutete am Ende, dass Deutschland ab 2024
30 Milliarden Euro pro Jahr mehr für Waffen ausgeben
müsste.
({7})
Ich sage: Das wäre die größte Aufrüstung, die Europa seit
Jahrzehnten erlebt hat. Das, Frau Merkel, macht unser
Land nicht sicherer, sondern das wäre der unheilvolle
Beginn eines neuen Wettrüstens.
({8})
Daran ändern auch Ihre mathematischen Rechenkünste nichts. Sie wollen sich der Aufrüstungspolitik von
Donald Trump unterwerfen. Aber das wird Ihnen nichts
nutzen.
({9})
Denn dieser Bundestag hat diese 2 Prozent niemals beschlossen. Ich sage Ihnen: Er wird sie auch nicht beschließen.
({10})
Klar ist aber auch, dass wir deutlich mehr Geld ausgeben
müssen, um die Bundeswehr bestmöglich auszurüsten.
Da besteht Nachholbedarf.
({11})
In den letzten zwölf Jahren hat die Bundeswehr vier
Verteidigungsminister von CDU und CSU erlebt. Diese
vier haben eines gemeinsam: Mit jedem Minister ist es
für die Bundeswehr schlimmer geworden.
({12})
Frau von der Leyen hat noch einen draufgelegt und
der ganzen Truppe pauschal ein Haltungsproblem bescheinigt. Eine der ersten Aufgaben der nächsten Bundesregierung wird sein, einen gewaltigen Scherbenhaufen beiseitezuräumen und der Bundeswehr wieder eine
bessere Ausrüstung, mehr Personal und vor allem eine
verlässliche politische Führung zu geben.
({13})
Wir leben in einer Zeit, in der überall auf der Welt Populisten und Autokraten unsere Werte einer offenen Gesellschaft und liberalen Demokratie angreifen, in einer
Zeit, in der Wladimir Putin durch die Annexion der Krim
die europäische Friedensordnung infrage gestellt hat,
({14})
in einer Zeit, in der ein autokratischer Präsident Erdogan
den Rechtsstaat und die Demokratie in der Türkei zerstört, in einer Zeit, in der Donald Trump den Rassismus
in den USA wieder hoffähig macht. Ich sage: In einer
solchen Zeit müssen wir alles, aber auch wirklich alles
dafür tun, dass die Europäische Union zusammenbleibt,
zusammenhält und die westlichen Werte verteidigt.
({15})
Donald Trump propagiert den Egoismus der Nationen.
Amerika zuerst, Großbritannien zuerst - dieser Nationalismus kann keine Grundlage für das friedliche Zusammenleben der Völker im 21. Jahrhundert sein. Deshalb
kämpfen wir für den Zusammenhalt der Europäischen
Union.
({16})
Nationalismus und Menschenverachtung gibt es auch
bei uns. Wenn Alexander Gauland über unsere Staatsministerin Aydan Özoğuz sagt, er wolle sie in Anatolien
entsorgen,
({17})
dann ist das ein unsäglicher Rassismus.
({18})
Eine Partei, die so etwas sagt, ist keine Alternative; sie
ist ganz klar eine Schande für Deutschland. Deshalb ist
es ein schwerer Fehler gewesen, dass die CDU in Sachsen-Anhalt mit der AfD gemeinsame Sache gemacht hat.
({19})
Wir werden alles dafür tun, dass diese völkische Partei
mit ihrem rassistischen Geist unser schönes Land nicht
kaputt macht. Dafür muss Deutschland stark bleiben und
gerechter werden.
({20})
Cem Özdemir ist der nächste Redner für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Präsident Erdogan der Republik Türkei wurde hier mehrmals genannt. Ich stelle mir die Frage: Hat
dieser Mann den Titel „Präsident“ wirklich verdient? Ich
habe noch gelernt, dass Präsident etwas mit Würde und
Respekt zu tun hat. Ich habe den Eindruck, wir haben es
hier mit einem ganz normalen Geiselnehmer zu tun, der
deutsche Geiseln nimmt. Ich will für meine Partei und das hoffe ich - für alle hier erklären: Die Bundesrepublik
Deutschland ist durch einen Geiselnehmer, der sich Präsident nennt, nicht erpressbar.
({0})
An die Adresse der Großen Koalition will ich sagen:
Hören Sie auf, zu prüfen, ob man Hermesbürgschaften
aussetzen kann! Hören Sie auf, zu prüfen, ob man die
Zollunion nicht vielleicht doch ausweitet! Hören Sie auf,
zu prüfen, ob man die Reisewarnungen vielleicht verschärfen sollte! Tun Sie es endlich!
({1})
Was muss dieser Erdogan denn noch machen, damit Sie
endlich aufwachen und aufhören, mit ihm zu kuscheln?
Dies ist die einzige Sprache, die Erdogan versteht.
Wenn wir alle miteinander noch einen Rest an Glaubwürdigkeit bewahren wollen - hier geht es nicht nur um
die Große Koalition, sondern auch um unser Land -,
dann erklären Sie bitte klar, dass wir uns eindeutig gegen
das Projekt von Rheinmetall, sich in der Türkei am Bau
einer Panzerfabrik zu beteiligen, stellen.
({2})
Da haben deutsche Unternehmer nichts verloren, zumal in dieser Zeit. Für diejenigen, die es vielleicht nicht
wissen - die Öffentlichkeit sollte das erfahren -: Der
Chefl obbyist für das Auslandsgeschäft von Rheinmetall
ist kein Geringerer als der ehemalige Entwicklungshilfeminister von der FDP, Dirk Niebel. Das sagt einiges
darüber aus, was uns erwarten würde, wenn diese Partei
zusammen mit der CDU/CSU die nächste Bundesregierung stellen sollte.
({3})
Ich will diese Gelegenheit nutzen, um auf eine Sache
hinzuweisen, die uns alle umtreiben sollte. Zu mir kommen in letzter Zeit viele Deutschtürken, die in Opposition
zu Erdogan stehen, sich zum deutschen Grundgesetz bekennen und sich fragen: Beschützt uns Deutschland vor
dem langen Arm Erdogans? Darauf kann es - hoffentlich - nur eine einzige klare, gemeinsame und parteiübergreifende Antwort geben, die lautet: Der lange Arm
Erdogans hat in der deutschen Innenpolitik nirgendwo in keiner Moschee, in keinem türkischen Verein - etwas
verloren. Ich würde mir wünschen, dass diese Ansage
auch einmal von der Regierungsbank in dieser Deutlichkeit gemacht würde.
({4})
- Der ist in dieser Frage ja wohl mit am klarsten. Wenn
Sie sich einmal informieren und nicht nur Russia Today
schauen würden, wüssten Sie das.
({5})
Die Fähigkeit, Klartext zu sprechen, wäre gelegentlich
auch in der deutschen Außenpolitik vonnöten.
({6})
- Sie können gerne eine Frage stellen;
({7})
denn dann verlängert sich meine Redezeit.
({8})
Klartext müsste man gelegentlich aber auch mit dem
einen oder anderen Konzernführer sprechen. In den letzten Jahren habe ich das Gefühl gehabt, dass es eine Partnerschaft gab, die so aussah: Die einen tun so, als ob sie
Grenzwerte einhalten würden, und die anderen tun so,
als ob sie die Grenzwerte kontrollieren würden; dann
hofft man, dass das unentdeckt bleibt und dass dieses
Geschäftsmodell immer weitergeht. Das Problem ist nur:
In Amerika hat die Umweltbehörde kontrolliert und festgestellt, dass beim Diesel betrogen wurde.
Ich sage Ihnen: Ihre Krokodilstränen für die deutschen
Autofahrer können Sie sich wirklich sparen. Denn Sie
sind diejenigen, die durch Ihr Nichtstun Fahrverbote erzwingen, meine Damen und Herren.
({9})
Wenn Sie wirklich ein so großes Herz für die Dieselfahrer haben, dann sagen Sie doch bitte einmal im Klartext:
Die Dieselfahrzeuge müssen sauber, nachprüfbar und finanziert von der deutschen Automobilindustrie, die das
Problem schließlich verursacht hat, nachgerüstet werden.
Dann hätten Sie ein Herz für die Dieselfahrer. Den Rest
können sich die Leute schenken.
({10})
Sagen Sie bitte auch, dass wir dringend die blaue Plakette brauchen, damit der Irrsinn aufhört, dass die Gerichte bald einen Flickenteppich in Deutschland erzeugt
haben werden, weil man in die eine Stadt hineinfahren
darf, in die andere aber nicht. Wer in Deutschland Chaos
haben will, der ist bei Ihnen gut aufgehoben. Wer will,
dass der Diesel nachgerüstet wird und dass Mutter und
Vater, die ihre Kinder mit dem Diesel zur Schule fahren, nachher nicht diejenigen sind, die den Preis für Ihr
Nichthandeln zahlen müssen, der ist bei uns besser aufgehoben.
({11})
Es ist nicht nur das Thema Auto, bei dem Sie versagen; bei der Mobilität geht es ja um ein bisschen mehr als
nur um das Auto.
({12})
Der Verkehrsminister ist auch für den öffentlichen Verkehr zuständig.
({13})
Schauen wir uns doch einmal die Situation bei der
Rheintalbahn an. Normalerweise würde man in einem
solchen Fall sagen: Schlimm genug, weil sie die wichtigste Nord-Süd-Verkehrsachse ist, aber dann fahren wir
auf Ausweichstrecken. - Das Problem ist nur: Die Ausweichstrecken sind nicht elektrifiziert. Vielleicht muss
Herrn Dobrindt einmal jemand sagen, dass die Elektrifizierung der Eisenbahn schon erfunden ist. Wir sind im
21. Jahrhundert, Herr Dobrindt. Es wird Zeit, dass der
technische Fortschritt auch auf der Regierungsbank ankommt.
({14})
Ich kann Ihnen das Sündenregister von Herrn Dobrindt
nicht ersparen: Dazu gehört die A 1. Die Rheintalbahn
habe ich schon genannt. Außerdem hat er die Deutsche
Bahn systematisch unterfinanziert und so dafür gesorgt,
dass keine Ausweichstrecken existieren und Eisenbahnstrecken nicht elektrifiziert wurden. Auch der fehlende
Ausbau des Breitbandinternets ist hier zu nennen. Der
schlechteste Verkehrsminister, den dieses Land je hatte,
heißt Alexander Dobrindt.
({15})
Ich sage das auch im Namen der Lehrerinnen und
Lehrer, die versuchen, ihren Kindern in der Schule beizubringen, dass man sich anstrengen muss und dass sich
Leistung wieder lohnen muss - das sagen Sie doch gerne -: Ich finde, Qualifikation darf künftig in Deutschland
kein Hinderungsgrund mehr sein, um Verkehrsminister
zu werden. Das muss hier doch einmal deutlich werden.
Wenn wir unseren Kindern sagen, sie sollen fleißig lernen, dann kann es doch nicht sein, dass so einer bei uns
Verkehrsminister wird.
({16})
Wir haben es hier aber auch mit einer sozialpolitischen Sauerei zu tun. Diejenigen, die sich im guten Glauben einen Diesel gekauft haben, werden die Zeche für Ihr
Nichthandeln zahlen müssen, und diejenigen, die das mit
eingebrockt haben, erhalten zum Teil 3 000 Euro - nicht
im Monat, sondern am Tag. Wie wäre es denn einmal
damit, dass die, bitte schön, zur Kasse gebeten werden?
Wie wäre es denn einmal damit, dass Sie Gruppenklagen
einführen und den Geschädigten die Möglichkeit geben,
bis zum Jahresende eine Klage einzureichen? Das wäre
doch einmal eine praktische Tat und mehr als Rhetorik.
({17})
Sie machen das aber schon sehr geschickt. Chapeau,
meine Damen und Herren! Herr Seehofer sagt, er will das
auch. Andere von der Großen Koalition sagen das auch.
Sie verzögern das aber so lange, bis die Klagefristen
zum Jahresende abgelaufen sind. „Hut ab“, kann man da
nur sagen. Man muss sich erst einmal trauen, mit dieser
Chuzpe Politik zu machen.
({18})
Meine Damen, meine Herren, hier wurde das Thema
„Zukunft der Mobilität“ angesprochen. Wir kritisieren
Sie doch nicht, um hier irgendjemanden zu ärgern. Frau
Merkel, ich habe Sie einmal nach China begleitet und
das doch schon mitbekommen: Ich nehme an, in den Gesprächen in der Volksrepublik China geht es auch darum,
dass dort gerade mit staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe ein riesiger Markt der Elektromobilität aufgebaut wird. Wenn Sie in die USA gehen, dann sehen Sie:
Dort wird das nicht mit staatlichen Geldern, sondern mit
Risikokapital gemacht. Auch dort wird ein riesiger Markt
der Elektromobilität aufgebaut.
Ja, wir haben vor 130 Jahren den Verbrennungsmotor
erfunden, und wir sind stolz darauf. Wir haben damals
eine großartige Erfindung gemacht. Das Problem ist nur:
Es kann doch nicht sein, dass die wichtigste Innovation
aus Deutschland der letzten Jahre die Sitzheizung war.
({19})
Es ist Zeit, dass das nächste große Projekt ebenfalls aus
Deutschland kommt. Ich will, dass das Elektroauto hier
in Deutschland gebaut wird.
({20})
Wenn man Ihre Politik konsequent zu Ende denkt,
dann wird Kaiser Wilhelm II. im Nachhinein doch noch
recht behalten. Er hat damals, als das Auto aufkam,
nämlich gesagt, dass das Auto, der Verbrennungsmotor,
keine Chance - ich zitiere sinngemäß - gegen die Pferdekutsche hat. Kaiser Wilhelm II. hatte unrecht. Kaiser
Wilhelm II. kann man aber gerade hier auf dieser Regierungsbank bewundern; denn von dort heißt es, dass der
Verbrennungsmotor noch hundert Jahre fahren wird. Wer
das sagt, der will das deutsche Auto im Museum bewundern.
({21})
Ich will, dass Deutschland Automobilproduktionsstandort bleibt. Das wird nur gehen, wenn das Auto der
Zukunft emissionsfrei ist und in Deutschland, von unseren deutschen Ingenieuren, hergestellt wird.
({22})
Meine Damen, meine Herren, zur Fairness im Wahlkampf gehört, auch zu sagen: Wenn man den G-20-Gipfel mit Herrn Trump, Herrn Erdogan und Herrn Putin gesehen hat, dann erscheint die Bundeskanzlerin schon fast
wie eine Lichtgestalt. Das muss man zugeben,
({23})
wenn man das Trio Infernale dort gesehen hat. Vergnügungsteuerpflichtig war das sicher nicht.
Wenn Herr Trump seine Unterlagen zur Abwechslung
einmal gelesen und sich vorbereitet hätte, dann hätte er
die Bundesregierung und die Große Koalition aber sehr
einfach auskontern können. Er hätte nämlich sagen können: Ich habe das Pariser Klimaschutzabkommen zwar
gekündigt, aber was machen Sie? Sie unterschreiben
es, und seit acht Jahren gehen die CO2-Emissionen in
Deutschland nicht zurück. - Deutschland ist Weltmeister
bei der Nutzung der Braunkohle. Diese Politik schadet
dem schmelzenden Eis in der Arktis genauso wie die Politik von Herrn Trump.
({24})
Nur, damit wir einmal Klartext darüber reden, was
diese Regierung unter Hightech versteht: Wir reden hier
zum Teil über Kohlekraftwerke aus der Zeit von Sepp
Herberger. Für die, die es nicht mehr wissen: Er war einmal Fußballnationaltrainer in Deutschland.
({25})
- Herr Kauder, auch als Baden-Württemberger kann es
nicht Ihr Ernst sein, dass Kohlekraftwerke mit einem
Wirkungsgrad von 30 Prozent - das sollten Sie wissen unser Hightechprojekt sein sollen. Das können unsere
Ingenieure besser. Seien Sie nicht so ingenieursfeindlich!
({26})
Meine Damen, meine Herren, wir haben das TV-Duell gesehen. Vielleicht sollte ich besser von einem „Duett
mit Dissonanzen“ sprechen, die quasi in Stein gemeißelte Alternativlosigkeit. Aber es kann noch schlimmer
kommen als eine Große Koalition, nämlich wenn sich
Schwarz und Gelb miteinander verbünden.
({27})
Dann kommen zu denjenigen, die schon jetzt nichts tun,
noch welche, die die Reise nach hinten antreten wollen.
Die FDP hat einen Vorschlag gemacht - ich will fair
sein -, wie man mit dem Problem der Dieselgrenzwerte
und mit den Stickoxiden in der Stadt umgehen soll. Sie
will einfach die Grenzwerte aufweichen. So kann man
das natürlich auch machen. Eine einfache Lösung, aber
halt auch eine sehr dumme Lösung, meine Damen und
Herren!
({28})
Es scheint momentan so zu sein, als würde das Hohe
Haus am 24. September dieses Jahres durch den Einzug
einer weiteren Fraktion einschneidend verändert werden.
Ich will mich ausdrücklich dem Kollegen Oppermann
anschließen. Egal, wie man zu wem auch immer hier in
diesem Haus und zu seinen Äußerungen steht: Ein Mitglied dieses Hauses wird nicht in Anatolien entsorgt,
meine Damen und Herren.
({29})
Ich will auch für meine Fraktion klar sagen: Das Menschenbild der AfD hat mit dem Menschenbild der Bundesrepublik Deutschland nichts zu tun. Wir leben in der
Bundesrepublik Deutschland in einem großartigen Land.
Dieses Land hat nichts mit der AfD zu tun.
({30})
Ich sage ganz bewusst als jemand, dessen Vorfahren
zwar nicht in der Bundesrepublik Deutschland geboren
sind, der aber selbst in Deutschland geboren ist und der
die Schwäbische Alb genauso seine Heimat nennt wie jeder andere auch, der von dort kommt: Eine Partei, deren
Loyalität zu einem autoritären Herrscher wie Putin höher
ist als deren Loyalität zum deutschen Grundgesetz,
({31})
soll bitte schön nicht für sich in Anspruch nehmen, dass
sie irgendetwas mit deutschen Tugenden zu tun hat, meine Damen und Herren.
({32})
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr
Lammert! Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Ich werde Ihren Scharfsinn und Ihren Humor sehr vermissen.
Herzlichen Dank für Ihre kluge und zuweilen auch fröhliche Amtsführung. Ich hoffe, dass wir noch viel von Ihnen hören werden.
Herzlichen Dank.
({33})
Volker Kauder ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Auch ich möchte zunächst dem Präsidenten im
Namen meiner Fraktion herzlich danken. Wir haben ihn
schon gestern in unserer Fraktionssitzung mit stehendem
Applaus gewürdigt. Ich glaube, man kann sagen: Dieser
Deutsche Bundestag kann wirklich stolz darauf sein, einen solchen Präsidenten gewählt zu haben.
({0})
Lieber Norbert Lammert, wir wünschen alles Gute;
Gottes Segen begleite Sie. Ich bin ganz sicher: Wir werden vom ehemaligen Präsidenten immer wieder etwas
hören. Vor allem wenn ihm wegen des einen oder andeCem Özdemir
ren die Hutschnur platzt - so kenne ich ihn -, wird er
nicht schweigen können. Deswegen freuen wir uns natürlich - die Sitzungen der CDU/CSU-Fraktion sind für
jeden ehemaligen Kollegen offen - über jeden Besuch.
({1})
- Gut, wenn ich in Pension bin, dann komme ich einmal
bei euch vorbei.
({2})
Vielleicht gehen wir am besten zusammen hin, um
größere Zusammenstöße zu vermeiden.
({0})
Das können wir einmal probieren. - Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man heute auf unser
Land schaut, dann muss man zugeben, dass es wahrscheinlich kein einziges Land auf der Welt gibt, in dem
es den Menschen im Schnitt so gut geht wie bei uns in
Deutschland.
({0})
Dies hat etwas mit einer großen Gesamtleistung von fleißigen Bürgerinnen und Bürgern, von Unternehmern, die
risikofreudig sind und investieren, und einer guten Politik zu tun.
Es mag ja sein, Herr Kollege Oppermann, dass nicht
alles hundertprozentig gelungen ist. Aber ich kann nur
sagen: Ich bin stolz auf das, was wir in diesen vier Jahren
in dieser Regierung für unser Land geleistet haben.
({1})
Jetzt kann ich eine Erfahrung anführen, die ich schon
mit meinem Freund Peter Struck besprochen habe und
über die er in seinem Buch berichtet hat: Wenn man miteinander in einer Regierung ist, dann muss man sich zu
dieser Regierung bekennen. Auf jeden Fall wird es nicht
gelingen - das werden wir am 24. September sehen -,
gleichzeitig Regierung und Opposition zu sein. Dies
funktioniert nicht.
({2})
Peter Struck hat in seinem Buch auch bestätigt, dass dies
ein Fehler gewesen sei. Und der wird jetzt wiederholt.
Bei dem, was wir in den nächsten vier Jahren vorhaben, sind ein paar Projekte von besonderer Bedeutung.
Eines - das zentrale überhaupt - heißt: Wir müssen unsere Wirtschaft darin unterstützen, dass sie wachsen kann
und vorankommt. Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne
Wirtschaft ist alles nichts, meine sehr verehrten Damen
und Herren.
({3})
Was eine funktionierende Wirtschaft bedeutet, hat der
Kollege Oppermann - allerdings erst auf Nachfrage aus
der Fraktion Die Linke - erklärt. Ich kann nur den Kopf
darüber schütteln, wie dort das eine oder andere diskutiert
wird, zum Beispiel die Rente. Wir haben in der letzten
Großen Koalition auf Vorschlag von Franz Müntefering
ein Rentenkonzept bis zum Jahr 2030 entwickelt. Dass
die SPD jetzt nicht immer dazu stehen will, wundert
mich nicht; denn sie will sich von allem verabschieden,
was sie einmal gemacht hat, auch von den Dingen, die
richtig waren, was selten genug der Fall ist.
({4})
Aber selbst von denen will sie sich verabschieden.
Jetzt muss ich sagen: Ja, es ist ja richtig: Als Angela
Merkel zum ersten Mal Bundeskanzlerin geworden ist,
hat sie 5 Millionen Arbeitslose im Gepäck gehabt, die
sie geerbt hat. Heute sehen die Zahlen ganz anders aus.
Das Ergebnis sieht man: Dass 44 Millionen Menschen
beschäftigt sind und in die Sozialkassen einzahlen, führt
dazu, dass wir eine Situation in unseren Sozialversicherungssystemen haben, wie wir sie schon lange nicht mehr
hatten. Auch dies ist ein gutes Ergebnis unserer Regierung.
Klar ist auch: Je mehr Menschen in Arbeit sind und
Beiträge zahlen, desto stabiler ist das Rentenversicherungssystem, und damit werden auch die 48 Prozent gehalten.
({5})
Alles andere ist Quatsch. In der Zeit der rot-grünen Regierung mit 5 Millionen Arbeitslosen wäre ein Rentenniveau von 48 Prozent nicht einmal mit einem Milliardenaufwand möglich gewesen. Deswegen: Sorgen wir
für eine gute wirtschaftliche Situation! Dann sind die
Renten- und auch die Sozialversicherungssysteme in
Ordnung, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({6})
Dass man den Mut hat, hier aufzutreten, und den eigenen Kanzlerkandidaten im Regen stehen lässt, das ist
wohl typisch sozialdemokratisch. Ich will darauf hinweisen: Es ist absolut nicht in Ordnung, Thomas Oppermann,
sich hierhinzustellen und zu sagen: Die CDU/CSU will
aufrüsten.
({7})
Das ist absolut nicht in Ordnung. Ich zitiere Martin
Schulz im Phoenix-Interview:
Die Experten sagen mir: Zwischen 3 und 5 Milliarden braucht die Bundeswehr jährlich mehr. Ja, unbedingt; sollten wir tun.
Sich dann hierhinzustellen und etwas anderes zu sagen,
ist schäbig, um das einmal so offen zu formulieren.
({8})
Es bleibt dabei, dass wir mit dieser Regierung unter
Angela Merkel dem Land einen guten Dienst erwiesen
haben, vor allem deshalb, weil wir neue Chancen und
neue Möglichkeiten für die nächste Regierung und auch
für die junge Generation geschaffen haben. Es ist erstaunlich - eigentlich ist es das nicht -, dass die SPD darüber nicht spricht. Aber wahrscheinlich eine der größten
Leistungen dieser Koalition - nicht nur der Regierung ist, dass wir dreimal hintereinander einen Haushalt ohne
neue Schulden geschafft haben.
({9})
Nein, es ist bereits das vierte Mal hintereinander. Nun
sind wir beim fünften Haushalt. Dass wir keine neuen
Schulden gemacht haben, und dies, ohne die Steuern zu
erhöhen, das ist eine großartige Leistung. Das ist etwas,
was wirklich generationengerecht ist.
({10})
Es ist auch die Wahrheit: Als wir einen Haushaltsüberschuss nicht für die Rücklage, sondern zur Reduzierung
der Schulden nehmen wollten, hat die SPD nicht mitgemacht, sondern gesagt: Wir wollen nicht die Schulden
senken, sondern geben das Geld lieber aus. - Das ist so
typisch: Anstatt die Schulden zu senken, Geld ausgeben,
obwohl wir in diesem Land genügend investieren.
({11})
Die Rede des Kollegen Oppermann habe ich in vielen
Punkten so verstanden, als ob der Bund mehr und mehr
Aufgaben der Länder übernehmen sollte und die Länder
damit abgeschafft werden sollten. Ich kann nur sagen:
Bildungspolitik ist zunächst einmal Aufgabe der Länder.
Dort, wo die Union regiert, läuft es wesentlich besser als
dort, wo ihr regiert.
({12})
- Auf der Regierungsbank, Frau Nahles, hat man ruhig
zu sein. Sie können sich ja ins Plenum setzen. Aber auf
der Regierungsbank ist man zunächst einmal friedlich.
({13})
Es ist doch bezeichnend, dass die SPD-Bundestagsfraktion und insbesondere der Kollege Oppermann
mehrfach gesagt haben: Wir brauchen ein Programm zur
Sanierung von Schulen und für finanziell notleidende
Städte, vor allem wegen Nordrhein-Westfalen. - Dort
habt ihr viele Jahrzehnte regiert. Das Ergebnis kann man
besichtigen. Gott sei Dank hat sich das in diesem Jahr
geändert.
({14})
Im Übrigen haben wir überhaupt nichts gegen eine
verstärkte Zusammenarbeit. Wir haben das Grundgesetz
geändert, um zusammenarbeiten zu können. Wir haben
auch gesagt: Wir wollen einen Bildungspakt mit Ländern
und Kommunen, um zu helfen, dass Schulen an das Internet angeschlossen werden.
({15})
Aber wir haben immer gesagt, dass die Verantwortung
für das, was in der Schule geschieht, bei den Ländern
verbleiben muss. Das wird sich auch in Zukunft nicht ändern. Doch nur weil man im SPD-regierten Bremen so
miserable Ergebnisse bei der Bildungspolitik hat, muss
man nicht für einheitliche Standards in ganz Deutschland
plädieren.
({16})
Man sollte nur nicht, wenn man in Bremen Kinder in der
Schule hat, den Versuch unternehmen, mit denen nach
Sachsen umzuziehen; denn die Bremer haben selber gesagt, sie seien beim Abitur eineinhalb Jahre zurück. Daran muss man schon auch in den Ländern etwas ändern.
Es muss dabei bleiben, dass Verantwortung und Kompetenzen zusammengehören. Es geht auf gar keinen Fall,
Kompetenzen für sich zu beanspruchen und sich dann,
wenn es schiefgeht, Geld beim Bund abholen zu wollen.
So funktionieren die Dinge wirklich nicht.
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, dass wir dieses Land auch in den nächsten
vier Jahren in eine gute Zukunft führen können. Aber
manche aufgeregte Diskussion darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es mit Risiken in der Außenpolitik zu tun haben. Wenn wir uns Amerika oder Nordkorea anschauen, wenn wir die Art und Weise, wie Putin
Politik macht - nicht nur in der Ukraine, sondern auch
in anderen Bereichen -, anschauen, dann müssen wir
feststellen: Man muss sich wirklich Sorgen machen. Da
kann ich nur sagen: Es kommt darauf an, dass man mit
Ruhe, klarer Einsicht, Kompetenz und auch Mut an die
Sachen herangeht. Jetzt kann ich nur sagen: Die oberste
aller Tugenden ist die Klugheit und nicht das politische
Rabaukentum.
({18})
Wenn ich so sehe, wie sich die Positionen im Wahlkampf verändern, dann kann ich nur dringend davor warnen, wegen einer Wahl Positionen über Bord zu werfen,
die man noch vor vier Tagen, nämlich bis zum letzten
Freitag, für richtig erkannt hat. Wenn ich mir das alles
anschaue - so sehen es auch viele Menschen in unserem
Land -, bin ich mir ganz sicher, dass gerade die schwierigen außenpolitischen Aufgaben nirgendwo besser aufgehoben sind als bei Angela Merkel.
({19})
Der Bundestagspräsident hat gemahnt, dass wir uns
gemeinsam für die Demokratie einsetzen, auch über den
Wahlkampf hinaus; das ist richtig. Deswegen teile ich
alles, was hier zur AfD gesagt wurde. Aber man muss
sagen: Es gibt auch Gefahren von anderer Seite. Es hat
mich schon sehr gestört, dass das Thema eines zunehVolker Kauder
mend gewaltbereiten Linksextremismus hier überhaupt
noch nie angesprochen worden ist.
({20})
Das, was in Hamburg geschehen ist, hat mit rechts weniger zu tun als mit links.
({21})
Ich rate dringend, Kollege Oppermann und auch Kollegen von den Grünen, auf keinem Auge blind zu sein.
Extremismus, der unsere Gesellschaft gefährdet, ob von
links oder von rechts, muss beiderseits bekämpft werden.
({22})
Wenn wir dies schaffen - wir sind dazu bereit -, dann
tun wir unserem Land einen großen Dienst.
({23})
Als nächster Redner hat Dietmar Bartsch für die Fraktion Die Linke das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Lammert hat ja angemahnt, wir sollten weniger reden,
sondern mehr debattieren. Da muss ich selbstverständlich auf Herrn Kauder und auch auf Herrn Oppermann
eingehen. Herr Kauder, Sie haben eben gesagt, Sie wollten gar nicht aufrüsten, es sei schäbig, das zu sagen. Ja,
was ist es denn, wenn man den Verteidigungsetat von
37 Milliarden Euro auf letztlich 70 Milliarden Euro anheben will? Das ist Aufrüstung, das ist nichts anderes.
({0})
Wenn man den Verteidigungsetat jedes Jahr um 3 Milliarden Euro erhöht, ist das auch nichts anderes. Was hat
denn das mit schäbig zu tun? Das ist das, was Sie vorhaben. Darüber muss man doch reden. Die Menschen müssen wissen: Sie wollen deutlich mehr für Verteidigung
ausgeben. Sie wollen auch weiter Waffen exportieren,
und es gibt andere, die deutlich dagegen sind.
({1})
Herr Oppermann, 3 Milliarden Euro jedes Jahr mehr für
den Verteidigungsetat ist auch Aufrüstung; das ist nichts
anderes. Es gibt aber eine Partei, die einen Abrüstungswahlkampf führt.
({2})
Eins muss ich Ihnen auch sagen: Sie haben hier so
wunderbare Vorschläge gemacht. Ich habe gedacht, das
ist eine Liste der Anträge der Linken. Ich frage mich,
wieso Sie nur ein einziges Mal in dieser Legislatur - bei
der Ehe für alle - den Mut hatten, wenigstens die Dinge,
die im Koalitionsvertrag stehen, umzusetzen. Die Abschaffung der Möglichkeit der sachgrundlosen Befristung hatten Sie sogar vereinbart. Nicht einmal das haben
Sie geschafft. Und jetzt tun Sie so, als wenn Sie das alles hätten anders machen wollen. Das ist, ehrlich gesagt,
nicht ehrlich, meine Damen und Herren.
({3})
Ich will die Frage stellen - bei allen Krisen dieser
Welt; darüber ist geredet worden; da ist manches zu unterstützen -: Warum eigentlich kann Europa in dieser Situation nicht eine andere Rolle spielen? Ich frage einmal
ganz nüchtern: Ist Europa heute eigentlich ein besseres
als vor zwölf Jahren, als Angela Merkel Kanzlerin geworden ist? Wie ist denn die Situation? Den Brexit haben
wir. Die Finanzmarktkrise ist nicht bewältigt. Wir haben
das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien. Wir haben eine Jugendarbeitslosigkeit in
den Südländern von über 50 Prozent - in Griechenland
das vierte Jahr. Da wächst eine Generation der Hoffnungslosigkeit heran. Der desolate Zustand in Europa hat
aber mit Ihrer Politik, mit der Politik von Angela Merkel
und Wolfgang Schäuble, zu tun. Das hat zur Entsolidarisierung geführt, meine Damen und Herren. Das ist die
Wahrheit.
({4})
Herr Kauder hat gesagt: Hier ist über einiges nicht geredet worden. - Ja, das ist mir auch aufgefallen. Hier ist
über einiges nicht geredet worden. Wenn ich in meinem
Wahlkreis in Rostock bin, höre ich ganz andere Themen,
über die geredet wird. Es gab in unserem Land mal den
schönen Satz: Unseren Kindern soll es einmal besser gehen. - Wir hatten gerade die Einschulung in Brandenburg
und in Mecklenburg-Vorpommern; jetzt am Sonnabend
ist sie auch in Berlin. Wir sind uns doch einig, dass eigentlich alle diese kleinen Kinder in unserem Land die
gleichen Chancen haben sollten. Aber das Ergebnis Ihrer Politik ist, dass sie nicht die gleichen Chancen haben. Das ist die Realität. Unsere Kinder haben nicht die
gleichen Chancen, und das hat natürlich zuallererst mit
Elternarmut zu tun.
Sie sagen so schön: Im Schnitt geht es Deutschland
gut. - Ja, das ist wie mit der Kuh, die in dem Teich, der
50 Zentimeter tief war, ertrunken ist. Es gibt perversen
Reichtum und Armut in unserem Land. Das ist die Realität.
({5})
Die Kanzlerin hat angeführt: Mit den Arbeitsplätzen
ist es deutlich besser. - Bei jedem Arbeitsplatz, der gut
bezahlt wird, unterstützen wir das. In Kommunen und
Ländern machen wir etwas, Unternehmen und Gewerkschaften arbeiten daran. Aber es ist doch eine Frage zu
beantworten: Hat denn das alles in unserem Land zu mehr
Armut oder nicht geführt? Das ist eine zentrale Frage. Da
kann ich nur eines feststellen: Als Angela Merkel Kanzlerin wurde, lag die Armutsrisikoquote bei 14 Prozent.
Jetzt liegt sie bei 15,7 Prozent. Bei den Beschäftigten ist
das Risiko, in Armut zu kommen, obwohl sie vollzeitbeVolker Kauder
schäftigt sind, von 6,8 Prozent auf 9,7 Prozent gestiegen.
Da ist doch etwas nicht in Ordnung in unserem Land.
({6})
Besonders skandalös ist, dass es in unserem reichen
Land Kinderarmut gibt, meine Damen und Herren.
({7})
Die Zahl ist in den letzten Jahren gestiegen. Das hat doch
etwas mit Politik zu tun. Warum haben Sie da nichts getan? In Ihrem Koalitionsvertrag kommt dieses Wort nicht
vor. Ich hoffe, im nächsten, egal, wer ihn schreibt, kommt
dieses Thema endlich vor. Diesen unhaltbaren Zustand
muss man endlich beenden.
Wie ist es mit der Altersarmut? Es ist eine ähnliche
Situation. Die Zahl der Menschen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, ist in den letzten zehn Jahren
von 365 000 auf 525 000 gestiegen. Das sind 44 Prozent. Warum gibt es bei uns nicht eine Mindestrente von
1 050 Euro? Das können wir doch finanzieren, wenn wir
wollen, wenn es eine ordentliche Rentenreform gibt.
({8})
Es bleibt dabei: In einem Land, in dem Alleinerziehende Zukunftsangst haben, in dem Kinderreichtum zum
Armutsrisiko wird und in dem alte Menschen Flaschen
sammeln, kann man von Sozialstaat nicht reden. Am
24. September geht es auch um die Wiederherstellung des
Sozialstaats in unserem Land, meine Damen und Herren.
({9})
Die andere Seite der Medaille kennen wir alle: Das
ist dieser Reichtum. Die Zahl der Milliardäre in unserem
Land steigt. 186 Milliardäre! Die 500 reichsten Familien
haben von 2011 bis 2016 ihr Vermögen von 500 Milliarden Euro auf 692 Milliarden Euro gesteigert. Das ist
obszön, meine Damen und Herren. Als Norddeutscher
weiß ich: Die Steuern heißen auch so, weil wir damit das
Land steuern. Da muss etwas passieren. Wir haben das
Steuersystem des vergangenen Jahrhunderts, und diese
Koalition hat in den letzten Jahren auf diesem Gebiet
nichts bewegt. Es gehört Mut dazu, sich mit den Mächtigen anzulegen. Aber diesen Mut haben Sie nicht.
({10})
Es wird immer über den ausgeglichenen Haushalt gesprochen. Wir haben gar nichts dagegen, dass es ausgeglichene Haushalte gibt. Aber wir müssen an der Spitze
noch etwas abholen. Ich könnte Ihnen jetzt zur Erbschaftsteuer und zur Vermögensteuer vortragen. Das kann man
alles im Wahlprogramm nachlesen. Aber eines will ich
schon noch sagen, weil hier immer über die Riesenleistung des Finanzministeriums geredet wird: Wer ist denn
eigentlich verantwortlich für den Skandal der Brennelementesteuer?
({11})
Wer ist denn eigentlich verantwortlich für die Cum/
Ex-Geschäfte? Wer ist denn eigentlich verantwortlich dafür, dass nach Veröffentlichung der Panama Leaks nichts
passiert ist? Das alles lag in der Hoheit des Finanzministers. Da gehen die Mittel verloren, die wir eigentlich
für Investitionen in Bildung, für Investitionen im Pflegebereich, für Investitionen in erneuerbare Energien brauchen. Da haben Sie Fehler gemacht. Da muss es Veränderungen geben, meine Damen und Herren.
({12})
Dann höre ich hier auch sehr viel zu den Themen Dieselgate, Abgasskandal usw. Nun sind diese Absprachen
und all das andere auch so schon ein Riesenskandal. Aber
wie die Politik, wie die Regierung damit umgeht, das ist
doch auch ein Skandal. Sie, meine Damen und Herren
von der Regierung, sitzen mit den Verursachern der Krise
zusammen,
({13})
aber nicht mit denjenigen, die betroffen sind. Das alles
haben doch Leute zu verantworten, die ganz fette Millionenverträge hatten. Der Winterkorn hat 17,1 Millionen
Euro verdient; der war immer stolz, dass er am allermeisten verdient. Wo wird denn so jemand mal zur Verantwortung gezogen? Da glaubt doch kein Mensch, dass
das ohne Mitwisserei des Wirtschaftsministeriums oder
nachgeordneter Regierungsbehörden möglich war.
({14})
Ich meine, das ist ein Betrug, ein Kartell der Wirtschaft.
Ich habe jetzt wenigstens verstanden, wieso das in den
Stadien Bandenwerbung heißt: Ja, das heißt aus gutem
Grund Bandenwerbung, meine Damen und Herren.
({15})
Im Wahlkampf fragen jetzt viele Menschen: Wie ist
es eigentlich mit den Verantwortlichen? Wieso steht hier
eigentlich keiner vor Gericht? In den Vereinigten Staaten
ist das doch so. Es ist irgendwie komisch, dass das bei uns
nicht passiert. - Da wird immer mehr gefragt. Die Leute
kommen auf einen zu und fragen: Wie ist es eigentlich
mit Verfristungen? - Die Arbeiter, ob in Wolfsburg oder
Leipzig, ob in Chemnitz oder Hannover, bangen teilweise um ihre Zukunft. Sie von der Regierung haben das alles zulasten der Umwelt, zulasten der Verbraucherinnen
und Verbraucher, zulasten der Zulieferindustrie, letztlich
auch zulasten des Standortes Deutschland mitzuverantworten. Bei den Sammelklagen lassen Sie jetzt einen
Verschiebebahnhof auf die Zeit nach der Wahl zu. Das ist
doch alles unverantwortlich. So verlieren die Menschen
den Glauben an die Politik, meine Damen und Herren.
Was sagen Sie eigentlich den Tausenden von Ingenieurstudentinnen und -studenten, ob nun in Rostock oder
Dresden, die an Technik und an Fortschritt glauben und
dafür arbeiten wollen? Sie, Frau Merkel, haben von made
in Germany gesprochen und davon, dass sie ihr Leben
damit verbinden sollen. Das ist ja sehr gut. Aber ist es
jetzt wirklich so, dass man dazu immer noch eine Riesenportion Zynismus braucht: Erwischt? Pech gehabt, aber
dann weiter so! - Das kann doch wohl nicht wahr sein.
Da müssen doch auch von hier andere Signale kommen.
({16})
Ich habe jetzt am Wochenende viel über Fluchtursachen gehört. Das ist auch so ein Punkt. Ich glaube, wir
haben hier im Haus ganz großen Konsens darüber, dass
wir da wirklich etwas tun müssen. Es kann aber doch
nicht sein, dass wir ernsthaft - - Liebe Frau Merkel,
es mag zwar spannend sein, sich mit Herrn Kauder zu
unterhalten, aber es wäre vielleicht auch eine gute Idee,
einmal einen Moment zuzuhören - einen Moment nur!
({17})
- Sie sollten auch nicht einfach so abwinken, Herr
Kauder. Es könnte passieren, dass man später auch einmal in der Opposition sitzt. - Aber gut.
({18})
- Wir können gerne rausgehen, wir beide. Das machen
wir einmal. Das wäre doch einmal eine Sache.
({19})
Also, ich finde es für die Große Koalition inakzeptabel, über Fluchtursachen zu reden, nachdem sie in dieser
Legislaturperiode so viele Waffenexporte wie noch nie
genehmigt hat. Es ist unglaubwürdig, vor diesem Hintergrund ernsthaft zu sagen: Wir wollen Fluchtursachen bekämpfen. - Ich finde, das geht überhaupt nicht. Wenn Sie
weiterhin auch noch Waffen in die Türkei exportieren, ist
das ein ganz großer Skandal.
({20})
Im Übrigen kann ich mich hinsichtlich der Aussagen
über die Staatsministerin in dem Fall der Kanzlerin, Cem
Özdemir und auch Thomas Oppermann nur anschließen.
Das ist völlig inakzeptabel. Wir werden jedenfalls bis
zum letzten Tag kämpfen, dass hier in diesem Hause keine rechtspopulistische Partei vertreten ist.
({21})
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, der
auch nicht vorkommt, nämlich die Angleichung der
Lebensverhältnisse. Frau Merkel, es ist nun einmal die
Wahrheit - das erleben wir doch alle -, dass die „blühenden Landschaften“ und die „Chefsache Ost“ bei vielen
als - na ja, auf gut Deutsch - Verarschung ankommen.
Sie wollen offensichtlich nicht darüber reden. Es gibt jedoch weiter einen riesigen Lohnabstand, es gibt weiterhin riesige Defizite bei Landärzten, es gibt Defizite in der
Pflege. Und jetzt wird tatsächlich ein unterschiedlicher
Mindestlohn für das Pflegepersonal in Ost und West vereinbart. Pflege und Zuneigung für Menschen, die gepflegt
werden müssen, dürfen doch nicht in Ost und West unterschiedlich bezahlt werden, meine Damen und Herren.
({22})
Es ist doch unsere Aufgabe, hier nachhaltig Druck zu machen, dass genau das nicht passiert.
Besonders skandalös ist natürlich, wie es in den neuen
Ländern um das Thema Breitbandausbau und -netze bestellt ist. Herr Dobrindt, was haben Sie in den vergangenen vier Jahren gemacht! Ich habe mir noch einmal Ihre
Ankündigungen durchgelesen, nicht zur Vorbereitung
auf heute, sondern zur Vorbereitung der gestrigen Sendung. Davon ist ja nichts realisiert worden. Das Netz ist
schlechter als in Georgien, Rumänien oder Peru. Das ist
doch wirklich unhaltbar. Was haben Sie in den vier Jahren gemacht? Das Entscheidende ist doch, dass endlich
etwas passieren muss. Jetzt machen Sie im Wahlkampf
so weiter; ein Schlafwagen-Wahlkampf.
Ein Land, in dem man gut und gerne leben kann - das
unterschreiben wir alle. Gute Arbeit, gute Löhne - das
unterschreiben wir alle. Aber Auseinandersetzungen um
die Zukunft unseres Landes müssen geführt werden: Es
geht darum, ob der soziale Zusammenhalt in diesem
Land wiederhergestellt wird. Es geht um die Zukunft
Europas, damit dieses Projekt - es war ein Friedensprojekt - nicht scheitert. Dabei hat diese Koalition in den
letzten vier Jahren wenig bis gar nichts geleistet. Deswegen wäre es sehr sinnvoll, wenn am besten beide Parteien
nicht mehr in Regierungsverantwortung kommen, meine
Damen und Herren.
({23})
Frau Präsidentin, da so viel gedankt worden ist, nehme
ich mir diese Besonderheit heraus und danke den Vizepräsidenten ebenfalls für ihre Arbeit. Alles Gute auf allen
Wegen!
({24})
Ganz herzlichen Dank.
Danke schön.
({0})
Die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea
Nahles, hat als nächste Rednerin für die Bundesregierung
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ja, diese Regierung hat erfolgreich gearbeitet, insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
({0})
Die Beschäftigung boomt. Wir haben die niedrigste Arbeitslosenquote. Sogar die niedrigen Löhne steigen dank
des Mindestlohns wieder.
Trotzdem finde ich es reichlich abgehoben, Frau
Merkel, wenn Sie sich heute hierhinstellen und in Selbstzufriedenheit erklären: „Darüber dürfen wir uns freuen.“
Was glauben Sie, wie ich mich gefreut habe, als ich den
Mindestlohn nach monatelangem, zähem Ringen mit Ihrer Fraktion durchbekommen habe?
({1})
Aber der Mindestlohn ist kein guter Lohn. Deswegen
muss unser Ehrgeiz über diesen Mindestlohn hinausgehen. Mindestlohn heißt doch noch lange nicht, dass die
Leute anständige Löhne für ihre harte Arbeit bekommen.
Fragen Sie einmal den Hermes-Boten, ob er bekommt,
was er verdient, die Altenpflegerin oder den Altenpfleger,
ob sie bekommen, was sie verdienen. Dabei werden Sie
feststellen: Nein. Deswegen wollen wir anständige Löhne, von denen die Leute leben und eine anständige Rente
bekommen können.
({2})
Wie schaffen wir das? Wir haben einiges auf den Weg
gebracht: den Missbrauch bei Leiharbeit eingedämmt,
für die Werkarbeitnehmer endlich einen Rechtsanspruch
für die Betriebsräte durchgesetzt. Aber wir brauchen in
diesem Land vor allem wieder mehr Arbeitgeber, die tarifgebunden sind. Helfen Sie uns dabei, dafür zu sorgen,
dass im nächsten Jahr bei den Betriebsratswahlen auch
dort Betriebsratswahlen stattfinden, wo heute noch gar
kein Betriebsrat existiert!
({3})
Wir brauchen an dieser Stelle Unterstützung.
Wir brauchen aber auch einen Pakt für anständige
Löhne. Denn eines ist klar: Gerade in den sozialen Berufen bekommen die Leute nicht die Wertschätzung, die sie
verdienen. Derzeit wird der Kosten- und Wettbewerbsdruck in der Pflege, im Bereich der sozialen Berufe einzig auf den Schultern der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Land abgeladen. Deswegen müssen
wir auch die Kirchen, die freien Träger mit ins Boot nehmen. Wir brauchen eine Anstrengung, damit hier endlich
wieder tarifliche Strukturen existieren, die die Menschen
schützen und ihnen anständige Löhne garantieren.
({4})
Aber was wir in Deutschland nicht brauchen, ist sachgrundlose Befristung. Deren Abschaffung haben wir
nicht im Koalitionsvertrag verabredet, Herr Bartsch. Das
hätten wir gerne gewollt, aber das hat unser Koalitionspartner verhindert. Versuchen Sie einmal mit einem befristeten Arbeitsvertrag - 45 Prozent der Einstellungen
erfolgen heute auf befristeten Arbeitsverträgen - in Berlin, in Hamburg, in München, in Stuttgart oder irgendwo
sonst eine Wohnung zu bekommen. Versuchen Sie einmal, einen Kredit zu bekommen. Versuchen Sie einmal,
ein Auto zu kaufen. Sie werden feststellen, dass das faktisch unmöglich ist. Junge Leute können auf befristeten
Verträgen keine Familienplanung aufbauen. Wir brauchen die sachgrundlose Befristung in diesem Land nicht
mehr. Deswegen gehört sie abgeschafft.
({5})
Was ist einer der Hauptgründe für niedrige Löhne in
diesem Land? Das ist die Teilzeit. 46 Prozent der Frauen
arbeiten in Teilzeit, teilweise unter 20 Stunden.
({6})
Warum machen die Frauen das? Die Frauen machen das
für die Familie, für die Kinder. Die machen das, weil sie
nicht Kinder bekommen, um sie dann direkt wegzuorganisieren - das verstehe ich als Mutter sehr gut. Wenn
sich Frauen also für Teilzeit, für die Familie entscheiden, wie reagieren wir in diesem Land darauf? Mit einer
doppelten Bestrafung. Erstens. Wenn sie zurückkommen
wollen, stellen sie oft fest: Oh, die Jungs haben sich die
Claims schon wieder neu abgesteckt, Rückkehr ist gar
nicht möglich. - Zweitens. Aus der Karriereplanung und
aus der Weiterbildung sind sie raus. Und dann kriegen sie
als Bonbon, als doppelte Bestrafung, wenn sie jahrzehntelang Teilzeit gearbeitet haben, am Ende natürlich auch
keine Vollzeitrente. Ich sage Ihnen: Es ist ein Skandal,
dass wir eines der größten Potenziale in diesem Land,
unsere gut ausgebildeten Frauen, die sich phasenweise
für die Familie entscheiden, am Ende so hängen lassen.
({7})
Sie und niemand anders hat das Gesetz zur Rückkehr
von Teilzeit in Vollzeit, das fertig in der Schublade liegt,
verhindert, höchstpersönlich. Frau Merkel hat gesagt:
Wir wollen das erst ab einer Betriebsgröße von 200 Beschäftigten.
({8})
Ich sage Ihnen: Dann hätte dieses Gesetz 7,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gar nichts
gebracht. So ein Gesetz machen wir doch nicht. Wir
machen doch keine Gesetze, damit sie auf dem Papier
stehen. Wir machen Gesetze für die Realität, damit die
Frauen in diesem Land etwas davon haben.
({9})
In diesem Zusammenhang sage ich Ihnen: Lieber Martin
Schulz - in Klammern: Mann - und Andrea Nahles - in
Klammern: Frau - als Angela Merkel - in Klammern:
Frau -; denn für die Frauen bringt es in dieser Frage am
Ende eindeutig mehr, wenn sie Martin Schulz wählen.
({10})
Was ich Ihnen ganz offen und klar sagen muss, ist Folgendes: Sie haben ein sehr schönes Ziel ausgerufen. Ich
persönlich bin sehr dafür. Wir wollen Vollbeschäftigung.
Sie haben auch gesagt, dass Sie das erreichen wollen.
Wenn man aber Vollbeschäftigung erreichen will, dann
muss man endlich auch den Mumm haben, die verfestigte
Langzeitarbeitslosigkeit anzupacken.
({11})
Sie, Frau Merkel, und Herr Schäuble haben es wirklich geschafft, mich am langen Arm verhungern zu lassen, was das Programm zur Förderung öffentlicher Beschäftigung und sozialer Teilhabe angeht. Gerade einmal
20 000 Plätze konnte ich im Rahmen dieses sehr erfolgreichen Programmes besetzen. In diesem Land warten
aber Hunderttausende von Langzeitarbeitslosen darauf,
endlich eine Chance zu bekommen.
({12})
Dass sie Arbeit im öffentlich geförderten Bereich finden, ist ihre einzige Chance. Wir brauchen mindestens
100 000 Plätze, um in der Fläche zu Erfolgen zu kommen. Das kostet 2 Milliarden Euro.
({13})
Und jetzt sagen Sie mir: Wollen Sie die 2 Milliarden
Euro in die Hand nehmen, ja oder nein? Das ist doch
ganz einfach. Das können Sie den Wählern doch vor der
Bundestagswahl erzählen. Sie könnten den Wählern vor
der Bundestagswahl sagen: Jawohl, es gibt 2 Milliarden
Euro mehr für Langzeitarbeitslose. - Dann wären wir
doch glücklich. Dann wären wir doch schon zufrieden.
({14})
Aber das werden Sie nicht tun; denn bisher haben Sie es
auch nicht gemacht. Wir hätten das ja gerne gemeinsam
umgesetzt. Es ist ja nicht so, dass es an uns gescheitert
wäre.
({15})
Darüber hinaus gibt es leere Versprechungen aller Art,
auf die ich jetzt nicht eingehen will. Aber dass Sie sich zu
einem Punkt klar bekannt haben, war ja wirklich überraschend. Sie sind jetzt gegen die Rente mit 70. Okay, das
wird ja jetzt gar nicht so diskutiert. Herr Schäuble, Herr
Spahn und andere diskutieren ja eher über eine Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.
Das ist eine andere Mechanik. Das ist so eine Art Automatismus der Renteneintrittsaltererhöhung.
({16})
Gilt die klare Aussage „keine Rente mit 70“ auch für diese Forderung? Das wäre meine Frage, Frau Merkel;
({17})
denn das ist es, was eigentlich diskutiert wurde in den
letzten Monaten, übrigens auch in der Rentenkommission, die ich letztes Jahr geleitet habe.
({18})
Frau Nahles, lassen Sie eine Zwischenfrage zu?
Nein, jetzt nicht.
({0})
Wir haben klar gehört, was Sie zur Rente gesagt haben. Ich nehme Sie jetzt einmal beim Wort, dass es keine
Rente mit 70 geben wird. Die eigentliche Frage, über die
wir hier die ganze Zeit reden, ist aber doch nicht die des
Renteneintrittsalters. Die eigentliche Frage ist, ob wir
das Gesetz ändern. Jetzt ist die Rechtslage ja so: Dieses
Gesetz wurde Anfang der 2000er-Jahre auch mit sozialdemokratischen Stimmen gemacht,
({1})
weil wir 5,3 Millionen Arbeitslose hatten, weil die Frauenerwerbstätigkeit niedrig war, die Zuwanderung minimal
und weil die Älteren ab 55 zum alten Eisen geschoben
wurden. Das war die Lage Anfang der 2000er-Jahre.
({2})
Die Lage ist mittlerweile völlig anders. Wir haben die
höchste Frauenerwerbstätigenquote mit 74 Prozent.
({3})
Wir haben tatsächlich keinen Unterschied mehr bezüglich der Beschäftigung von 60-Jährigen gegenüber
50-Jährigen oder 40-Jährigen. Die sind alle gleichermaßen in Beschäftigung.
({4})
Wir haben eine wesentlich bessere Situation bei der Zuwanderung, und zwar auch schon vor der Flüchtlingskrise. Vor allem haben wir nur noch 2,5 Millionen Arbeitslose. Das befähigt uns, ein Versprechen zu geben, das das
Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung in diesem Land wiederherstellt; denn dieses Vertrauen ist bei
den jungen Leuten weg, das ist einfach zerstört.
({5})
Bei der Bundestagswahl am 24. September geht es
darum: Wollen wir, dass das Rentenniveau weiter sinkt,
oder wollen wir eine gesetzlich festgelegte Haltelinie
einziehen, damit das Rentenniveau auch für die jüngeren
Leute gleich bleibt?
({6})
Wenn Sie das mit uns machten, hätten wir viel gewonnen. Aber das haben Sie abgelehnt. Ich finde aber, dass
man das den Leuten vor der Wahl ganz klar sagen muss.
({7})
Die jüngere Generation ist die Gelackmeierte. Sie bezahlt
mehr Beiträge - das können wir wegen der Babyboomer,
die zusätzlich in Rente kommen, nicht verhindern -, aber
hat, wenn es nach Ihnen geht und wir nichts machen, unterm Strich überhaupt nichts davon. Sie zahlt mehr und
bekommt weniger Rente.
({8})
Das zerstört auf Dauer das Vertrauen in die wichtigste
Säule unseres Sozialsystems, die Rente.
({9})
Deswegen ist die Sicherung des Rentenniveaus für uns
erste Priorität.
({10})
Ja, wir haben an vielen Stellen sehr gut regiert; aber
Deutschland braucht mehr und Deutschland kann mehr,
vor allem soziale Gerechtigkeit.
Vielen Dank.
({11})
Als nächste Rednerin hat Katrin Göring-Eckardt für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben heute hier sehr lange
darüber geredet, was die Erfolge der Großen Koalition
sind und wie gut es dem Land geht.
({0})
Sie haben aber vergessen, was die zentralen Fragen dieses Landes sind. Sie haben den Abgasskandal wieder einmal heruntermoderiert nach dem Motto: Mich geht das
doch nichts an. - Doch die Bürgerinnen und Bürger in
diesem Land geht es etwas an.
({1})
Sie haben weggelassen die Kinderarmut und die Mietenexplosion, Sie haben weggelassen die Skandale um
NSA. Sie haben nicht über NSU geredet, und Sie haben
nicht über den Maut-Murks geredet. Die Milchkrise, die
Bankenkrise, das Extremismuserwachen, all das ist in
Ihrer Rede nicht vorgekommen, Frau Merkel. Ich sage
Ihnen: So werden Sie in den nächsten Jahren nicht weiterregieren können.
({2})
Da ist nichts Frisches mehr, bei Ihnen nicht und - das
muss man ehrlicherweise sagen, auch wenn sich Frau
Nahles hier wirklich sehr angestrengt hat - auch nicht bei
der Großen Koalition. Wir erleben den Muff aus zwölf
Jahren Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, Schwarz-Rot. Da
hat sich nichts mehr bewegt. Deutschland braucht endlich frischen Wind. Deutschland verdient in vier Jahren
eine andere Regierungserklärung hier an diesem Pult.
({3})
Ich will Ihnen sagen, was ich wünsche, was darin
vorkommt. Darin muss vorkommen: Ja, wir haben die
Zukunft unserer Kinder endlich angepackt. Wir haben
erkämpft, dass Kinderarmut in diesem Land keine Rolle
mehr spielt. - Das will ich in vier Jahren hören und keine
Ignoranz mehr.
({4})
Ich will in vier Jahren hören, dass wir gemeinsam angepackt haben, dass die Luft klar ist, dass Wasser sauber
und bezahlbar ist und dass das Essen gesund ist. Bei uns
stehen das Tierwohl und eine intakte Natur im Mittelpunkt und nicht mehr nur die alte Agrarlobby, über die
Sie immer die Hände halten.
({5})
Ich will, dass wir sagen können, dass wir das Sterben im
Mittelmeer endlich beendet haben, dass wir im Umgang
mit Flüchtlingen über uns hinausgewachsen sind, und
zwar noch einmal, mit den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes, dass Schluss ist mit Abschottungspolitik und
dass wir endlich für Integration in diesem Land sorgen,
und zwar ehrlich, mit Anstrengung und mit Klarheit, sodass wir hier wirklich gut zusammenleben können. Das
ist der Unterschied zu Ihnen, Frau Merkel.
({6})
Eine ehrliche Bilanz wäre gewesen, klar zu sagen, was
Sie alles haben laufenlassen, was zu stoppen gewesen
wäre. Die Autoindustrie, die Energieindustrie, die Agrarindustrie, sie alle haben, gemeinsam mit Ihnen und Ihren
Ministern, jegliches Maß verloren, von Mitte ganz zu
schweigen. Sie haben es zugelassen, dass Herr Dobrindt
und Herr Schmidt, die beiden Herren von der CSU, die
Infrastruktur und die Landwirtschaft in diesem Land in
eine richtig große Krise gebracht haben.
({7})
- Entschuldigung, ich finde das nicht lächerlich; denn
einerseits haben wir einen Minister, der unfassbar viel
Geld für Infrastruktur hat und vier Jahre lang nichts anBundesministerin Andrea Nahles
deres macht, als sich um eine Maut zu kümmern, die vermutlich nie kommen wird,
({8})
und andererseits können sich die Menschen in diesem
Land nicht sicher sein, dass sie kein Gift im Essen haben
und dass kein Läusegift in den Eiern ist, weil das nicht
mal kontrolliert wird, sondern Herr Schmidt Entwarnung
gibt, bevor er überhaupt sicher sagen kann, dass in diesem Land alles in Ordnung ist. Darüber kann ich nicht
lachen. Das muss ich Ihnen klar sagen.
({9})
Was wir auch erleben, ist, dass die Große Koalition
seit Sonntag nichts anderes zu tun hat, als miteinander zu kuscheln und gleichzeitig zu versuchen, dass es
nicht auffällt. Das ist irgendwie wie bei Teenagern, die
zu Hause nicht zugeben können, dass sie jetzt eine neue
Freundin haben.
Frau Nahles, Sie haben eben gesagt, dass es für die
Frauen in diesem Land besser wäre, sie würden Martin
Schulz wählen. Ich habe mir dieses Duell ja angeguckt.
({10})
Da wundert es mich doch schon sehr, dass die Frauenpolitik oder die Gleichstellung von Frauen oder die Gehälter
von Pflegekräften oder die Situation der Alleinerziehenden kein einziges Mal vorgekommen sind, Frau Nahles.
({11})
Wenn Sie das hier sagen, dann geht es wohl nicht um
Martin Schulz, sondern vielleicht um die nächste Kanzlerkandidatin der SPD; vielleicht werden Sie, Frau
Nahles, das sein. Aber mit Herrn Schulz hat all das jedenfalls nichts zu tun.
Meine Damen und Herren, Schwarz-Rot waren verlorene Jahre im Kampf gegen die Klimakrise. Man kann
und muss Donald Trump dafür kritisieren, dass er aus
dem Pariser Klimaabkommen ausgestiegen ist. Aber
wenn Sie sich hierhinstellen, Frau Merkel, und sagen,
dass wir den Verbrenner noch jahrzehntelang haben werden, dann sind Sie auch ausgestiegen, zwar nicht, weil
Sie Ihre Unterschrift zurückgenommen hätten, sondern,
weil Sie das Abkommen nicht umsetzen. So ehrlich muss
man dann auch sein. Wer die Klimakrise bekämpfen will,
der muss es auch machen, der muss endlich handeln in
diesem Land.
({12})
Jetzt muss man natürlich ehrlicherweise sagen, was
uns möglicherweise bevorsteht. Nach zwölf Jahren des
Verschlafens, nach Wiedereinstieg in die Braunkohle,
beispielsweise in Brandenburg, droht ja, dass im September zwei Parteien in den Bundestag einziehen, die
harte Klimaleugner sind. Die eine ist die AfD, die sich
mit Herrn Trump gemeinmacht, die andere ist die FDP.
Die Generalsekretärin der FDP behauptet ja auch, die
Klimakrise gäbe es gar nicht. Diese FDP kumpelt weiter
mit der Energiewirtschaft. Deswegen will ich an dieser
Stelle schon einmal sagen, was uns bevorsteht, wenn wir
eine Regierung bekommen, wie es in Nordrhein-Westfalen der Fall ist. Dort wird es keine Windkraftinvestitionen mehr geben. Dort wird es mehr Braunkohle, mehr
Verschmutzung geben. Dort sind 18 500 Arbeitsplätze in
Gefahr - es sind die Arbeitsplätze der Zukunft -, weil
man weiter in die Vergangenheit blickt. Das ist es, was
uns bevorsteht, wenn Sie gemeinsam mit der FDP in diesem Land regieren.
({13})
Sie reden immer gerne davon, dass Sie konservativ
sind. Für mich hat das sehr viel mit Heimat und Bewahren zu tun. Sie haben in zwölf Jahren Landwirtschaftspolitik zugelassen, dass sich die Agrarindustrie zulasten
unserer Heimat selbst pervertiert. Das müssen übrigens
nicht Sie ausbaden; das müssen die Verbraucherinnen
und Verbraucher ausbaden, von Gammelfleisch bis hin
zu Läusegifteiern. Was ist eigentlich mit Gentechnik auf
dem Teller? Was ist mit Glyphosat? Die Menschen wissen das nicht, weil Sie nicht bereit waren, zuzulassen,
dass man weiß, was im Essen drin ist. Sie haben nicht die
Bereitschaft gehabt, zuzulassen, dass es Lebensmittelkennzeichnungen in diesem Land gibt. Es muss doch das
Mindeste sein, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher wissen, woher das Essen kommt, wie die Tiere gehalten worden sind, wie die Pflanzen hergestellt worden
sind, wenigstens wissen, was drin ist. Das ist das Mindeste, was ich von Ihnen verlange: dass die Verbraucherinnen und Verbraucher die Chance haben, endlich frei
zu entscheiden.
({14})
Ich habe es am Anfang schon gesagt: Es hat mich sehr
bewegt, Frau Merkel, dass Sie hier kein Wort über das
Sterben im Mittelmeer verloren haben, auch kein Wort
darüber, dass humanitäre Seenotretter aufgeben müssen, weil Sie stillschweigend zuschauen, wenn sie von
der libyschen Küstenwache beschossen werden. Es wird
davon berichtet - Herr Gabriel hat das für die Bundesregierung getan -, dass die Lager in Libyen derzeit KZs
ähneln. Es herrschen unhaltbare Zustände. 97 Prozent der
Frauen berichten von sexuellen Übergriffen, von Vergewaltigungen, von brutaler Gewalt. Sie, Frau Merkel, haben in der Bundespressekonferenz gesagt, das sei „sicher
noch nicht ideal“. Es gibt Punkte, Frau Merkel, wo Moderation wohlfeil und Nonchalance zynisch ist.
({15})
Benennen Sie, worum es geht! Das sind Menschenrechtsverletzungen, das ist eine Katastrophe! Ich sage Ihnen: Mit einem solchen Land, mit Libyen, darf es keinen
Flüchtlingsdeal geben. Der Deal mit der Türkei ist ohnehin schon gescheitert. Zu versuchen, mit einem Land, das
gar keine Regierung hat, weiter Abschottungspolitik zu
betreiben, mit autokratischen Ländern Deals zu machen
und ihnen Waffen liefern zu wollen, damit die Grenzen
Europas in die Mitte Afrikas verlegt werden, das ist doch
keine realistische Flüchtlingspolitik, das ist das Gegenteil davon! Das hat mit Menschlichkeit nichts zu tun, und
das hat mit Planbarkeit nichts zu tun. Sie wollen, dass
diese Menschen aus den Augen und aus dem Sinn sind.
Ich sage Ihnen: Ich will, dass wir eine menschliche
Flüchtlingspolitik machen, und zwar ohne Obergrenze.
Ich will, dass wir wissen, wer in Europa ist, dass das registriert wird, dass die Menschen sicher hierherkommen
können und, ja, dass diejenigen, die hier kein Asyl bekommen, auch wieder zurückkehren müssen. Aber ich
will nicht, dass wir so tun, als ob wir Fluchtursachen
bekämpfen und dabei selber eine Fluchtursache bleiben.
({16})
Der somalische Kleinbauer, der nach Deutschland
kommt, ist auch deswegen zum Flüchtling geworden,
weil von uns hochsubventioniertes tiefgefrorenes Hühnerfleisch geliefert wird und er deswegen seine Hühnerfarm aufgeben musste. Wir sind Teil der Fluchtursachen.
Dieser Tatsache endlich ins Auge zu blicken, das verlange ich von Ihnen, wenn Sie über realistische Flüchtlingspolitik reden.
({17})
Es war schon nett, am Sonntag zu beobachten - auch
heute konnten wir es hier beobachten -, dass sich Union
und SPD darauf geeinigt haben, dass wir eine Erhöhung
der Rüstungsausgaben um 2 Prozent brauchen.
({18})
- Ja, doch. Verschiedene Menschen aus der Union haben
verschiedene führende Sozialdemokraten zitiert. Das ist
so.
({19})
- Nein, es sind keine Fake News.
({20})
- Moment! Das ist das, was Sie im Kabinett beschlossen
haben.
({21})
Es geht darum, dass auf der einen Seite die Ausgaben
im Etat des Auswärtigen Amts und im Entwicklungsetat
sinken, aber auf der anderen Seite die Verteidigungsausgaben steigen. Was ist denn das anderes als eine Schwerpunktverlagerung? Aus der Nummer kommen Sie nicht
mehr raus, meine Damen und Herren.
({22})
Liebe Frau Nahles, ich muss noch einmal zu Ihnen
kommen; denn Sie tun ja so, als hätten Sie gar nichts mit
dem zu tun, was Sie hier alles beschlossen haben.
({23})
Wer hat denn im Kabinett zugestimmt, dass es Kürzungen bei der Förderung der Langzeitarbeitslosen gab? Das
war die Bundesarbeitsministerin! Die Nummer mit „Haltet den Dieb!“ lassen wir Ihnen nicht durchgehen, meine
Damen und Herren.
({24})
Frau Göring-Eckardt, lassen Sie eine Zwischenfrage
zu?
Herr Heil muss es jetzt wieder richten. Machen Sie!
Herr Heil.
Liebe Katrin Göring-Eckardt, es geht einfach nur darum, zwischen Bündnis 90/Die Grünen und SPD nicht
Unterschiede aufzuzeigen, wo es gar keine Unterschiede
gibt.
Ich bitte Sie, Folgendes zur Kenntnis zu nehmen: Frau
Merkel hat vorhin ein Zitat aus dem Zusammenhang gerissen und verfälscht, und das möchte ich klarstellen.
({0})
- Wir wollen hier Argumente austauschen und sollten
nicht Dinge unterstellen, die nicht gesagt wurden.
Martin Schulz hat deutlich gemacht, dass er für eine
bessere Ausrüstung der Bundeswehr ist und dafür 3 bis
5 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung stellen will,
({1})
und zwar insgesamt, aber nicht aufwachsend Jahr für
Jahr. Das ist der Unterschied zum 2-Prozent-Ziel von
Frau Merkel. Sie will Jahr für Jahr mehr und ab 2024
30 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr ausgeben.
Frau Göring-Eckardt, Sie als Grüne haben vielen Auslandseinsätzen zugestimmt. Wenn wir im Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten für eine bessere Ausrüstung
der Bundeswehr sind, dann ist das das eine. Wenn Frau
Merkel für eine massive Aufrüstung der Bundeswehr ist,
dann ist das etwas anderes. Ich bitte Sie, diesen Unterschied klarzumachen.
({2})
Frau Merkel hat zitiert, was Martin Schulz in einer
Phoenix-Sendung gesagt hat. Darin hat er deutlich gemacht, dass ihm Experten sagen - ich finde, die haben
recht -, dass unsere Bundeswehr 2, 3, bis zu 5 Milliarden Euro mehr für Ausrüstung braucht, aber nicht Jahr
für Jahr aufwachsend, sondern dauerhaft. Frau Merkel,
das ist der Unterschied. Sie wollen - das haben Sie im
Wahlprogramm der CDU deutlich gemacht - ab 2024
zusätzlich 30 Milliarden Euro. Das ist Aufrüstung, nicht
Ausrüstung.
({3})
Das ist der Unterschied, Frau Göring-Eckardt. Bitte
machen Sie sich nicht zum verlängerten Arm dieser falschen Informationspolitik von Frau Merkel. Das ist meine herzliche Bitte.
({4})
Nein, nein, nein, Herr Heil. Niemals würde ich mich
auf Informationen von Frau Merkel verlassen. Ich habe
mich einfach auf das verlassen, was Sie gemeinsam beim
Haushalt beschlossen haben. Genau darüber habe ich gesprochen.
({0})
Beim Haushalt haben Sie beschlossen: Die Etats für die
Außenpolitik und die Entwicklungspolitik sinken, der
Wehretat steigt. Dabei ging es nicht um Ausrüstung oder
die Sicherheit der Soldatinnen und Soldaten - da wären
wir uns ja ganz schnell einig -, sondern es ging um einen
echten Aufwuchs. Herr Heil, eines muss klar sein: Sie
müssen wenigstens zu den Sachen stehen, bei denen Ihre
Leute im Kabinett die Hand gehoben haben - jenseits
von Phoenix-Sendungen.
({1})
Ich will am Schluss auf etwas eingehen, was hier schon
mehrere benannt haben, und will deutlich sagen, dass ich
glaube, dass wir tatsächlich vor einer historischen Wahl
stehen. Es steht zu befürchten, dass im Herbst hier Abgeordnete sitzen werden, die all das infrage stellen, was wir
gemeinsam in 70 Jahren Nachkriegsdemokratie inklusive der friedlichen Revolution erarbeitet haben: Anstand,
harte, aber faire Auseinandersetzungen, das Streben nach
Interessenausgleich. Ich bitte Sie alle, auch jenseits des
Wahlkampfes, in dem wir diese harte Auseinandersetzung führen müssen: Lassen wir uns nicht von Rechtsextremen in unserer Mitte beirren, und zeigen wir der AfD,
dass wir geschlossen sind gegen Hass, gegen Hetze, gegen Fake News, gegen Spaltung, gegen Rassismus bis in
unsere eigenen Reihen! Machen wir das gemeinsam für
die Demokratie, meine Damen und Herren!
({2})
Auch dabei, Herr Lammert, werden Sie uns fehlen.
({3})
Denjenigen, die am 24. September 2017 wählen können, sage ich: Gehen Sie bitte zur Wahl. Sorgen Sie dafür, dass die Demokratie wieder lebendig wird und dass
diese eingeschlafene Große Koalition - Herr Kauder,
durch Schulterklopfen wachen die Leute nicht wieder
auf - endlich Geschichte wird. Die Richtung dieses Landes, die Richtung der Politik ab Herbst dieses Jahres wird
sich bei Platz drei entscheiden. Ich möchte gerne, dass es
nach vorne geht, dass wir Verantwortung für die Zukunft
übernehmen, dass wir Verantwortung tragen für Klimaschutz in diesem Land, für die Zukunft unserer Kinder,
für die Zukunft des Planeten, auch wenn Ihnen das vielleicht zu pathetisch ist. Mir geht es darum, dass wir keine FDP in der Regierung haben, die dafür steht, dass die
Löhne sinken, die Pflegerin keinen Stich bekommt und
die Mieten noch stärker steigen. Ich will Klimaschutz
und Gerechtigkeit. Das müssen die Markenzeichen der
nächsten Bundesregierung werden. Darum Grün wählen.
So einfach ist das.
Vielen Dank.
({4})
Als nächster Redner hat der Bundesminister für Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, für die Bundesregierung
das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Frau Göring-Eckardt, das, was Sie zum Schluss
Ihrer Rede gesagt haben, dass wir uns auch im Wahlkampf darum bemühen sollten, unsere Prinzipien einzuhalten - das hat der Parlamentspräsident am Anfang
dieser Debatte schon gesagt -, erfordert meines Erachtens auch, dass wir im Wahlkampf versuchen, die Lage
unseres Landes mit all den Problemen und Herausforderungen so realistisch wie irgend möglich zu beschreiben,
dass wir keine Illusionen schüren und keine unerfüllbaren Versprechen geben; denn das ist der Nährboden der
Demagogen.
({0})
Unser Land ist in einer guten Lage, auch mit all den
Problemen. Wir werden übrigens immer, solange Menschen Gesellschaften bilden - das Paradies auf Erden
werden wir nicht haben -, Probleme haben, und wir
werden uns anstrengen müssen, sie zu lösen. Das ist fast
eine Grundbedingung menschlicher Existenz und politischen Handelns. Aber dass unser Land und die meisten
Menschen in unserem Land in einer besseren Lage sind
als die meisten anderen auf dieser Welt und zu früheren
Zeiten und dass wir in Europa und weit darüber hinaus
darum beneidet werden, das sollte man auch zweieinhalb
Wochen vor der Bundestagswahl nicht in Abrede stellen.
Alles andere macht keinen Sinn.
({1})
Im Übrigen, liebe Frau Nahles: Wir haben vier Jahre
nebeneinander gesessen; das war nett. Der Wettbewerb in
Ihrer Partei um die künftigen Führungspositionen muss
Hubertus Heil ({2})
schon sehr heftig sein, wenn ich Ihre Rede richtig verstanden habe; denn es war völlig anders.
({3})
Wir haben vieles zusammen erreicht.
Nun kommt das eigentliche Problem. Unser Land,
so gut die Lage auch ist, steht vor großen Herausforderungen. Die Bundeskanzlerin hat es in ihrer Rede ganz
am Anfang beschrieben. Das Tempo der Veränderungen,
der schnelle Wandel in Wissenschaft und Technik, die
Digitalisierung und Informationstechnik machen Menschen Angst. Die Globalisierung hat sich durch diese
technische Entwicklung ebenso wie durch das Ende der
Ost-West-Teilung vor 27 Jahren wahnsinnig beschleunigt. Das macht den Spielraum, in dem wir politische
Entscheidungen treffen, so viel komplizierter. Das sind
die Herausforderungen. Dafür ist unser Land durch die
erfolgreiche Entwicklung in den letzten vier Jahren gut
gerüstet; das ist auch die Aufgabe für die nächsten vier
Jahre.
Im Wahlkampf ist es wichtig, sich daran zu erinnern
und sich klarzumachen, wie das geht.
Erstens. Volker Kauder hat gesagt: Ohne Wirtschaft
ist alles nichts. Ich würde „fast“ hinzufügen. Aber wirtschaftliche Erfolge sind nicht Erfolge der Politik. Die
Politik kann in der Regel wirtschaftliche Erfolge verhindern; das hat sie oft genug bewiesen. Ansonsten kann sie,
wenn sie es gut macht, einen Rahmen setzen, dass Arbeitnehmer, Unternehmer und Verbraucher so miteinander arbeiten, dass es zum wirtschaftlichen Erfolg beiträgt.
Das haben wir in den letzten Jahren erfolgreich gemacht.
Dazu gehört übrigens ganz entscheidend das Vertrauen in
die Verlässlichkeit und Nachhaltigkeit von Politik, auch
in die Finanzpolitik und in die Nachhaltigkeit öffentlicher Haushalte und in die sozialen Sicherungssysteme.
Deswegen ist solide Finanzpolitik eine Voraussetzung für
wirtschaftliches Wachstum und dafür, dass es den Menschen besser geht.
({4})
Zweitens. Man muss die Systeme so gestalten, dass
die Menschen die richtigen Entscheidungen treffen.
Das gilt in den Bundesländern und der Bundesrepublik
Deutschland, und das gilt in Europa. Natürlich sind wir
in diesem Bundestag uns alle - oder fast alle - darin einig: In dieser globalisierten Welt werden wir nur durch
ein starkes und handlungsfähiges Europa die großen Herausforderungen der Zukunft besser bewältigen können.
Dass wir hier noch viel zu leisten haben, ist gar keine
Frage. Aber man muss Europa richtig machen.
Wir alle haben vor zehn Jahren unter den Folgen der
Finanz- bzw. Banken- und dann der Wirtschaftskrise
gelitten. Was war die Ursache? Haftung und Entscheidungszuständigkeit in den Finanzmärkten waren auseinandergefallen. Das war die Ursache. Alle haben gesagt:
Diesen Fehler dürfen wir nicht wiederholen. Die, die entscheiden, müssen für die Folgen ihrer Entscheidungen
haften.
({5})
Deswegen müssen wir auch in Europa dabei bleiben:
Solange die Entscheidungen für Wirtschafts-, Finanz-,
Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in den Mitgliedstaaten
getroffen werden - das kann man ändern, wenn man die
Mehrheit dafür hat; diese haben wir aber derzeit nicht -,
müssen die Mitgliedstaaten auch die Verantwortung für
die Folgen ihrer Entscheidungen tragen. Sonst treffen sie
die falschen Entscheidungen.
({6})
Das ist kein Mangel an Solidarität, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir in Europa Solidarität leisten.
Das gilt auch im Bundestag. Ich glaube, Herr
Oppermann, wenn Sie nicht mehr im Wahlkampf sind
und alles geklärt ist, was die Sozialdemokraten sonst so
beschäftigt, werden Sie wieder zu der Erkenntnis kommen: Unser föderales System hat natürlich Schwächen.
Wir haben uns in den Bund-Länder-Verhandlungen auch
gerieben und wissen, dass da manches suboptimal ist.
Ein Grund für die Überlegenheit des deutschen Modells ist doch im Kern, dass wir in Deutschland nicht alles zentralisieren und vereinheitlichen. So macht der Mittelstand die Stärke der deutschen Wirtschaft aus, nicht
nur ein paar Großunternehmen. Es geht um Vielfalt: Es
gibt die kommunale Selbstverwaltung, starke Länder und
einen starken Bund. Allerdings muss jeder seine Aufgaben richtig wahrnehmen. Dafür muss man die richtigen
Anreize setzen.
({7})
Der Ansatz, in der Bildungspolitik möglichst viel zu
vereinheitlichen, wird die Situation nicht besser machen.
({8})
Frankreich ist - hoffentlich - auf dem Weg, stärker zu
werden; das wäre im Interesse Europas und im Interesse
Deutschlands. In Frankreich diskutiert man sehr ernsthaft über die Nachteile der zu starken Zentralisierung des
dortigen Systems; wir sollten das nicht vergessen. Auch
im Föderalstaat gilt, dass jeder seine Aufgaben optimal
und richtig erfüllen, dass sich jeder daran messen lassen
und dafür die Verantwortung übernehmen muss. Für die
Bildungspolitik sind in erster Linie die Länder zuständig.
Sie müssen ihre Aufgaben wahrnehmen. Man kann die
Ergebnisse vergleichen. Dort, wo sie schlecht sind, wählen die Wählerinnen und Wähler die jeweilige Landesregierung ab und entscheiden sich für eine bessere. Das
war in diesem Jahr gar nicht so schlecht.
({9})
Ich werbe dafür, dass wir bei diesen Prinzipien bleiben
und sie nicht aus den Augen verlieren. Im Übrigen: Wenn
wir uns die Zahlen anschauen - sie spielen in dieser Debatte fast gar keine Rolle -, dann ist es wirklich jenseits
jeder Realität, zu behaupten, der Bund habe den Ländern
und Kommunen - das gilt übrigens für die letzten zwei
Legislaturperioden - nicht mehr geholfen als jede Bundesregierung zuvor. Jeder Vertreter einer kommunalen
Interessenvertretung oder eines kommunalen Verbandes
sagt, nie zuvor sei eine Bundesregierung so kommunalfreundlich gewesen wie die Bundesregierungen in den
letzten beiden Legislaturperioden. Das gilt im Übrigen
auch für die Länder. Alle 16 Ministerpräsidenten haben
sehr gefeiert, dass sich der Bund in den Bund-Länder-Finanzverhandlungen für die Länder eingesetzt hat, sodass
sie mit dem Ergebnis zufrieden waren. Nun muss man
aber auch sagen: Erfüllt eure Aufgaben, anstatt die eigene Verantwortung - kaum dass die Verhandlungen abgeschlossen sind - wieder zum Bund zu schieben, und löst
eure Probleme selbst!
({10})
Jetzt will ich, liebe Frau Nahles, noch eine Bemerkung
zu Ihnen machen. Ich bin zwar nicht jeden Tag so sehr
mit Sozial- und Arbeitsmarktpolitik befasst, aber ein paar
Grundprinzipien habe ich gelernt und ganz gut verstanden. Ich glaube, es ist eine Stärke des deutschen Sozialsystems, dass die sozialen Sicherungssysteme im Prinzip
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern partnerschaftlich
finanziert werden, und zwar in Selbstverwaltung. Da sind
wir wieder bei dem Prinzip: Wer entscheidet, der muss
auch die Verantwortung tragen; denn wenn das auseinanderfällt, ist man furchtbar großzügig.
({11})
Deswegen: Lassen Sie uns bei der Rente um Gottes willen an dem bewährten Prinzip der Drittelfinanzierung
durch Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Steuerzahler festhalten.
({12})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie hier eine Verschiebung vornehmen und alles in die steuerfinanzierte Rente überführen,
dann wird die wirtschaftliche Leistungskraft Deutschlands wesentlich geringer und die Rente unsicherer sein.
Weil wir das nicht möchten, halten wir an diesem Prinzip
fest.
({13})
Zur demografischen Entwicklung. Wir haben schon in
den 90er-Jahren im Rahmen der Rentenversicherung einen demografischen Faktor eingeführt. Dabei ging es um
das System der dynamischen Rente. Auch Rentner sollen
am Fortschritt der wirtschaftlichen Entwicklung teilhaben; denn die Rente ist auch der Lohn für die Lebensleistung. Wenn sich das Verhältnis von Älteren und Jüngeren
verändert, muss man das natürlich berücksichtigen. Ich
glaube, es ist völlig unsinnig, zu sagen: Egal wie sich
die Lebenserwartung entwickelt, das Rentenalter bleibt
für alle Zeiten unveränderbar. - Das ist leider jenseits aller Regeln. Sie haben das gerade gesagt, aber das ergibt
keinen Sinn.
Wir haben gemeinsam verabredet, dass das Renteneintrittsalter bis 2030 jedes Jahr um einen Monat bis zum
Alter von 67 Jahren angehoben wird. Da Sie selber gesagt haben, wie sehr sich die Annahmen für die Rentenversicherung in den nächsten Jahren durch die Beschäftigungszahlen verändern werden, macht es gar keinen
Sinn, dass wir jetzt eine Debatte über die Jahre zwischen
2030 und 2050 führen. Keiner weiß, was bis dahin ist.
Wenn wir eine rot-rot-grüne Regierung bekommen, dann
werden wir ganz andere wirtschaftliche Zahlen haben,
als wenn wir die erfolgreiche, von Angela Merkel geführte Regierung fortsetzen können.
({14})
Frau Göring-Eckardt, ich will auch noch eine Bemerkung zum Thema Migration machen. Ich habe vor
zwei Jahren von einem „Rendezvous mit der Globalisierung“ gesprochen. Diese Welt wird durch technologische
Entwicklungen und durch Informationen immer enger
zusammenrücken. Wenn die 8 Milliarden Menschen
auf dieser Welt immer stärker spüren, wie groß die Unterschiede sind, dann werden wir eine gute Zukunft in
Deutschland und in Europa natürlich nur dann haben,
wenn wir uns stärker dafür engagieren, dass auch andere
eine bessere Chance haben.
Wir haben den Etat für wirtschaftliche Zusammenarbeit in dieser Legislaturperiode übrigens um rund 35 Prozent erhöht. Daneben haben wir in dieser Legislaturperiode übrigens auch den Etat für Verkehrsinvestitionen um
gut 39 Prozent erhöht. Nur so viel zum Sachverhalt!
({15})
Jetzt kommt aber der entscheidende Punkt: Erinnern
Sie sich noch daran, dass
„Unser Herz ist weit, aber unsere
Möglichkeiten sind endlich“, oder dass Papst Franziskus
bei seiner Begegnung mit der obersten Repräsentantin
der lutherischen Weltkirchen, der schwedischen Bischöfin, Deutschland für seine so große Hilfsbereitschaft im
Gegensatz zu anderen gelobt hat? Wir werden noch in
Jahrzehnten stolz darauf sein, dass sich unser Land unter der Führung von Angela Merkel mehr als andere
als hilfsbereit gegenüber Schwächeren gezeigt hat. Das
bleibt für Deutschland wesentlich.
({0})
- Ich versuche gerade, etwas zu sagen. Ich habe Sie auch
reden lassen und nicht unterbrochen. Ganz ruhig!
({1})
Ein solches Problem gab es auch schon bei der Wiedervereinigung 1990/1991. Damals hatten wir auch über
eine halbe Million Asylbewerber in Deutschland, und
wir mussten in einer fürchterlichen Auseinandersetzung
schließlich eine Grundgesetzänderung erringen - sie hat
uns viel gekostet -, um die Rechtspraxis in Deutschland
an die Genfer Flüchtlingskonvention anzupassen.
Wir können nicht jeden, dem es auf dieser Welt
schlecht geht, das Recht geben, auszuwählen, wo er leben will,
({2})
sondern wir müssen die Migration steuern, und das geht
nur in Zusammenarbeit.
({3})
Deswegen brauchen wir drei Dinge: Wir müssen die
Migration in Zusammenarbeit mit den Anrainerländern
im Mittelmeer steuern, wir müssen natürlich dafür sorgen, dass die Vereinten Nationen - der Flüchtlingskommissar - dort die Verantwortung übernehmen - genau
das macht die Bundesregierung; genau darüber hat die
Bundeskanzlerin mit den anderen geredet; ohne das geht
es nicht -, und wir müssen - das habe ich schon vor zwei
Jahren gesagt, und das sage ich in jeder Haushaltsrede;
eigentlich soll das heute ja eine Haushaltsdebatte sein sehr viel mehr für die Stabilisierung unserer Nachbarschaft in Afrika investieren.
({4})
Deswegen sollten Sie hier keine solchen Reden halten,
als könnten wir unbegrenzt Geld verteilen, weil es uns
gut geht. Nein, wir müssen wirtschaftlich leistungsfähig
bleiben, um Frieden und Stabilität in diesem Land auch
in der Zukunft zu gewährleisten. Es muss uns gelingen,
die Migration entsprechend zu steuern, und es muss uns
gelingen, die Menschen, die kein Recht haben, hier zu
bleiben, oder die sich nicht an unsere Gesetze halten,
auch schnell wieder abzuschieben. Deswegen müssen
wir Algerien, Marokko und Tunesien auch zu sicheren
Herkunftsländern erklären. Stimmen Sie da endlich zu!
({5})
Wenn Sie Toleranz, Offenheit, Demokratie, Menschenwürde in diesem Land für die Zukunft bewahren
wollen, dann müssen Sie in der Lage sein, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Ein Staat, der die Grundanforderungen seiner Bürger - die Gewährleistung von
Sicherheit und von einem Mindestmaß an Berechenbarkeit - nicht erfüllen kann, wird schnell ein Opfer von Demagogen.
({6})
Deswegen noch einmal: Sie können nicht politische
Verantwortung tragen, ohne sich schuldig zu machen.
Helmut Schmidt ist vor einiger Zeit gestorben. Er hat
immer gesagt: Als Politiker wird man schuldig, wann
immer man entscheidet. - Das sage ich zu Ihnen, Frau
Göring-Eckardt, die Sie in der evangelischen Kirche eine
große Verantwortung getragen haben. Das muss man
wissen. Aber dem auszuweichen, ist der falsche Weg.
Wer eine Zukunft in Sicherheit, in Stabilität, in Toleranz
und Demut für unser Land will,
({7})
der muss bereit sein, die notwendigen Entscheidungen zu
treffen.
Wir haben das in den letzten Jahren gut gemacht. Wir
brauchen alle Kraft, um in den nächsten Jahren weiterzugehen. Ich plädiere dafür, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, dass wir dies unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern im Wahlkampf jeden Tag sagen. Wenn sie dann
eine gute Wahlentscheidung treffen, dann ist das gut für
Deutschland und Europa.
Herzlichen Dank.
({8})
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da dies meine letzte
Sitzung im Deutschen Bundestag sein wird, weil ich für
den neuen Bundestag nicht mehr kandidiere, bitte ich darum, einige Worte sagen zu können.
Ich bin Abgeordnete in einer sehr spannenden Zeit gewesen. Als ich im Januar 1987, vor über 30 Jahren, das
erste Mal in den Deutschen Bundestag gewählt worden
bin, habe ich mir nicht vorstellen können, einige Jahre
später in einem geeinten Land leben zu dürfen. Ich hätte
mir überhaupt nicht vorstellen können, dass ich an diesem Prozess sogar mitwirken konnte: als Abgeordnete,
unter anderem im Ausschuss für Deutsche Einheit. Ich
hätte mir einige wenige Jahre später aber auch nicht vorstellen können, dass die Hoffnungen, die ich und auch
viele andere 1990/1991/1992 hatten, endlich in einem
Zeitalter des Friedens leben zu können, so schnell wieder
zerstört werden.
30 Jahre lang die Möglichkeit zu haben, als Abgeordnete, mehrmals als Ausschussvorsitzende, als Sprecherin
meiner Fraktion, als Bundesministerin für Bildung und
Forschung und jetzt als Vizepräsidentin Politik aktiv gestalten zu dürfen, habe ich genau wie Norbert Lammert
immer als ein Privileg empfunden und wahrgenommen.
Das ist es auch. Das kann nicht jeder. Politik wirklich
aktiv gestalten zu können, zu beeinflussen, die Zukunft
gestalten zu können, Weichen zu stellen, die weit in die
Zukunft hineinreichen, wie mir das mit dem Ganztagsschulprogramm, mit der Nachwuchswissenschaftlerförderung, mit der grundlegenden Reform des BAföG und
der Exzellenzinitiative gelungen ist, um nur einiges zu
nennen, das ist eine wirklich wunderbare Möglichkeit,
für die ich außerordentlich dankbar bin.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich weiß, dass all
das nicht ohne Mitarbeit der Kolleginnen und Kollegen
geht. Ich glaube, das weiß jeder, egal in welcher Funktion
man ist. Deshalb möchte ich mich bei Ihnen allen ganz
herzlich bedanken.
Ich weiß, lieber Heinz Riesenhuber, dass du dich damals als Minister für Forschung und Technologie wahrscheinlich manches Mal über die junge Abgeordnete
Bulmahn geärgert hast. Im Übrigen wurde auch ich von
anderen geärgert. Aber ich glaube, eines war klar, nämlich dass es immer um die Sache ging.
Deshalb möchte ich diesen Dank an Sie alle für diese
langen Jahre der Zusammenarbeit mit zwei Bitten verbinden. Ich möchte ihn mit der Bitte verbinden, dass dieses Parlament auch in Zukunft wirklich mit aller Kraft
und mit allem Engagement für eine starke und stabile
Demokratie kämpft. In dieser leben wir nämlich.
({0})
Nichts kommt von selbst.
({1})
Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, wünsche ich
mir, dass dies ein Parlament bleibt, das sehr viel Selbstbewusstsein hat, das debattierfreudig ist, das seine Rechte, aber auch seine Verantwortung wahrnimmt, und dass
dies ein Parlament bleibt, in dem das Argument und die
Leidenschaft für die Sache zählen und nicht Pöbelei,
Rassismus, Ausgrenzung oder Hass an der Tagesordnung
sind.
({2})
Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, müssen Sie streiten; denn das fällt nicht vom Himmel.
Ich habe eine zweite Bitte. Viele wissen, dass mein
Herz für Bildung, Wissenschaft und Forschung brennt immer noch. Ja, wir investieren viel in Wissenschaft und
Forschung. Darüber, dass uns das gelungen ist, bin ich
sehr, sehr froh, und wir müssen dies fortsetzen. Auch das
ist richtig. Wir dürfen uns nicht darauf ausruhen. Wir
müssen noch mehr tun. Aber wir müssen noch viel, viel
mehr in Bildung investieren.
({3})
Es gibt kaum etwas, von dem die Lebenschancen eines Menschen so stark abhängen wie von den Bildungschancen, und es gibt keinen anderen Bereich, von dem
unsere Zukunft so abhängt wie von Bildung, Wissenschaft, Forschung und dem, was wir können, was unsere
Kompetenz ausmacht.
Deshalb, sehr geehrter Herr Schäuble: Ja, wir leben
in einem föderalen Staat, und er hat wirklich sehr viele Stärken. Ich bin davon überzeugt, dass es sich lohnt,
diesen föderalen Staat immer wieder zu stärken und zu
unterstützen. Aber wir leben auch in einer sozialen Demokratie, und zu einer sozialen Demokratie gehört auch,
dass man sich gegenseitig unterstützt,
({4})
dass man auch diejenigen unterstützt, die dieses Ziel unter schlechteren Rahmenbedingungen erreichen müssen.
Der Wert und die Stärke einer Demokratie zeigen sich
auch daran, wie viel sie in ihre Kinder und ihre Zukunft
investiert.
({5})
Deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir hier noch
mehr tun müssen: Wir müssen mehr investieren, und es
sind mehr Anstrengungen nötig, auch vom Bund. Auch
dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, lohnt es sich zu
streiten.
({6})
Ich möchte mich auch ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bedanken, nicht nur bei denjenigen, die hinter mir sitzen, sondern bei all denjenigen,
die uns unsere Arbeit erleichtern.
Vor allen Dingen wünsche ich Ihnen aber auch Erfolg
bei Ihrer Arbeit, heftigen Streit in der Sache, aber auch,
dass man zu Ergebnissen kommt. Alles Gute für die Zukunft!
Ich werde weiterhin mit Interesse beobachten, mit ein
bisschen Wehmut gehen, aber auch mit Freude darüber,
dass ich so lange mitmachen und mit Ihnen gemeinsam
die Zukunft dieses Landes gestalten konnte.
Danke.
({7})
Ja, jetzt muss der Kollege Singhammer kommen. Dann hat die Ministerin Katarina Barley für die Bundesregierung das Wort.
({8})
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Das Thema
heute ist die Situation in Deutschland, und ich will mich
vor allen Dingen meinem Amt entsprechend auf die Situation der Frauen beziehen.
Eines vorweg: Für die Frauen in diesem Land hat
sich in den letzten vier Jahren viel zum Positiven verändert. Das hat viel mit der sehr guten Arbeit von Manuela
Schwesig zu tun, der ich für ihren Einsatz an dieser Stelle
auch noch einmal ganz herzlich danken möchte.
({0})
Ich will jetzt nicht viel aufzählen, aber was mir ganz
besonders am Herzen liegt, ist die Reform des Unterhaltsvorschusses, die ganz vielen, vor allen Dingen
weiblichen, Alleinerziehenden und deren Kindern zugutekommt. So viel zum Positiven.
Politik beginnt aber, um den großen Sozialdemokraten Kurt Schumacher zu zitieren, mit dem Betrachten der
Wirklichkeit. Da muss ich schon sagen: In den letzten
Wochen gab es in einem anderen Punkt den Versuch, ein
großes Problem kleinzureden, nämlich die Lohnlücke
zwischen Männern und Frauen. Die ungeschönte Lohnlücke beträgt 21 Prozent. Wer das leugnet, wie zuletzt
der CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der das als Fake
News bezeichnete, zeigt damit, dass er nicht einmal im
Ansatz willens ist, dieses Problem ernsthaft anzugehen.
({1})
Das Problem liegt offen zutage. 6 Prozent ist der richtige Wert, wenn man einen Mann und eine Frau auf exakt
demselben Arbeitsplatz hat. Dann beträgt die Lohnlücke
6 Prozent. Schon das ist doch nicht nachzuvollziehen.
Bei 2 000 Euro Einkommen bekommt man 120 Euro weVizepräsidentin Dr. h. c. Edelgard Bulmahn
niger, nur weil man eine Frau ist. Mir soll einmal jemand
erklären, warum das richtig sein soll.
({2})
Aber es kommen weitere Faktoren hinzu: Teilzeit als
Karrierefalle, die dafür sorgt, dass man bei Beförderungen nicht mehr berücksichtigt wird, und vor allen Dingen
die deutlich schlechtere Bezahlung der sogenannten traditionellen Frauenberufe.
Die Lohnlücke, die sich auf insgesamt 21 Prozent
summiert, hinterlässt natürlich Spuren bei der Altersversorgung. Dass Frauen trotz Arbeit von Altersarmut bedroht sind, ist eine der größten Ungerechtigkeiten in diesem Land. Das ist keine statistische Lappalie. Das beste
Mittel gegen Altersarmut sind gute Löhne; das wissen
wir alle. Die SPD wird deshalb weiterhin gegen anhaltenden Widerstand - auch von CDU/CSU - gegen die
Lohnungerechtigkeit bei Männern und Frauen kämpfen.
({3})
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit bedeutet, das Recht
zu haben, zu wissen, was die männlichen Kollegen im
Durchschnitt verdienen, und die gleiche Wertschätzung
für die geleistete Arbeit zu bekommen. Das betrifft vor
allen Dingen die Berufe im Sozial- und Gesundheitswesen, die Erzieherinnen und Erzieher, die Altenpflegerinnen und Altenpfleger, die Hebammen sowie die Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. Ich nenne beide
Geschlechter, aber 80 Prozent derjenigen, die diese Berufe ausüben, sind Frauen. Wenn wir schon von Lebensleistung sprechen, Herr Schäuble, dann sollten wir nicht
vergessen, dass die in diesen Berufen geleistete Arbeit
körperlich schwer ist, oft emotional belastend ist und viel
Schichtarbeit erfordert. Die Menschen, die solche Berufe
ausüben, haben es verdient, einen anständigen Lohn zu
bekommen und dann eine anständige Rente im Alter zu
beziehen.
({4})
Wir haben angepackt. Wir haben angefangen bei der
Reform der Pflegeberufe. Dass man Schulgeld mitbringen muss, wenn man sich ausbilden lassen will, dass man
keine Ausbildungsvergütung bekommt wie im Beruf der
Erzieherin, in dem vier von fünf Jahren Ausbildung keine
Vergütung gezahlt wird, gäbe es wahrscheinlich in Berufen, die überwiegend von Männern ausgeübt werden, von
vornherein nicht.
({5})
Viel wäre noch zu sagen zur Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, zu guter Bildung und insbesondere - das
hat Edelgard Bulmahn angemerkt - zur frühkindlichen
Bildung.
Aber, Herr Kauder, ich würde gern noch ein Wort zu
Ihnen verlieren. Sie haben sich in der letzten Woche in
die Reihe der Quotenbefürworter eingereiht. Sie haben
doch eben gesagt, dass man auf den letzten Metern vor
der Wahl seine Meinung nicht um 180 Grad ändern dürfe.
Ich erinnere Sie nur daran, was Sie über meine Vorgängerin gesagt haben, als sie sich für die Quote eingesetzt
hat: Die Frau Familienministerin solle nicht so weinerlich sein, sondern solle den Koalitionsvertrag umsetzen;
dann sei alles in Ordnung. Nun sind wir am Ende der
Legislaturperiode. Schauen wir zurück. Die SPD hat den
Koalitionsvertrag umgesetzt, vor allen Dingen wenn es
um Frauen und die Quote ging, und zwar gegen Ihren
Widerstand. Und CDU/CSU? Sie haben den Koalitionsvertrag gebrochen, vor allen Dingen dort, wo es um die
Frauen ging.
({6})
Sie haben, als es um Entgelttransparenz ging, den Auskunftsanspruch, der Frauen erst in die Lage versetzt, zu
erfahren, wie viel die Männer verdienen, so verwässert,
dass er nur für Frauen gilt, die in großen Unternehmen
arbeiten.
({7})
Als es um das Recht auf Rückkehr in Vollzeit nach einer
Phase der Teilzeit ging, hat Andrea Nahles eins zu eins
die Vereinbarung im Koalitionsvertrag in einen Gesetzentwurf gegossen. Aber Sie haben ihn abgelehnt.
({8})
Schließlich sah der Koalitionsvertrag eine Solidarrente für diejenigen vor, die lange gearbeitet haben und
trotzdem eine kleine Rente beziehen. Das wäre vor allem Frauen zugutegekommen. Von Anfang an haben Sie
nicht den geringsten Mut erkennen lassen, dieses Vorhaben tatsächlich umzusetzen. Sie haben dieses Vorhaben
am langen Arm verhungern lassen.
({9})
Wir können festhalten: Wo immer es um die Rechte der Frauen geht, steht die SPD klar auf der Seite der
Frauen.
({10})
Die CDU und die CSU fallen, wenn es hart auf hart
kommt, den Frauen in den Rücken. Daher hilft es auch
nichts, auf den letzten Metern sein Herz für Frauen zu
entdecken. Es hilft noch nicht einmal, wenn man selber
eine Frau ist, Frau Merkel; denn Frauen sind weder weinerlich noch blöd.
({11})
Frauen kennen ihre Rechte, und Frauen wollen ihr Recht.
Frauen wollen die Hälfte der Welt, und das ist ganz richtig so. Frauen verdienen mehr, und Deutschland verdient
mehr. Wenn alle Frauen ihr Recht am 24. September geltend machen, dann ist mir nicht bang.
Vielen Dank.
({12})
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Gerda Hasselfeldt.
({0})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei
so mancher Rede heute, gerade auch bei der letzten, habe
ich mich immer wieder gewundert, wie man eigene Ergebnisse, eigene Arbeitserfolge einfach so schlechtreden
kann und sich von dem, was man gemeinsam in dieser
Koalition zum Wohl der Menschen beschlossen hat, distanziert und dann verpuffen lässt. Wir haben erfolgreich
regiert.
({0})
Ich habe mich bei so mancher Rede, die ich heute
vonseiten der Opposition, aber auch vonseiten mancher
Kolleginnen und Kollegen aus der SPD-Fraktion gehört
habe, auch gewundert, wie das Land dargestellt wird. Da
frage ich mich manchmal: In welchem Land leben Sie
eigentlich? Von welchem Land reden Sie?
({1})
Tatsache ist, dass es den Menschen im Land gut geht,
dass es ihnen besser geht als vorher, und das spüren sie
auch.
({2})
Wer das nicht wahrhaben will, der braucht bloß einmal
die Situation nach der Abwahl der rot-grünen Regierung
im Jahr 2005 - Angela Merkel übernahm die Regierungsverantwortung - und die jetzige Situation zu vergleichen:
Damals 5 Millionen Arbeitslose, heute weniger als die
Hälfte; damals, zwischen 2002 und 2005, 1,5 Millionen
weniger sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, seit
2005 plus 5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;
({3})
damals viermal in Folge die Maastricht-Kriterien verfehlt, während der gesamten abgelaufenen Legislaturperiode keine neue Verschuldung. Das ist die Bilanz dieser
Regierung im Vergleich zur Bilanz der letzten SPD-geführten Regierung.
({4})
Dass die Menschen Rot-Grün und Rot-Rot-Grün nicht
vertrauen, weil sie dies noch im Hinterkopf haben, weil
sie Erfahrungen mit den Jahren bis 2005 gemacht haben,
das ist meines Erachtens verständlich. Aber machen Sie
bitte nicht den Fehler, dass Sie das Land schlechtreden
und dass Sie damit den Fleiß der Menschen schlechtreden; denn dieser Erfolg, der Erfolg der letzten Jahre,
hängt auch mit dem Fleiß der Menschen im Land zusammen, und er hängt mit einer guten Regierung in Berlin
zusammen.
({5})
Aber wir werden uns darauf nicht ausruhen. Jeder
Arbeitslose ist einer zu viel, und es ist unbestritten: Die
beste Sozialpolitik ist, den Menschen Arbeit und Beschäftigung zu geben. Deshalb ist auch unser Ziel Vollbeschäftigung. Dafür brauchen wir das Rad aber nicht
neu zu erfinden; denn die Erfolge dieser Legislaturperiode zeigen, dass wir mit unseren Zielen und Maßnahmen
richtig gelegen haben, nämlich solider Haushalt, keine
Steuererhöhungen, stabile Sozialversicherungsbeiträge,
Investitionen zielgerichtet in die Infrastruktur, in Digitalisierung und auch in Bildung und Forschung. Das waren die Maßnahmen, die zum Erfolg geführt haben. Wir
brauchen nichts Neues zu beginnen, sondern wir müssen
an diesem Kurs festhalten. Das ist die erste große Herausforderung.
Dazu kommt eine zweite große Herausforderung, die
zu bewältigen wir in dieser Legislaturperiode durchaus
begonnen haben. Ich denke an die Umbrüche in der Arbeitswelt: an die Digitalisierung und die Modernisierung
der Infrastruktur im Verkehrsbereich. Gerade in diesen
beiden Sektoren sind in dieser Legislaturperiode Weichen gestellt worden. Gerade in diese beiden Sektoren
werden wir auch künftig investieren.
Der Finanzminister hat es vorhin angesprochen:
35 Prozent mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur, eine Zunahme der Investitionen in die Breitbandstruktur. Wenn dann gerade vonseiten der Grünen - wie
vorhin von Herrn Özdemir - auch noch beklagt wird,
dass durch das Verkehrsministerium die Weichen nicht
richtig gestellt worden wären, dann fordere ich Sie auf,
doch einmal in die Regionen zu schauen: Wer blockiert
denn vor Ort die Verkehrsprojekte?
({6})
Das sind nicht wir; das sind in weiten Bereichen die Grünen.
Wir haben aber auch noch andere Situationen. Wenn
es darum geht, die Beschäftigungssituation zu verbessern, nennen wir das Stichwort „Automobilindustrie“.
Ja, das, was da an Manipulationen vorgefallen ist, hat
viel Vertrauen zerstört: Vertrauen in eine wichtige, wenn
nicht sogar die wichtigste Branche unserer Wirtschaft.
Worum geht es jetzt? Jetzt geht es darum, die Grenzwerte einzuhalten und gleichzeitig die Arbeitsplätze von
Hunderttausenden von Menschen in der Automobilbranche nicht zu gefährden, und es geht darum, 16 Millionen
Diesel-Kfz-Besitzer nicht zu beschädigen. Diese Aufgabe steht vor uns: Umwelt, Arbeitsplätze und Menschen
vor Ort, die Dieselautos fahren.
({7})
Die Maßnahmen, die dazu jetzt auf den Weg gebracht
werden, sind meines Erachtens die richtigen: Maßnahmen, die gestern auf den Weg gebracht worden sind, und
auch Maßnahmen, die auf dem vergangenen Gipfel angesprochen wurden und im November realisiert werden
sollen.
Dazu kommt noch ein Weiteres. Es ist heute vielfach
die Rede gewesen von Armut, von Alterssicherung, von
der Frage: Wie kommen wir mit den Langzeitarbeitslosen
zurecht? Ja, jeder Arbeitslose ist einer zu viel. Nur, mit
den Mitteln, mit denen die Sozialdemokraten die Probleme zu lösen meinen, werden wir sie nicht lösen, nämlich mit einem Weiterbildungskonto von 20 000 Euro für
jeden oder auch mit der Verlängerung des Arbeitslosengeldbezugs. Meine Damen und Herren, das bringt keinen
zusätzlichen, aber auch wirklich keinen einzigen zusätzlichen Arbeitsplatz; es kostet aber,
({8})
und zwar ganz gewaltig: Mehrere Hunderte von Milliarden sind da im Gespräch.
({9})
Das alles ist das übliche Muster der Sozialdemokraten,
nämlich: Verschuldung, Verschuldung, Verschuldung. Es
macht ja nichts aus. Das Geld kommt von irgendwoher. Irgendwo hatte Frau Thatcher, die frühere Premierministerin, schon recht, als sie einmal sagte: Das Problem der
Sozialisten ist, dass ihnen irgendwann einmal das Geld
anderer Leute ausgeht. - Genau das trifft den Kern.
({10})
Es wurde vorhin auch mehrfach von der Rentensituation gesprochen. Wir haben Rentenreformen, die unter dem
Kanzler Schröder und dem Arbeitsminister Müntefering
beschlossen wurden, zugestimmt. Die Eckwerte, die damals die Grundlage waren - vom Rentenniveau bis hin
zum Rentenbeitragssatz -, sind heute günstiger, sogar
günstiger, als sie damals für heute prognostiziert wurden.
Das ist die Wahrheit.
({11})
Deshalb sollte man gerade dieses Thema, das in der
Vergangenheit immer in großem Konsens des Parlaments, meines Erachtens zu Recht, entschieden wurde,
nicht zu Wahlkampfzwecken missbrauchen und die Leute nicht verunsichern. Wir haben momentan hier keinen
Handlungsbedarf, nicht zuletzt aufgrund der guten wirtschaftlichen Entwicklung. Das, was wir in künftigen Jahren zu entscheiden haben, soll in einer Kommission mit
Fachleuten und Politikern erarbeitet werden - in der Zeit,
die man sich dafür nimmt, nicht im Hauruckverfahren.
Das sind wir der jüngeren Generation, den Beitragszahlern, und der älteren Generation schuldig. Beides gehört
gerade bei der Rentenversicherung beachtet.
({12})
Lassen Sie mich aber auch einige Worte zu einem
Thema verlieren, das heute in der Debatte, wenn ich das
richtig verfolgt habe, kaum eine Rolle gespielt hat. Das
ist das Thema: Wie gehen wir mit der Steuerbelastung in
unserem Land um? Ich habe vorhin davon gesprochen:
Wir wollen auch künftig den Kurs fortsetzen: keine neuen Schulden, keine Steuererhöhung.
Durch die Solidität der Wirtschafts- und Finanzpolitik der letzten Jahre und auch, weil die Wirtschaft so
gut läuft, haben wir jetzt den Spielraum, dass wir den
Steuerpflichtigen etwas zurückgeben können. Deshalb ist
es 27 Jahre nach der Wiedervereinigung an der Zeit, den
Solidaritätszuschlag abzuschaffen, und es ist an der Zeit,
eine Einkommensteuerreform mit einer Entlastung der
Einkommensteuerzahler zu machen, und zwar mit einer
Entlastung für alle.
({13})
Das unterscheidet uns ganz wesentlich von den Vorschlägen der Sozialdemokraten und vieler anderer. Wir wollen
eine Entlastung für alle: vom Facharbeiter
({14})
bis zum Mittelständler. Wir wollen nicht eine Belastung
der Leistungsträger unserer Gesellschaft, wie sie in den
Vorschlägen der SPD vorgesehen ist. Man hat da ja den
Eindruck, dass die Leistungsträger unserer Gesellschaft
bei der SPD die Melkkuh der Nation sind.
({15})
Zur steuerlichen Entlastung gehört aber auch die Entlastung der Familien. Ich halte nichts davon, dass man
immer über einzelne Aspekte diskutiert. Das, was wir
unseren Kindern und Enkelkindern in der Tat mitgeben
können, sind vielmehr die beste Bildung, die beste Erziehung und intakte Familien, die auch materiell in der Lage
sind, für sie zu sorgen.
({16})
Deshalb ist es erstens notwendig, dass wir im Bildungsbereich nicht nur Forderungen an wen auch immer
stellen, mehr Geld zur Verfügung zu stellen, wie es manche in Form von Forderungen an den Bund tun, sondern
dass auch jeder seine Verantwortung an der Stelle wahrnimmt, an der er sie trägt. Warum sind in Bayern beispielsweise die Schulen intakt? Warum gibt es in Bayern
keine maroden Schulen,
({17})
dagegen aber in Nordrhein-Westfalen?
({18})
Warum gibt es Unterrichtsstundenausfälle insbesondere
in Nordrhein-Westfalen und anderen SPD-regierten Ländern? Verantwortung wahrnehmen - der Finanzminister
hat es vorhin deutlich gemacht - gehört zur Kompetenz
dazu.
({19})
Darauf müssen wir immer wieder achten. Das gilt im privaten Bereich genauso wie im öffentlichen Bereich.
({20})
Der zweite Punkt: Wir wollen die Familien stärken.
Deshalb wollen wir in der nächsten Legislaturperiode
das Kindergeld erhöhen, und zwar kräftig - um 25 Euro
im Monat -, und wir wollen auch den Kinderfreibetrag
an den Freibetrag der Erwachsenen anpassen; denn Kinder sollten beim Freibetrag steuerlich genauso behandelt
werden wie die Erwachsenen. Das ist unser Ziel. Wir
werden das im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten
realisieren.
({21})
Meine Damen und Herren, in den letzten Jahren und
besonders in den letzten Monaten haben wir deutlich gemerkt: Terrorismus, Gewalt, Kriminalität, all das macht
an den nationalen Grenzen nicht halt. - Wir alle miteinander haben bei all den Anschlägen immer wieder erfahren - das erleben wir ja nun fast tagtäglich -, dass
unsere Sicherheitskräfte, dass unsere Polizeibeamten
genauso wie die Soldaten im Ausland und im Inland,
aber auch die haupt- und ehrenamtlich Tätigen in den Sicherheitsorganisationen eine ungemein wichtige, aufopferungsvolle Arbeit leisten. Sie verdienen unseren Dank
und unsere Anerkennung.
({22})
Aber davon alleine haben sie noch nichts.
Wir müssen auch für die entsprechende personelle
Ausstattung, für ihre sachliche Ausstattung, für ihre Befugnisse arbeiten. Wir müssen darum kämpfen, dass all
dieses auch zur Verfügung gestellt wird. Da geht es um
Videoüberwachung, da geht es um Abschiebehaft, da
geht es um die elektronische Fußfessel, da geht es um
Schleierfahndung. Ich habe mich schon oft gefragt, warum in Bayern diese Instrumente angewandt werden und
in anderen Bundesländern nicht. Die Sicherheit der Menschen ist in allen Bundesländern gleich viel wert, und die
Verantwortlichen vor Ort müssen diese Instrumente auch
anwenden können.
({23})
Deshalb habe ich auch kein Verständnis dafür, wenn in
Berlin in Bezug auf die Videoüberwachung rumgeeiert
wird.
Bei alledem, genauso bei der Einbruchskriminalität,
haben wir in der Union nie einen Hehl daraus gemacht,
dass uns die Sicherheit der Menschen von ganz eminenter und großer Bedeutung ist. Das ist Markenkern unserer Politik. Deshalb haben wir in vielen Verhandlungen das gehört zur Wahrheit - innerhalb der Koalition hart
dafür gekämpft. Beispielsweise musste es in Bezug auf
die Abschiebehaft von Gefährdern leider den Anschlag
am Breitscheidplatz geben, damit die Sozialdemokraten
bereit waren, diese Politik mitzugehen. Das ist die Wahrheit.
({24})
- Regen Sie sich doch nicht so auf, es ist ja nur die Wahrheit, was ich gesagt habe.
({25})
Meine Damen und Herren, die erfolgreichen Jahre dieser Legislaturperiode und der Jahre davor sind ein Stück
weit verbunden mit unserer Arbeit hier im Parlament.
Wir möchten, dass die Menschen nach der nächsten Legislaturperiode sagen können: „Ja, es geht uns gut.“ Wir
möchten, dass sie sagen können: „Es geht uns besser als
vorher“, dass sie auch nach vier Jahren sagen können:
„Wir sind, so wie jetzt auch, ein Hort der Stabilität und
des Wohlstands. Darauf sind wir stolz.“
({26})
Zu diesem Erfolg haben viele Debatten hier im Haus
beigetragen - Debatten, die heute mit großer Leidenschaft geführt werden. Trotz dieser Leidenschaft habe
ich überwiegend den Eindruck, dass diese Debatten im
gegenseitigen Respekt geführt wurden und werden. Ich
möchte sehr herzlich dafür danken, dass diese Debatten
in einem Haus stattfinden konnten, das großes Ansehen
in der Bevölkerung genießt und dessen Ansehen vonseiten der Bevölkerung in den letzten Jahren noch gestiegen
ist.
({27})
Das haben wir wesentlich dem Bundestagspräsidenten
Norbert Lammert zu verdanken. Deshalb möchte auch
ich ihm sehr herzlich für seine Führung des Hauses danken und ihm alles erdenklich Gute wünschen.
({28})
Ich danke Ihnen für die kollegiale Zusammenarbeit,
für die vielen interessanten Diskussionen und Begegnungen ebenso wie für die streitigen Diskussionen. Ich empfinde die 30 Jahre, die ich in diesem Parlament mitarbeiten durfte, als großes Geschenk. Ich bin dankbar für die
Möglichkeit, meinem Land und den Menschen im Land
so lange dienen zu dürfen. Ich wünsche allen, die künftig in diesem Hause arbeiten, eine glückliche Hand und
Gottes Segen, und denen, die mit mir ausscheiden, viele
glückliche und gesunde Jahre.
({29})
Liebe Gerda Hasselfeldt, das war Ihre letzte Rede
nach 30 Jahren Zugehörigkeit zu diesem Hohen Haus. In
diesen 30 Jahren haben Sie höchste Staatsämter und Parlamentsämter innegehabt: Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bundesministerin für
Gesundheit, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages,
Stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und, natürlich, Vorsitzende der CSU-Landesgruppe. In diesen 30 Jahren hat sich Deutschland in enormer Weise verändert. Als Sie vor 30 Jahren Ihre Tätigkeit
begonnen haben, feierte die Stadt Berlin ihr 750-jähriges
Bestehen, damals geteilt durch eine Mauer. Jetzt sind wir
Glückskinder der deutschen Einheit, und Deutschland ist
auf der Sonnenseite der Geschichte angekommen. Für
diese große Lebensleistung unseren herzlichen Dank!
({0})
Nächster Redner für die Bundesregierung ist Bundesminister Sigmar Gabriel.
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist die
letzte Sitzung dieser Legislaturperiode, in der ich Stellvertreter von Frau Merkel in der Großen Koalition gewesen bin. Deswegen will ich am Anfang etwas machen,
was in einer solchen, durch den Wahlkampf aufgeheizten
Atmosphäre vielleicht unüblich ist: Ich will mich bedanken, vor allen Dingen bei den Koalitionsfraktionen, die
die Regierung getragen, geschoben, manchmal auch erlitten haben, speziell bei Thomas Oppermann und Volker
Kauder. Ich fand die Zusammenarbeit in den schwierigsten Phasen immer besonders gut; das will ich einmal ausdrücklich sagen.
({0})
Ich will mich auch bei der Opposition bedanken, weil
mir die Debatten Spaß gemacht haben
({1})
- uns beiden zum Beispiel in unterschiedlichsten Funktionen. - Ich möchte mich aber auch bei den Kolleginnen
und Kollegen im Kabinett und ausdrücklich auch bei Ihnen, Frau Dr. Merkel, bedanken; denn ich fand, dass die
Zusammenarbeit mit Ihnen in diesen vier Jahren immer
fair, immer belastbar und gerade in den schwierigen Situationen ausgesprochen vertrauensbildend gewesen ist.
Herzlichen Dank! Ich will das am Anfang dieser Debatte
gerne sagen.
In der Tat: Wir haben eine Menge erreicht; das
stimmt. Thomas Oppermann hat das vorgetragen. Je nach
Schwerpunkt haben andere das auch gesagt. Eine Sache,
Frau Merkel, kann ich dann aber doch nicht so stehen
lassen, wenn Sie sagen, gegen Ihren Willen sei das alles
nie denkbar gewesen. Ich kann mich daran erinnern, dass
die SPD gelegentlich - gar nicht so selten - helfen musste, dass Sie gegen Seehofer und Schäuble einen Willen
haben durften.
({2})
Von daher: Ich finde, wir haben gut auf Sie aufgepasst.
Das kann man nicht anders sagen.
({3})
Insofern glaube ich wirklich, dass es Grund gibt, zu sagen, dass wir gut regiert haben. Ich will das aber in erster
Linie gar nicht auf die, wie ich finde, zu Recht erwähnten
großen Erfolge, vom Mindestlohn über die Rente nach
45 Versicherungsjahren bis zur Verdreifachung der Wohnungsbaumittel und vieles andere mehr, beziehen. Ich
will einen anderen Grund nennen, warum wir, glaube ich,
erfolgreich waren. Wir haben etwas gemacht, was beim
Abschluss des Koalitionsvertrages keiner wusste. Da haben wir über all das verhandelt, was heute hier Thema
war. Aber was kam dann? Es begann mit der großen Krise in der Ukraine und dem russischen Einmarsch auf der
Krim. Bis heute beschäftigt uns das Thema Ostukraine.
Hatten Sie, Frau Merkel, und der französische Staatspräsident Hollande stellvertretend für Europa gerade
irgendwie halbwegs Containment organisiert - ich fand
übrigens, dass es ein Akt der Emanzipation war, dass Sie
stellvertretend mit Hollande für Europa gehandelt haben und den Ukraine-Konflikt nicht Russland und den
USA überlassen haben -, kam die Griechenland- bzw.
Euro-Krise. Die ist dann ganz schnell überholt worden
durch über 1 Million flüchtende Menschen, die zu uns
gekommen sind. Wenn Sie mir vor einem Jahr oder vor
zwei Jahren gesagt hätten, dass das Land bei über 1 Million zu uns kommender Menschen so stabil bleiben würde, wie es stabil geblieben ist, dann hätte ich das kaum
für denkbar gehalten. Diese Stabilität ist auch eine große
Leistung unseres Landes.
({4})
Die Terroranschläge, der Rechtspopulismus, die totale Verunsicherung durch das, was in den USA passiert
ist, all das haben wir ja eigentlich nicht im Auge gehabt,
als wir eine Koalitionsvereinbarung geschlossen haben.
Da haben wir über Innenpolitik geredet. Dass wir es geschafft haben, in dieser rauen See mit großen Verunsicherungen Deutschland und damit in großen Teilen Europa
auf Kurs zu halten: dieses Ergebnis ist für mich jedenfalls
der eigentliche Erfolg der Großen Koalition mit Blick auf
das, was um uns herum und in der Welt passiert ist.
Ich nehme für uns in Anspruch, dass wir mit FrankWalter Steinmeier, mit den Ministerinnen und Ministern
der SPD und mit den Kolleginnen und Kollegen der
CDU - das Parlament insgesamt - darauf wirklich stolz
sein können. Ich kenne nicht viele Länder, in denen diese
Verunsicherung so viel Stabilität übrig gelassen hat, wie
es in Deutschland bis heute der Fall ist. Das wollte ich am
Anfang der Debatte einmal sagen.
({5})
Es geht auch um die Fragen: Wie wird es in Zukunft
sein? Schaffen wir es, diese Balance weiter zu halten?
Sind wir richtig aufgestellt? Hier kann man all denen
zustimmen - Thomas Oppermann, Volker Kauder und
anderen -, die gesagt haben: Im Kern muss es darum gehen, dass wir den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes
behalten, weil wir nur dann die Balance und Stabilität
behalten und wir deshalb übrigens auch nur ernst genommen werden. Ehrlich gesagt ist es leider nicht so, dass in
Washington, Moskau oder Peking die Europäische Union
besonders als Schwergewicht wahrgenommen wird, sondern im Kern konzentriert man sich oft auf Deutschland,
ein bisschen mehr wieder auf Deutschland und Frankreich. Das muss sich ändern. Den Chinesen müssen wir
sagen: Wir verstehen die Ein-China-Politik, aber es wäre
ganz gut, es gäbe auch eine Ein-Europa-Politik und nicht
den Versuch, uns aufzuspalten.
({6})
Vizepräsident Johannes Singhammer
Aber die wirtschaftliche Stabilität dieses Landes ist die
zentrale Voraussetzung dafür, dass wir im Land, aber
auch von außen betrachtet, unsere Bedeutung behalten.
({7})
Dafür allerdings muss man auch Entscheidungen treffen,
die das rechtfertigen. Hier ist der Unterschied zur Union.
Wir glauben jedenfalls nicht, dass es die Zeit ist, in der
man große Steuersenkungsversprechen machen kann und
übrigens auch keine unglaublich hohen Rüstungsausgaben versprechen kann.
({8})
Kollegin Hasselfeldt - ich habe sie nie als Anhängerin von Maggie Thatcher kennengelernt; ich habe sie viel
friedlicher und sozialer kennengelernt; so bleibt es auch
in meiner Erinnerung - hat vorhin gesagt - das stimmt
natürlich nicht mit den Grundrechenarten überein -: keine Steuern erhöhen, Steuern senken, mehr Geld für Rüstung, mehr Geld für Bildung, mehr Geld für Infrastruktur. Hier muss jemand bei den Grundrechenarten nicht
aufgepasst haben.
({9})
Das funktioniert nicht. Deswegen sagen wir: Zuerst geht
es darum, in Bildung, in Forschung, in Entwicklung, in
Infrastruktur, in digitale Technik, in die Zukunftsfähigkeit dieses Landes zu investieren. Es geht nicht, wenn Sie
versprechen, in einem Haushalt von 300 Milliarden Euro
einen Block von 70 Milliarden Euro und mehr allein für
Rüstung ausgeben zu wollen,
({10})
es sei denn, Sie folgen dem Kollegen Spahn - er ist quasi
derjenige, der das sagt, was Herr Schäuble denkt -, der
sagt, man soll es im Sozialetat einsparen. Da hat Frau
Merkel, weil sie eine kluge Wahlkämpferin ist, sofort
gesagt: Das mache ich nie. - Sie haben allerdings auch
einmal gesagt: Sie schaffen die Wehrpflicht nicht ab, verlängern die Laufzeit der Atomkraftwerke und führen die
Maut nicht ein. Insofern sage ich Ihnen: Ich nehme es
sehr ernst, wenn jemand in der Union als neuer Rising
Star erklärt, die Rüstungsausgaben wolle man dadurch
finanzieren, dass man die Sozialausgaben senkt. Das jedenfalls ist ein Thema, das - das werden Sie gestatten wir im Wahlkampf nicht verschweigen werden. Das kann
so nicht sein.
({11})
Es geht also darum, in die Zukunft des Landes zu investieren. Dann geht es natürlich um die Frage: Wie gehen wir damit in Europa um? Hier muss ich Ihnen sagen:
Es ist natürlich Zeit, dass wir so etwas wie eine kopernikanische Wende in unserer eigenen Europapolitik hinbekommen. Der Kollege Schäuble ist Ende letzten Jahres
bei mir gewesen und war der Überzeugung, man müsse
Griechenland immer noch aus dem Euro herausbekommen. Gott sei Dank haben Sie und andere ihn daran gehindert, diese Politik weiter zu betreiben.
({12})
Aber das ist natürlich Irrsinn. In welcher Lage wären
wir heute? Heute würden die Finanzmärkte gegen Spanien, Italien, Portugal wetten, wir wären beim Auseinanderfliegen des Euros und ganz Europas. Deswegen sage
ich Ihnen: Wir werden unsere ganze Erzählung über Europa ändern müssen, diese dumme Erzählung, wir seien
der Lastesel der Europäischen Union, wir wollten nur
Schulden vergemeinschaften. Wir sind die finanziellen
und wirtschaftlichen Gewinner der Europäischen Union.
Das ist die Wahrheit.
({13})
- Natürlich steht Leistung dahinter. Aber wenn man erst
einmal in Europa Exportweltmeister ist, dann scheint es
so zu sein, dass man mehr Waren in andere Länder bringt
und von denen mehr Geld bekommt als umgekehrt. Das
scheint doch irgendwie logisch zu sein. Dann ist die Forderung, mehr in Europa zu investieren - in den Kampf
gegen Jugendarbeitslosigkeit,
({14})
in die Digitalisierung in Europa, in Forschung und Entwicklung. Kein Strohfeuer für die Konjunktur, das soll
die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents erhöhen. Dann
ist das doch eine Investition in die Zukunft unserer eigenen Kinder und Enkelkinder und keine Geldverschwendung in Europa.
({15})
Die Erzählung, man müsse die Nettozahlungen verringern, hat in dieser Legislaturperiode - weil Sie das mit
der FDP mal gemacht haben - dazu geführt, dass wir weniger Geld in den Fördertöpfen für Ostdeutschland hatten
und sie deshalb mit zusätzlichen deutschen Steuermitteln
auffüllen mussten. Also, ehrlich gesagt, das ist auch ein
Umgang mit Geld - so ähnlich wie bei der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen, die Sie gerade so gerne
loben. Was macht Schwarz-Gelb? Sie kriegen keinen
ausgeglichenen Haushalt hin.
({16})
Eines kann ich Ihnen versprechen: Wenn der schwarze
Finanzminister schlechter agiert als der rote, dann lässt
der westfälische Bauer den Hund von der Kette - da können Sie sicher sein. Das findet der komisch.
({17})
Sie haben über das Thema innere Sicherheit gesprochen. Ich kann mich ganz gut daran erinnern, wer im
Bundeskabinett beantragt hat, Mittel für ein paar Tausend
zusätzliche Stellen bei der Bundespolizei zur Verfügung
zu stellen.
({18})
Ich kann mich gut daran erinnern, weil ich es selber
gewesen bin. Denn kurz vorher hatte die Gewerkschaft
der Polizei uns allen geschrieben, dass in den letzten
zwölf - damals elf - Jahren immerhin 14 000 Stellen bei
der Bundespolizei nicht besetzt wurden. Dann zu plakatieren, man wolle mehr für die innere Sicherheit tun, ist
wenigstens mal mutig. Aber mit der Wahrheit darüber,
was in der Koalition passiert ist, hat das wenig zu tun.
({19})
Jetzt zu der Frage, was darüber hinaus passiert. Ich
glaube, es lohnt sich in der Tat, im Bundestag eine Debatte darüber zu führen - nicht kurz vor Ende der Legislaturperiode, aber, wer auch immer dann die Regierung bildet, in der Zeit danach -: Was steckt eigentlich
hinter unserer Kontroverse über die Rüstungspolitik? In
der Analyse kommen wir vermutlich gemeinsam zu dem
Ergebnis, dass wir, wenn sich das Beispiel Nordkorea
durchsetzt, in einer ganz gefährlichen Welt leben, weil
andere diesem Beispiel folgen würden. Wir erleben doch
in der Welt gerade eine Phase, in der ausschließlich über
Aufrüstung geredet wird: In China, in Indien, Lateinamerika, den USA, Russland, Europa, Afrika, überall reden
wir nur über Aufrüstung; nirgendwo in der Welt wird
über etwas anderes diskutiert. Wenn man sich in einer
NATO-Sitzung meldet und sagt: „Ich finde, wir müssten
auch mal über Abrüstung und Rüstungskontrolle reden“,
dann merkt man richtig, dass man die Veranstaltung stört
und es nur irgendwo unter „ferner liefen“ auftaucht.
Im Kern wird das eine ziemlich gefährliche Welt, vor
allen Dingen dann, wenn es so weitergeht, dass erst Russland, dann die NATO und die USA die Friedensdividende, die wir übrigens schon vor der deutschen Einheit dank
Gorbatschow und Reagan erhalten haben, in Trümmer
legen. In einem kleinen, weißen Haus in Reykjavík auf
Island haben sie damals den Doppelbeschluss verhandelt,
der meine Partei fast zerrissen hat, am Ende aber richtig
gewesen ist. Man hat gesagt: Wir wollen verteidigungsfähig sein, aber wir machen ein Rüstungskontroll- und
Abrüstungsangebot. - Seitdem ist es verboten, in Europa
landgestützte atomare Mittelstreckenraketen zu stationieren. Wir erleben gerade, dass Russland dabei ist, diesen
Vertrag zu unterlaufen, und dass die USA und die NATO
diskutieren, darauf genauso zu reagieren. Wir erleben,
dass die USA das Iran-Abkommen mit dem Nukleardeal
eigentlich nicht mehr wollen, und wir sind nicht sicher, ob
der Vertrag über die Abrüstung atomarer Langstreckenraketen noch Bestand haben wird. Das heißt, wir sind in
einer Phase, in der wir nicht nur über konventionelle Aufrüstung reden, sondern über eine Rückkehr in die dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges. Deswegen sage ich:
Das politische Symbol, die politische Handlung, die von
Deutschland ausgehen muss, kann doch nicht sein, dass
wir bei diesem Rüstungswettlauf mitmachen. Das Signal
Deutschlands - und zwar egal, wer dieses Land regiert
hat - war doch immer, dass Deutschland die Stimme des
Friedens und Friedensmacht in der Welt sein will und bei
der Aufrüstung nicht mitmacht.
({20})
In diesem Zusammenhang findet die Debatte über die
Frage statt: Sollen wir wirklich 2 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung, für Rüstung ausgeben?
Die NATO hat - Sie haben das richtig zitiert - nie beschlossen, dass es 2 Prozent sein sollen. Übrigens hat die
NATO beschlossen, dass Haushaltsfragen und anderes
eine Rolle spielen. Es geht doch darum: Erstens ist der
Beschluss - wenn auch Sozialdemokraten diesen Kompromiss damals mitgetragen haben - an sich schon irre.
Warum? Weil es doch nicht zuerst um die Frage gehen
muss, wie viel wir ausgeben, sondern um die Frage, wofür wir es ausgeben.
({21})
Diese Frage wird gar nicht beantwortet. Die Verteidigungsausgaben in Europa betragen ungefähr 45 Prozent
der Verteidigungsausgaben der USA, aber wir erzielen
nur eine Effizienz von 15 Prozent. Da würde ich doch
erst einmal beschließen, die Effizienz zu verdoppeln,
statt den Haushalt für Verteidigung zu verdoppeln. Das
ist doch verrückt.
({22})
Das Zweite. Steckt eigentlich die richtige Strategie dahinter? Die richtige Strategie erklärt Ihnen jeder Soldat,
der aus dem Auslandseinsatz zurückkommt. Ich frage die
Soldaten immer danach - Frau von der Leyen garantiert
auch -, und die Antwort ist immer die gleiche: Ja, man
braucht auch Militär. Aber, lieber Herr Gabriel, glauben
Sie bloß nicht, durch noch mehr Verteidigungs- und Militärausgaben für Frieden und Stabilität sorgen und gegen
die Fluchtbewegungen vorgehen zu können. Sie müssen
den Hunger, die Armut, die Hoffnungslosigkeit und die
Zukunftslosigkeit bekämpfen. Das müssen Sie machen.
({23})
Die Redner heute Morgen - zuerst war es, glaube ich,
Herr Mützenich - haben zu Recht auf den Haushaltsentwurf hingewiesen, den der Finanzminister vorgelegt hat.
Der Verteidigungshaushalt soll um 14 Prozent steigen,
und zwar nur in den nächsten vier, fünf Jahren, und die
Mittel für die Entwicklungshilfe sollen um 1,4 Prozent
steigen. Wenn die Inflationsrate etwas steigt, dann nehmen die Ausgaben sogar ab. Da hilft es nicht, wenn Sie
ein Zitat von Martin Schulz aus dem Kontext reißen. Es
wäre fair, wenn Sie das ganze Interview vortragen würden,
({24})
dann würden Sie nämlich merken, dass für uns völlig
klar ist: Natürlich müssen wir die Ausrüstung der Bundeswehr verbessern, übrigens unter anderem, weil an der
Bundeswehr seit zwölf Jahren herumgespart wird. Der
größte Held dabei war der, der 5 Milliarden Euro pro Jahr
bei der Bundeswehr einsparen wollte; das ist der, dessen
Rückkehr die bayrische CSU gerade organisiert, nämlich
Herr zu Guttenberg.
({25})
Ich bin ja für Resozialisierung - deswegen habe ich
nichts dagegen -,
({26})
aber er ist mit der Bundeswehr ungefähr so sorgsam umgegangen wie mit seiner Doktorarbeit.
({27})
Das ist dabei herausgekommen.
Aufgrund dieses Zusammenhangs glaube ich, dass
Deutschland eine andere Politik betreiben muss, dass wir
die Stimme der Rüstungskontrolle und der Abrüstung
sein müssen. Natürlich müssen wir gleichzeitig verteidigungsfähig sein - das ist gar keine Frage -, aber wir
müssen das Thema Rüstungskontrolle und Abrüstung
wieder auf die Tagesordnung bringen, und das tun wir
derzeit nicht ausreichend stark. Ich jedenfalls habe von
der CDU/CSU dazu noch keinen einzigen Wortbeitrag
gehört, sondern ausschließlich eine Verteidigung der
Aufrüstung in Deutschland. Das finde ich falsch.
({28})
Es ist sowieso komisch, dass wir in der Lage sind,
uns bei Militärausgaben quantitative Ziele zu setzen,
aber zum Beispiel bei Bildungsausgaben nicht. Nach
OECD-Angaben geben wir 4 Prozent für Bildung aus;
selbst Frankreich gibt 5,5 Prozent aus. Warum verdoppeln wir nicht die Bildungsausgaben statt die Rüstungsausgaben in Deutschland?
({29})
Bei allem, was wir geschafft haben, werden drei Dinge unsere Zukunft bestimmen: erstens die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes; Investitionen
sind wichtig; zweitens, dass wir Europa zusammenhalten
und nicht weiter spalten, wie das in den letzten Jahren
mit erhobenem Zeigefinger quer durch Europa der Fall
gewesen ist; drittens, dass dieses Land die Stimme für
Rüstungskontrolle und für Abrüstung erhebt, ganz egal,
ob das gerade modern ist; übrigens auch dafür, eine neue
Entspannungspolitik zu beginnen.
Natürlich ist eine Voraussetzung dafür, dass Russland
wenigstens einen Waffenstillstand in der Ukraine organisiert. Ich lese gerade auf Hinweis der Kanzlerin, dass
Herr Putin öffentlich angeboten hat, was wir beide von
ihm seit Wochen und Monaten fordern, er aber bisher
abgelehnt hat: nämlich eine Blauhelmmission in der Ostukraine zur Durchsetzung des Waffenstillstandes. Wenn
das wirklich eine Chance ist, dann lassen Sie uns diese
Chance ergreifen. Wir brauchen mehr und nicht weniger
Entspannungspolitik. Das ist unsere Aufgabe.
({30})
Die Entspannungspolitik hat unter Willy Brandt in den
dunkelsten Zeiten des Kalten Krieges begonnen. 1968,
als die Truppen des Warschauer Paktes unter Führung
der Sowjetunion in Prag einmarschiert sind und keiner an
Abrüstung und Entspannung geglaubt hat, hatte Brandt
den Mut, zu sagen: Wir wollen eine neue Abrüstungsund Ostpolitik. - Die jetzigen Zeiten sind ähnlich gefährlich, wenn nicht gefährlicher. Deutschlands Aufgabe ist
es, genau diese Politik jetzt erneut auf die Tagesordnung
zu setzen.
({31})
Der Abgeordnetenkollege Jens Spahn hat um eine
Kurzintervention gebeten.
({0})
Dazu erteile ich ihm das Wort.
Herr Präsident! Lieber Herr Gabriel, ich hätte mich
gar nicht gemeldet, wenn Sie nicht für Fairness und ein
richtiges Zitieren der Aussagen von Herrn Schulz geworben hätten. Ich bin sehr für richtiges Zitieren, auch im
Wahlkampf.
({0})
Deshalb möchte ich, nachdem Sie seit Wochen auf
Marktplätzen und an anderen Orten immer dieselbe
Behauptung aufstellen, die Gelegenheit nutzen, Ihnen
zu sagen, was ich gesagt habe. Sie können das falsch
finden - das ist okay -; aber es ist nicht so, wie Sie es
ständig behaupten. Ich habe gesagt, dass wir in Zukunft
angesichts dessen, was um uns herum in Europa und der
Welt los ist - jetzt wörtliches Zitat -, in dem einen oder
anderen Jahr weniger stark Sozialleistungen werden erhöhen müssen - Zitat Ende -, um mehr in Sicherheit zu
investieren.
({1})
Sie können sagen, dass Sie das anders sehen, dass Sie,
nachdem wir in den letzten Jahren viele Erhöhungen bei
den Sozialleistungen gehabt haben, die alle gut und richtig waren, noch mehr Erhöhungen wollen. Das ist auch
okay. Aber Sie können vielleicht mit mir konform gehen,
dass „etwas weniger stark erhöhen“ etwas anderes bedeutet als „kürzen“.
Ich weiß, Sie sind verzweifelt in diesem Wahlkampf,
weil nichts so richtig zündet.
({2})
Jetzt versuchen Sie, ob es um die Lohnlücke, die Mittel für Langzeitarbeitslose oder die Rentenpolitik geht,
an verschiedenen Stellen mit Halb- und Unwahrheiten
Stimmung zu machen. Das spüren wir überall. Das haben
wir auch in dieser Debatte erlebt.
({3})
Aber da Sie darum bitten, Herrn Schulz richtig zu zitieren, habe ich eine einfache Bitte für die nächsten drei
Wochen: Wenn Sie weiterhin, wie in den letzten Wochen,
diesen Baustein in Ihren Reden haben, zitieren Sie mich
einfach richtig. Um mehr bitte ich gar nicht.
({4})
Herr Minister, darauf können Sie antworten.
Herr Kollege Spahn, ich weiß, was Sie meinen, wenn
Sie sagen „nicht erhöhen“. Es weiß doch jeder, dass wir
bei dem, was wir in den Bereichen Rente, Bildung, Pflege und Gesundheit vor uns haben, über Mehrausgaben
reden müssen, wenn wir wenigstens das Leistungsniveau
von heute halten wollen.
({0})
Wenn Sie das nicht wollen - und Sie wollen es nicht -,
dann heißt das de facto, dass Sie die derzeitigen Leistungen kürzen wollen. Haben Sie doch den Mumm, das zu
sagen!
({1})
Sie sind doch derjenige in der CDU/CSU, der den nationalkonservativen Flügel als junger Mann neu beleben
will. Haben Sie nicht so viel Angst davor, zu sagen, was
Sie eigentlich sagen wollen, nämlich dass Sie glauben das sagen Sie auch sonst im Finanzministerium -, wir
gäben zu viel Geld für Soziales aus, und dass Sie nicht
wollen, dass die Steigerungsraten, die nötig sind, um das
Leistungsniveau in den nächsten Jahren zu halten, vollzogen werden. Sie wollen das Geld für eine Verdoppelung
des Rüstungshaushaltes unter anderem aus dem Bereich
Soziales holen, um es dem Verteidigungsministerium zu
geben. Das ist das, was Sie vorhaben.
Und machen Sie sich keine Sorgen: Verzweifelte Leute sehen anders aus als ich.
({2})
Das Wort hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion der
Kollege Dr. Peter Tauber.
({0})
Gut drei Wochen vor der Bundestagswahl ist diese Debatte eine Standortbestimmung. Wenn man das Gehörte
zusammenfassen will, dann bleibt eigentlich nur hängen:
Sahra Wagenknecht liest die Slogans der CDU-Plakate
vor, wahrscheinlich weil die ihr besser gefallen als die eigenen. Dietmar Bartsch sagt, er würde „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“ unterschreiben.
Lieber Herr Bartsch, Sie müssen das nicht unterschreiben. Wenn Sie diesen Satz richtig finden, müssen Sie
CDU oder CSU wählen.
({0})
Herr Özdemir von den Grünen hat versucht, über Innovationen zu sprechen, und sich dann über Sitzheizungen lustig gemacht. Lieber Herr Özdemir, ja, wir müssen dringend darüber reden, was wir tun müssen, damit
die Welt im 21. Jahrhundert noch deutsche Autos kauft.
Diese Autos müssen so innovativ und so modern sein,
mit alternativen Antrieben, dass die Welt sie wirklich
haben will. Wahr ist aber auch: Das Rückgrat unserer
Volkswirtschaft sind der Mittelstand, das Handwerk und
die kleinen innovativen Unternehmen. Deswegen ist Ihr
Vergleich ziemlich daneben; denn der Weltmarktführer
für Sitzheizungen ist ein deutscher Mittelständler mit
4 000 Arbeitsplätzen in Deutschland und in Europa.
Auch das Elektroauto - da bin ich mir ziemlich sicher wird noch eine Sitzheizung haben.
Was die SPD betrifft, muss ich sagen: Ich verstehe,
ehrlich gesagt, warum so viele Bürgerinnen und Bürger
ratlos sind, wenn sie Sie im Wahlkampf beobachten.
({1})
Sie reden über Bildungspolitik, und Frau Schwesig
schickt ihr Kind auf eine Privatschule. Sie reden über
Abrüstung, sind sich aber selbst nicht darüber im Klaren, was Sie eigentlich wollen. Da wir gerade dabei sind,
zu zitieren, lese ich Ihnen gerne noch einmal vor, was
Martin Schulz gesagt hat. Er hat gesagt:
Die Experten sagen mir: Zwischen 3 und 5 Milliarden braucht die Bundeswehr jährlich mehr.
({2})
Ja, unbedingt; sollten wir tun.
Im selben Interview wiederholt er auf Nachfrage noch
einmal diese Position. Er sagt mit Blick auf die beiden
Verteidigungspolitiker der SPD:
Das sind gerade die Experten, die mich ja auch beraten, Rainer Arnold und Hans-Peter Bartels, also
unsere Verteidigungspolitiker, die mir sagen: Zwischen 3 und 5 Milliarden für die Bundeswehr mehr
pro Jahr, das ist das, was wir brauchen. Ganz klar …
({3})
Sie müssen sich irgendwann entscheiden: Regierung
und Opposition in einem, das funktioniert nicht. Lieber
Herr Gabriel, dass Sie so relativ entspannt sind, liegt
vielleicht auch daran, dass Sie ganz froh sind, dass Sie
auf der Regierungsbank sitzen und damit relativ weit
weg von Ihrer Fraktion.
({4})
Ansonsten bleibt festzuhalten: Nur die Redner der
Unionsfraktion haben über die Zukunft gesprochen. Die
Redner der anderen Fraktionen haben nur Vergangenheitsbewältigung betrieben.
Ich will Ihnen sagen, was die Menschen erwartet,
wenn sie am 24. September CDU oder CSU wählen:
({5})
Wir werden weiter daran arbeiten, dass Bildung und Forschung ein Schwerpunkt unserer Arbeit ist; denn der Etat
des Bundes dafür ist ein Rekordetat. Wir haben noch nie
so viel für Bildung und Forschung ausgegeben wie aktuell.
({6})
Wir werden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler
um 15 Milliarden Euro entlasten. Wir werden mit dem
Abbau des Solis beginnen. Wir werden an der soliden
Haushaltspolitik und an der schwarzen Null festhalten. Gerade heute können Sie die Meldung lesen, dass
Deutschland für Investitionen ein sicherer Ort ist. Das
liegt auch an unserer Finanzpolitik.
Wir werden in moderne Technologien investieren, ein
Glasfasernetz flächendeckend in Deutschland schaffen,
den 5G-Standard einführen und ausbauen.
Und wir werden die Familien auf eine bisher nicht dagewesene Art und Weise entlasten: mit dem Kindergeld,
mit dem Baukindergeld, mit dem Kinderfreibetrag und
mit einem Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz
auch im Grundschulalter.
Diese konkreten Dinge sind das eine. Aber die Wählerinnen und Wähler entscheiden auch über die großen Linien, über Haltung und über grundsätzliche Überzeugungen. Auch darin unterscheiden wir uns teilweise. Nicht in
allen Fragen, aber doch in manchen.
Wenn wir selbst und die Welt im Jahr 2017 auf unser
Land schauen, dann können wir feststellen: Vor 100 Jahren war unser Land mit dem Rest der Welt im Krieg,
vor 75 Jahren war unser Land mit dem Rest der Welt im
Krieg, vor 50 Jahren war unser Land geteilt und besetzt.
Heute ist dieses Deutschland ein Ort der Demokratie, des
Rechts und der Freiheit. Viele sagen: Gott sei Dank sind
die Deutschen so, wie sie sind. - Darauf können wir stolz
sein. Das hat übrigens etwas mit Politik zu tun, angefangen bei der Politik von Konrad Adenauer über Helmut
Kohl bis heute zu Angela Merkel.
({7})
Wir sollten deswegen - bei allem Streit in der Sache;
über die genannten Punkte wie Kindergeld etc. können
wir immer gerne streiten - aufhören mit dem, was Sie
alle permanent machen in diesem Wahlkampf, nämlich
unser Land schlechter zu reden, als es ist. Es ist das beste
Deutschland, das es je gab.
({8})
Es ist gut, dass wir diese Debatte führen. Man kann
sich noch einmal ein Bild machen. Wir reden über die
Zukunft und über das, was Deutschland braucht, um weiter erfolgreich zu sein, und Sie arbeiten sich an Ihrer eigenen Vergangenheit ab. Darüber können die Menschen
am 24. September abstimmen. Ich bin zuversichtlich,
dass sie klug und richtig abstimmen werden.
({9})
Abschließender Redner in dieser Debatte ist der Kollege Hubertus Heil für die Fraktion der SPD.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Tauber, Deutschland ist ein starkes Land, und
niemand redet dieses Land schlecht. Aber zur Wahrheit
gehört auch: Deutschland investiert zu wenig in die Zukunft. Deutschland ist auch ein wohlhabendes Land.
Aber nicht alle haben gleichermaßen am Wohlstand teil;
das ist der Unterschied.
Wir haben deutlich gemacht, was wir für die Zukunft
dieses Landes brauchen. Wir brauchen beispielsweise
Investitionen in Bildung. Sie verweigern diese Investitionen in Deutschlands Schulen. Tun Sie doch nicht so,
als gäbe es hier keine Unterschiede. Demokratie braucht
gute Alternativen und eine Auswahl im demokratischen
Spektrum. Wenn Sie so tun, als gäbe es keine Unterschiede, stärken Sie die politischen Ränder. Genau das kann
Deutschland nicht gebrauchen, meine Damen und Herren.
({0})
Ich will an die Adresse der Bundeskanzlerin sagen: Wer im Fernsehduell ständig versucht, sich hinter
SPD-Ministern zu verstecken,
({1})
und wer hier und heute versucht, ein Zitat falsch zu interpretieren, der will davon ablenken, dass Sie keinen Plan
für die Zukunft haben.
({2})
Ich will Ihnen sagen, Herr Tauber: Wir als SPD haben
deutlich gemacht - Martin Schulz hat das auch in dem
Interview deutlich gemacht -, dass wir für eine gute
Ausrüstung der Bundeswehr sind, und zwar im Umfang
von 3 bis 5 Milliarden Euro jährlich, aber nicht aufwachsend - das ist der Unterschied -, sondern strukturell.
({3})
Sie wollen das 2-Prozent-Ziel einhalten. Das bedeutet,
Sie wollen 30 bis 40 Milliarden Euro ab 2024 Jahr für
Jahr.
Es gibt noch einen Unterschied: Wir wollen das Geld
lieber in Bildung investieren, also in Deutschlands Schulen und in die Chancen von Kindern und Jugendlichen
in diesem Land, die alle eine Chance brauchen, und das
unabhängig vom Geldbeutel der Eltern.
({4})
Wenn wir in diesem Land über die Zukunft reden, dann
reden wir vor allen Dingen über die nachwachsende Generation. Dass in unserem wohlhabenden Land trotz aller Anstrengungen der Geldbeutel von Papa und Mama
und die soziale Herkunft stärker über die Bildungs- und
Lebenschancen von Kindern entscheiden als Talent und
Leistung, ist eine Schande.
({5})
Das ist nicht zukunftsfähig. Deshalb muss auch der Bund
Mittel investieren.
({6})
Worum geht es dabei? Wir haben das Kooperationsverbot gegen Ihren Widerstand ein Stück weit aufgebrochen, um Schulen zu sanieren. Aber das reicht uns nicht.
Zuständigkeitsdebatten interessieren die Menschen nicht,
weder die Eltern noch die Lehrer noch die Kinder. Alle
Kinder brauchen eine Bildungschance, unabhängig von
Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht.
({7})
Sie brauchen gleiche Chancen, die nicht, wie in diesem
Land, an der Herkunft kleben. Dafür muss man Geld
in die Hand nehmen. Wir wollen dafür sorgen, dass die
Schulen nicht nur saniert werden; sie müssen modernisiert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass es einen
Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschulplatz gibt, zumindest an Grundschulen. Das können Bund, Länder und
Kommunen nur gemeinsam schaffen.
({8})
Den Investitionsstau an den Schulen in Höhe von 34 Milliarden Euro können wir nur gemeinsam auflösen. Auch
das ist ein Unterschied zwischen Ihnen und uns.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, am 24. September steht dieses Land vor der Wahl. Es geht darum,
sich mit der Gegenwart abzufinden oder die Vergangenheit zu verwalten.
({9})
Frau Merkel hat keinen Vorschlag für die Zukunft dieses
Landes gemacht,
({10})
weder zur Zukunft der Kinder und zu ihren Bildungschancen - sie will, dass sich der Bund da heraushält noch zur Frage, woher das Geld kommen soll, das wir
brauchen, um in ganz Deutschland endlich eine Breitbandinfrastruktur hinzubekommen.
Sie sagen zwar, dass Sie die steuerliche Forschungsförderung wollen; Sie sagen aber nicht, wie. Wir haben
einen klaren Vorschlag gemacht. Wir brauchen einen
Vorrang für Investitionen in diesem Land: in Bildung, in
Forschung, in Infrastruktur, in die Verbindung von ländlichen und städtischen Räumen, was die Mobilität betrifft.
Den Haushalt zu sanieren, Herr Schäuble, ist in Ordnung. Auch wir wollen an der Schuldenbremse festhalten. Aber wenn wir nicht investieren und kein Geld in die
Hand nehmen, dann verrottet die Infrastruktur in diesem
Land, und dann schaffen wir keine zukunftsfähige Infrastruktur für die kommenden Generationen. Auch das ist
ein Unterschied zwischen Ihnen und uns.
({11})
- Für die sind wir, Herr Kollege.
({12})
Ich will Ihnen deutlich sagen: Was die Frage der Gerechtigkeit in diesem Land betrifft, haben wir erlebt Andrea Nahles hat das deutlich gemacht -, dass Sie bei
der Rente nichts ändern wollen. Das wird dazu führen,
dass das Rentenniveau für die heute arbeitende Generation herunterkrachen wird. Wir wollen das Rentenniveau
stabil halten. Wer sichere Renten und mehr Bildungsinvestitionen will, der muss am 24. September die SPD
stark machen. Mit der Union ist das nicht zu machen.
({13})
Eine abschließende Bemerkung zu Frau Merkel. Ich
kann mich noch an den Satz „Sie kennen mich“ aus dem
Fernsehduell vor der letzten Wahl erinnern. Ich würde sagen, nach zwölf Jahren Angela Merkel kann man Folgendes feststellen: Viele Menschen glauben, Angela Merkel
zu kennen - manchmal ist man angesichts der Wechsel
und des Zickzackkurses ihrer Politik ja überrascht -, aber
keiner weiß wohl wirklich, wohin sie dieses Land führen
will. Das ist der Unterschied.
Am 24. September, meine Damen und Herren, sagen
wir: Deutschland kann mehr, und es ist Zeit für mehr
Gerechtigkeit in diesem Land. Deshalb kämpfen wir mit
Martin Schulz für eine starke SPD. Dieses Land kann
mehr und braucht mehr Gerechtigkeit, Innovationen und
Zukunft und nicht die Verwaltung des Gegenwartszustands und der Vergangenheit. Das ist der Unterschied,
um den es am 24. September geht.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor wir zu der anschließenden Wahlhandlung kommen, gibt es noch eine
Reihe von Entscheidungen, die wir zu treffen haben. Ich
bitte, das bei dem Prozess des Wartens und Anstehens zu
berücksichtigen.
Zunächst kommen wir aber noch nicht zum Schluss
dieser Aussprache, sondern ich erteile das Wort für eine
Kurzintervention dem Kollegen Dr. Gysi.
({0})
Hubertus Heil ({1})
Vielen Dank, Herr Vizepräsident. - In den Reden
vieler Rednerinnen und Redner wurden heute die ausscheidende Vizepräsidentin Edelgard Bulmahn und der
ausscheidende Vizepräsident Johannes Singhammer
gewürdigt, und ihnen wurde Dank ausgesprochen. Ich
schließe mich dem selbstverständlich an. Ich bin auch
den beiden Fraktionsvorsitzenden meiner Fraktion dankbar dafür, wie sie sich bei ihnen, aber vor allen Dingen
auch beim Bundestagspräsidenten Professor Dr. Norbert
Lammert bedankt haben. Auch dem schließe ich mich an.
Aufgrund des Verhältnisses zwischen dem Herrn Bundestagspräsidenten und mir finde ich aber, dass ein paar
persönliche Worte zum Abschied vielleicht doch angebracht sind.
Sie, Herr Professor Dr. Lammert, gehören dem Bundestag seit 1980, also seit 37 Jahren, an und sind seit 2005
Präsident des Bundestages. Ich kann mir vorstellen, wie
schwer es ist, wenn man aus einer Partei und einer Fraktion kommt und plötzlich die Zuständigkeit für alle Abgeordneten erhält, die ganz andere Herkünfte und ganz
andere politische Auffassungen haben. Man soll ja der
Präsident für alle sein. Das gelingt wirklich nicht jedem,
aber ich muss sagen: Ihnen ist es wirklich gut gelungen.
Ich habe Sie sehr respektiert, als Sie verschiedene
Abgeordnete und verschiedene Fraktionen gegen den
türkischen Präsidenten Erdogan verteidigt haben, der sie
beschimpft hat. Das hat Mut gezeigt.
Sie haben Reden gehalten, die auch mich erstaunt haben. Sie konnten von der CSU bis zur Linken akzeptiert
werden. Das muss man erst einmal hinkriegen. Aber das
ist Ihnen eigentlich fast immer gelungen, muss ich sagen.
({0})
Sie haben sogar Auseinandersetzungen mit den Medien geführt; das heißt, Sie waren und sind auch bereit, sich
unbeliebt zu machen. Auch das ist nicht selbstverständlich. Sie waren auch nie parteiisch und nie der verlängerte Arm irgendeiner Koalition.
Ihr eigentliches Verdienst besteht darin, dass Sie so
sehr Präsident des Parlaments waren, dass Sie dem Parlament eine andere Stellung in der Gesellschaft gegeben
haben. Das verdanken wir gerade Ihnen, weil Sie bewiesen haben: Man kann Präsident des Parlaments sein und
keine andere Aufgabe dabei wahrnehmen. - Dafür, finde
ich, gebührt Ihnen Respekt.
({1})
Sie haben, Herr Bundestagspräsident, immer die Rechte der Regierungsfraktionen geachtet, aber genauso die
Rechte der Oppositionsfraktionen, und Sie haben auch
heute wieder über Minderheitenrechte gesprochen, die
so wahnsinnig wichtig sind. Wenn eine Mehrheit meint,
die Kontrolle über sich reduzieren zu dürfen, hat sie die
Demokratie nicht verstanden. Sie haben sie verstanden.
Weil ich älter bin als Sie, möchte ich Ihnen zum
Schluss noch zwei weise Ratschläge mitgeben; dazu bin
ich ja berechtigt. Der erste Ratschlag ist: Sie müssen sich
ganz bewusst entscheiden, das Alter zu genießen. Alles
andere hat keinen Sinn. Mein zweiter Ratschlag ist: Reden Sie bloß nicht so viel über Krankheiten. Das macht
nicht gesund.
Nun will ich Ihnen als Letztes - ich hoffe, im Namen
des ganzen Hauses, aber vor allem in meinem Namen in jeder Hinsicht Wohlergehen für Ihren neuen Lebensabschnitt wünschen und einfach ein Wort sagen: Danke!
({2})
Herr Kollege Gysi, dieses Hohe Haus dankt Ihnen
für die Worte, die Sie für unseren Präsidenten Norbert
Lammert gefunden haben.
Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu den Zusatzpunkten a bis h. Es
handelt sich um Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses, und wir hatten vereinbart, dass eine Aussprache dazu nicht stattfindet.
Zusatzpunkt a:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 462 zu Petitionen
Drucksache 18/13490
Wer dafürstimmt, den bitte ich jetzt um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? Niemand. Die Sammelübersicht 462 ist damit mit allen
Stimmen des Hohen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt b:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 463 zu Petitionen
Drucksache 18/13491
Wer dafürstimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand.
Auch die Sammelübersicht 463 ist mit den Stimmen des
gesamten Hohen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({2})
Sammelübersicht 464 zu Petitionen
Drucksache 18/13492
Wer für diese Sammelübersicht stimmt, den bitte ich
um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Niemand. Die Sammelübersicht 464 ist damit mit allen Stimmen angenommen.
Zusatzpunkt d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({3})
Sammelübersicht 465 zu Petitionen
Drucksache 18/13493
Wer dafürstimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 465 ist angenommen mit den Stimmen von
CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen.
Zusatzpunkt e:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({4})
Sammelübersicht 466 zu Petitionen
Drucksache 18/13494
Wer dafürstimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Keine.
Die Sammelübersicht 466 ist damit mit allen Stimmen
des Hohen Hauses angenommen.
Zusatzpunkt f:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({5})
Sammelübersicht 467 zu Petitionen
Drucksache 18/13495
Wer dafürstimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Sammelübersicht 467 ist damit angenommen mit den Stimmen
von CDU/CSU und SPD sowie der Fraktion Die Linke
bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Zusatzpunkt g:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 468 zu Petitionen
Drucksache 18/13496
Wer für die Sammelübersicht 468 stimmt, den bitte
ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer
enthält sich? - Die Sammelübersicht 468 ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD
sowie Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der
Fraktion Die Linke.
Zusatzpunkt h:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 469 zu Petitionen
Drucksache 18/13497
Wer stimmt für diese Sammelübersicht? - Wer stimmt
dagegen? - Wer enthält sich? - Die Sammelübersicht 469
ist damit angenommen mit den Stimmen von CDU/CSU
und SPD gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke sowie Bündnis 90/Die Grünen. Damit haben wir diese Zusatzpunkte abgeschlossen.
Ich komme jetzt zum Tagesordnungspunkt 2:
Wahlvorschlag des Wahlausschusses für die
Richter des Bundesverfassungsgerichts
Wahl einer Richterin oder eines Richters des
Bundesverfassungsgerichts
Drucksache 18/12822
Der Wahlausschuss schlägt auf der Drucksache 18/12822 Herrn Dr. Josef Christ vor. Diesen Wahlvorschlag hat der Wahlausschuss mit der gemäß § 6
Absatz 5 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes erforderlichen Mehrheit beschlossen.
Ich bitte Sie jetzt noch um Aufmerksamkeit für einige
Hinweise zum Wahlverfahren.
Die Wahl erfolgt mit verdeckten Stimmkarten, also
geheim. Zum Richter des Bundesverfassungsgerichts ist
gewählt, wer eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens die Mehrheit der Stimmen
der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt.
Sie benötigen jetzt für die Wahl Ihren blauen Wahlausweis, den Sie bitte, soweit Sie es noch nicht gemacht
haben, Ihrem Stimmkartenfach entnehmen können.
Wie üblich gilt die Bitte, nochmals zu prüfen, ob der
Wahlausweis Ihren Namen trägt. Die für die Wahl gültige
Stimmkarte und den amtlichen Wahlumschlag erhalten
Sie von den Schriftführerinnen und Schriftführern an den
Ausgabetischen neben den Wahlkabinen. Das Verfahren
ist bekannt.
Nachdem Sie die Stimmkarte in einer der Wahlkabinen gekennzeichnet und in den Wahlumschlag gelegt
haben, gehen Sie bitte zu den Wahlurnen hier vor dem
Rednerpult. Die Stimmkarte dürfen Sie bitte nur in der
Wahlkabine ankreuzen, und Sie müssen ebenfalls noch in
der Wahlkabine die Stimmkarte in den Umschlag legen.
Die Schriftführerinnen und Schriftführer sind verpflichtet, jeden, der seine Stimmkarte außerhalb der Wahlkabine kennzeichnet oder in den Umschlag legt, zurückzuweisen. Die Stimmabgabe kann in diesem Fall jedoch
vorschriftsmäßig wiederholt werden. Aber ich bitte Sie,
auf diese Wiederholung zu verzichten.
Gültig sind nur Stimmkarten mit einem Kreuz bei
„ja“, „nein“ oder „enthalte mich“. Ungültig sind Stimmen auf nicht amtlichen Stimmkarten sowie Stimmkarten, die mehr als ein Kreuz, kein Kreuz, andere Namen
oder Zusätze enthalten.
Bevor Sie die Stimmkarte in eine der Wahlurnen werfen, übergeben Sie bitte Ihren Wahlausweis den Schriftführerinnen und Schriftführern an der Wahlurne. Der
Nachweis der Teilnahme an der Wahl kann nur durch die
Abgabe des Wahlausweises erbracht werden.
Ich bitte jetzt die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die vorgesehenen Plätze einzunehmen. - Das ist der Fall.
Dann eröffne ich hiermit die Wahl und bitte, zum Empfang der Stimmkarte zu den Ausgabetischen zu gehen.
Gibt es jetzt noch jemanden im Saal, der die Wahlhandlung abschließen möchte, aber dazu bisher nicht die
Gelegenheit hatte? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe
ich die Wahl und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Gleichzeitig
unterbreche ich jetzt die Sitzung für einige Minuten, vermutlich für zehn Minuten. Ich werde dann das Ergebnis
Vizepräsident Johannes Singhammer
der Wahl bekannt geben und noch einige abschließende
Worte sagen.
({8})
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die
unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich gebe jetzt das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der Wahl eines Rich-
ters des Bundesverfassungsgerichts bekannt: abgegebene
Stimmzettel 586. Mit Ja haben gestimmt 455, mit Nein
haben gestimmt 57 Abgeordnete, Enthaltungen 74. Herr
Dr. Josef Christ hat damit die erforderliche Mehrheit von
zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mindestens
316 Jastimmen erreicht.1) Er ist damit zum Richter des
Bundesverfassungsgerichts gewählt. Ich gratuliere dazu
herzlich.
({0})
Damit nähern wir uns dem Ende dieser letzten Sitzung
des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode. Vier
Jahre parlamentarische Arbeit liegen hinter uns. Die Ar-
beit ist getan.
Ich möchte an dieser Stelle noch an etwas erinnern und
ein Dankeschön aussprechen. Wir haben vor vier Jahren
mit unserer Arbeit begonnen. Einige Kollegen sind heute
nicht mehr unter uns, weil Krankheit und Tod in den ver-
gangenen Jahren nach ihnen gegriffen haben. Ich nenne
die Namen der Kollegen, die durch Tod aus der Mitte
ihres Mandats abberufen worden sind. Das sind die Kol-
legen Andreas Schockenhoff und Philipp Mißfelder und
aus der Mitte des Präsidiums Vizepräsident Peter Hintze,
den wir erst vor neun Monaten zu Grabe getragen haben.
Ich denke auch an die Kolleginnen und Kollegen, die in
früheren Legislaturperioden Verantwortung getragen ha-
ben und die in den vergangenen vier Jahren heimberufen
worden sind.
Ich möchte jetzt aber vor allem ein Dankeschön rich-
ten an die Kolleginnen und Kollegen, die ausscheiden,
weil sie nicht mehr kandidieren, die sich nicht mehr in
den Wahlkampf eingebracht haben, weil sie einfach das
Mandat nicht mehr erneuert wissen wollen. Ich denke da-
bei auch an diejenigen, die kämpfen und nicht wissen, ob
sie gewählt werden oder nicht.
Mein Dank gilt all denjenigen, die bei der sehr inten-
siven Arbeit im Mandat mitgewirkt haben. Wir haben
vieles gemeinsam auf den Weg gebracht und auch abge-
schlossen. Die Ausübung eines parlamentarischen Man-
dats und die damit verbundene Arbeit sind kaum möglich
und auch nicht vorstellbar, wenn nicht das Zusammen-
spiel mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auf eine
ganz herausragende Weise gelingt. Deshalb möchte ich
in dieser letzten Sitzung insbesondere den Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung danken.
Ohne sie könnten wir als Abgeordnete unsere parlamen-
1) Namensverzeichnis der Teilnehmer an der Wahl siehe Anlage 2
tarische Arbeit nicht leisten. Deshalb ein ganz herzliches
Dankeschön.
({1})
Ich selber werde auch mit dieser letzten Sitzung aus
dem Deutschen Bundestag ausscheiden. Es war für mich
wie auch für alle anderen ausscheidenden Kolleginnen
und Kollegen ein Privileg, diesem Hohen Haus anzugehören.
Der Bundestag ist die erste Gewalt im Staat, nicht die
zweite und nicht die dritte. Wir sind, so denke ich, eine
verantwortungsbewusste Volksvertretung. Die Menschen
erwarten zu Recht einen klaren Standpunkt im Wettstreit
um die besseren Ideen. Gleichwohl ist die Fähigkeit zu
einem ehrlichen Kompromiss unverzichtbar. Wer einen
notwendigen Kompromiss als Knieweichheit verspottet,
der hat Demokratie nicht verstanden. Unser Mittel in der
politischen Auseinandersetzung als Parlamentarier ist
das Wort. Ich finde, dass Reiner Kunze eine zutreffende
Formulierung getroffen hat: „Wort ist Währung - Je wahrer, desto härter“.
Ich erinnere mich an meine erste Sitzung im Deutschen
Bundestag. Meine erste Rede habe ich zur Familienpolitik gehalten. Danach hat der damalige Vizepräsident, wie
es bei uns üblich ist, diese erste Rede entsprechend gewürdigt und hat zu mir als sechsfachem Vater gesagt, das
sei jetzt eine „Jungfernrede“ gewesen. Das damalige Protokoll vermerkte damals dann „Heiterkeit“. Unabhängig
davon ist Familienpolitik, die Politik für Familien und
für Kinder, für mich immer von ganz besonderer Bedeutung gewesen.
Ich wünsche dem neuen Bundestag, den Kolleginnen
und Kollegen, die am 24. September 2017 gewählt werden, viel Glück. Aus meiner Erfahrung muss es nicht unbedingt ein Nachteil sein, wenn man in der politischen
Arbeit die Menschen in unserem Land so annimmt,
wie sie sind. Wer die Deutschen oder die Menschen in
Deutschland nicht so richtig mag, tut sich schwer, eine
gute Politik für sie zu gestalten.
Wir wissen: In allem politischen Wollen und Handeln
stoßen wir auch an Grenzen. Der Blick auf eine andere
Instanz schadet nicht. Nach Zeiten tiefster menschlicher
Erniedrigung in unserer Geschichte haben die Väter und
Mütter des Grundgesetzes die Konsequenzen gezogen.
Deshalb beginnt unsere Verfassung, das Grundgesetz,
mit den Worten:
Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und
den Menschen …
Deshalb sage ich: Möge Gott unser Vaterland behüten. Es
lebe die parlamentarische Demokratie!
Die Sitzung ist geschlossen.
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